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Akzeptanz

Akzeptanz

 

Die Gerechtigkeit siegt immer. Denn was gerecht oder gerechtfertigt ist, welche Opfer für die Zielsetzung notwendig sind, darüber entscheidet der Sieger. Doch was war eigentlich das Ziel, wenn es nicht mehr die Gerechtigkeit sein sollte? Der Kampf oder der Sieg an sich?

Gedankenversunken verfolgte Light die Ziffern der Etagenanzeige über den geschlossenen Fahrstuhltüren, hinter welchen der Chefinspektor soeben verschwunden war, nachdem sie ihr Theaterstück beendet hatten und der Vorhang gefallen war. Seit wann hatte Yagami Soichiro eigentlich aufgehört seinen Sohn anzusehen? Kira hatte sich ohnehin schon vor langer Zeit von seiner Familie distanziert.

„And the Oscar goes to...“, hörte Light hinter sich die monotone Stimme des Meisterdetektivs. Er drehte sich um und erblickte L, lässig im Türrahmen lehnend, wie so oft mit den Händen in seinen Hosentaschen. „Yagami Light, in der Rolle des wohlerzogenen Sohns, in den Nebenrollen Yagami Soichiro, der liebende und alles durchschauende Vater, sowie L alias Ryuzaki, der nette Komplize im Erfinden von Lügengeschichten.“

„Hör auf.“

„Wer hat denn damit angefangen, Light-kun?“

Genervt wischte jener die Stichelei beiseite und kam auf L zu. Im Vorbeigehen legte er ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn zurück in den Konferenzraum. Es stimmte, dass sie im Laufe ihres Kampfes einige vermeintliche Grundsätze über Bord geworfen hatten. Zumindest konnte sich Light an solch banale Dinge erinnern wie den Vorsatz, seinen Tagesrhythmus nicht zu gefährden, weil Schlafmangel Gift für Gesundheit und Denkvermögen sein konnte. Später hatte er zur Durchführung eines Plans gegen L mitunter vier Tage lang nicht richtig geschlafen. Er hatte Lind L. Taylor ermordet, obwohl er davon ausgehen musste, dass es sich dabei nicht um einen Verbrecher handelte. Die Agenten aus dem FBI waren ebenso wenig kriminell gewesen, dennoch mussten sie aus dem Weg geräumt werden. Sowohl Kira als auch L hatten diesen Umstand in Kauf genommen. Es spielte keine Rolle mehr. Kira musste gegen L kämpfen. Nein, er musste gegen ihn gewinnen. Das war das einzige Ziel, der einzige Sinn. Wenn Kira nach den ersten beiden Morden mit dem Töten aufgehört hätte, wären seine Taten von Beginn an sinnlos und böse gewesen. So aber hatten sie eine Bedeutung. Genau auf dieselbe Weise musste Kira nun beenden, was er mit L begonnen hatte.

„Light-kun?“ Eindringlich starrte L seinen jungen Partner an, ein wenig nach vorn gebeugt, um dessen Gesicht von der Seite besser erkunden zu können. Eine Hand hatte er sorgenvoll erhoben, doch verharrte sie in der Luft, bevor sie Light berühren konnte. Abwesend erwiderte Light den Blick seines Freundes und fragte:

„Warum spielst du da überhaupt mit, Ryuzaki?“

„Nun ja.“ L lächelte befremdlich. „Ich habe einfach gehofft, dass du mich genug mögen würdest, um mir das nicht allzu lange anzutun.“ Auch Light setzte jetzt ein Lächeln auf, obwohl er nicht wusste, warum sich sein Mund derart verzerrte.

Hatte er nicht nach und nach weitere seiner Ideale verraten, sich nicht mehr an das gehalten, was ihm seine Moral diktierte? Und was tat L seinerseits? Er nahm zunehmend die Position von Verbrechern ein, konnte sich geradezu erstaunlich gut in sie hineinversetzen. Selbstverständlich musste er das können, denn genau diese Fähigkeit zeichnete einen guten Detektiv aus. Doch Light beschlich jedes Mal ein merkwürdiges Gefühl dabei. Wollte L ihn etwa darauf aufmerksam machen, dass die Bösen, die er tötete, ebenfalls nur Menschen waren, damit er erkannte, wie viel Unrecht er tat? L hatte doch verstanden, dass es nicht darum ging, die Bösen zu bestrafen, sondern die Guten zu beschützen. Oft genug kam es Light so vor, als wollte L mit seinen Aussagen Kira selbst in Schutz nehmen. Oder ihn in Sicherheit wiegen, damit er sich verriet. Gaukelte ihm sein selbstherrlicher Verstand das nur vor? Oder wollte L verdeutlichen, dass er Kira verschonen würde? Wollte er, dass er sich freiwillig stellte? Wollte L nicht gleichfalls diesen Kampf bestreiten und gewinnen?

