Der Tempel des Waldwächters
Regen prasselte gegen die Fensterscheibe – nur ganz leise, aber dennoch wie ein ohrenbetäubendes Drücken in Faiths Kopf. Im nächsten Moment durchzuckte ein stechender Schmerz ihre Hand und sie krümmte sich stöhnend unter der weichen Bettdecke.
Es dauerte keine zwei Sekunden, da kamen hektische Schritte näher, bis jemand sanft ihre Schulter berührte. „Liebes, bist du wach? Mach die Augen auf.“
Faith blinzelte, gab dem Druck an ihrer Schulter nach und rollte sich zurück auf den Rücken. Ihre Sicht war ein wenig verschwommen, aber als sie einigermaßen klar sehen konnte, blickte sie in ein freundliches Gesicht mit einem warmen Lächeln. „Guten… Morgen?“
„Abend, Liebes. Es ist Abend.“ Die alte Dame lächelte noch breiter, offensichtlich war sie sehr froh darüber, dass Faith wieder bei Bewusstsein war. Als im Hintergrund das Pfeifen eines Wasserkessels ertönte, schaute die Frau auf und streichelte beruhigend Faiths Arm. „Ich bringe dir einen Tee.“ Eine Minute später kehrte die Frau zurück, die Ärmel ihres bunten Kimonos wehten hinter ihr her, ebenso wie die kurzen, grauen Haare. „Bitte, trink. Das wird dir guttun. Du musst jetzt viel trinken und essen.“
„Ich habe keinen Hunger“, erwiderte Faith und setzte sich auf, wobei die Kopfschmerzen schlimmer wurden und sie Übelkeit wie eine Lawine anrollen spürte. Bevor sie das erste Mal an der Teetasse nippte, blickte sie sich neugierig in dem Zimmer um. Es war klein, quadratisch und viel mehr als ihr Bett, ein Sofa, ein Schrank und ein Regal hatten darin keinen Platz. „Wo bin ich hier? Im Krankenhaus?“
„Oh nein, Liebes. Nicht im Krankenhaus. Kannst du dich nicht daran erinnern, wie du hergekommen bist?“
„Nein“, log Faith, was zumindest die halbe Wahrheit beinhaltete. Natürlich erinnerte sie sich an Itsukis schmerzlichen Verrat, aber nachdem sie in dem unterirdischen Geheimgang zusammengebrochen war, zeigte ihr inneres Auge lediglich einen schwarzen Bildschirm. „Ich bin in dem Tunnel ohnmächtig geworden.“
Besorgt streichelte die Frau ihren Unterarm. „Der Waldwächter hat mich zu dir geführt. Es ist schon viele Jahre her, seit ich Celebi das letzte Mal gesehen habe, doch als es vor dem Tempel erschienen ist, wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich folgte ihm und es führte mich direkt zu dir. Gemeinsam haben wir dich dann hier her gebracht, aber du hast die meiste Zeit geschlafen und bist nur selten für ein paar Minuten aufgewacht. Meistens hast du dann verwirrendes Zeug geredet von Team Dark und einem Itsuki. Ich bin froh, dass du wenigstens ein paar Schlucke getrunken hast, ehe du wieder das Bewusstsein verloren hast. Wie fühlst du dich jetzt?“
Faith verdaute erst einmal diese Informationen, dann stellte sie seufzend die Tasse neben ihrem Bett ab und schaute auf den dicken Verband um ihre verletzte Hand. „Mir ist etwas schlecht und ich habe Kopfschmerzen. Und die Hand tut ziemlich weh.“
Die alte Dame nickte mitfühlend. „Du hast Gewicht verloren und musst jetzt viel essen und trinken. Ich werde dir noch einen Tee machen und eine Suppe. Nach vier Tagen Schlaf braucht dein Körper das.“
„Vier Tage!“ Erschrocken riss Faith die Augen auf. „Meine Freunde werden sich schreckliche Sorgen um mich machen!“
„Ja, Liebes. Heute Nachmittag war meine Enkelin bei mir. Yurika ist Arenaleiterin, sie kannte dich und hat versprochen, dass sie deine Freunde informieren wird. Das Mädchen und deine beiden Begleiter müssen außer sich vor Sorge gewesen sein.“
„Moment, wie meinen Sie das? Meine beiden Begleiter? Ich reise nur mit Mira und Evan.“
Einen Moment legte die Frau den Kopf schief und dachte nach. „Ich glaube, Yurika hat seinen Namen erwähnt. Er hat den Orden erkämpft und dann von deinem Verschwinden erfahren, daraufhin ist er kopflos durch das ganze Schloss gelaufen, bis Yurika ihn beruhigen konnte… Joel, das war sein Name, da bin ich mir sicher. Genau, Joel. Und jetzt entspann dich, ich mache dir die Suppe.“
Während ihre Gastgeberin das Zimmer verließ, starrte Faith ins Leere. Joel machte sich solche Sorgen um sie? Das hatte sie doch gar nicht verdient, sie waren Rivalen. Ihr Blick fiel auf das kupferfarbene Armband mit dem Herzanhänger und sie musste seufzen.
