Du hast, wie wir schon einmal festgestellt haben, strenge Maßstäbe, was die Qualität von Fanfiction angeht. Mit so etwas gräbt man sich schnell sein eigenes Grab, 'Arroganz' wird problematisch, wenn sie auf keinerlei berechtigter Grundlage beruhen sollte. Aber, wenn man das hier liest, muss man wohl eine Sache ehrlich gestehen... du genügst deinen eigenen Maßstäben. Ehre wem Ehre gebührt. Selten hat jemand so große Töne gespuckt und es gleichzeitig selbst so fantastisch gemacht, dass es ihn dazu berechtigt. Das ist für mich zwar irgendwie bitter, aber gleichzeitig auch sehr interessant... was kann ich sagen? Ich ziehe in ehrlicher Anerkennung den Hut.
Es ist wirklich ein Vorteil, diese Geschichte gleich komplett lesen zu können und nicht auf jedes weitere Kapitel warten zu müssen, denn so kann man alles auf einmal überblicken und verblüfft erkennen, aus was für einem einzigen, wohldurchdachten Guss sie ist. Das wird einem nicht klar, wenn man nur die Hälfte kennt, das könnte in einem solchen Fall sogar verwirren. Die Zeit- und Ortstruktur ist so komplex, dass man einfach den Blick auf das Ganze braucht, um sie richtig zu würdigen. Man merkt dann, dass das hier vom Anfang bis zum Schluss durchkonzipiert ist, dass da eine intelligente Planung hinter steckt. Und so etwas spricht für die Qualität eines Textes. Ich persönlich finde gerade das Entdecken eines Systems in einem Text spannend, und deines hier ist ein nahezu professionelles Kunststück. Ich erkläre mal, was ich meine, und versuche zwischendrin noch all die anderen Dinge zu erwähnen, die mir aufgefallen sind.
Da sind zunächst diese beiden Erzählstränge der Gegenwart: der, der beschreibt, was mit Nisei geschieht und der, der beschreibt, was mit Seimei geschieht. Diese beiden Stränge sind räumlich absolut voneinander getrennt, zeitlich aber identisch, sie nehmen inhaltlich in wenigen, prägenden Punkten aufeinander Bezug und beeinflussen sich durch sie (der Anruf mit dem Befehl, weitere Anrufe sowie das Abblocken bzw. abgeblockt Werden derselben), laufen aber gleichzeitig, in allem Anderen, fatal bezugslos zueinander ab. Das soll heißen, dass es in beiden Strängen Informationen gibt, die für den anderen nicht zugänglich sind, die aber, wenn sie es wären, zu einem absolut anderen, eventuell positiveren Ende der Geschichte führen könnten. Dass diese Informationen also durch die räumliche Trennung unbekannt bleiben, während wenige andere, verhängnisvollere, ausgetauscht werden, macht die genial ausgetüftelte Tragik an der ganzen Sache aus.
Da wäre zum Beispiel, dass Nisei nur weiß, dass er gehen soll und sich damit zurechtfinden muss, aber nicht, aus welchen Gründen er das tun soll, was Seimei geschehen ist und dass er im Prinzip sogar von ihm gerettet werden will, es aber aufgrund von Stolz und Schande niemals äußern würde. Wenn er es wüsste, würde er ihn wohl retten und über die Schande hinweggesehen ("Ich hätte dich auch ohne deine Ohren geliebt"); es hätte eventuell ein Ende geben können, in dem ein gebrochener Seimei durch Niseis bedingungslose Liebe vielleicht sogar von der eigenen Verdrehtheit hätte geheilt werden können (immerhin zeigt das überraschend geäußerte "Rette mich", dass da womöglich eine Veränderung in Seimeis Wesen vorgeht – wenn Nisei dann noch auftauchen würde, wer weiß, welche Folgen das hätte). Aber der Informationsaustausch findet nicht statt, Nisei zieht ganz andere, quälende Schlüsse, so wie er sie schon während ihrer gesamten Bekanntschaft aus Seimeis abweisender Haltung hat ziehen müssen, in die du hier eine Unfähigkeit Seimeis, Berührungen zuzulassen, hineingedichtet hast. Somit beschreibt diese Geschichte das zwingende Ende, auf das diese ganze Beziehung, so wie du sie geschildert hast, von Anfang an hat zusteuern müssen. Eines, in dem das Problem, das diese Beziehung ausmacht, (nämlich das von zu viel Stolz, Machtausübung, Herablassung, Berührungsangst, versteckter Zuneigung, zur Schau gestellter Ablehnung, von mangelnder Offenheit mit Gefühlen durch Angst und den daraus entstehenden interpretierenden Gedanken beider,) sich verschärft und endgültig zum Zerbrechen führt.
