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Götterdämmerung

von

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Das kurze Leben der Raucher

Kapitel 11 – Das kurze Leben der Raucher
 

Ciel POV
 

Ciel wartete. Er wartete an dem Strasseneck, das er innerlich als ‘Ians Stelle’ bezeichnete. Der Titel war etwas ironisch, weil besagter Namensgeber nicht unweit von ihm ebenfalls wartete, sich aber strickt weigerte rüberzukommen und mit ihm zu reden. Ciel konnte es ihm nicht verübeln und steckte stattdessen mit einem Schulterzucken die Hände in die Hosentaschen. Es war kühl heute Abend.
 

Seit dem Vorfall in Kents Haus hatte Ian seine Versuche Ciel für die Bande zu rekrutieren eingestellt. Es war fast schon amüsant, dass ein Strassenjunge, der normalerweise nicht von übermässigen moralischen Skrupeln geplagt wurde, anscheinend eine Grenze zog, wenn es um die Sicherheit seiner Stammkunden ging. Ciel verzog dem Mund und ärgerte sich insgeheim trotzdem etwas, dass ihn Ians Abweisung störte. Aber er brauchte den Strichjungen nicht. Zumindest redete er sich das immer und immer wieder ein, während sein Blick die Strasse auf und ab glitt. Suchend, abwartend.
 

Von seiner jetzigen Position aus würde die Kutsche zuerst bei ihm vorbeifahren, bevor sie Ians neue Stelle passierte. Folglich war die Chance gross, dass er anstatt des anderen Strichjungen mitgenommen werden würde. Ciel ballte die Hände in seinen Taschen zu Fäusten. Heute war die Nacht, in der alles enden würde. Endlich war es vorbei! Er atmete schwer aus und sein weisser Atem umhüllte ihn sacht, bevor er sich auflöste. Es war wirklich kalt heute.
 

Die Dokumente, die er bei Kent hatte mitgehen lassen, waren eindeutig gewesen. Sie hatten ihm die fehlenden Hinweise geliefert, nach denen er gesucht hatte. Zum einen war da der Brief von Rochester, welcher mehr oder weniger beschrieb, dass er – Ciel Phantomhive – für sein anmassendes Verhalten büssen müsse und dass Rochester deswegen seine Unterstützung zusichern würde. Dummerweise hatte Ciel bei seinem kleinen Diebstahl in Kents Büro nur die erste von mehreren Seiten erwischt, aber das war auch schon Beweis genug und hatte beinah dazu geführt, dass er in seiner Empörung über Rochesters Verrat das Schriftstück in tausend kleine Einzelteile zerstückelt hatte. Er hatte sich gerade noch knapp zurückhalten können, aber das Workhouse Personal hatte ihm ein paar sehr verstörte Blicke zugeworfen.
 

Zum anderen hatte er auch noch zwei weitere kleinere und sehr schwer leserliche Notizen eingesteckt. Eine davon enthielt bei genauerer Betrachtung die Adresse des Funtom Lagerhauses am Hafen und den Namen "Bull". Ciel verengte seine Augen zu Schlitzen und prustete Luft aus. Um Bull würde er sich auch noch kümmern, aber erst war Kent dran. Denn der ultimative Beweis war die andere Notiz gewesen. Auf ihr waren lediglich ein paar kurze Worte hingekritzelt, aber sie waren alles gewesen, was Ciel gebraucht hatte.
 

14th December, 1893

D. at Phantomhive Engagement Party
 

Das war das Datum, das Datum des Vorfalls… des Anschlages! Der Tag an dem sein Leben zum zweiten Mal aus den Angeln gehoben worden war. Ciel hatte sich dieses Mal nicht zurückhalten können und das Papier in seiner Faust zerknüllt. Es hatte ein paar Minuten gedauert, bis er sich wieder genug unter Kontrolle hatte, um es auseinander zu falten und wieder glatt zu streichen. Er brauchte es schliesslich noch. Deswegen hatte er all die Papiere in seine Hosentasche gestopft und sich hierher begeben, wo er auf Kent wartete. Er würde den Mann heute stellen.
 