„Light!“ Verwirrt blickte er hinauf in die rabenschwarzen Augen seines Freundes. „Sieh mich an, Light. Ich bin kein Fremder.“ L hielt ihn mit einer Hand am Ellbogen fest und legte die andere an Lights Wange, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In der für ihn typisch aufdringlichen Art kam er seinem Partner hierbei näher. Dieser wich weder aus noch zurück. In den braunen Augen spiegelte sich Leere wider. Als L weitersprach, klang seine Stimme rauer als sonst. „Light, hör mir zu. Es ist egal, ob du mich hasst. Hauptsache, du tust nicht so, als wäre ich dir gleichgültig. Verachte mich, hasse mich, töte mich, wenn du kannst. Aber sieh mich nicht an, als wäre ich schon tot.“ Einen kurzen Moment stockte L und fügte dann hinzu: „Oder als wärst du es.“

„Wieso sollte ich dich töten wollen?“, fragte Light mechanisch.

„Für das, was ich dir angetan habe?“

„Du hast mir nichts angetan.“ Abwesend schüttelte Light den Kopf. „Du kannst mir nur antun, was ich selbst zulasse.“

„Ist das so? Dann lass...“

„Ich habe es schon einmal gesagt“, unterbrach Light ihn scheinbar teilnahmslos, „selbst wenn dein Verdacht stimmen würde, ich könnte dich nicht übergehen, als ginge es nur um Sieg oder Niederlage. Du wärst mir niemals egal. Du würdest für mich immer wichtig sein. Wenn ich könnte und wenn du es wünschst, würde ich für dich sogar Kira sein.“

L blickte seinem jungen Freund daraufhin starr in die leblosen Augen. Langsam ließ er seinen Kopf und eine seiner Hände sinken, hielt ihn jedoch weiterhin am Arm fest. Sein Blick wanderte ohne Ziel über die Falten des weißen Hemdes, das Light trug, knitterfreier Stoff und dazwischen Knopf um Knopf ordentlich geschlossen bis hinauf zum Kragen. So viel Disziplin und Selbstsicherheit, aber dahinter ein solches Chaos an unterdrückten Emotionen, Wankelmut und Zorn.

„Wenn Light-kun jetzt wieder Kira wäre“, fragte der Detektiv leise, „würde er L dann hassen?“

„Natürlich“, antwortete Light sofort. „Dennoch hätte sich nichts geändert. Er würde dich hassen und er würde dich trotzdem... mögen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Im Raten war ich schon immer gut.“

Lights Körperhaltung wirkte wie erstarrt, völlig reglos und unberührbar. L versuchte sich auf seine Wahrnehmung zu konzentrieren. Unter seinen Fingern spürte er eine angespannte Armmuskulatur und auch Lights Brustkorb schien sich schwerfälliger zu heben und zu senken. Es war bestimmt nicht aussichtslos. Es gab noch Möglichkeiten, ihn zu erreichen.

