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100 Themes Challenge

every day is writing day
von

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#35 [Walk]

Bier und Kippen
 

Die Stille hatte sie hinterrücks überrumpelt. Durch die angelehnte Balkontür trug ein lauer Wind nur diffuses Rauschen und den Geruch vom Innenhof hinein: Grillgut, Gabes Hyazinthen und nasse Erde. In der Ecke gegenüber lag Alex wie ausgeknockt auf einer Isomatte, die Gliedmaßen von sich gestreckt wie die Stadtteile einer wuchernden Metropole. Die Lichtverschmutzung, die von den Straßenlaternen hinauf hallte, schälte sein affig gesträhntes Haar aus dem Schatten. Nur im Schlaf konnte dieser Typ so derart erschöpft und lethargisch wirken.

Es war viel zu warm. Pascal verzog das Gesicht und drehte sich in dieser Nacht das achte Mal von links nach rechts. Er hatte mitgezählt.

Irgendwie hatte er erwartet, schlafen zu können. Sie waren um die Häuser gezogen, lachend; dank Happy Hour hatte Pascal sich auf Cocktails eingelassen und festgestellt, dass man davon irgendwann genau so betrunken war. Jetzt war er fast wieder nüchtern.

Mit einem leisen Schnaufen drehte Pascal sich auf den Rücken. Das siebte Mal. Und kurz sinnierte er über seine eigene Zählweise nach - kurz zwischendurch auf dem Rücken zu landen, das reicht nicht. Das würde die ganze Statistik durcheinander bringen. Nur, wenn der Rücken wirklich das Ziel der vorherigen Wendung war, gilt sie auch.

Ach. Das ist doch albern.

Pascal schob sich an die Sofakante und stand auf.
 

In der Küche brannte noch ein kleines, weiches Licht, und alle Oberflächen sogen sich voll mit warmem Gelb. Pascal kniff die Augen zusammen und öffnete den Kühlschrank; er fand ein altmodisches Bier ohne Obst oder Strohhalm und bemühte sich, es ohne Klirren aus den Fängen des Plastikregals zu entfernen. Kippen hatte er keine mehr gefunden.

Als er die Tür wieder schloss, schaute er auf halbem Wege nach rechts und sah Gabes Profil aus der Nische ragen. Auf dem Küchentisch vor ihm stand ein Laptop, und seine Spinnenhände ruhten immer noch auf der Tastatur. Im nächsten Moment hatte Gabe den Kopf gedreht; hinter der gelben Reflexion der runden Brille konnte Pascal es nicht sehen, aber zumindest meinte er, angesehen zu werden.

"Konnte nicht schlafen", brummte er schulterzuckend und kippte kurz die Bierflasche. Allerdings interessierte Gabe sich weniger für sie - als er den Torso etwas drehte, war die Reflexion verschwunden, und Pascal verfolgte den blassblauen Blick zu seiner Schulter zurück.

Ah. War irgendwie zu warm gewesen für ein T-Shirt. Das hatte er so ein bisschen vergessen.

Aber Gabe verkniff sich jeden Ausbruch an Emotionen. Er hatte die Lippen etwas zusammen gepresst und die Stirn gerunzelt, als würde er den Bruchteil einer Schusswunde spüren, sah dann über die Bierflasche Pascal ins Gesicht und klärte seine eigene Miene.

"... Ich auch nicht." Er steckte immer noch in seinen Alltagsklamotten, und Pascal kam sich etwas inadäquat vor, ohne es zugeben zu wollen.

Einen Moment blieben beide regungslos und schauten nur.

Pascal fühlte gerade noch, wie ihm ein bisschen Blut in den Kopf stieg. Merkwürdige Atmosphäre, Gabe. Bist du das? Ist das deine Schuld? Denkst du-- denkst du vielleicht gerade darüber nach, ob du mich vögeln würdest, oder sowas Krankes? Und was schreibst du da?! Du wusstest sehr gut Bescheid über diese-- seltsamen Geschichten in dem Forum, wenn ich rausfinde, wie dein Account heißt, dann--!

Gabe atmete aus und schloss wie beiläufig seinen Laptop, als er aufstand. Und im nächsten Moment fühlte sich Pascal gescholten wie als kleiner Junge, als er kurz nach der Kirche einen nassen Frosch auf Marias Sonntagskleid fallen gelassen hatte. Er starrte kurz auf seine Fußspitzen. Öffnete dann das Bier mit einem Zischen, und wollte ruckartig kehrt machen.

