Schweigen
Es herrschte Schweigen, als die Tür sich langsam öffnete und Anna zögernd stehen blieb. Dampfschwaden aus der Küche umspielten sie wie Trockeneis auf einer Bühne, und genau so fühlte sie sich jetzt, auch wenn keiner einen Scherz machte. Etwas wie 'Grabesstille' hatte sie schon erwartet. Hatte sich in dieser kurzen Zeit wirklich soviel geändert? "Anna...", brach Lyserg unsicher das Schweigen, was ihm so gar nicht ähnlich sah, dass er gleich wieder verstummte. Er wusste gar nicht, was es zu bereden gab. Vielleicht nichts. Anna schloss die Tür wieder und Tamara und Trey rückten eilig auseinander um ihr Platz zu machen.
Nach einer kurzen Musterung entschied Anna, dass sie alle blass aussahen. Es war zweifellos richtig gewesen zurückzukommen, auch wenn sie sich immernoch ein wenig unsicher fühlte. Es kam ihr alles so falsch vor. "Du beehrst uns also wieder mit deiner Anwesenheit", stellte Ren fest, der sie- wie sie jetzt erst feststellte- die ganze Zeit gemustert hatte. Von der anderen Seite des Tisches warf Trey ihm einen bösen Blicks zu, aber er ließ sich nicht davon stören und trank unbeeindruckt einen Schluck Tee. "Hast du ein Problem damit?" Jetzt wo sie wieder da war- sie war zumindest davon überzeugt- hatte Anna wirklich nicht vor sich von irgendjemandem beschützen zu lassen. Damit hätte sie rechnen sollen, und das hätte sie auch, wenn sie nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre. Sie war der Fels in der Brandung, nach allem was passiert war, jetzt, am Ende, hatten sie fest damit gerechnet. Die Chancen standen gut, dass Ren nichts anderes tat, als der allgemeinen Enttäuschung Luft zu machen-aber musste sie ihm das deswegen durchgehen lassen? Sicher nicht.
"Ich habe ein Problem damit, dass es dir völlig egal zu sein scheint, dass alle hier sich Sorgen gemacht haben. Und jetzt tauchst du einfach wieder aus der Versenkung auf und vergisst völlig-"
"Ren..." Der sanfte Einspruch von Tamara kam so überraschend, dass der Tao sie einen Moment lang anstarrte bevor er endete: "...dass sie dich gebraucht hätten."
"Sie?" Wieder starrten alle verwundert das Mädchen an, das im Moment geradezu über sich hinauswuchs. Insbesondere Anna, der gerade fast das Gleiche auf der Zunge gelegen hatte- schließlich war Ren immernoch nicht die Heilsarmee, auch wenn er längst nicht so böse war wie er sich benahm. "Ja... alle hier. Oder stimmt das etwa nicht? Ich war nicht der, der die Wahrheit nicht vertragen hat." Daraufhin schwiegen alle wohlweißlich, aber es musste auch niemand sagen, dass hier ein Fehler vorlag, immerhin war Yoh für Ren wahrscheinlich wichtiger gewesen als für alle anderen. Sein bester Freund, wenn nicht sogar sein einziger.
Als diesmal die Tür aufging und Ryu mit Tellern und Schüsseln jonglierend ins Zimmer kam, zuckten sie alle zusammen und Anna schluckte die Worte die sie schon zur Hälfte artikuliert hatte - dabei hatte sie gerade zur Sache kommen wollen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, soviel war ihr klar. Sie musste sich endlich dazu entschließen das einzig Richtige zu tun - aber konnte sie das?
Eine Woche später, als sie längst wieder allein war, wusste sie, dass sie es nicht konnte. Und noch weniger konnte sie jemandem davon erzählen. Sie konnte zwar nicht genau sagen warum, aber der Gedanke daran verletzte ihren Stolz und war irgendwie reine Blasphemie. Sie konnte Yohs Geist nicht zu sich holen; nicht ganz gewöhnlich und schon gar nicht für immer. Die Idee war genauso falsch wie alles andere an dem Gedanken falsch war, das Yoh tot sein könnte. Noch immer, obwohl er längst unter der Erde lag. Wie war es nur möglich, dass sie beide tot waren? Wie war es möglich, dass es vorbei war? Hätte damit nicht die Welt untergehen müssen? Und das Shamanen Turnier war wieder angelaufen. Und die Schule hatte wieder angefangen. Und alle waren nach Hause geflohen. Und sie war allein mit den Geistern ihrer eigenen Vergangenheit. Wie konnte das bloß sein? Sie verbot sich den Gedanken daran und stempelte ihn als schlichte Melancholie ab, bevor sie sich eine Jacke nahm und sich mit leisem Seufzen auf den Temperaturumschwung einstellte. Es war früh kalt geworden dieses Jahr. Sie hatte gerade nach draußen gehen wollen, als sie hinter sich eine Stimme hörte und heftig zusammenfuhr. Ohne sich Zeit zum tief Durchatmen zu nehmen drehte Anna sich auf dem Absatz um. "Amidamaru", begrüßte sie den durchscheinenden Samurai nachdenklich."Du bist noch hier?" Er nickte und sah sich um. "Ich wusste nicht ob du damit zurecht kommst, wenn plötzlich alle weg sind." Ohne länger als eine Sekunde nachzudenken imitierte sie sein Nicken und hasste sich im nächsten Augenblick schon dafür. "Ja... Ja, mit mir ist alles in Ordnung, es ist einfach nur alles anders. Du kannst ruhig gehen. Dein Platz ist nicht mehr hier."
"Er würde nicht kommen, Anna." Langsam hob sie den Blick und es schien einen Moment als wolle sie etwas sagen, dann drehte sie sich um und legte eine Hand auf die Türklinke.
"Das werden wir sehen."