Sicherlich wäre es besser gewesen, Agni zu suchen und mit ihm zusammen loszuziehen. Aber der Inder war schon wieder irgendwo verschollen – wahrscheinlich in einer anderen Opiumhöhle – und Ciel hatte keine Geduld mehr für dessen Schwäche. Stattdessen hatte er mit dem Rest von Sebastians Geld einen zwielichtigen Händler bestochen und sich eine Pistole besorgt. Sie war seinem üblichen Modell zwar deutlich unterlegen, aber um den Urheber – nein, Kent! - zum Reden zu bringen würde sie genügen.
 

Ciel nickte mehr zu sich selbst und richtete seinen Blick zurück auf die Strasse. Bald würde die Kutsche kommen. Laut Ian war Kent ein Mann der Gewohnheit, was bedeutete, dass er immer am selben Tag zur selben Uhrzeit hier vorbeikam, um sich seine Abendunterhaltung mitzunehmen.
 

Und wie auf Geheiss vernahm er auch schon das Rattern der Räder von Kents Kutsche auf dem harten Kopfsteinpflaster. Ciel trat einen Schritt nach vorne und die Kutsche verlangsamte ihr Tempo. Direkt vor dem jungen Mann kam sie zum Stehen. Der feine weisse Vorhang am Fenster wurde zur Seite geschoben und gab Kents Gesicht preis, welches Ciel eindringlich betrachtete.
 

"Guten Abend, Sir. Wie kann ich Ihnen heute behilflich sein?" Ciel zwinkerte und versuchte sowas wie ein charmantes Lächeln aufzulegen. Er war nicht ganz sicher, ob es ihm gelang.
 

Kent runzelte die Stirn und schaut sich um. "Wo ist Ian?" fragte er.
 

"Oh, er hat sich eine Erkältung eingefangen und hütet das Bett. Deswegen bin ich heute allein." Ciel trat einen weiteren Schritt auf die Kutsche zu, gleichzeitig klopfte der Kutscher zweimal mit seinem Peitschenstiel gegen den Passagierwagen. Kents Kopf drehte sich in die Richtung des Geräusches, runzelte erneut die Stirn und schenkte Ciel dann ein offensichtlich falsches Lächeln. "Verstehe. Nun, dann werde ich wiederkommen, wenn Ian sich erholt hat. Ich entbiete noch einen schönen Abend."

Damit schloss Kent den Vorhang wieder und die Kutsche begann, noch bevor Ciel wieder zurücktreten konnte, sich wieder Bewegung zu setzen.
 

Der junge Earl stand perplex da. Hatte er ernsthaft gerade eine Abfuhr erhalten? Und das wegen Ian, einem Strichjungen?! Er starrte immer noch vollkommen fassungslos der Kutsche hinterher, die jetzt im Begriff war um die Ecke zu biegen, wo er wusste, dass Ian wartete.
 

Ciel begann sich zu bewegen… der Kutsche hinterher! In seinem Kopf hallten immer noch Kents Worte nach, und er konnte nicht glauben, dass er einfach so abgewiesen worden war.

Ciel rannte. Die Kutsche war mittlerweile aus seinem Blickfeld verschwunden, und er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Er war so unglaublich wütend! Wie hatte das nicht funktionieren können?! Kent hatte ihn das letzte Mal noch gewollt und jetzt einfach so nicht mehr? Es war nicht möglich! Jemand musste ihn gewarnt haben, denn Typen wie Kent wiesen ihn nie ab!
 

Ciel keuchte. Er war an der Biegung angekommen und sah gerade noch wie Ian durch die geöffnete Tür in die Kutsche einstieg.
 

"Halt!" schrie Ciel.
 