"Hast du Lust auf 'nen Spaziergang?"

Gabes Brillengläser reflektierten wieder. Und selbst, wenn nicht, hätte Pascal den Augen dahinter die Intention wohl nicht ablesen können. Er hob die Hand um den kühlen Flaschenhals und murmelte:

"Aber das Bier..?"

"Nimm es mit?"

"... kay. Ich... zieh mir... Moment." Als ob das Gelb einem die Worte vom Mund schluckt.
 

Wenigstens wehte draußen Wind. Es war trotzdem noch warm, so dass Pascal selbst in seinem T-Shirt schwitzte. Über die Shorts hatte er sich nichts gezogen - die waren lang genug, fast wie Badeshorts, und mit den Geklapper seines Gürtels hätte er Alex womöglich geweckt, und außerdem war in dieser Gegend sowieso tote Hose, war ja nicht so, als würde ihn jemand sehen, und vielleicht war er auch einfach immer noch ein kleines bisschen betrunken. Im nächsten Moment bereute er die Aktion jetzt schon.

Die Bürgersteige in diesem Viertel von Herzberg waren schmal, brüchig und gesäumt mit Laternen, die aus der Ferne eine Reihe leuchtender Stecknadelköpfe bildete. An der nächsten großen Kreuzung leuchtete noch eine Bar, und die Stimmen nasser Studenten wehten ab und zu hinüber, aber Gabe bog bereits davor in eine kleine Seitenstraße ab, die bald in eine Fußgängerzone mündete. Breites Pflaster verlief zwischen Wohnblöcken; dazwischen ragten ein paar Büsche hervor, vereinzeltes Grün, mit Bänken und einem maroden Spielplatz im Herzen.

Es war dunkel, aber nicht sehr. Das Erbrochene der Lichter färbte die Ränder des Himmels bräunlich. Fast wie in Crackpot City.

"Du kannst ziemlich oft nicht schlafen", stellte Gabe schließlich gleichmütig fest; er konnte einen Tonfall treffen, bei dem es selbst Pascal schwer fiel, eine Anschuldigung hinein zu interpretieren.

"Schichtarbeit", antwortete er und nahm einen Schluck Bier. "Bringt den Schlafrhythmus durcheinander."

Gabe nickte. Als Rezeptionist konnte er das nur allzu gut verstehen. Er blieb jedoch still, und gab stattdessen einen Weg am Rande eines Wohnklotzes vor, in dem nur vereinzelt Lichter brannten. Selbst Studenten müssen wohl irgendwann schlafen.

"Auch wenn du nicht arbeitest?", fragte er dann schließlich.

Pascal zuckte mit den Schultern und trottete hinterher. Ein plötzlicher Wind schien ihm genau die Shorts hinauf zu wollen, und er bekam eine ausgeprägte Gänsehaut, die ihm für einen Moment die Sprache verschlug.

"Es gibt auch andere Dinge, die einen durcheinander bringen", brachte er schließlich heraus, als die Gänsehaut sich halbwegs gelegt hatte. Mehr Bier. Mehr. Und mitten im nächsten Schluck fiel ihm auf, dass sein ursprünglich drogenbesetzter Gedanke etwas falsch interpretiert werden konnte, und er bekam einen kleinen Hustenanfall.

"Nicht, dass--", krächzte er, und musste dann wieder Luft holen. Immerhin war er so beschäftigt mit Husten, dass er den prüfenden Blick diesmal gar nicht mitbekam.

"... ich meine... ist einfach stressig." Und verwirrend, setzte er still hinzu. Trotz Hustenanfall hatte es sein Bier sich nicht mit ihm vergrätzt.

Gabe streckte sich, einen Meter weiter voraus, und atmete tief ein - ein dürrer Hüne, der im ausgelaugten Mondlicht fast schon an Slenderman erinnerte.

"Selbstverständlich. Darf ich?" Er hatte sich umgedreht, und zeigte jetzt auf die Bierflasche; Pascal presste die Lippen zusammen und schnaufte schon fast, was wird das, was wird das hier?!, vielleicht war das wirklich nicht gut für ihn, vielleicht, er nickte schließlich stumm und hielt Gabe die Flasche hin.

"Das ist auch immer so 'ne Sache mit Alex", murmelte dieser nach einem Schluck und starrte kurz den Flaschenhals hinunter. Pascal schoss wieder Blut ins Gesicht.

