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Code Geass: Fügung

Von missglückten Plänen und zweiten Chancen
von

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Konflikt

Bereits wenige Minuten, nachdem sein Bruder ihn alleinegelassen hatte, bereute Lelouch seine harschen Worte. Clovis mochte sich ihm gegenüber bisher erstaunlich entgegenkommend gezeigt haben, aber der Dritte Prinz hatte auch einen Haufen unschuldiger Menschen auf dem Gewissen und war in ethisch fragwürdige Forschungsprojekte verwickelt. Dass er Kritik nicht sehr gut aufnahm, war offensichtlich, und es es ließ sich unmöglich sagen, wie er reagieren würde, wenn Lelouch es mit seinen verächtlichen Bemerkungen zu weit trieb. Die Vorstellung, wieder in einer dunklen Zelle oder dieses Mal gar unter der Erde zu enden, übte keinen sonderlich großen Reiz auf ihn aus, und die vergleichsweise geringe, aber durchaus ebenfalls vorhandene Möglichkeit, dass Clovis gerade in eben diesem Moment dabei war, seinetwegen den Kaiser zu kontaktieren, genügte, damit sich das exquisite Mittagessen, das Lelouch genossen hatte, in halbverdauter Form in der Kloschüssel wiederfand.

Anschließend jedoch zwang er sich, die Nerven zu bewahren. Selbstverständlich war es grundsätzlich ratsam, auf den schlimmstmöglichen Fall vorbereitet zu sein; noch wesentlich wichtiger aber war es im Augenblick für Lelouch, die Konsequenzen seines bisherigen Handelns – was auch immer sie sein mochten - einzudämmen, und das würde ihm kaum gelingen, wenn er sie sie sich zuvor allzu lebhaft ausmalte. Etwas Derartiges würde nur seine Fähigkeit klar zu denken einschränken und die Situation, die er so dringend vermeiden wollte, möglicherweise erst herbeiführen.

Lelouch konnte es sich nicht leisten, die Kontrolle zu verlieren – nicht sonst, und schon gar nicht unter den gegebenen Umständen, unter denen sein Einfluss auf das, was auch immer kommen mochte, sogar noch geringer war als während der Japan-Invasion oder in der Obhut der Ashford-Familie. Also legte er sich wieder hin und schloss die Augen, und schließlich gelang es ihm sogar, noch ein paar Stunden zusätzlichen Schlafes zu finde.
 

~
 

Als sein Bruder am frühen Abend zurückkehrte, saß Lelouch aufrecht in seinem Bett und beobachtete angespannt die wie üblich verschlossene Tür. Nach einem überflüssigen Klopfen öffnete der blonde Gouverneur und trat ein, und Lelouch konzentrierte sich darauf, sich nicht anmerken zu lassen, wie beunruhigt er war.

In Anbetracht der Tatsache, dass Clovis weder abweisend noch entschuldigend wirkte, als er zu ihm herübertrat und sich am Rande seines Bettes niederließ, war das nicht so schwer, wie es hätte sein können. Dennoch fühlte Lelouchs Magen sich noch immer an, als hätte er sich zu einem winzigen Knoten zusammengezogen und nicht die Absicht, die nach wie vor vorhandene Übelkeit in naher Zukunft schwinden zu lassen.

„Du siehst nicht gut aus“, bemerkte Clovis, und Lelouch konnte nichts weiter aus seiner Stimme heraushören als aufrichtige Anteilnahme.

Er sah dem älteren Prinzen direkt in die Augen und erwiderte unbewegt den besorgten Blick, dem er dabei begegnete. „Es geht mir gut.“