Der Strassenjunge drehte auch tatsächlich den Kopf in seine Richtung, aber als er ihn aber erkannte, grinste er nur, zeigte ihm dann eine rüde Geste und schloss die Tür hinter sich. Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung, und Ciel, immer noch schweratmend, wusste, dass er keine Chance hatte, sie einzuholen. Nicht so.
 

Sein Blickfeld verengte sich. Er versuchte Luft in seine Lungen zu pressen, die sowieso schon brannten. Er musste etwas tun! Das war die Chance, er konnte Kent nicht entkommen lassen! Wenn ihn tatsächlich jemand gewarnt hatte, würde er sonst nie mehr an ihn herankommen.
 

Ciel riss verzweifelt seine Weste auf holte mit zitternden Händen die Pistole hervor. Und noch während er unstet zielte, wusste er schon, dass er gerade im Begriff war einen riesigen Fehler zu begehen. Trotzdem betätigten seine Finger den Abzug und der Knall des Schusses barst durch das abendliche London.
 

Die Kugel schlug auf der Rückseite der Kutsche ein und für einen Moment schien es tatsächlich als würde das Fuhrwerk stehen bleiben, bevor dann ein panisches "Hüüüü!" ertönte und das Gespann in einem halsbrecherischen Tempo begann davonzujagen.
 

Ciel feuerte noch einmal, und noch einmal.
 

Im Hintergrund hatte sich eine Menschenmenge angefangen zu sammeln. Leute spähten vorsichtig aus ihren Fenstern und Gemurmel von wegen 'Jemand muss die Polizei rufen' drang vage an Ciels Ohr.
 

"Junger Herr?" Eine behandschuhte Hand legte sich vorsichtig auf seine und sorgte mit sanftem Nachdruck dafür, dass er die Pistole senkte. Sebastian stand hinter ihm und schirmte ihn so vor den neugierigen Blicken ab. "Ihr wollt doch keinen Skandal verursachen?"
 

Ciels Blick begann sich langsam wieder zu fokussieren. Als würde er erst jetzt wirklich realisieren was geschehen war, wandte er sich zu Sebastian um.

"Du wagst es?" Sein Blick spie Funken und mit einem unerwarteten Ruck erhob er die Waffen gegen seinen Butler. Dieser hob nur leicht überrascht die Augenbraue, deutet aber mit einer gespielt theatralischen Geste an, dass er sich ergab.
 

"Du wagst es dich einzumischen, nachdem du monatelang nichts getan hast?!" schrie Ciel und gestikulierte wild mit der Waffe. "Da vorne fährt gerade der Mörder von Lizzy und Soma davon, und wegen dir…"
 

Ciel musste einmal tief Luft holen. Dann blitzte sein eines blaues Auge auf. "Sebastian, ich befehle dir…"
 

Eine Hand legte sich blitzschnell auf seinen Mund und Sebastian schüttelte den Kopf. "Junger Herr, ich würde Euch strengstens von diesem Befehl abraten. Mister Kent ist nicht der, für den Ihr ihn haltet."
 

Doch Ciel gab nur ein unterdrücktes "hmpf" von sich, verzweifelt gegen die dämpfende Hand ankämpfend. Die Pistole war ihm mittlerweile aus den Fingern geglitten und zu Boden gefallen, wo sie nicht mehr weiter beachtet wurde. Stattdessen krallte der junge Earl seine Fingernägel in Sebastians Hand, versuchte zu beissen und um sich zu schlagen, aber es war alles zwecklos.
 

Sebastian schüttelte erneut den Kopf. "Lasst es gut sein, junger Herr. Ihr bringt Euch nur selbst in Gefahr und das kann ich nicht dulden." Zur Untermalung seiner Worte hob er Ciel hoch und war mit einem grossen Satz aus der Gasse verschwunden. Zurück blieben nur ein paar erstaunt Gaffer, die der später eintreffenden Polizeistreife auch nicht sagen konnten, was aus dem aufgebrachten jungen Mann geworden war.
 