„Vielleicht ist Kiras Ideal ja richtig“, warf L provozierend spekulativ in den Raum. „Vielleicht sollte ich aufgeben und mich einfach von ihm töten lassen. Ich könnte mich ihm stellen, ihm mein Gesicht zeigen und dann frage ich ihn...“ Er sah wieder hinauf in Lights Augen, die ihn nun, langsam in die Realität zurückkehrend, mit Erstaunen fokussierten. „Willst du mich töten? Soll ich dir dafür meinen richtigen Namen verraten? Du willst ihn doch hören, nicht wahr? Mein wahrer Name ist...“ Abrupt legte Light seine kalten Fingerkuppen auf Ls Lippen und hinderte ihn am Weitersprechen. Seine Mimik war nicht mehr länger kühl und unnahbar, sondern beinahe schockiert. L umfasste das Handgelenk seines Freundes und drückte es zur Seite, sodass er ihn jetzt an beiden Armen festhielt. „Wieso hast du so eine Angst, Light-kun? Wenn du meinen Namen wüsstest, würdest du mich doch nicht an Kira verraten, oder?“ Irritiert starrte Light den gelassen wirkenden Detektiv an. L hatte ihm einmal gesagt, falls sein Tod unumgänglich war, würde er durch Kiras Hand sterben wollen. Stimmte das? Hatte er Light lediglich provozieren wollen? Oder hatte er seinen Kampf schon damals aufgegeben? „Man kann niemandem vertrauen“, fuhr L eindringlich raunend fort, „von dem man weder Namen noch Gesicht kennt. Wenn ich dir meinen Namen verrate, würdest du mir dann glauben, dass ich dir vertraue? Würdest du begreifen, wie viel du mir bedeutest?“

„Okay.“ Den Blick offen und direkt erwidernd löste Light eine Hand aus Ls Griff und tippte sich lächelnd mit einem Finger ans Ohr. „Dann flüstere ihn mir zu.“

Auch L lächelte. Er beugte sich vor, sodass Light seine bereits erhobene Hand in dessen Nacken legte, um ihn näher an sich zu ziehen. Er spürte das dichte schwarze Haar zwischen seinen Fingern, während ihn Ls warmer Atem am Ohr kitzelte.

„Mein wahrer Name ist...“ Das Gefühl der Aufregung verstärkte sich erneut auf unerträgliche Weise. Light schluckte schwer, machte bewusst die Augen zu und genoss die Nähe des Anderen. Es war, wie er in diesem Moment dachte, schon fast lachhaft, wie oft sie nach Gelegenheiten und Vorwänden suchten, um einander berühren zu dürfen.

Außer dem Atem bemerkte er plötzlich auch Ls Zunge und kurz darauf Zähne, die ihn liebevoll ins Ohr bissen. Ein Grinsen huschte über Lights Mundwinkel. Er ließ seine Hand von Ls Nacken nach vorn zu dessen Wange gleiten, drehte dessen Gesicht am Kinn in seine Richtung, damit sie einander zugewandt waren, und küsste ihn sanft auf die geschlossenen Lippen.

„L“, wisperte er eine vermeintliche Antwort auf die gestellte Frage, bevor sie sich einem ungewohnt zaghaften, aber verwirrend intensiven Kuss hingaben. Light wünschte sich, er hätte sein schmerzendes Herz endlich wieder bändigen können. Im Augenblick war es allerdings gar nicht wichtig. Er konnte seine Gefühle ohnehin längst nicht mehr unter Kontrolle bringen. Zumindest in dieser einen und letzten Hinsicht.

Damals, als er allein mit Misa und den Todesgöttern in seinem Zimmer gestanden und Rem ihm angeboten hatte, L auf der Stelle auszulöschen, da konnte Light nicht anders als zu zögern. Er hatte Rem mit absoluter Entschiedenheit verboten, ihrem gemeinsamen Feind ohne seine Zustimmung etwas anzutun. Hatte er denn wirklich noch an Ryugas wahrer Identität gezweifelt oder ihm abgekauft, dass L keine einzelne Person, sondern eine Gruppe von Ermittlern sein würde? Angeblich hätte der Tod des Meisterdetektivs zu jenem Zeitpunkt bedeutet, dass Light der Mörder sein musste, aber nur aufgrund einer solchen Äußerung hätte niemand ihn verhaften können, schließlich fehlten dafür jegliche Beweise. Nein, Light wollte damals Ls wahren Namen erfahren und den Mord eigenhändig begehen. Es durfte nicht so einfach vorbei sein. Traf womöglich doch Ryuks Vermutung zu, dass er sich daran erinnerte, wie L ihn seinen ersten und einzigen Freund nannte? Wenn Light ehrlich darüber nachdachte, hatte er vielleicht schon damals zu viel Zeit mit L verbracht, ihn zu nah an sich herangelassen. Dieses Zögern musste er nun teuer bezahlen.