„Behauptest du das immer noch?“ Clovis schien beinahe ein wenig verdutzt. Er schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht blind, Lelouch. Eine Schussverletzung, die dir letzte Nacht noch so schwer zu schaffen gemacht hat, verheilt nicht innerhalb von ein paar Stunden, und ich bezweifle, dass es selbst für dich normal ist, so blass zu sein.“ In einer Geste, die ebenso selbstverständlich wie instinktiv wirkte, bewegte sein Bruder die Hand zu Lelouchs Gesicht. Aus keinem bestimmten Grund ließ dieser ihn gewähren, und das schwarze Haar glitt nur ganz allmählich durch Clovis' Finger, als er es ihm auf eine Weise aus dem Gesicht strich, die Lelouch beinahe davon überzeugte, dass sein Bruder sein Wort nicht gebrochen hatte und der Kaiser nach wie vor nichts von ihm wusste. Für einen Moment schien es fast, als rührte Clovis' zuvorkommendes Verhalten bisher nicht nur aus einer Art Pflichtgefühl aufgrund ihrer Blutsverwandtschaft, sondern aus ehrlicher Zuneigung... aber Lelouch konnte sich nicht erklären, woher diese so plötzlich kommen sollte – nicht, wenn Clovis erst kürzlich beinahe sein Leben an ihn verloren hätte und sie sich in ihrer Kindheit nur gestritten hatten.

Lelouch drehte den Kopf ein wenig und entzog sich so der Berührung, und Clovis senkte den Arm wieder. „Brauchst du noch etwas? Gegen die Kopfschmerzen?“

Für ein paar Sekunden erwog Lelouch seine Antwort tatsächlich; aber seine Schmerzen waren seit der letzten Nacht deutlich zurückgegangen, und mit ein bisschen Zeit würde auch sein Magen sich von alleine wieder beruhigen. Dementsprechend bestimmt fiel seine Antwort aus, als er sie schließlich gab. „Nein“, sagte er tonlos.

Angesichts Clovis' besorgter Miene und seinem bisherigen Verhalten hatte Lelouch erwartete, dass sein Bruder noch mindestens ein weiteres Mal nachfragen würde, aber stattdessen nickte er leicht. „In Ordnung“, sagte er und betrachtete Lelouch einen Moment lang mit undefinierbarem Blick, bevor er ihm eröffnete: „Eigentlich bin ich hergekommen, weil ich dich vorwarnen wollte.“

Lelouch war froh, dass er sein Mittagessen bereits wieder losgeworden war. So konnte er das flaue Gefühl in seiner Magengegend ignorieren, das sich auf unangenehme Weise mit seiner Übelkeit vermischte, und seinen Tonfall kühl halten, als er fragte: „Vorwarnen?“

Dennoch musste etwas an seiner Reaktion zu heftig ausgefallen sein, denn Clovis blinzelte erstaunt. „Ich arbeite nicht auf dein Verderben hin, Lelouch.“

Lelouchs Augen verengten sich, aber seine inneren Organe zogen sich anhand der offensichtlichen Überraschung auf den Zügen seines Bruder nicht mehr ganz so krampfhaft zusammen. „Ach nein?“

„Nein.“

Lelouch gab sich keine Mühe, seinen Argwohn zu verbergen. „Was ist es dann, das du mir sagen wolltest?“

„Nichts, weshalb du dir Sorgen machen müsstest“, versicherte Clovis ihm. Lelouch war nicht überzeugt, und das schien auch seinem Bruder bewusst zu sein, denn er fuhr ohne innezuhalten fort: „Ich hatte dir gesagt, dass es mir lieber wäre, ein Arzt würde sobald wie möglich einen Blick auf dich werfen, erinnerst du dich?“

Natürlich erinnerte Lelouch sich. Er litt mit Sicherheit nicht an Vergesslichkeit, auch wenn er in den letzten paar Stunden andere Dinge im Kopf gehabt hatte. „Und ich hatte dir gesagt, dass das unnötig ist.“

„Ich hoffe, du verzeihst mir, wenn ich das lieber von jemandem hören würde, der das ein wenig objektiver beurteilen kann.“ Lelouchs Blick wurde kalt, und Clovis seufzte. „Ich mache mir nur Sorgen, Lelouch.“

„Und riskierst dafür, dass der Kaiser von mir erfährt.“

„Graf Asplund ist der Letzte, der Vater benachrichtigen würde, solange wir ihm deine Identität nicht auf die Nase binden und ihn damit in Gefahr bringen, des Hochverrats bezichtigt zu werden.“ Clovis' Ton war sachlich, aber sein Blick war weich. „Mir ist bewusst, dass du mir nicht vertraust, aber ich weiß, was ich tue, und ich bin mir auch des Risikos bewusst. Bitte, Lelouch... dieses eine Mal?“

Lelouch bezweifelte, dass Clovis sich tatsächlich im Klaren darüber war, was es bedeuten würde, käme sein Überleben ans Tageslicht. Es war bereits ein Paradoxon, dass sein Bruder im selben Atemzug zugab, sich seines Argwohns bewusst zu sein, und ihn – auch wenn er es nicht ganz so eindeutig formulierte - darum bat, ihm in dieser Sache dennoch sein Vertrauen zu schenken.