Sebastian setzte Ciel auf einem der nahegelegenen Dächer ab. Natürlich kam er nicht umhin sich eine relativ wirkungslose Ohrfeige einzufangen, bevor sich der immer noch schweratmende Earl wieder soweit gefangen hatte, dass er wenigstens verstand, was sein Butler zu sagen hatte.
 

"Mister Kent ist nicht für den Anschlag letzten Dezember verantwortlich." Sebastian richtete seinen Frack und strich sich seine durch Ciel etwas in Unordnung geratenen Haare glatt, bevor er fortfuhr: "Oder zumindest nicht in der Form, derer Ihr ihn bezichtigt."
 

Ciel starrte ihn an. "Was sagst du da? Aber… aber das ist nicht möglich! Du lügst!"
 

Sebastian warf ihm einen unbeeindruckten Blick zu. "Ich lüge nie, junger Herr. Das solltet Ihr wissen." Mit vorsichtigen Bewegungen näherte er sich dem jungen Mann wieder und versuchte ihn zu beschwichtigen. "Was wisst Ihr über Mister Kents Erwerbstätigkeit?"
 

Ciels Mund öffnete sich um etwas zu erwidern, dann hielt er inne und starrte Sebastian an. Mit einem trotzigen Blick verschränkte er die Arme vor der Brust. "Er arbeitet für eine grössere Firma."
 

"Wisst Ihr für welche?"
 

Die ausbleibende Antwort machte mehr als klar, was der Stand der Dinge war.
 

"Mister Kent arbeitet für Hollister & Co."
 

"Hollister? Aber die vertreiben doch… das erklärt alles!" rief Ciel aus. Sebastian schüttelte erneut seinen Kopf, so etwas wie Mitleid spiegelte sich in seinem Gesichtsausdruck wider.
 

"Tut es nicht, mein Herr," erwiderte er sacht. "Wenn eine Konkurrenzfirma wie Hollister, die vor allem auf Kohle spezialisiert ist, Euch attackieren wollte, würden sie eine Eure Fabriken sabotieren und so Euer Produkt unsicher erscheinen lassen. Euer Heim anzugreifen, macht absolut keinen Sinn."
 

"Aber die Korrespondenz mit Rochester?" Der Earl schaute so hilflos und verzweifelt drein, es war klar, dass er es nicht gewohnt war, so daneben zu liegen.
 

"Der Baron ist in der Tat nicht ganz unschuldig." Sebastian förderte ein paar beschriebe Seiten Papier zutage, die Ciel sofort als die fehlenden Teile des Briefes identifizierte. Der Butler überreichte sie ihm und er begann sie blitzschnell zu überfliegen.
 

"Der Baron von Rochester hat nachdem Ihr ihm Eure Unterstützung versagt habt, offensichtlich beschlossen sich mit der Funtom Konkurrenz kurzzuschliessen, indem er ihnen bei gewissen Nachforschungen behilflich war."
 

Ciel schloss die Augen. Ein gequälter Gesichtsausdruck hatten ihn überkommen, aber jetzt sah er es deutlich vor sich. Rochester bei der Probe für die Verlobungsfeier. Er hatte sich über die Gasheizung erkundigt. Beim Pavillon hatte es sich um einen noch nie dagewesenen Prototyp gehandelt, den sie nachher massentauglich hatten machen wollen. Es war das grosse neue Steckenpferd der Funtom Company und hatte ziemlich viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Natürlich würde eine Firma wie Hollister daran interessiert sein… Oh, wie hatte er das nicht sehen können?
 

Er öffnete die Augen wieder und fokussierte Sebastian mit einem harten Blick. "Was sonst noch?"
 

Der Butler warf ihm ein diabolisches Lächeln zu und legte spielerisch seinen Finger ans Kinn. "Der Baron war ausser einem Spion noch zwei weitere Dinge. Wisst Ihr welche?"