Mit aufkeimender Verzweiflung küsste Light seinen Freund inniger. Derweil fuhren Ls schlanke Finger an dem Arm, den er schon die gesamte Zeit ununterbrochen festhielt, leicht unter den Stoff des Hemdes, soweit er es vermochte. Er öffnete den Knopf am Saum über Lights Handgelenk und schob den Ärmel hinauf bis zum Ellbogen, um über die darunter liegende Haut streichen zu können.

Konnte Light es jetzt überhaupt noch tun? Wenn er Ls Namen erfuhr, könnte er ihn so seelenruhig in das Death Note schreiben? Ein Teil von ihm wollte es unverändert, sogar mehr als jemals zuvor. Niemand sonst durfte es tun. Dieser unbekannte Name sollte allein ihm gehören. Dieser Name war Teil der Gesamtheit, die den Meisterdetektiv ausmachte. Light wollte alles von L in Besitz nehmen. Er wollte dessen Namen sogar vor einem Todesgott beschützen. Doch möglicherweise bestand der einzige Weg, wie er seinen Plan mittlerweile noch in die Tat umsetzen konnte, darin, den Mord indirekt durch einen anderen durchführen zu lassen.

Widerwillig löste sich Light von Ls Lippen und drückte ihn von sich.

„Wir haben gewisse Aufgaben zu erfüllen, Ryuzaki“, versuchte er nicht gerade schlagkräftig zu erklären, „vergiss das nicht. Wir müssen Kira fangen und auch darüber hinaus liegt noch vieles vor uns.“ Light lachte ein wenig verkrampft. „Die Welt ist ja schließlich nicht automatisch gut und perfekt, wenn Kira verschwunden ist.“

„Das wird sie auch niemals sein, Light-kun.“ L beobachtete seinen jungen Freund dabei, wie er am Rundtisch vorbei zu einem der Fenster ging und es öffnete, als brauchte er Luft zum Atmen. Daraufhin wehte nicht nur der Abendwind kalt in den Raum hinein, sondern auch der ferne Lärm des Straßenverkehrs und ein allumfassendes Rauschen, das aus der Tiefe der Großstadt zu ihnen herauf drang. L trat neben seinen Freund und sagte ganz leise: „Zeige mir eine perfekte Welt und ich zeige dir ein Vakuum ohne Menschen, eine Welt, die nur aus Leere und Tod besteht.“

„Hörst du das nicht?“, wollte Light gedankenverloren wissen, wobei sein Blick weit abzuschweifen schien.

„Was meinst du?“ L schaute ebenfalls in die Ferne. „Die Kirchenglocken?“

„Die Luft ist voll von den Schreien der Menschen, die um Erlösung bitten. Erlösung von der grausamen Kälte und Ungerechtigkeit dieser Welt.“

„Light-kun...“ L sah seinen Freund aus leeren Augen traurig an. „Bist du der Einzige, dessen Stimme du nicht hören kannst?“

 

Allein stand Light in dem so fremd vertrauten Zimmer, er wusste nicht, wie lange schon. Die Umgebung war sauber und aufgeräumt, selbst das Bett hatte er ordentlich gemacht, an jenem einige Stunden zurückliegenden Morgen, nachdem L ihn verlassen und sich irgendwie alles und nichts zwischen ihnen geändert hatte. Light wollte sich nicht noch weiter darauf einlassen, sich nicht noch weiter in etwas verlieren, das schon bald ein Ende finden musste. Den Vorsatz, jede tiefere Beziehung mit L stillschweigend zu beenden, hatte er nicht einmal bis zum Abend aufrechterhalten können. Es war zwecklos gewesen. Light kam nicht dagegen an. Und dennoch zeigte L ihm deutlich, dass er ihn nicht noch einmal zu irgendetwas zwingen würde. Darum hatten sie sich stumm wieder voneinander getrennt. Light hatte den Meisterdetektiv im Überwachungsraum zurückgelassen und dieser hatte ihn nicht am Weggehen gehindert. War etwa auch L außerstande, mit diesem Schmerz umzugehen?

