Zum Inhalt der Seite

Spaziergang unter Beobachtung

Für den 'Kreatives Schreiben & Zeichnen'-Zirkel
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Spaziergang unter Beobachtung

Sie bemerkte es nicht.

Sie hatte es nie bemerkt, tat es jetzt nicht und würde es nie tun, zumindest bis sie wieder bei ihm war. Er vermisste sie, aber er sah sie und ließ ihr Zeit, denn sie hatte alle Zeit verdient die sie kriegen konnte. Er sah ihr dabei zu. Er liebte es, sie zu beobachten, schon immer hatte er es geliebt, hatte er sie geliebt. Er wollte sie wieder bei sich haben, doch er wartete... Viel zu lange wartete er schon und er würde weiter warte, denn die nächste Zeit könnte er auch noch überstehen. Denn es würde nicht mehr lange dauern, das wusste er. Also wartete er weiter und sah zu.

Und sie bemerkte es nicht.
 

Links, rechts, links, rechts....
 

Mit kleinen Schritten ging die Frau die Straße lang, immer ein Fuß nach dem anderen.
 

Links, rechts, links, rechts....
 

Sie sah auf den Gehsteig vor sich, hob den Blick nur selten um einen der hektischen Fußgänger in ihrem Weg müde anzusehen und wand ihn direkt wieder ab, denn die Menschen um sie herum waren jung, sie waren alle jung.
 

Links, rechts, links, rechts..,
 

Nicht nur die Fußgänger waren jung.

Auch die Leuchtreklamen zu ihrer Linken, zu denen sie nicht einmal hinauf sah. Auch die vollen Schaufenster, in die sie nicht einmal hinein sah. Die Autos, die auf der Straße auf und ab brausten und einen Riesenlärm und noch viel größeren Gestank verursachten. Die kleinen Geräte, die die jungen Leute um sie herum in den Händen oder an ihr Ohr hielten – Handys und MP3-Player. Sie sah täglich neue Formen und Farben dieser Geräte, denn jedes war neu und jung. Im Gegensatz zu ihr war alles jung. Alles war wechselhaft.
 

Links, rechts, links, rechts...
 

Es gab nicht mehr viel in ihrem Leben. Nicht mehr viel zu sehen, nicht mehr viel zu erleben, nicht mehr viel zu erwarten. Sie ging diese Strecke jeden Tag, eine Konstante wie es sie in dieser Stadt nur wenige gab. Oder auch in allen Städten. Denn Städte sind hektisch und laut und voll und jung. Und junge Dinge wollen immer Neues ausprobieren, sich und andere testen und experimentieren. In ihrem Leben gab es nur noch Regelmäßigkeit.
 

Links, rechts, links, recht...
 

Seit Jahren dieselbe Prozedur: Sie stand morgens auf, frühstückte, ging in dem kleinen Laden zwei Straßen weiter einkaufen, aß zu Mittag, legte sich für eine Stunde hin und machte dann ihren Spaziergang. Aber ihre Beine waren alt geworden und müde, sie benutzte seit einigen Monaten die Straßenbahn um an ihre Ziele zu kommen. Die Straßenbahn, laut, voller junger Menschen und meist zu spät. Sie fuhr nicht gerne damit, aber sie war alt und wusste es auch. Ihr Arzt hatte ihr angeraten, ganz im Haus zu bleiben und sich nicht anzustrengen, aber was wusste er schon? Er war jung und hatte von alten Menschen doch neben dem Medizinischen auch keine Ahnung. Sie brauchte diesen Gang.
 

Links, rechts, links, rechts –Stop.
 

Sie kam an der Haltestelle an und hob den Kopf. Die Straßenbahn sollte in zwei Minuten kommen. Also würde sie in fünf da sein. Sie ging zu den seltsamen orangenen Plastiksitzen und lächelte den jungen Mann, der aufsprang und ihr seinen Sitz anbot, freundlich an. Er trug auch eines der kleinen Geräte am Gürtel, knallgrün und so groß wie eine Streichholzschachtel, aber sie hatte in der Zeitung gelesen, dass bis zu fünfhundert Lieder dort hinein gehen würden. Sie waren faszinierend, diese Dinge, aber unbrauchbar für sie. Sie brauchte nur ihren Spaziergang und die Zeit, die sie bei ihm verbrachte. Ein Seufzer entfuhr ihr. Gleich, dachte sie, gleich. Die Straßenbahn war gekommen.
 