Nach einer kurzen Pause und einem fast schon manischen Blick seines Herrn, fuhr er jedoch fort: "Ich werde es Euch verraten. Er war passionierter Raucher, aber er war auch nicht sehr… gewieft."
 

Er entfernte sich etwas von Ciel und zog dann etwas auf seiner Seitentasche hervor, das der junge Earl sofort als den Stummel einer von Rochesters widerlichen Zigarren identifizieren konnte. Ekel begann sich in ihm auszubreiten, während Sebastian mit einem simplen Fingerschnipsen die Reste der Zigarre entzündete und zum Glühen brachte.
 

"Stellt es euch so vor, junger Herr," er zeichnete mit dem Rauch Schemen in die Luft. "Der Baron schleicht am Tag Eurer Verlobungsfeier auf dem Anwesen umher. Er hat eine Zigarre in der Hand, da Ihr das Rauchen im Pavillon untersagt habt. Die Bediensteten beachten ihn nicht grossartig, da er ein geladener Gast ist – niemand Ungeladenes könnte das Phantomhive Anwesen je betreten. Das ist auch der Grund, warum Hollister ihn rekrutiert hat. Er ist schliesslich in der Tat ein alter Bekannter Eures Vaters." Die Schemen folgten Sebastians eleganten Bewegungen und zeigten die Umrisse eines korpulenten Mannes, der sich jetzt einem kleinen Gebäude näherte.
 

"Kent hat ihm aufgetragen, etwas über die grossartige neue Technologie herauszufinden, mit der der Pavillon beheizt wird und welche, so munkelt man, Kohle bald überflüssig machen wird. Der Baron folgt also den Leitungen, welche vom Pavillon zur Kapelle führen, wo der Brennkessel untergebracht ist. Er untersucht das Ganze, versteht dabei wenig, nimmt sich aber vor, das Beobachtete wie gesehen weiterzuleiten."
 

Ciel schluckte schwer, er wusste mittlerweile worauf die Geschichte hinauslief, trotzdem liess er Sebastian fortfahren und beobachtete wie Schemen-Rochester den Kopf umwandte.
 

"Vom Pavillon her ertönt das Zeichen für den Beginn der Zeremonie. Der Baron weiss, dass er sich jetzt sputen muss, also – und jetzt kommen wir zum Teil, der einem an der Intelligenz dieser Elster zweifeln lässt – schnippt er, ohne sich noch einmal umzuschauen, den Stummel seiner Zigarre weg. Er landet in der Kapelle. An sich kein nennenswertes Vergehen, hätte dort auf dem Boden nicht etwas gelegen, das durch die Glut in Brand gerät."
 

Die Schemen-Kapelle begann zu lodern und wurde von immer höher und höher schlagenden Flammen umhüllt, bis sie schliesslich, vollkommen geräuschlos, explodierte. Ciel zuckte trotz des fehlenden Knalls zusammen. Die Explosion war eine Erinnerung, die ihn nicht losliess und praktisch jede Nacht heimsuchte.
 

Sebastian wedelte relativ nonchalant den Rest des Rauches weg und überging den steinernen Gesichtsausdruck seines Herrn völlig. "Ihr seht also, das ganze war ein Un-", "SCHWEIG!"
 

Ciel hatte die Hände zu Fäusten geballt und atmete schwer. "Du weisst gar nichts! Wenn das ganze nur ein Unfall gewesen sein soll, wie erklärst du dir dann das?" Er förderte die kleine Notiz mit dem Datum seiner Verlobungsfeier zutage und hielt sie Sebastian unter die Nase. Dieser studierte sie kurz, bevor sich wieder ein gespielt milder Ausdruck auf seine Miene legte.
 

