Drabble 27 - Art of Reading
Art of Reading
Er war nervös. Er war sooooooooooooo nervös. Ja, ziemlich untypisch, nicht wahr?
Sein Buch sollte heute veröffentlicht werden. Sein erstes Buch!
Shinichi konnte sich kaum noch halten.
So viel Nervosität.
Wie würde es ankommen?
Er hatte so lange daran gearbeitet, so viele Handlungsstränge in seinen Teppich eingewoben.
Was würde das Publikum davon halten?
Buchhandlungen waren immer so voller Bücher.
Welch Wunder.
Interessanterweise waren Buchhandlungen hin und wieder auch voller Autoren.
So wie heute.
Da war zum einen er.
Zum anderen stand ein Meister seines Faches am Redepult und las.
Er, der junge Autor, ganz alleine, nur sein Buch vor ihm.
Der Alte, scharenweise Menschen um sich, die nur ihm zuhörten.
Und wie er las.
Es gab Autoren, die nicht zu lesen brauchten.
Er erzählte.
Shinichi wäre vor Neid beinahe erblasst.
Dieser Meister schaffte es, den Lesesaal zu füllen.
Dann würde er sich präsentieren müssen.
Schmach.
Der andere Autor schloss seine Rede ab.
Shinichi hatte gemeint, dass er LESEN müsste, nicht reden.
Die Zuhörer bestürmten ihn, alle wollten sie ein Autogramm.
Die Schlange reihte sich auf, dicht gedrängt standen sie und der Autor machte sein Zeichen.
Gruppendynamik.
Eine halbe Stunde war vergangen, er hatte diesen meisterlichen Leser beobachtet.
Die Autogrammstunde war um.
Jetzt sollte er sich präsentieren.
Zitternd schritt er an das Lesepult und schlug sein Buch auf.
Er hatte sich eine besondere Stelle seiner Geschichte ausgesucht.
Er hoffte, er konnte die Leser für sich gewinnen.
Er war geschockt.
SIE GINGEN!
Seine Hörer, sie alle standen auf und gingen!
Sie hatten ihn sein Buch aufschlagen gesehen.
War das so erschreckend?
Sie flüchteten vor ihm.
Langsam leerte sich der Saal.
Menschen strömten alle in eine Richtung: nach draußen.
Bis auf eine.
Eine Schönheit mit kurzen Haaren und perfekter Figur drängelte sich durch die Masse.
Ihre rotblonden Locken zogen die Blicke der Männer auf sich.
Wahrscheinlich nicht nur die Locken.
Im Pulk der Fliehenden bildete sich ein Tumult.
Männer drehten sich auf der Stelle um und folgten der grazilen jungen Frau.
Mit einem genüsslichen Grinsen lies sie sich auf einem der leeren Stühle nieder.
Ihr bezaubernder Blick traf Shinichis Augen.
Sie zwinkerte.
Um sie herum scharten sich die Männer.
Alle murmelten sie ihre Alibis.
Jeder wollte nur „zuhören“.
Shiho grinste.
Wohl eher „zuschauen“.
Der Saal füllte sich.
Gruppenzwang.
Jetzt waren es nicht nur Männer, nein, auch Frauen folgten.
Wo so viele Menschen waren, da musste es ja interessant sein.
Shinichi nickte. Er sah ihr in die Augen und lächelte. „Danke“, flüsterte er und räusperte sich.
„Einen schönen guten Abend meine sehr geehrten Damen und Herren. Ich hoffe, ich kann heute Abend ihre Aufmerksamkeit fesseln und sie für mein Erstlingswerk gewinnen…“
Die Kunst des Lesens soll gelernt sein. Die Kunst der Verführung auch…