Aufstehen, links, rechts, links, rechts –Stop.
 

Die Sitze waren unbequem, die Luft war stickig und die jungen Menschen waren laut. Aber sie mochte es so. So war sie allein mit ihren Gedanken, allein mit allem, obwohl so viel um sie herum war. Sie war allein, so wie sie es seit Jahren in ihrer Wohnung war, wie sie es seit Jahren in ihrem Leben war. Jahre... Sie hatte die Jahre nie gezählt. Sie hatte Jahrestage gezählt, drei wichtige, und die Tage bis zu diesen Jahrestagen aber nie die Jahre an sich. Schnee und Hitzewellen, Stürme und Sommerregen, kahle Bäume und Blumen waren gekommen und gegangen, aber nichts davon war wichtig gewesen. Ihr Hochzeitstag war bei Regen und Sonnenschein gewesen, an windigen und windstillen Tagen, aber er war immer gewesen. Sein Geburtstag eben so. Aber vor allem auch... Sein Todestag.
 

Ein Ruck ging durch die Straßenbahn.
 

Die erste Station war erreicht. Sie fuhr nur zwei Stationen weit, eine Strecke, die sie zu ihrer Jugendzeit auf Händen hatte laufen können, denn sie war eine Artistin gewesen, eine Künstlerin, ein Wirbelwind, wie er gesagt hatte. Und er wusste wovon er sprach. Er hatte sie in der Schule kennen gelernt, ihr geholfen, Hausaufgaben zwischen der Mittags- und Abendaufführung zu machen und sie nach dem Sommer – in dem sie mit dem Zirkus auf Reise war – wieder auf den neusten Stand gebracht. Er hatte sie geliebt seit er sieben Jahre alt war und ihr ging es nicht anders. Zu seinem achtzehnten Geburtstag bekam er eine Arbeitstelle und zwei Jahre später bat er sie, seine Frau zu werden. Danach hatten sie genau 33 Jahre zusammen gelebt. Sie war schon sechs Jahre länger allein.
 

Ein Ruck ging durch die Straßenbahn. Aufstehen, links, rechts, links, rechts...
 

Sie konzentrierte sich wieder ganz auf ihre Schritte. Immer ein Fuß nach dem anderen, kleine Schritte, sie hatte es nicht eilig. Sie war müde und alt, Eile war etwas, was sie nicht mehr empfunden hatte, seit er nicht mehr auf sie wartete. Sie spazierte weiter, von der Straße weg, an der Mauer entlang, auf das große Tor zu. Sie ging langsam, so wie die Zeit es tat.
 

Links, rechts, links, rechts...
 

Sie passierte das Tor und nickte dem Mann, der dort immer stand, begrüßend zu, ohne ihn auch nur anzusehen. Es hatte sich nichts verändert. Die Stadt hatte sich geändert, die Menschen, die Läden, das Leben, aber hier war alles wie immer. Hier schien der Verkehr weit weg zu sein und die Zeit anzuhalten. Hier, an diesem Ort, den sie seit über 39 Jahren täglich aufsuchte. Nun war es nicht mehr weit.
 

Links, rechts, links, rechts...
 

Dritter Gang, der sechzehnte Stein. Grau und mittelmäßig groß, mit einem schlichten Kranz vom letzten Sonntag. Blumen bekam er keine, nur Sonntags einen Kranz. Blumen sind für schöne Frauen, die Toten bekommen Kränze, hatte er gesagt, als sie vor über 50 Jahren seinen Vater begraben hatten. Sie hielt sich daran. Sie, wusste was er wollte. Heute bekam er nichts.
 

Links, rechts, links, -Stop. Drehen.
 

Früher hatte sie sich zu ihm gesetzt. Früher hatte sie sich im Sommer auch zu ihm gelegt, auf die Wiese, die auf seinem Grab wuchs. Sie würde es immer noch tun, aber sie wusste, sie war alt, sie würde nicht mehr aufstehen können. Also blieb sie stehen und starrte ein paar Minuten auf seinen – ihren – Namen.

