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Lauter Einzelteile

26 Teile des Lebens, die sich Sterben nennen
von

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UnterHalb

Wenn du in den Spiegel siehst, dann erkennst du mich nicht, weil ich es nicht will. Dann verstecke ich mich im Glas hinter einer namenlosen Maske und warte. Das Leben ist ein ständiges Warten. Ein Warten worauf? Auf das Ende, das Ziel, die Erfüllung, das Glück, die Gerechtigkeit, auf Gott, auf das Nichts wirklich greifbar jeder Wirklichkeit? Ein Warten auf den Anfang? Vielleicht darauf, dass die Tür, durch die man niemals ging, geschlossen wird, obgleich sie nur für dich bestimmt war? Ein Schloss für die Gesellschaft dahinter, bei der Godot sowohl Türsteher als auch der Dritte im Bunde sein kann. Siehst du es nicht? Die Tür ist geöffnet. Doch sobald du dich umdrehst, wird niemand hinter dir stehen.

Nur ich sitze hier und schaue dir zu, solange du mich nicht beachtest. Du erkennst, wer ich bin, wenn ich es will. Dann lasse ich dich in einer ruhigen Sekunde innehalten und zwinge dich, mir in die Augen zu schauen. Was siehst du? Siehst du mich? Halb dich, halb nichts.

Während du erwachsen wurdest, bin ich das Kind einer Mutter, die lediglich eine Frau, allenfalls eine Freundin war, und das Kind vieler Männer, die nie meine Väter waren. Meine halbe Mutter nannte ich stets beim Namen, während du ihr noch einen Titel gabst. Halb verschämt, halb mutig, halb lügend, Halbkind. Doch ähnlich wurdest du ihr dennoch, auch wenn du stets mehr wie dein Vater sein wolltest. Mehr wie er, dem Individuum in dir, dem Unbekannten in ihm. Ein falscher Name an dich adressiert und du wusstest, dass nicht er es war, den du sahst, sondern nur eine weitere Maske der Pest und Krankheit, dem Geschwür in seinem Kopf, das ihm die Wirklichkeit zerfraß. Darum bin ich dein Geschwür hinter dem Spiegelglas.

Du bist ein Geschöpf des Grundes, dem Schoß des Bodens entsprungen. Solange dein Vater allein die Erde ist, kannst du nicht entkommen und wirst dahin zurückkehren, Asche zu Asche, Staub zu Staub. In beiden Welten kannst du nicht leben, nicht gleichzeitig im Himmel, den Kopf in den Wolken und die Füße auf festem Grund, mit Beinen, die dich am Boden halten, die dich an das Fundament binden. Nur eines wird dir erlaubt. Dich zu öffnen und dein Federkleid hervorbrechen zu lassen, dich der Geburt deiner blutigen Schwingen hinzugeben. Das Blut wird trocknen und der Schmerz wird Teil jeder einzelnen Feder werden. Doch wenn du dir Flügel wachsen lässt, musst du sie auch benutzen und fortfliegen gen Sonnenlicht. Du kannst nie mehr zurückkehren.

Du wusstest das. Aber was hast du getan? Glaubst du denn, wenn du dir einen deiner Flügel ausreißt, kannst du beides erreichen, sowohl das Licht des Himmels berühren als auch den Widerhall der Sterne auf Erden vernehmen? Träumst du von diesem Wunsch oder wünschst du dir nur einen Traum, wenn manchmal leiser und manchmal lauter Einzelteile dieses Abglanzes vom Wasser reflektiert bis an dein Ohr dringen? Nein, das kannst du nicht. Du bist nicht das, was du dir zu sein wünschst, weil du nur sein kannst, was du werden willst. Darum lebst du weder hier noch dort.

Gottgleich werden wir sein, hörst du leise die Dunkelheit sagen. Doch die Zirkel im Stamm des Zwillingsbaumes ließen dich dein Ebenbild nur in den Schatten an der Wand erkennen. Lauter Einzelkinder mit leisem, halbzerfressenem Wimpel, der frisst alle Länder vom Meer fort, alle Meere vom Land. Ein Halbgott, um einen tanzenden Stern für die Nachwelt zu gebären. So bist du einer der letzten Menschen. Ich, zu narzisstisch im Selbsthass verloren. Du, zu sehr der langen Weile und dem Ekel vor dir selbst übergeben, um dich mit dir zu beschäftigen, richtest du dein Augenmerk auf die Menschen um dich herum, halb Mensch, halb Wolf. Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? So kann er sich nur gegen das Anders wehren, indem er sein Selbst begrenzt, falls er sich für die verschlossene Gesellschaft entscheidet, weil er nicht allein überleben und nicht allein über Leben entscheiden kann. Leben Wölfe in der Steppe allein? So sind sie Einzelgänger außerhalb der Gesellschaft und können einander nie zur Gefahr werden. Wieso, fragt schweigend die Dunkelheit, kannst du dann angreifen und angegriffen werden, wenn wir trotzdem einsam bleiben müssen?