Die Lichter der Nacht waren hinter der Fensterspiegelung nur undeutlich sichtbar. Light ging mit unsicheren Schritten zum Bett hinüber, schaltete die Nachttischlampe ein und danach die große Beleuchtung aus, weil er das grelle, anklagende Licht nicht ertragen konnte. Mit einem Mal, da er die Außenwelt besser erkennen konnte, bemerkte er, dass sich die Aussicht in diesem Raum von jener im vorherigen, zusammen mit L bewohnten Zimmer unterschied, weil die Fenster in eine andere Richtung wiesen. Das war ihm vorher nicht aufgefallen. Von hier aus konnte man den Tokyo Tower ausmachen, der wegen des heutigen Feiertages in anderen Farben erleuchtet war als dem normalerweise typischen Rot und Weiß, das jeden Tag bis Mitternacht in die Finsternis strahlte. Reglos starrte Light das Wahrzeichen eine Weile an, bis er es gar nicht mehr wirklich sah. Seine Beine fühlten sich schwach an, als würde er in eisigem Wasser stehen, darum setzte er sich vorsichtshalber auf das Bett und ließ sich zurückfallen. Auf dem Rücken liegend schaute er hinauf und ließ seinen Blick den Fokus verlieren. Kein Geräusch war zu hören. Keine Stimmen. Kein Signalton einer Tür.

„Wo bist du?“ Die Frage war nicht mehr als ein Flüstern. „Ich höre dich nicht mehr, Ryuk.“

Light strich sich mit seinen kalten Händen über das Gesicht.

„Warum höre ich dich nicht? Bitte, komm doch. Ich will dich lachen hören.“

Müde und schlaflos drehte sich Light zur Seite, wandte sich der Fensterfront zu und betrachtete die ebenso rastlosen Lichter in der Dunkelheit und jene schimmernde Silhouette, die in weiter Entfernung wie ein Leuchtturm im unruhigen Meer ausharrte. Mit leichtem Erschrecken vergrub Light seine Finger in der Bettdecke und dem Kopfkissen, schloss konzentriert die Augen und gab kurz darauf ein ungläubiges, knappes Lachen von sich. Natürlich, wie hätte es auch anders sein sollen. Er konnte noch immer Ls Geruch wahrnehmen.

„Warum bist du nicht da?“

Seine Lider wieder hebend fixierte Light den Turm, der in der Ferne nur gering die Nacht erhellte.

Doch das Licht des Tokyo Towers erlosch.

 

Vollkommen leer lag der Hauptüberwachungsraum im Dunkel, lediglich einige permanent eingeschaltete Monitore ließen die Möbel und andere Gegenstände gespenstische Schatten auf Boden und Wände werfen. In einer Ecke lehnte Rem mit geschlossenen Augen. Sie öffnete sie kurz, als sie vernahm, wie Light den Raum betrat. Desinteressiert glitt sie zurück in einen Dämmerzustand, der für Todesgötter zu keiner etwaigen Erholung notwendig, sondern bloß Zeitvertreib war. Es wäre vermutlich sinnlos gewesen, Rem nach dem Verbleib des Meisterdetektivs zu fragen.

In Gedanken ging Light die verschiedenen Orte durch, an denen L sein konnte. Watari hatte vor zwei Tagen gesagt, für L würde es sich nicht mehr lohnen, in einem Bett zu schlafen, darum war es gut denkbar, dass er sich auch jetzt nicht in seinem Zimmer aufhielt. Umgehend machte sich Light wieder auf den Weg. Womöglich wusste er, wo sich der Andere befand.

Seine Vermutung bestätigte sich, als er kurz darauf die Privaträume erreichte, in denen die beiden Männer häufig in den letzten zwei Monaten ihr Abendessen zu sich genommen, Schach oder Go gespielt, sich unterhalten oder einvernehmlich geschwiegen hatten. Erleichterung durchflutete Light und spülte für den Moment das anhaltende Gefühl der Einsamkeit fort, als er die gedämpften Geräusche eines Fernsehers wahrnahm. Wie in jener Nacht vor zwei Tagen hockte L in der Mitte der Couch. Dieses Mal schlief er nicht, sondern hatte seine Aufmerksamkeit dem Anschein nach auf den Bildschirm gelenkt, wo gerade die Spätnachrichten liefen. In den Armen vor seinen angewinkelten Beinen hielt er etwas an sich gepresst, offenbar ein Kleidungsstück, auf das er seinen Kopf bettete.