Es war unlogisch, um nicht zu sagen absurd. Lelouch hatte keinen Grund, Clovis Glauben zu schenken, geschweige denn sich auf seine Kompetenz zu verlassen.

Doch gerade deswegen zögerte er damit, die einzig ehrliche Antwort zu geben. Clovis hätte ihn nicht fragen müssen – nicht, wenn er im Augenblick so eindeutig die Oberhand und Lelouch keine Möglichkeit hatte, sich ihm erfolgreich zu widersetzen. Lelouch war nicht so einfältig zu glauben, dass sein Bruder ein Nein akzeptieren würde; aber das machte es nur noch fragwürdiger, ob es einen anderen Sinn als Trotz hätte, sein gesundes Misstrauen noch einmal zu betonen.

Also beschloss Lelouch, stattdessen einen Mittelweg zu wählen. „Falls etwas schiefgeht“, sagte er – frostig, in der Tonlage eines düsteren Versprechens, „wird es dir mehr leidtun als mir.“ Insgeheim bezweifelte er, dass irgendjemand es mehr bereuen könnte als er selbst, wenn er oder gar Nanali wieder in die Hände des Kaisers fielen; aber solange er seinen Bruder einschüchtern konnte, spielte das keine Rolle.

Clovis jedoch wirkte nicht beunruhigt, sondern erleichtert, und Lelouch fragte sich, ob er sich seiner Sache wirklich so sicher war. Allerdings hatte sein älterer Halbbruder schon immer dazu geneigt, ungünstige Situationen zu unterschätzen – in dieser Hinsicht war Clovis stets ein Optimist gewesen, auch wenn er jedes Mal schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen landete, sobald eine besagter ungünstiger Situationen außer Kontrolle geriet. Nur, dass es dann für gewöhnlich schon zu spät war.

Nach den Ereignissen in Shinjuku zu urteilen, hatte sich an dieser Tatsache nichts geändert, und Lelouch war sich nicht sicher, ob der Vorteil, der sich unter Umständen aus der übersteigerten Zuversicht seines Bruders ziehen ließ, größer war als das Risiko, das sie vor allem für Lelouch barg.

„Danke“, sagte Clovis, seine Erleichterung noch immer offenkundig und mit einem aufrichtigen Lächeln auf den Lippen. „Ich verspreche, du wirst es nicht bereuen.“ Er straffte die Schultern. „Graf Asplund sollte nicht früher als in ein paar Stunden hier sein - ich wollte dir nur schon einmal Bescheid geben. Also hast du alles, was du brauchst?“

Lelouch nickte wortlos, und Clovis' Lächeln geriet ins Wanken. „Du... du würdest nicht dein Geass an ihm einsetzen, oder?“

Aber es war eine überflüssige Frage, und der Ausdruck in den Augen seines Bruders verriet, dass er sich dessen bewusst war. Lelouch lächelte. „Natürlich nicht.“

„Lelouch...“ Nicht zum ersten Mal sprach Clovis seinen Namen in einem Tonfall aus, der mehr ein Flehen war als alles andere. Und wie auch schon die Male zuvor kümmerte Lelouch sich nicht darum.

„Wenn du darauf bestehst, dass ich einen Arzt sehe, kann ich dich nicht aufhalten“, entgegnete er ungerührt. „Aber erwarte nicht, dass ich mich auch außerhalb des Spielfeldes an die Regeln halte.“

„Was willst du von mir, Lelouch?“ Clovis' Miene spiegelte eine Emotion wider, die nicht ganz Verzweiflung, aber doch nahe genug daran war. „Was schlägst du vor?“

Was Lelouch wirklich wollte, war, dass Clovis sein vollkommen unnötiges Vorhaben, einen britischen Adligen zu involvieren, aufgab und ihn in Frieden ließ; aber da er das für unwahrscheinlich hielt, würde er sich damit begnügen, sich bereits im Voraus an seinem Bruder zu rächen. Es mochte kleinlich und vielleicht sogar irrational sein, aber es war überaus befriedigend, seine Worte wie eine scharfe Klinge zu verwenden und ihre vernichtende Wirkung zu beobachten.