Des Menschen Wolf ist nur ein Wolf, der zeigt, dass es das Recht nur durch das Unrecht gibt. Das Gericht ist zu jung, um die erste Instanz zu sein, denn an ältester Stelle stehen Verletzung und Ungerechtigkeit. Nur die menschliche Hälfte gibt dem Wolf das Recht und damit die Fähigkeit, gegen Regeln und Grenzen zu verstoßen. Vorher ist er nicht halb, sondern vollständig Wolf. Durch die Halbierung sind Menschen dazu befähigt, die Gegensätze zu erkennen und anzuwenden. Ohne Unrecht, weißt du nicht, was Recht ist. Wenn du nicht lügen kannst, weißt du nicht, was Wahrheit ist. Wenn du nicht verletzen kannst, weißt du nicht zu lieben. Du kannst nur lieben, weil du einsam bist.

Sind Halbkinder stets Töchter und Söhne von Sonne und Mond? Ich warte hinter dem Spiegel im Wunderland und höre das Kratzen in deinem Inneren. Etwas hat einen Kokon gesponnen und sehnt den Tag der Vereinigung herbei. Ich bin es nicht und doch sind das Es und Ich du. Wir wachsen in dir heran. Hast du uns vermisst? Du glaubst noch immer, du seist ein Geldstück, eine der Münzen auf deinen Augen. Du glaubst, du hättest zwei Seiten, doch jeder Mensch, ob Halbkind, Halbmensch, Halbgott, trägt viele Seiten in sich. Nicht nur zwei, nicht nur drei Instanzen.

Sind wir Möbiusschleifen, die nach Vervollständigung und Vollkommenheit suchen, nach einer Ergänzung der Lücke, die wir ein Leben lang bei uns behalten, ohne dass sie ein Teil von uns sein kann? Ein Teil von dir, ein Teil von mir. Ein Teil vom Nichts der Unendlichkeit. Im Individuum geteilt, halb weiblich, halb männlich, betrachte ich die Frau in dir und möchte gern ein Mann sein, obgleich unser Geschlecht des blauen Blutes nicht binär ist. Ob gleiche Gedanken vom Körper unabhängig bleiben? Oberhalb der Stirn, unterhalb der Gürtellinie, unter halber Aufsicht, unter halb verstandenen Worten, Schritt um Schritt, Text um Text. Du bist zu sehr ich, wir sind zu viel von uns, ich bin zu viel in mir selbst. So bin ich fast sie, fast er, weil ich nicht genug geben kann und doch zu viel zu geben habe. Du bist Jill und ich bin Jack und das halbe Blut von Sonne und Mond kocht in meinen Adern.

Name ist nur Schall und Rauch. Manchmal heiße ich Frank oder Harvey. Dann habe ich lange Hasenohren und spitze Zähne, bin manchmal weiß und manchmal schwarz, trage in seltenen Fällen sogar eine Uhr bei mir. Ich bin dein imaginärer Freund, mit dem du reden kannst, wenn niemand sonst dir zuhört. Ich bin Jack im Versteck, aber auch Jekyll und Hyde, bin das tausendfach Gute und Böse in dir, der Voyeur deiner Kindertage. Als Ripper baue ich meinen Ruhm auf Leichen, als Reaper verhelfe ich den Menschen durch ihren Tod zur Unsterblichkeit. Bin ich nur halb hier, bin ich nur halb schuldig, sowohl Quell als auch Wasser, Regen und Meer und Wüste zugleich. Du hoffst, dass du mehr wie ich sein kannst, die perfekte Maske des Ichs, das du innerlich, aber nicht nach außen bist.

Du bist nicht wie ich. Aber ich bin halb wie du. Zum Schluss steht nur ein halbes Ende.



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