Dann kamen die Tränen.

Leise rollten sie die runzligen Wangen hinab, hinterließen eine feine Spur auf ihnen und tropften auf die vor der Brust gefalteten Hände. 39 Jahre und sie weinte immer noch. Das würde ihm nicht gefallen.

„Tut mir leid“, flüsterte sie. „Tut mir leid dass ich immer noch weinen muss. Du magst es nicht, ich weiß. Ich kann nur nicht aufhören.“

Gestern war sie beim Arzt gewesen. Keine Anstrengung, hatte er gesagt. Keine Anstrengung, keine Aufregung, ein Altersheim sei das Beste. Aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt. Sie wollte in ihrer Wohnung sein, wenn sie starb. Sie wollte in ihrem Bett liegen, in dem auch er gelegen hatte. Sie wollte sterben und bei ihm sein, nicht an einem fremden Ort dahinscheiden und ihn dann nicht finden. Der Himmel war groß.

Sie holte ein Taschentuch heraus. Ihre Hände zitterten. Sie trocknete ihre Augen und besah sich dann ihre Hände. Zittrig, faltig, voller Altersflecken. Sie war alt geworden.

Sie lächelte. Alt. Alt war gut. Alt hieß sie würde bald bei ihm sein. Es konnte nicht mehr lange dauern, nicht, wenn der Arzt Recht hatte.

„Es dauert nicht mehr lang“, flüsterte sie dem Grab zu. „Dann komme ich. “

Sie hatte keine Angst. Sie hatte alles erlebt, was sie erleben wollte. Aber die Welt war nicht mehr dieselbe, alles hatte sich verändert. Sie hatte so viel gesehen, sie begann die Hälfte wieder zu vergessen. Sie war müde, ihre Augen waren müde. Sie wollte zu ihm.

„Nicht mehr lange“, wiederholte sie. „Aber erst muss ich noch ein bisschen leben. Den Rest sehen.“

Sie wandte sich ab und wollte sich entfernen, dann blieb sie noch einmal stehen und sah zurück. Das Wichtigste hatte sie vergessen.

„Ich vermisse dich.“
 

Rechts, links, rechts, links...

Sie ging wieder nach Hause.

Er hatte sie beobachtet. Wie sie vor seinem Grab gestanden und geweint hatte. Was sie gesagt hatte. Er hatte ihr zugehört und gelächelt. Jetzt war sie auf dem Heimweg. Bald würde sie auf dem Weg zu ihm sein.

Er würde auf sie warten. Immer. Egal wie lange sie brauchte. Er sah wie sie am Tor stehen blieb und hoch zum Himmel schaute. Müde, alte Augen, die viel gesehen hatten. Aber sie besaßen immer noch diesen Glanz, den sie damals hatten, als er sich in sie verliebt hatte. Es waren ihre Augen, und er konnte in ihnen immer noch die herumwirbelnde Artistin sehen. Es waren ihre Augen, und sie war sein. Er lächelte wieder.

Dann antwortete er.