„Ich bin sicher, du wirst dir etwas einfallen lassen“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. „Ich habe dir gesagt, dass ich kooperieren werde – wenn du Vorkehrungen treffen willst, um sicherzustellen, dass ich diese Gelegenheit nicht zu meinem Vorteil nutzen kann, werde ich mich nicht widersetzen. Sollte ich dich aber dennoch überlisten...“ Auf sein Gesicht, das bis dahin bar jeder Emotion gewesen war, glitt ein kühles Lächeln. „Nun, dieses Risiko wirst du wohl eingehen müssen.“

Unglücklicherweise war Clovis dabei, die unangenehme Angewohnheit zu entwickeln, seine schlechtverhohlenen Drohungen ganz einfach zu überhören und stattdessen an Trivialitäten hängenzubleiben. „Vorkehrungen?“, fragte er mit großen Augen. „Was erwartest du von mir, Lelouch? Dass ich dich in Ketten lege und Graf Asplund wie einen Kriminellen vorführe?“

„Weshalb nicht?“ Lelouch blieb gleichmütig – unter anderem, weil es seine Fähigkeit in ihren Möglichkeiten nur geringfügig einschränken würde, wenn er gefesselt wäre, und er die Hoffnung hegte, dass Clovis das Ausmaß etwaiger Vorsichtsmaßnahmen überschätzen könnte. Es würde demütigend sein; aber alles, was Lelouch von seinem Bruder brauchte, damit die Erniedrigung sich lohnte, war ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit. „Ist es nicht das, was ich bin?“

Clovis starrte ihn an. „Denkst du wirklich, dass ich das tun würde?“, fragte er. „Dass ich dich in Ketten legen würde wie einen gemeinen Verbrecher?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Du bist mein Bruder, Lelouch. Mehr als alles andere. Ich könnte niemals-“

„Was willst du sonst tun?“, schnitt Lelouch ihm unbeeindruckt ins Wort..

Clovis schloss den Mund wieder und sah zur Seite. „Ich weiß nicht“, gab er nach kurzem Schweigen zu. „Ich schätze, ich könnte einen Weg finden, dein Auge zu bedecken... ich glaube nicht, dass das Geass wirkt, wenn du keinen Blickkontakt zu deinem Gegenüber aufbauen kannst.“ Lelouch hatte keine Ahnung, ob Clovis aufgrund seiner Forschungen zu diesem Ergebnis gelangt war oder einfach nur übereilte Schlüsse zog, aber er wusste, dass der blonde Gouverneur in seiner Annahme korrekt war, und als er sich vorstellte, mit verbundenen Augen einem britischen Adligen ausgeliefert zu sein, bemerkte er, dass seine Übelkeit noch immer nicht verflogen war. „Aber das will ich nicht“, fuhr sein Bruder nach kurzem Zögern fort und suchte Lelouchs Blick. „Ich könnte dir das niemals antun, Lelouch.“ Der Ausdruck in den meerblauen Augen war einmal mehr flehend. „Sag mir, was du willst, und ich werde versuchen, es dir zu geben - aber zwing mich nicht, zwischen deiner Gesundheit und deinem Stolz zu wählen.“

Lelouch musste zugeben, dass es ihn überraschte, wie sehr Clovis die Vorstellung zuwider zu sein schien, ihn noch einmal ähnlich zu behandeln wie zu Anfang seiner Gefangenschaft, obwohl es die einfachste und vernünftigste Lösung für sein Problem wäre. Er hätte vermutet, dass sein Bruder Hintergedanken hatte und konkrete Pläne mir seinem seltsamen Verhalten verfolgte, aber Clovis war nicht so gut, dass er diese Art von Emotionen so glaubhaft vortäuschen könnte – nicht auf Dauer. Er mochte an Lelouchs Geass interessiert sein und wenig noble Gründe dafür haben, weshalb er sich überhaupt erst so intensiv mit einem jüngeren Bruder auseinandersetzte, der erst kürzlich von den Toten zurückgekehrt und beinahe zu seinem Henker geworden war, aber es hatte ganz den Anschein, dass Clovis nicht kaltblütig genug war, um einen Feind auch gänzlich wie einen solchen zu behandeln, wenn dieser zufällig blutsverwandt mit ihm war – ganz im Gegensatz zu Lelouch.
 

