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Die Zeit, die man sterben nennt

von

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~The time called dieing~

Blut...
 

Metall...
 

Schmerz...
 

Sie spürte, wie es ihren Körper hinablief...
 

Sie sah wie die spitzen Lanzen aus ihrem Körper herausragten...
 

Sie hörte ihre Schreie...
 

... und sie wusste, dass sie wieder einmal sterben würde. Ja, wieder einmal.
 

Sie verlor einfach zu viel Blut, ihre lebenswichtigen Organe waren beschädigt worden und ihr Wille war gebrochen. Schon so oft war er gebrochen worden. Sie schloss die Augen und Dunkelheit umgab sie.
 

Stille...
 

Finsternis...
 

... und sie wachte wieder auf...
 

(...wie jedes Mal... )
 

++++++++++ ~ Die Zeit, die man Sterben nennt ~ ++++++++++
 

Lydia war wach. Sie öffnete die Augen und sah sich um.
 

»Sofa«
 

Sie spürte den rauen Bezug der französischen Couch ihrer Mutter und die seidenen Bezüge der indischen Kissen. An der Decke hing ein goldener Kronleuchter.
 

»Wohnzimmer«
 

Lydia setzte sich auf. Alles stand da, wo es immer stand. Der Wohnzimmertisch mit dem Stapel Zeitschriften, der Sessel im englischen Stil – und gleichzeitig auch der größte Schatz ihres Vaters; niemand außer ihm, durfte sich darauf setzen -, die vollgestopften Bücherregale, die täglich abgestaubt werden mussten, damit sie nicht zustaubten. Auch der schwere Schreibtisch mit den 10 untereinander angeordneten Schubladen, der ihrem Opa gehört hatte, bevor dieser gestorben war, stand noch immer am selben Fleck.
 

»Mama«
 

Es klopfte. Genau zweimal. Ganz kurz. Tock, tock. Und dann sagte eine etwas übertrieben hohe Stimme: „Lydia, Schätzchen. Bist du schon wach.“ Und ohne auf eine Antwort von ihr zu warten, kam ihre Mutter auch schon ins Zimmer getänzelt. Mit einem Tablett in der Hand. Darauf standen:
 

»Eine Tasse Tee, zwei heiße Toasts, Käse, ein gekochtes Ei, ein Glas Wasser und eine Aspirin-Brause-Tablette«

„Schau nur, ich hab dir Frühstück gebracht. Tee, Toasts, ein Ei und Käse. Ach ja, und eine Aspirin-Brause-Tablette für deine Kopfschmerzen.“
 

Es war wirklich erschreckend, dass ihre Mutter es immer und immer wieder aufs Neue, jeden Morgen runterleiern konnte, als hätte sie nichts besseres zu tun.
 

Ja, und wie jeden Morgen seufzte Lydia nur und brummte unverständlich: „Wieso bringst du mir ein Aspirin? Ich habe keine Kopfschmerzen.“
 

Ihre Mutter, die gerade das Tablett auf dem Wohnzimmertisch abgestellt hatte, schaute auf und lachte: „Ach, Lydia, Schätzchen. Natürlich hast du Kopfschmerzen. Du weißt ja nicht, was du sagst.“
 

Sie reichte ihrer Tochter das Glas mit dem aufgelösten Aspirin. Diese starrte nur geistesabwesend in die Augen ihrer Mutter, welche sie beinahe bedrohlich - aber immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen - anfunkelten und gab klein bei. Widerwillig setzte sie das Glas an ihre Lippen und nahm einen Schluck. Zum Glück war das Zeug geschmacksneutral. Lydia hätte sich wirklich nicht vorstellen können, jeden Morgen irgendein ekelhaft schmeckendes Brechmittel nehmen zu müssen.
 

„Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst mich nicht so nennen?“, fragte sie, als sie brav das Glas ausgetrunken hatte, sich nun ein Toast mit Käse belegte und anfing an der harten Kruste zu knabbern. Sie hatte keinen Hunger. Sie aß nur, weil ihre Mutter es so wollte. Dabei änderte es rein gar nichts an ihrer Gesamtverfassung. Nur, dass ihr dadurch schon morgens kotzübel war.
 

„Was meinst du?“, entgegnete ihre Mutter, die Platz auf dem Sessel genommen hatte und nun darauf achtete, dass ihre Tochter alles aufaß, was sie ihr serviert hatte.
 

„Du weißt, was ich meine.“, meinte Lydia betont gelangweilt.
 

„Nein, Schatz. Weiß ich nicht.“
 

„Doch. Da hast du es gerade eben wieder gesagt.“
 

Keine Antwort. Nur ein fragendes „Kopf-auf-die-Schulter-legen“.
 