D. at Phantomhive Engagement Party
 

"Junger Herr," er pausierte kurz als würde er darüber nachdenken, wie der die folgende Information am besten formulieren sollte. "Ihr seid Euch bewusst, dass das D. hier wahrscheinlich auf Mister Kents Gattin verweist? Ihr voller Name ist Danielle Esther Kent-Middleford. Sie ist eine entfernte Cousine des Marquis Middleford und war folglich von den Eltern der Braut zur Verlobungsfeier eingeladen. Ihr habt sie sogar gesehen. Sie war die Dame in dem lila Kleid mit den grossen Schleifen, welches von Lady Elizabeth als 'ganz liebreizend' eingestuft wurde. Euer Kommentar dazu ging, sofern ich mich recht entsinne, allerdings mehr in die Richtung 'Clowns gehören in den Zirkus'." Sebastians Mundwinkel waren ganz leicht angehoben. Es war so klar, dass der Butler sich gerade grossartig amüsierte, während Ciel einfach nur noch schreien und sich die Haare ausreissen wollte.
 

Ja, er erinnerte sich an die Dame in lila! Nein, er hatte sich nicht für ihren Namen interessiert! Und nein, es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass der einzige Grund, warum Kent sich das Datum notiert hatte, die Abwesenheit seiner Frau war, damit er sehr wahrscheinlich im gemeinsamen Heim eine Orgie mit einer ganzen Bande von Strichjungs veranstalten konnte!
 

Ciel taumelte rückwärts. Das war einfach alles zuviel. Wie war es möglich, dass er so falsch gelegen hatte? Er verstand es einfach nicht. Er war doch sonst nicht so blind und unfähig die einfachsten Verbindungen zu sehen. Also wie? Wie?!
 

Er schaute zu Sebastian auf, der ihn betrachtete, als wäre er ein besonders faszinierendes Insekt.
 

Vollkommen erschlagen fragte er: "Hast du dich dann wenigstens um Rochester gekümmert?"
 

"Oh, das war nicht nötig, junger Herr. Und wenn Ihr Zuhause geblieben wärt, anstatt auf diesen vollkommen unnötigen Kreuzzug zu gehen, wüsstet Ihr das auch." Sebastian näherte sich dem Earl wieder und beugte sich zu ihm runter. "Der Baron hat sich knappe zehn Tage nach Eurer desaströsen Verlobungsfeier das Leben genommen, indem er sich mit seinem Gürtel erhängt hat. Wahrscheinlich hatte er zuviel Angst vor der berühmt-berüchtigten Phantomhive Vergeltung."
 

Um sie herum fing es an dunkel zu werden und Schatten huschten über Sebastians schwarze Uniform. Ciel wusste, dass der Butler ihm seine Entscheidung vorwarf. Er wendete den Blick ab, aber Sebastian packte sein Kinn und drehte sein Gesicht wieder zu sich.
 

"Natürlich ist das ganze ironisch, wenn man bedenkt, dass der Baron diese vorschnelle Entscheidung wahrscheinlich gar nicht nötig gehabt hätte… in Anbetracht der Inkompetenz eurer Irrfahrt hier und wie ihr vollkommen auf der falschen Fährte wart." Sebastians Grinsen war bedrohlich geworden und sein Mund gab eine Reihe viel zu vieler spitzer Zähne preis. Er flüsterte direkt neben Ciels Ohr: "Ihr seid eine Enttäuschung, junger Herr."
 

Das war genug! Ciel schüttelte sich und stiess Sebastian von sich. "Du hast gut reden! Wenn du all das von Anfang an wusstest, warum hast du nichts gesagt? Du hast mich manipuliert und glauben lassen, der Mörder wäre da draussen."

Sebastian schüttelte den Kopf. "Inkorrekt, junger Herr. Ich habe von Anfang an gesagt, dass Ihr Eure Zeit verschwendet und den Ereignissen zuviel Bedeutung beimesst. Euer Schutz und Eure Rache sind Teil unseres Vertrages und haben somit Priorität für mich. Der Vorfall während Eurer Verlobungsfeier, wenn auch tragisch, war lediglich ein Unfall und hat somit nichts mit meinem Aufgabengebiet zu tun."
 