Eine weitere fatale Nicht-Information wäre dann eben dieses Wissen, das Seimei nicht hat, dass er seinem Fighter sehr wohl noch unter die Augen treten könnte, zumindest von dessen Standpunkt aus (bevor der durch den unglücklichen Verlauf der Dinge darauf kommt, Seimei zu hassen oder sich leer zu fühlen). Und da wäre, noch wichtiger, die Tatsache, dass Niseis Handy gar nicht mehr empfangsbereit ist und Ritsu ihn gar nicht wirklich anrufen kann. Wüsste Seimei das, könnte man ihm nicht diese letzte noch mögliche Erniedrigung zufügen, aus der es dann gar keine Rettung mehr für sein bisheriges Ich gibt. Nicht einmal die, dass er zumindest in Niseis Erinnerungen an sich noch seine Würde besäße. Dass er die Schande erlebt hat ist schon furchtbar, aber dass er sie nicht vor anderen, vor allem vor denen, denen gegenüber er sich immer überlegen fühlen wollte, verbergen kann, zerbricht ihn erst endgültig. Einer der vielen Momente in dieser Geschichte, zu dem dein Zitat aus der geschlossenen Gesellschaft sehr gut passt: die Hölle, das sind die anderen. Erst dadurch, dass sie uns durch ihre Augen sehen, wird unser Sein begrenzt und wir damit zu bewerten. Weil wir vor ihnen gut dastehen wollen, machen wir uns das Leben schwer.
Jedenfalls: Die beiden Erzählstränge nehmen auf bedeutende Weise Bezug zueinander, tun es auf ebenso bedeutende Weise nicht und sind nebenbei erzähltechnisch noch toll miteinander verdrillt. Zuerst stellst du sie getrennt in den einzelnen Kapiteln dar, jedes Bruchstück des Seimei- und des Nisei-Stranges hat sein eigenes, sodass man als Leser gespannt ist, wie sie zusammenhängen mögen und was da eigentlich Sache ist. Später, als sich das unter geschickter erzählerischer Führung aufklärt, finden sie in Kapitel 12 zum ersten Mal nebeneinander Platz. Das Kapitel behandelt zugleich Niseis und Seimeis Gegenwart, trennt diese nicht mehr so wie vorher, und ironischerweise geschieht gerade in diesem Kapitel der erste Schritt Niseis zur Trennung der Beziehung, nämlich der, dass er dieses Zimmer verlässt.
Das ist einfach alles klug gestrickt und durch seine anfängliche Rätselhaftigkeit auch spannend.
Aber zum zweiten Clou in deinem Konzept, die beiden Erzählstränge sind ja nicht die einzigen Ebenen, auf denen hier etwas passiert. Neben diesen beiden, die ja die Gegenwart behandeln und eigentlich nur eine sehr kurze erzählte Zeit beinhalten, gibt es noch all diese Rückblenden, die die Geschichte dann füllen, falsche und echte Erinnerungen und sogar Wunschträume Niseis. Realität und Illusion, Vergangenheit und Gegenwart werden hier konstant vermischt, während sich durch alles der rote Faden der beiden Haupterzählstränge zieht. Einerseits nutzt du diese aus dem normalen Erzählrahmen heraus fallenden Szenen, um tiefgreifend die Persönlichkeiten der Charaktere und die Art ihrer Beziehungen zueinander zu veranschaulichen, ohne etwas tot zu erklären. Du zeigst die Beschaffenheit dieser Personen meistens in ihren Interaktionen, Erinnerungen und Trugbildern, statt ausschließlich irgendetwas wie das hier zu schreiben: "Seimei war schon immer so und so, Nisei erklärte sich diese Tatsache so und so, Ritsus Motive waren dieser und jener Art". Du zeigst eher Bilder von Begebenheiten, die man dann interpretieren muss (beispielsweise die Erinnerung an Niseis Erwachen aus dem Traum, über den Seimei ihn ausfragt – man erkennt, ohne dass du es erklärst, viel von Seimeis oberflächlicher Verachtung sexueller Dinge, fragt sich aber gleichzeitig, warum sie ihn dann in diesem Moment, in dem er über Nisei lehnt, so interessieren), oder zeigst kommentarlose Ereignisse aus der Vergangenheit (Ritus Begegnung mit Soubi, nachdem er ihn Seimei gegeben hat, beispielsweise, aus der sich Ritsus Hass erklärt). Andererseits schaffst du mit diesen durchwachsenen Eindrücken aber auch ein perfektes erzählerisches Abbild von Niseis Verwirrung, Verzweiflung und Verstörung, eben eins vom Chaos in seinem Kopf. All diese Bilder ziehen durch seine Gedanken und er vermag sie kaum noch von der Realität zu trennen. Bis er schließlich die Erinnerungen wortwörtlich zerschneidet (wunderbar symbolisch, was er da mit den Fotos macht!) und sich zum Gehen entschließt. Dass er sich leer, aber nicht frei fühlt, finde ich sehr interessant – und umso interessanter, zu überlegen, wie das nach dem offenen Ende wohl weitergeht. Kann er einen Schlussstrich ziehen und kommt die Freiheit, zu der er verurteilt wurde, ihm vielleicht nach einer Weile nicht mehr wie eine Last vor? Oder wird er daran zerbrechen? Oder geht er gar und rettet Seimei doch noch?