Lydia stöhnte auf. Sie hasste es, wenn ihre Mutter so tat, als verstehe sie nicht, was ihre Tochter versuchte ihr zu erklären. Und sie hatte keine Lust dieses Spiel weiterzuspielen. Deshalb biss sie nun ein Stück von dem Toast ab, kaute halbherzig darauf herum und ließ den Blick im Raum wandern.
 

Sie kannte jeden Quadratzentimeter dieses Raumes komplett in- und auswendig. Jeden noch so kleinen Dekorationsgegenstand und jeden noch so kleinen Makel, den dieses Zimmer aufwies. Wie zum Beispiel die Ungenauigkeit der Tapete im Muster oder im Parkett. Ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Längen der Samtvorhänge, die nur um einen Zehntelzentimeter voneinander abwichen.
 

Wieso das so war, wusste Lydia nicht. Aber es war ihr auch egal. Sie hatte sich schon an den Anblick gewöhnt und vermutlich würde es sie stören, wenn all diese Unregelmäßigkeiten von ihrer Mutter entfernt werden würden. Deshalb sagte sie ihr nichts und fragte sie auch erst gar nicht danach.
 

„Lydia... Schätzchen.“, versuchte ihre Mutter sie wieder in ein Gespräch zu ziehen.
 

Sie schaffte es mal wieder ihre Tochter an die Spitze zu treiben. „WAS?!“, warf sie ihr, etwas lauter als gewollt, entgegen.
 

Erschrocken fuhr diese zusammen und schaute ihre sonst, ach so disziplinierte Tochter entgeistert an. Lydia beachtete diesen Blick gar nicht, sondern rührte nur gelangweilt in ihrem Tee herum.
 

Nach einer Weile Stille, in der ihre Mutter ihre Fassung wiedererlangt hatte, setzte sie erneut an: „Lydia. Was ist denn nur los mit dir?“ Sanft legte sie eine Hand auf die ihrer Tochter. Lydia schaute zu ihr hoch. „Du verstehst keinerlei Späße mehr, die deine Mutter mit dir treibt, du versperrst dich für jegliche Konversation und... du hast deine Mutter angeschrien.“ Sie versuchte nicht vorwurfsvoll zu klingen, doch Lydia wusste, dass sie sich innerlich darüber aufregte, dass ihre Tochter ihre Stimme etwas lauter als Gewöhnlich angehoben hatte.
 

Lydia starrte ihre Mutter nichtssagend an und rührte immer weiter im Tee. Sie würde nicht antworten. In der Hoffnung ihre Mutter würde endlich – und sei es nur, um den Psychiater zu rufen, um ihm davon zu berichten, dass ihre Tochter „ernsthafte Kommunikationsprobleme“ hätte, da sie nicht imstande wäre, „eine einfache Unterhaltung mit ihrer geliebten Mutter zu führen“ - verschwinden.
 

Doch nichts dergleichen geschah. Ihre Mutter wollte einfach nicht locker lassen.
 

„Wenn du nicht mit mir sprichst, kann ich dir auch nicht helfen, Lydia, weißt du?“
 

Dieses aufgesetzte, besorgte Lächeln. Zum Kotzen.
 

„Es ist immer besser seinen Frust gleich rauszulassen. Und wenn du mir was sagen willst, dann – patsch – erzählst du es mir eben. Auch, wenn es mich wie eine Ohrfeige treffen wird. Damit komm ich schon klar. Ich bin doch schließlich immerhin noch deine Mutter.“
 

Lydia schaute von den Kreisen, die sie die ganze Zeit über im Tee gezogen hatte, auf und durchbohrte ihre Mutter geradezu mit ihrem Blick.
 

„Du willst also, dass ich rede, Mutter?“, knirschte sie mi zusammengebissenen Zähnen, um nicht wieder laut rumzubrüllen.
 

Ihre Mutter nickte. Mit einem leichten Anflug von Angst in ihrem Gesichtszügen.
 

Lydia legte den Toast beiseite, den sie immer noch in ihrer Hand gehalten hatte und stellte auch das Rühren ein. „Du willst, dass ich dir sage, wieso ich mich so scheiße fühle.“
 

Empörung gesellte sich zu der Angst. Bestimmte dachte ihre Mutter jetzt, wie sie es wagen konnte ein solches Un-Wort in den Mund zu nehmen. Doch sie nickte wieder.
 

Und Lydia ließ ihrer ganzen angestauten Wut von über fünfzehn Jahren endlich Luft.
 

„Ich hasse es, nicht das Leben eines normalen Menschen leben zu können!
 

Ich hasse es, jeden Abend zu sterben!
 

Ich hasse es, jeden Morgen wieder aufzuwachen!
 

Ich hasse es, mir darüber im Klaren zu sein!
 

Ich hasse es, jeden Tag zu wissen, was am Abend auf mich zukommen wird; nämlich der Tod!
 