~
 

„Was erwartest du, das ich sage, Clovis?“, fragte sein Bruder kühl. „Dass ich mein Geass unter keinen Umständen benutzen werde? Würdest du dich wirklich auf mein Wort verlassen?“

„Ich...“, begann Clovis und erkannte noch im selben Atemzug, wie albern er gewesen war. Er erwartete, dass Lelouch ihm vertraute – aber in Wahrheit war er selbst nicht bereit, sich auf ein bloßes Versprechen seines Bruders zu verlassen, selbst wenn dieser bereit gewesen wäre, es ihm zu geben. Er fragte sich, ob er dankbar sein sollte, dass Lelouch sich keine Mühe gegeben hatte, ihm etwas vorzumachen; aber etwas sagte ihm, dass seine Motive kein Anlass zur Freude waren. „Du hast Recht“, gestand er ein und wich dem unbarmherzigen Blick violetter Augen aus, der zugleich kalt, wissend und fast schon triumphierend auf ihm ruhte. „Unter diesen Umständen würde es keinen Unterschied machen.“ Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, bevor er sich mit neuer Entschlossenheit wieder seinem Bruder zuwandte. Dieser beobachtete ihn aufmerksam, jedoch ohne jede erkennbare Regung. „Aber ich bin nach wie vor nicht bereit, dich wie einen Kriminellen zu behandeln“, fuhr Clovis fort und spürte, wie sein Blick weich wurde. „Ich habe dir gesagt, dass ich dir niemals absichtlich schaden würde“, erinnerte er seinen Bruder sanft. „Was hättest du davon, dein Geass einzusetzen?“

Lelouchs Züge blieben unbewegt. „Oh, ich weiß nicht...“, sagte er mit unverkennbarem Sarkasmus in der Stimme. „Meine Freiheit?“

„Du bist kein Gefangener, Lelouch.“

„Ach nein? Dann sag mir, Bruder - wie würdest du das hier nennen? Ich kann nicht einmal bestimmen, ob ich einen Arzt sehe möchte oder nicht, geschweige denn diesen Raum verlassen.“

„Du bist verletzt“, erinnerte Clovis ihn, aber im Grunde war er sich bewusst, dass das eine schwache Ausrede war.

Lelouch schnaubte verächtlich. „Und das gibt dir das Recht, mich zu bevormunden und in einen goldenen Käfig zu sperren?“

Dieses Mal war es Clovis, dessen Blick kühl wurde. „Nein“, sagte er. „Aber wenn du versuchst, mein Hirn an den Wänden meiner Kommandozentrale zu verteilen, dann wirst du wohl oder übel mit den Konsequenzen leben müssen.“ Lelouchs Miene veränderte sich nicht, aber er schwieg, und Clovis wusste, dass er diese Runde zur Abwechslung einmal gewonnen hatte. „Was würdest du tun, wenn du dich frei bewegen könntest?“, fragte er milder. Und fügte dann mit einem kleinen, selbstironischen Lächeln hinzu: „Außer mich zu töten.“

Lelouch sah ihn noch einen Moment länger mit nichtssagendem Blick an, bevor er den Kopf drehte und stattdessen die Wand betrachtete. Offenbar hatte er nicht vor, ihm zu antworten.

Clovis unterdrückte ein Seufzen. „Es gibt wirklich nichts, was ich tun könnte, um deine Laune zu bessern? Zumindest ein wenig?“, versuchte er es noch ein letztes Mal – mehr aus Ratlosigkeit als weil er ernsthaft daran glaubte, dass Lelouch es sich anders überlegt haben könnte. Folglich war er nicht überrascht, als er als Antwort ein weiteres Mal nur Schweigen erhielt. Resigniert erhob er sich, nahm den leeren Teller von Lelouchs Nachttisch und wandte sich zum Gehen.