Derweil erklang aus dem Nebenraum, der Küche, das Geklapper von Geschirr und das Sprudeln von Wasser aus dem Wasserhahn. „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Yolinda.“ Dann fuhr die alte Dame mit dem Kochen der Suppe fort.
Vollkommen gesättigt stelle Faith den fünften Teller Nudelsuppe ab und streckte sich. „Mein Magen platzt gleich, fürchte ich. Es hat köstlich geschmeckt, Yolinda.“
Diese lächelte zufrieden und räumte den Tisch ab. „Das freut mich. Yurika ist auch ganz verrückt nach meiner Nudelsuppe. Ich denke, du solltest dich jetzt etwas hinlegen und schlafen, morgen früh bringe ich dich dann zurück in die Stadt.“
„Vielen Dank für alles.“
„Oh, bedank dich nicht bei mir, das ist selbstverständlich. Vielleicht wäre es angebracht, wenn du ein Räucherstäbchen im Schrein entzündest? Celebi hat dich gerettet, nicht ich.“
Faith nickte und stand auf. Yolinda hatte sich in den letzten Tagen nicht nur um sie, sondern auch um ihre Pokémon gekümmert, die nun alle in ihren Pokébällen ruhten. Aber Yolinda war keine Ärztin, Faiths Hand schmerzte noch immer und war höchstwahrscheinlich etwas entzündet. Als sie ihre Schuhe angezogen hatte, streifte sie sich ihre Jacke über und trat hinaus auf die überdachte Veranda, die vom Schrein zum Tempelgebäude führte, in dem Yolinda lebte.
Gerade hatte sie ein paar Schritte gemacht, als sie dort draußen in der Dunkelheit schnelle Schritte in Pfützen laufen hörte. Verwirrt drehte Faith sich zu der Steintreppe am Eingang des Tempels um und ihre Augen wurden groß, als sie einen vollkommen durchnässten Joel rennen sah. „Jo-“
Weiter kam sie nicht, denn Joel hatte die letzten Stufen mit großen Schritten überwunden und zog sie sofort in eine enge Umarmung. Er keuchte vom vielen Laufen und die braunen Haare hingen in dunklen, nassen Strähnen in sein Gesicht. „Du bist so ein entsetzlicher Dummkopf“, murmelte er und zog ihren Kopf an seine feuchte Regenjacke.
Mit geschlossenen Augen standen sie da und der Regen prasselte auf das Dach der Veranda. Nach einer Weile öffnete Faith seufzend die Augen. „Wegen dir erkälte ich mich noch, das Wasser von deinen Haaren läuft in meinen Kragen.“
Joel knurrte leise, umfasste ihr Gesicht mit seinen Händen und blickte ihr fest in die Augen. „Du legst es darauf an, solche Momente zu zerstören, nicht wahr?“
Herausfordernd zog Faith eine Augenbraue nach oben, wehrte sich jedoch nicht gegen seinen Griff. „Schon möglich?“
Lächelnd zog Joel ihr Gesicht an seins, bis er seine Stirn gegen ihre legen konnte und die Augen schloss, was Faith ihm nachtat. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, deshalb bin ich sofort losgelaufen.“
„Dumm, du hättest dich im Wald verlaufen können.“
„Ich habe keine Angst vor der Dunkelheit, schon lange nicht mehr.“
„Ach, läufst du dann für jeden stundenlang durch die Finsternis?“
„Nein.“ Langsam öffnete er wieder seine Augen und strich ihr eine feuchte Haarsträhne hinter das Ohr. „Nur für dich.“
Auf Faiths Lippen bildete sich ein glückliches Lächeln, dann schlang sie die Arme um seinen Nacken. „Ich bin froh, dass du da bist.“
Während die beiden so in ihrer Umarmung auf der Veranda standen, erhob sich Celebi fröhlich lächelnd von dem Tempelschrein in die Luft empor und flog zufrieden davon.