Ich hasse es, die Qual, die Pein, die höllischen Schmerzen, jedes Mal!
 

Ich hasse es, sie jeden Tag erdulden zu müssen!
 

Ich hasse es, wie meine Schulkameraden mich alle angaffen, wenn ich am Vortag überfahren worden bin und am nächsten Tag wieder quietsch-lebendig zur Schule komme!
 

Ich hasse es, wie ihr mich alle behandelt!
 

Ich hasse es, wie DU mich behandelst!
 

Ich hasse deinen fröhlichen Spruch jeden Morgen!
 

Ich hasse das eintönige Frühstück, das ich immer essen muss, obwohl mir schlecht davon wird!
 

Und am allermeisten hasse ich daran...“ Lydia hob das leergetrunkene Glas hoch, in dem vorher die Aspirinmischung gesprudelt hatte, „dieses. Ekelhafte. Zeug.“ Und sie ließ es fallen und auf dem Parkettboden zerschellen. Die Splitter fegten über den gesamten Boden.
 

Tränen waren in die Augen ihrer Mutter getreten. Sie hatte etwa in der Mitte von Lydias Hasspredigt die Hände vor den Mund geschlagen, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Nun kauerte sie auf dem Sessel und weinte stumme Tränen.
 

Doch sie waren nicht für Lydia. Sie waren für sie selbst. Weil sie Mitleid mit sich selbst hatte. Nicht mit ihrer Tochter, die jeden einzelnen Tag in ihrem Leben durch die Hölle ging. Nein, sie hatte Angst vor dieser Tochter. Furchtbare Angst. Solche Angst, dass sie überall am Körper zitterte und ihr der Schweiß ausbrach.
 

Lydia erhob sich. Ließ Mutter, Tablett und Wohnzimmer zurück und lief nach draußen. Lief die Einfahrt entlang und überhörte die Rufe des hauseigenen Butlers – wie sollte er sonst auch heißen – James. Lief weiter durch das Tor, an dem sie noch am Vorabend blutend und sterbend gehangen hatte. Lief weiter auf die Straße. Und hoffte von einem der Autos mitgenommen zu werden.
 

Auch wenn sie wusste, dass sie am nächsten Tag doch auch wieder leben würde.
 

Sie konnte sich im Moment nur einfach nichts besseres vorstellen, als tot auf der Fahrbahn zu liegen und nichts mehr mitzubekommen.
 

Die Schreie der Passanten, die Stimme ihres Butlers oder ihrer verhassten Mutter. All das – und noch viel, viel mehr – würde sie am liebsten einfach nur aus ihrer Welt streichen.
 

Doch natürlich – bei ihrem Pech (oder auch Glück, je nachdem, wie man es auffasste) – fuhr gerade kein schwerer Transporter vorbei und sie kam unbeschadet nach einer Weile Lauferei, bei der sie sich nach langer Zeit mal wieder so richtig ausgepowert hatte, im nahe gelegenen Stadtpark an.
 

Erschöpft ließ sie sich auf eine der wackligen, alten Parkbänke sinken. Das Gesicht in den Händen vergraben und die Ellbogen auf die Knie gestützt saß sie da, wie der einzig wahre Haufen Elend.
 

Lydia biss verkrampft die Zähne aufeinander und ballte ihre Fäuste so zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervorstachen. Sie war wütend. So verdammt wütend, dass es sie beinahe selbst erschreckte. Wütend, zornig und vor allem verzweifelt. Verzweiflung war ihr ständiger Begleiter gewesen, schon seit dem sie das erste mal gestorben war.
 

Es hatte angefangen, als sie noch ganz klein gewesen war. Vielleicht fünf oder sechs. Jedenfalls war sie noch nicht in die Schule gegangen. Und doch war es auf dem Schulweg passiert.
 

Lydia erinnerte sich genau. Es war mitten im Sommer gewesen. Sie hatte ein süßes Sommerkleid mit einer Schleife im Rücken getragen. Das blonde Haar war ihr damals noch in wilden Locken vom kindlichen Gesicht abgestanden. Ganz stolz trug hatte sie damals den goldenen Haarreif getragen, den ihr ihre Mutter einen Tag zuvor zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte.
 

Beide waren spazieren gegangen. Hatten die warmen Strahlen der Sonne genießen wollen und den Vögeln beim Singen zugehört. Lydia hatte ihre Mutter geradezu angebettelt noch einmal mit ihr den Weg zur Schule lang zu gehen.
 

„Aber wir sind ihn doch schon so oft lang gegangen. Du könntest ihn sogar schon im Schlaf langgehen!“, lachte ihre Mutter. Damals war es noch ein aufrichtiges Lachen gewesen...
 

„Aber ich will nochmal hin! Bitte! Mit dir!“, quengelte Klein-Lydia.
 