Ciel schnaubte. Er konnte fühlen wie sich Tränen in seinen Augen zu sammeln begannen. Langsam bewegte er sich von Sebastian weg.
 

"Alles war also nur ein Unfall? Und dich kümmert nur meine Rache und mein Schutz?" Er warf Sebastian ein verstörtes Lachen zu. Hinter ihn endete das Dach. Die Strassen Londons waren nur einen Schritt entfernt. Dann fokussierte er Sebastian noch einmal, bevor er sagte: "Na, dann solltest du dich darum kümmern."
 

Dann breite er die Arme aus und liess sich rückwärtsfallen.
 

~~~
 

Agni POV
 

Der Earl war nicht da. Er hatte das Workhouse abgesucht, er war zum Markt gegangen, er hatte sogar einen von Ciels Bekannten nach ihm gefragt – letzteres hatte ihm aber lediglich ein verärgertes Schnauben eingebracht. Und jetzt irrte er verloren durch die Strassen Londons auf der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
 

Agni wusste natürlich, dass er sich das ganze selbst zuzuschreiben hatte. Er war zu lange der süssen Befreiung des Opiums erlegen und hatte realistisch betrachtet keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, seit er das letzte Mal so klar im Kopf gewesen war. Was natürlich dazu geführt hatte, dass der Earl ungeduldig geworden und allein losgezogen war. Agni nahm es ihm nicht übel, es lag in der Natur seines neuen Herrn ungestüm und unnachgiebig zu sein, da war Nachsichtigkeit gegenüber Agnis Schwäche nicht wirklich etwas, das er von ihm erwartete. Nichtsdestotrotz musste er ihn finden.
 

Mit einer Zeichnung in den Händen eilte er von Person zu Person. "Habt Ihr diesen Jungen gesehen?"

Die meisten ignorierten ihn, aber hin und wieder blieb tatsächlich jemand stehen und schaute sich das Bild an. Es reichte in Sachen künstlerischer Begabung natürlich nicht im Ansatz an jenes heran, welches Seine Hoheit damals von Meena angefertigt hatte, trotzdem fing es seiner Meinung nach die essenziellen Wesenspunkte des Earls recht gut ein: klein, mürrisch, Augenklappe.
 

Der beleibte Herr, der das Bild gerade eingehend betrachtete, rieb sich das Kinn und runzelte die Stirn. "Ich glaub, da stand ein Stricher an der Corner Westside, der so mehr oder weniger auf die Beschreibung passt."
 

Agni schüttelte den Kopf. "Nein nein, Ihr missversteht mich. Ich suche keine Unterhaltung für einsame Stunden, die dem Jungen ähnlich sieht. Das hier ist mein Freund und er ist verschwunden."
 

Der Mann zuckte mit den Schultern. "Sag' ich ja. Da ist ein Stricher, der so aussieht, an der Corner Westside."
 

Agni starrte dem sich entfernen Mann hinterher. Es konnte nicht wirklich sein, dass der Earl…? Agni weigerte sich das zu glauben und sein Blick wandte sich ungläubig zum Bild in seinen Händen. Mehr aus Trotz befragte er noch ein paar mehr Passanten, bevor seine Füsse schliesslich trotzdem den Weg zur Corner Westside einschlugen.
 

~~~
 

Der Radau war schon um die Ecke zu hören. Agni bildete sich aber noch nicht allzu viel darauf ein, denn da war schliesslich immer irgendetwas, das die Neugier der Menge auf sich zog. Ein paar Leute hatten ihre Fensterläden geöffnet und starrten nach unten auf eine Menschentraube, die sich um etwas gesammelt hatte.
 

Dann waren Schüsse zu hören, die das Gemurmel zerrissen, und Agni erschrocken aufhorchen liessen. Er begann zu rennen. Sein Herzschlag beschleunigte sich und er stiess recht unsanft einen Gaffer zur Seite, welcher ihm den Blick auf den Schützen versperrte.
 