„Ich vermisse dich auch“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (10)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Hellschwarz
2009-08-25T08:45:30+00:00 25.08.2009 10:45
Unglaublich! Anfangs fand ich es ein bisschen unoriginell würd ich sagen aber mit jeder Zeile wurde es interessanter, bis es mir die Gänsehaut rauf und runter gejagt hat und meine Augen glasig wurden! Ich fand die Geschichte einsame Spitze. ^.^~
Von: abgemeldet
2009-08-24T21:28:53+00:00 24.08.2009 23:28
Ooookay.
Ich kann den ganzen Leuten vor mir im Prinzip nur noch zustimmen. Obwohl sich meine Freundin neben mir darüber königlich amüsiert hast du mich mit dieser Geschichte wirklich zum weinen gebracht - bereits nach dem ersten paar Zeilen kamen mir die Tränen in die Augen.
Es ist so schön leise geschrieben, ganz einfach und schlicht wirkt es irgendwie und ist dadurch nur noch schöner und trauriger und toller...Diese Geschichte ist einfach wahnsinnig alles davon. Schön, traurig, romantisch, zu tränen rührend und dabei glücklich.
Ein Riesenlob von meiner Seite dafür - einziges Manko, ich kann dir nicht einmal sagen, ob du Fehler gemacht hast, ich war etwas von der Handlung abgelenkt ^^°
Wow.
Wirklich, wirklich wow.
Von:  Loettchen1989
2009-08-24T13:38:50+00:00 24.08.2009 15:38
Ein wunderschöner One-Shot. Ich finde den Schreibstli wunderschön und zum Schluss hatte ich Tränen in den Augen, weil ich so gerührt war. Wirklich wirklich gut.
Von:  Tintenfeder007
2009-08-23T15:23:05+00:00 23.08.2009 17:23
also, das is wirklich schön...
der stil gefällt mir und die länge is genau richtig!
1 mit * für diese geschichte
Von: abgemeldet
2009-08-17T10:57:47+00:00 17.08.2009 12:57
Würde ich nicht an meinem Arbeitsplatz, umringt von Kollegen sitzen, würde ich meine Emotionen nicht so zügeln. Deine Geschichte erinnert mich an so vieles in meinem Leben. Ein Außergewöhnlich guter Schreibstil und mal etwas anderes. Wirklich ausgezeichnet!
Von:  C0ce
2009-08-14T11:48:48+00:00 14.08.2009 13:48
Wow, das ist wirklich ein sehr schöner One-Shot...
Ich bin wirklich gerührt.
Vorallem, weil so viel reales in deiner Geschichte steckt.
Meinen vollsten Respekt für diese Idee, dessen Umsetzung noch besser ist, als sie selbst
Von: abgemeldet
2009-08-09T20:31:11+00:00 09.08.2009 22:31
Eine wirklich schöne Geschichte. Unheimlich traurig, und durch die Vorstellung das die Seele überdauert auch sehr tröstend...
Entschuldige, das zu kurz geratene Komentar, aber ich kann so schlecht schreiben wenn ich weinen muss...
Von: abgemeldet
2009-08-05T11:03:27+00:00 05.08.2009 13:03
Diese Geschichte ist wunderschön und gleichzeitig sehr traurig.
Wirklich toll geschrieben :)
Von: abgemeldet
2009-08-03T13:08:25+00:00 03.08.2009 15:08
Es ist wirklich schön,
mir geht es wie Miss_Umbrella, ich hatte auch Tränen in den Augen.
Es ist schön und leicht leserlich geschrieben und bringt eben alles so rüber, wie es glaub ich rüber kommen soll.
Und die Vorstellung das seine Seele noch so existiert, das er auf die warten kann, die ist einfach toll. Ich hab mich schon seit ich klein war, gefragt was mit den Seelen passiert wenn man stirbt, es ist immernoch keine Antwort, aber eine schöne Vorstellung wenn Liebe alles überdauern kann. Fehler, etc hab ich nicht entdeckt, aber einfach weil ich in die Geschichte vertieft war.
Großes Kompliment.
Von:  ChasingCars
2009-06-23T11:36:05+00:00 23.06.2009 13:36
Ich hab Tränen in den Augen... *__* Und das kommt bei mir bei Texten nur verdammt selten vor. Aber alte Menschen bewegen mich im Moment sowieso extrem schnell. :)
Auf jeden Fall - Eine wunderschöne Geschichte! Die Vorstellung, die Menschen, die man liebt, sind immer bei dir und beobachten dich, das ist toll. Und unheimlich tröstend. Manchmal stelle ich mir das genauso vor. :)
Ich finde auch, du hast diesen Kontrast zwischen der alten Frau und der Stadt klasse herausgestellt. Und toll fand ich auch die Stelle, dass sie zuhause sterben will, sonst findet sie ihn vielleicht nicht, denn der Himmel ist groß. *___*
Hm, Kritik...? Naja, ab und zu hat mal ein Komma gefehlt. Aber ich denke, darüber kann man hinwegsehen. :P
Bisher der beste Text unter den Beiträgen, finde ich. :)


Zurück