„Kannst du nicht schlafen, Light-kun?“, fragte L leise, ohne aufzuschauen. „Warum bist du nicht in deinem Zimmer?“

„Warum bist du nicht in deinem?“

Die Nachrichtensprecherin verkündete soeben, dass aktuell noch keine weiteren Morde von Kira zu verzeichnen seien. Nach einer Pause, die nur von ihrer neutralen Stimme erfüllt war, gaben die beiden Männer gleichzeitig zur Antwort:

„Dort ist es so still.“

Sie tauschten einen flüchtigen Blick. L legte geruhsam das Kleidungsstück über die Sofalehne. Mit plötzlichem Schmerz stellte Light fest, dass es sich dabei um seine eigene Sweatjacke handelte, mit der er L in der vorletzten Nacht zugedeckt hatte. Betreten ging er zum Sofa hinüber und ließ sich in seitlicher Haltung neben seinem Freund nieder.

„Komm her“, forderte er L auf und winkte mit der Hand auf und ab. Als dieser zuerst nur mit Verwunderung reagierte, zog Light ihn unmissverständlich an der Schulter rücklings zu sich heran. Während L herüberrutschte, setzte Light einen Fuß auf die Couch, um den Detektiv zwischen seine Beine zu ziehen und ihn sanft von hinten zu umarmen. Widerstandslos ließ sich L zurücksinken und schmiegte sich in Lights Arme. Im Fernseher flackerten indessen zahlreiche Bilder vorbei und tauchten die auf dem Tisch verteilten Schokoladenpuzzle und eingepackten Tafeln abwechselnd in blasses Licht. Bilder von Verbrechern, von Politikern, von Kriegen in fernen Ländern.

„Light-kun“, sagte L leise, „du tust mir weh.“

„Entschuldige.“ Seine Arme entkrampfend ließ Light seinen Freund los. Er hatte nicht bemerkt, wie fest er L umklammerte. Jetzt drückte er ihn ein wenig von sich, griff zurückhaltend an den Saum des weißen Oberteils und fragte: „Darf ich?“

L drehte sich nicht herum, hielt seinen Kopf weiterhin gesenkt, sodass Light nichts von dessen Gesichtsausdruck zu erkennen vermochte. Doch nach einem kurzen Moment nickte L schweigend und löste die Hände von seinen an den Körper gezogenen Knien, damit Light ihm, einen flüchtigen Blick durch den Raum und zur Tür werfend, das Oberteil über den Kopf streifen konnte. Eine Sekunde später landete das weiße Shirt auf der Lehne bei der Sweatjacke. Seinen Freund am Arm festhaltend zeichnete Light sacht mit den Fingerkuppen die Konturen von Ls Halswirbeln, Schulterblättern und Rippen nach. Mit fahrigen Bewegungen öffnete er die Knöpfe seines Hemdes, schob es sich leicht über die Schultern nach hinten und schloss L daraufhin wieder in seine Arme, sodass sich ihre nackte Haut berührte. Mittlerweile war im Fernseher der Wetterbericht zu sehen, diverse Tabellen, die anhand von Illustrationen den meteorologischen Tagesverlauf anzeigten.

„Alles in Ordnung?“, fragte L behutsam.

„Ja“, antwortete Light tonlos, „ich will nur deinen Herzschlag spüren.“

„Am Freitag ist mit starken Regengüssen zu rechnen“, drang gedämpft eine Stimme aus den Lautsprecherboxen. Aufmerkend schaute Light auf die dünnen Finger seines Freundes, die auf den vom Jeansstoff bedeckten Knien ruhten, nahm eine von dessen Händen in die eigene und hob sie an.

„Hast du schon wieder auf deinen Fingern herumgebissen?“ Ärgerlich betrachtete Light die teils blutigen Nagelbetten. „Ich habe doch gesagt, du sollst das sein lassen.“

„Und du, Light-kun?“ Den Griff zärtlich erwidernd drehte L die Hand seines Freundes herum, sodass auf dem Handrücken die rot geschwollenen Fingerknöchel zu sehen waren. „Konntest du mal wieder deine Wut nicht zügeln?“

Light entgegnete nichts. Stattdessen verhakte er ihre Finger ineinander und hielt die Hand seines Freundes fest. Die andere Hand ließ er nach vorn über Ls Brustkorb gleiten und drückte sie auf die Stelle, wo er deutlich dessen Herz spüren konnte. Dann vergrub er sein Gesicht in dem schwarzen Haar und atmete tief ein. Light fühlte das Pochen an und in seiner eigenen Brust. Und er zählte jeden Herzschlag von L.



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