Dort in der Mitte stand der Earl, eine Pistole erhoben, sein Blick entrückt und schwer atmend.
 

Agnis Augen weiteten sich. Sein erster Instinkt war es einzuschreiten und den jungen Mann davor zu bewahren, etwas sehr Unkluges zu tun, doch zu seiner grossen Überraschung – und Erleichterung – kam ihm Sebastian zuvor. Der schwarz gekleidete Butler näherte sich dem aufgebrachten Earl von hinten und brachte ihn dann sanft dazu, die Pistole zu senken.
 

Ein Raunen der Bewunderung ging durch die Menge, und auch Agni atmete auf. Er war unglaublich froh, dass Herr Sebastian sich endlich entschlossen hatte, einzuschreiten. Dass der Butler es überhaupt erlaubt hatte, dass der Earl allein loszog war für ihn immer vollkommen unverständlich gewesen, aber er hatte aus Ciels Bemerkungen heraushören können, dass dieser wohl gegen ihren Rachefeldzug war und so etwas nicht unterstützen wollte. In gewisser Weise hatte ihn diese Haltung stutzig gemacht, denn Herr Sebastian war durchaus nachtragend, um nicht zu sagen rachsüchtig. Seine Indifferenz gegenüber dem Vorfall schien also atypisch. Aber welcher Grund auch immer ihn zurückhielt, war schlussendlich etwas, in das nur der Butler und der Earl eingeweiht waren.
 

Und so beobachtete Agni, wie der junge Mann herumwirbelte und kurzzeitig die Waffe auf seinen Butler richtete. Wieder ging soetwas wie erschrockenes Gemurmel durch die Menge, doch Agni machte sich ob dieser Entwicklung wenig Sorgen. Der Earl würde nie auf Sebastian schiessen. Er war sich also ziemlich sicher, dass der Butler die Situation unter Kontrolle hatte.
 

"Du wagst es dich einzumischen, nachdem du monatelang nichts getan hast?!" schrie Ciel. Er klang so unglaublich verzweifelt, was Agni erneut einen immensen Anflug von Schuld verspüren liess. Er wusste, dass er kein guter Ersatz für Sebastian gewesen war. Aber als er ihn damals gefragt hatte, ob sie sich zusammen auf die Jagd nach dem Urheber des Anschlags begeben würde, hatte es Sinn gemacht. Schliesslich waren sie diejenigen, die am meisten verloren hatten.
 

"Da vorne fährt gerade der Mörder von Lizzy und Soma davon, und du…"
 

Agnis Blickfeld verengte sich und sein Herz begann lauthals in seiner Brust zu hämmern. Die Worte hallten in seinem Kopf nach. Der Mörder? Der Mörder von Lizzy und Soma? Wie in Zeitlupe richtete er seinen Blick in die Richtung, in die die Kutsche davongedonnert war. Das war er also? Der Urheber? Der Earl hatte ihn gefunden und ihn nicht informiert? Er konnte sich nicht mehr konzentrieren auf das, was sonst noch um ihn herum geschah. Das Gespräch zwischen Ciel und seinem Butler ging noch weiter, aber es spielte keine Rolle mehr. Agni konnte nur noch das Blut in seinen Ohren rauschen hören und die Wut wie Gift durch seine Adern fliessen spüren. Sie hatten ihn gefunden, den Schuldigen! Den Mörder von Soma und Lizzy!
 

Sebastian mochte dagegen sein, dass Ciel sich die Hände schmutzig machte, aber er würde sich bestimmt nicht daran stören, wenn Agni vollendete, was der junge Earl begonnen hatte. Er fühlte wie sich sein Gesicht zu einer manischen Fratze verzog. Auf dem Boden lag zurückgelassen die Pistole des Earls. Es war ein Zeichen der Götter. Der Urheber würde nicht davonkommen! Er würde ihn zur Strecke bringen!



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