„Einen Laptop.“

Perplex drehte Clovis sich wieder um. „Was?“

„Gib mir einen Laptop mit Internetverbindung“, sagte Lelouch sachlich, „und ich werde darüber nachdenken.“

„Ich bin nicht sicher...“, setzte Clovis an, brach jedoch ab, als er den ungerührten Blick seines Bruders sah. Vermutlich war es keine gute Idee, Lelouch einen Computer in die Hand zu geben – Clovis hatte keinen Zweifel, dass sein Bruder mehr damit anfangen konnte, als E-Mails zu verschicken, und selbst das wäre ihm unter den gegebenen Umständen schon nicht ganz geheuer. Aber letzten Endes konnte er Lelouch nicht ewig von allem fernhalten, was er auch nur entfernt als Waffe gebrauchen könnte, und der Gedanke, seinen Bruder tatsächlich zu halten wie in einem goldenen Käfig, nur, weil er zu feige war, eine Alternative zu finden, übte beinahe einen ebenso großen Reiz auf Clovis aus wie die Vorstellung, Lelouch eine Pistole in die Hand zu drücken und abzuwarten, was er damit tun würde.

„In Ordnung“, stimmte er daher nach ein paar Sekunden des Zauderns zu. „Ich werde zusehen, dass du ihn noch vor morgen Mittag bekommst. Sonst noch irgendetwas?“

„Nein.“ Lelouchs Blick war undefinierbar. „Das ist alles.“
 

~
 

Viereinhalb Stunden nach der nicht sehr ergiebigen Konversation mit seinem jüngeren Bruder schickte Clovis alle Wachen im Gebäude fort und empfing höchst persönlich Graf Asplund, der die übliche unbefangene Gelassenheit an den Tag legte und keinen Hehl aus seiner Neugierde machte.

„Ich frage mich, wer es ist, den ich so dringend untersuchen soll...“, bemerkte er, als er in der für einen Adligen angemessenen Alltagskleidung und mit einem kleinen Koffer in der Hand Clovis die breite Treppe empor folgte. „Noch dazu bei einer Nacht- und Nebelaktion.“

„Niemand, dessen Identität von Belang für Euch wäre.“

„Ah?“, machte der Graf und klang sogar noch interessierter als zuvor.

Über die Schulter warf Clovis ihm einen warnenden Blick zu. „Es wäre besser, wenn Ihr keine Fragen stellen würdet.“

Lloyd zeigte sich nicht gerade abgeschreckt, ließ das Thema aber mit einem unbekümmerten „Ist das so?“ fallen. Es war in Augenblicken wie diesen, dass Clovis froh war, dass der sonderbare Wissenschaftler beinahe ebenso professionell wie exzentrisch war.

Er führte den Mann bis zu Lelouchs Zimmer, vor dem er stehen blieb und höflich anklopfte, bevor er die Tür aufschloss und Graf Asplund den Vortritt ließ. Dann trat er selbst ein, und sein Blick legte sich ohne jede Verzögerung auf seinen Bruder – trotz allem hatte er nicht vor, Lelouch eine Möglichkeit zu geben, unbemerkt Gebrauch von seinem Geass zu machen.

Sein Bruder jedoch machte nicht den Eindruck, irgendetwas dergleichen vorzuhaben – was nur bedingt ein gutes Zeichen, aber in jedem Fall auffällig war.

Der Junge saß aufrecht in seinem Bett, die Miene neutral und einen aufmerksamen Ausdruck in den violetten Augen, und unwillkürlich kam Clovis der Gedanke, dass Lloyd sich nicht anstrengen müsste, um seinen Bruder als den zu erkennen, der er war: Lelouchs blasse aristokratische Züge waren beinahe unübersehbar, und sein dunkles seidiges Haar unterstrich diesen ersten Eindruck nur noch. Auch seine Haltung war die eines Prinzen, stolz und reserviert, und wenn es eines gab, wonach Lelouch in diesem Moment nicht aussah, dann war es jemand, der gegen seinen Willen festgehalten wurde. Viel mehr vermittelte er den Eindruck, dass es nichts auf dieser Welt gab, das sich seiner Kontrolle entzog.

„Graf Asplund, nehme ich an?“, erkundigte er sich in einem Tonfall, der seinem Gesichtsausdruck entsprach.