"D--!" Gabe unterbrach ihn und beendete seelenruhig:

"Ich meine, mit seinem Bier."

Oh Gott.

Oh Gott.

Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.

Pascal blieb stumm. Trottete etwas mehr an den Rand eines ausgestorbenen Beetes, wrang die tatenlosen Hände und bemerkte kaum die seltsame Note in seiner Nervosität. Es ist Nacht. Nacht, weißt du.

"Er ist da immer etwas zimperlich. Ich glaube, er glaubt an so etwas wie indirekte Küsse oder so?" Gabe lachte trocken. "Ausgerechnet Alex."

"Eine Flasche von Frankie würde er bestimmt mit Handkuss nehmen. Zungenkuss", brummte Pascal beiseite. Neben ihm tauchte ein Gebüsch auf, in dem etwas zirpte, und er blieb kurz daneben stehen.

"Vielleicht." Er hörte das Bier in der Flasche schwappen. "Aber die würde er sich auch eher ehrfürchtig ins Regal stellen, statt erst mal das Bier auszutrinken."

"Du nicht? -- Ich meine... Rough Diamond..." Von der Terrasse des Wohnblocks hinunter hallte ein Geräusch, das ein bisschen klang wie ein triumphaler Tusch. Sie setzten sich wieder in Bewegung; es hörte gerade etwas auf, so warm zu sein, und Pascal hing kurz den Gedanken nach, alle Dinge, die Frankie in dieser Wohnung berührt hatte, in einer Ecke auszustellen. Und dafür Eintritt zu nehmen.

"Ich halte nicht viel von Memorabilia. Mehr von Erfahrungen. Und saufe das Bier von jedem. Flasche, Glas, frisch oder vollgesabbert." Sie tauschten einen Blick, der für Pascals Geschmack eindeutig zu seitlich lag.

"D--"

"Es hilft, nicht so viel darüber nachzudenken."

Ich habe immer noch keine Ahnung, was du meinst, dachte Pascal, und gleichzeitig brannte es ein bisschen unter seinen Haarwurzeln. Tief im Keller schaufelte sein Gehirn irgendwelche Kohlen oder so, er wollte gar nicht an die befeuerten Ofen denken. Und trotzdem waren das Rauchschwaden. Die nicht verschwanden, wenn er nicht hinsah.

"... Bier ist Bier", schloss Gabe seinen Vortrag und platzte in schallendes Lachen heraus; er schüttelte sich im Vergnügen wie ein Baum im Sturm und drückte Pascal das Bier zurück in die Hand, damit er es nicht verschüttete. Das herzhaft filmreife Gelächter trug wohl bis nach oben; kurz unter dem Dach gingen zwei Lichter an, und vielleicht linste sogar eine Silhouette hinaus.

"... Gabe", sagte Pascal schwach und bedachte die Bierflasche mit einem zögerlichen Blick. "Du bist immer noch betrunken, oder..?"

Er wartete ein paar Sekunden auf seine Antwort, denn so lange brauchte Gabe, um halbwegs wieder seine Fassung zu erlangen.

"In vino veritas", gluckste er vergnügt und räusperte sich dann. "Sorry. Das war gerade so schön dämlich. Nichts weiter." Er tappte Pascal mit der Hand auf die Schulter und nickte nach links. "Lass uns gehen, nachher wacht Alex noch mit der Vision auf, das ganze Bier zu besabbern, bevor es ein anderer tut."

Und während Pascal hintendrein trottete, wehten seine Shorts wieder etwas im Wind; erneut wanderte eine Gänsehaut bis hinauf zu seinen Schläfen, während er das Bier zwischen seinen Fingern mit einem langen Blick bedachte. Nicht, dass er jetzt-- aber erst mal würde er es in die Küche stellen. Im Laufen zu trinken war irgendwie doof, und außerdem brauchte er jetzt sowieso erst einmal dringender als alles andere eine Kippe.

Noch vor der Haustür fiel es ihm wieder ein. Seine Chesterfields waren ihm längst wieder ausgegangen.

Aber als er im Treppenhaus Stufe um Stufe stieg und sich dabei auf die Zunge biss, wuchs in ihm ein neuer Beschluss, der auf der Fußmatte der Wohnungstür endlich verbalisierte Gestalt annahm.

Zeit, Gauloises zu probieren.



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