Zurück zu den Personen, dass du sie alle sehr gut getroffen hast, hat man dir womöglich schon hundert Mal gesagt. Du hast alles im Manga Gegebene beachtet und zugleich einiges glaubhaft weiterentwickelt. Niseis Charakter finde ich besonders gelungen. Mir selbst hat er im Manga einfach nie so viel gesagt, du hast ihm hier aber Leben eingehaucht. Seine Verehrung Seimeis ist fühlbar, seine Angst vor der eigenen Liebe, die ihn verletzlich macht, die daraus resultierende Verleugnung derselben, seine Freude an Soubis Leid, seine eigene Verletzung durch Seimei und seine verzweifelte Sehnsucht sind so plastisch. Auch sein etwas chaotischer Charakter kommt gut rüber, wenn er sich dann doch mal einen bissigen Kommentar Seimei gegenüber erlaubt oder eben auf dem Boden sitzt und mit diesem sarkastischen Jungfrau-Maria-Vergleich die Bilder zerschneidet. Er gefällt mir, so wie du ihn geschrieben hast.
Deinen Seimei finde ich interessant, er weicht allerdings von meiner Vorstellung ab – ich habe in ihm nie schwache Züge gesehen, sondern immer nur diesen schönen, berechnenden Mistkerl. Daher weiß ich nicht, was ich von den weichen Momenten halten soll, in denen du ihm eine Berührungsangst, die für seine Kälte verantwortlich sein soll, und eine eigentliche Sehnsucht nach Nisei zuschreibst. Zwar wäre das eine Erklärung für sein abweisendes Handeln, nur hab ich persönlich ihn einfach nie so gesehen... im Manga war seine einzige Schwäche Ritsuka. Allen anderen gegenüber war er gleichgültig. Aber gut, das ist der einzige negative Kritikpunkt, an den ich mich klammern kann, schätze ich.
Ritsu und Nagisa-sensei sind hingegen ein Bild ihrer selbst.
Über deine Sprache und deinen Schreibstil habe ich noch nichts gesagt. Dabei ist das eigentlich das, was einem als Erstes als beeindruckend auffällt und einen in deiner Geschichte festhält. Denn man kann sie genießen. Da hat man dieses immer wieder erfreuliche Erlebnis, du kennst es sicher auch, die ersten Sätze eines Textes zu lesen und gleich zu merken: Aha, das ist kein Anfänger, da hat es jemand drauf, da gibts keine holprigen Formulierungen, im Gegenteil, da sitzt jedes Wort, alles ist glatt. Man wird dann in diesen Text hineingezogen. Ich will dir nicht schmeicheln, wenn ich dir sage, dass du in meinen Augen wirklich gut und elegant mit Worten, Beschreibungen und deren Menge, umgehen kannst, dass du einfach nicht zu viel und nicht zu wenig schreibst, dennoch Atmosphäre erzeugst und das alles sich wunderbar liest. Im Gegenteil, diese Tatsache ist für mich ziemlich frustrierend (gute Sprache frustriert und verzückt mich immer gleichzeitig), und ich wünschte ich könnte es fertig bringen, dich nicht dafür zu loben. Vor allem weil wir doch einmal diese Debatte über gutes Schreiben hatten... doch ich kann der Gerechtigkeit halber nicht anders. Ich muss sagen (ob ich nun die Kompetenz habe, das zu beurteilen, sei dahingestellt, aber sieh es als persönliche Meinung), dass du wirklich außergewöhnlich gut bist. Leider. (Kanns nicht lassen, das nachzuschieben. Ist nur meine Bitterkeit, nichts weiter. Nicht persönlich verstehen.)
Es wäre zu viel, alle der Bilder, Metahpern, Symbole und Stilmittel zu benennen, die du so gut verwendet hast, und auch alles Andere, was mir im Kopf herumschwirrt, kann ich nicht mehr aufschreiben, möchte dir nur noch dafür danken, mit einem sensiblen Thema wie Vergewaltigung, das ich in Fanfiction eigentlich immer absolut Fehl am Platz finde, nicht irgendwie illusorisch, unreif oder emomäßig umgegangen zu sein, und auch dafür, dass du die Sache selbst nicht beschrieben hast.
Außerdem fühle ich noch loslassen zu müssen, dass der Anfang der Geschichte regelrecht kafkaesk war, mit diesem plötzlichen, scheinbar willkürlichen Befehl an Nisei, dem er sich dann so ausgeliefert fühlte und der ihn in die Verzweiflung stürzte.
Aber bevor ich nun noch mehr Einzelheiten anmerke, die in keinen Kontext passen...
Whatever.
....mir hats trotz sensiblem Themenanteil gefallen. Verdammt seist du, wenn ich das zitieren darf. ;)