Graf Asplund blieb stehen und musterte ihn mit unverhohlener Neugierde. „Einfach nur Lloyd. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Lelouch blinzelte nicht einmal. „Mit niemandem von Belang.“

Schon zum zweiten Mal hatte er eine Antwort erhalten, die unmöglich zufriedenstellend für ihn sein konnte, aber der exzentrische Graf schien sich nicht daran zu stören, genauso wenig wie an dem ausdruckslosen Tonfall. „Mhm“, machte er heiter und trat näher. „Eine Schussverletzung, ja?“

Lelouch nickte leicht und zog ohne weitere Verzögerung die Decke zurück. Seines Oberteils und selbst des Verbandes hatte er sich bereits entledigte.

Lloyd ging neben ihm in die Knie und betrachtete die Wunde für einige Sekunden mit schiefgelegtem Kopf. „Ah... interessant“, kommentierte er gutgelaunt, und Clovis hatte große Lust, ihm etwas an den Kopf zu verwerfen. Aber falls Lloyd den stechenden Blick bemerkte, der sich in seinen Hinterkopf bohrte, ließ er sich nichts anmerken. Er streifte sich einen Latex-Handschuh über und begann vergnügt, an den Wundrändern herumzustochern. Nicht unbedingt grob, aber Clovis bezweifelte, dass Lelouch bei den ersten zwei Malen derart offensichtlich zusammengezuckt wäre, wäre er wirklich behutsam vorgegangen. „Nicht so harmlos, wie man meinen könnte, aber in jedem Fall ein Streifschuss.“ Der Graf tippte noch ein letztes Mal dagegen, und Clovis sah, wie Lelouch sich auf die Unterlippe biss – etwas, das dem exzentrischen Mann direkt vor ihm entging, da er wesentlich größeres Interesse an der Verletzung als an dem Verletzten zeigte. „Hm... ja, definitiv eine beginnende Entzündung!“

Clovis entschied, den verantwortlichen Soldaten im Nachhinein doch noch verschwinden zu lassen. Glücklicherweise brauchte er ihn ohnehin nicht mehr.

Lloyd, unbekümmert wie eh und je, legte den Koffer, den er mitgebracht hatte, auf das Fußende des Bettes und öffnete ihn. Dann nahm er einige der sich darin befindlichen Utensilien heraus und machte sich daran, Lelouchs Wunde fachgerecht zu versorgen.

Anerkennend bemerkte Clovis, dass sein Bruder keine Miene verzog, als das Desinfektionsspray mit der Verletzung in Kontakt kam.

„Immerhin ist es keine Blutvergiftung“, meinte Lloyd, und klang dabei trotz des wenig verwerflichen Inhalts seiner Worte wesentlich zu fröhlich für Clovis' Geschmack.

Lelouch dagegen ließ sich nicht anmerken, ob er ähnlich empfand. Seine Gesichtsmuskeln zuckten nicht einmal, während Graf Asplund seine Wunde neu verband, und Clovis hatte die vage Vermutung, dass er die Angelegenheit einfach nur so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.

Wenn dem so war, musste er nicht lange warten. Schon nach wenigen Minuten richtete der sonderbare Adlige sich mit einem vergnügten: „Das war's!“ wieder auf und begab sich zurück zu seinem Koffer. Clovis wartete, bis der Mann seine Sachen wieder eingepackt hatte, und begleitete ihn dann ohne Umschweife nach draußen. Dabei überraschte es ihn nicht, dass Graf Asplund nicht für eine Sekunde daran dachte, sich formell von seinem Patienten zu verabschieden, und beinahe noch weniger wunderte es ihn es, dass Lelouch keine Anstalten machte, ihn auf sein Fehlverhalten aufmerksam zu machen.

Erst als Clovis die Tür hinter ihnen abschloss, warf Lloyd ihm noch einmal einen neugierigen Blick zu. Allerdings stellte er keine weiteren Fragen mehr, sondern lächelte – dasselbe Lächeln, das sich auf seine Lippen gelegt hatte, als er Clovis gebeten hatte, sein neues Spielzeug beim Namen zu nennen. „Bezüglich des Lancelots...“, begann er.

Und Clovis wusste, dass sein kleiner Bruder Graf Asplund nicht länger interessierte.



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