„Na schön. Auch, wenn du später wahrscheinlich nicht mehr hingehen willst.“
 

Lydia strahlte, wie ein kleines Engelchen. Und jubelte, weil sie ihre Mutter dazu überredet hatte. Brav nahm sie die Hand der Mutter und beide gingen in Richtung Grundschule. Neben dem Fußgängerweg lief eine Mauer entlang, auf die Lydia unbedingt klettern wollte.
 

„Nein, Lydia. Das ist zu gefährlich. Wenn du runterfällst-“
 

„Ich werd' schon nicht runterfallen. Mama. Bitte.“
 

Wieder hatte sie ihre Mutter überredet bekommen. Doch das war ein Fehler gewesen. Hätte ihre Mutter doch nur in diesem einen Fall mal „Nein“ gesagt... Dann wäre sie nicht...
 

... auf den Baum geklettert (ganz zum Verdruss ihrer Mutter)...
 

... hätte sich nicht auf einen der dünnen Äste gesetzt...
 

... wäre nicht gestürzt...
 

... und hätte sich nicht das Genick gebrochen...
 

Den Aufschrei ihrer Mutter hatte sie schon gar nicht mehr mitbekommen. Sie wusste nur noch, wie ihre Mutter sie im Arm gewiegt hatte, das Gesicht tränenüberströmt. Und sie hatte ihrer Mutter zugelächelt.
 

Und gesagt: „Mama, wein doch nicht. Siehst du, wie ich gesagt habe. Es ist nichts passiert.“
 

Während sie an diese schicksalshafte Ereignis nachgedacht hatte, hatte sie gar nicht bemerkt, wie sich jemand neben sie gesetzt hatte. Als sie nun die schwarze Mähne des etwa gleichaltrigen Jungen im Augenwinkel sah, drehte sie sich zu ihm um.
 

Er hatte ein hübsches Gesicht, die Haare waren mit einzelnen blauen Strähnchen durchzogen und hatten genau die richtige Länge zum Durchwuscheln. Aber was ihr sogleich negativ auffiel, war wie er an einer Zigarette zog.
 

Lydia hasste Raucher.
 

„Könntest du das bitte lassen. Das schadet der Gesundheit.“ Welche Ironie. Dabei konnte sie noch nicht mal dadurch richtig sterben...
 

Der Junge wandte den Blick von der Fluppe zwischen seinen Fingern zu Lydia und hob eine Augenbraue. Sie war gepierct. Ebenso wie sein Mundwinkel. Seine blauen Augen glitzerten in der Morgensonne.
 

„Ach, davon hab ich auch schon gehört.“, kicherte er, ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus.
 

„Und das nennt man übrigens Umweltverschmutzung.“ Lydia nickte in die Richtung der noch ein wenig nach qualmenden Zigarette.
 

„Komm schon.“ Der Junge lehnte sich lässig an die Bank und legte einen Arm schwungvoll um Lydias Schultern. Sie kommentierte diese – für ihre Verhältnisse zu private – Handlung mit einem Räuspern, beließ es aber dabei, als er nicht darauf reagierte. „Das ist alles naturel. Das baut die Natur schon von selbst ab.“
 

Diese Bemerkung quittierte Lydia mit einem skeptischen Schulterzucken. „Wenn du meinst. Es ist aber bestimmt nicht meine Schuld, wenn irgendein Eichhörnchen das Teil in den Mund nimmt und dran krepiert.“
 

Der Junge nahm den Arm wieder weg und betrachtete Lydia eine Weile. Was denn, hatte sie ihn jetzt schon abgewimmelt? Tja, sie hatte eben keine Erfolge bei Jungs. Man konte aber auch durchaus das Positive daran sehen: sie war meist schnell wieder ungestört, so wie sie es auch sonst immer sein wollte.
 

Merkwürdigerweise ging dieser hier aber nicht weg. Im Gegenteil, er stand zwar auf, aber nur um die Zigarette kurz in den Mülleimer gegenüber zu werfen und sich dann wieder neben Lydia zu setzen.
 

„Wie locker du über den Tod reden kannst.“ Lydia zuckte zusammen und hoffte, dass er es nicht bemerkte. Es sah nicht danach aus. Er redete weiter. „Ich kenn' Leute die bringen noch nicht einmal die Kombi „drauf gehen“ über die Lippen, weil die so 'ne Panik vor dem Thema haben. Die haben echt große Angst vorm Sterben ... Du aber anscheinend nicht.“
 

Seine Augen durchbohrten sie. Lydia musste weggucken. Inständig hoffte sie, er würde nichts bemerken. Die quälende Angst überkam sie, dass er Gedanken lesen konnte. Wenn das der Fall war, dann sah sie ganz schön alt aus...
 

Aber war das nicht vollkommen schwachsinnig, das zu glauben? Wer konnte schon Gedanken lesen?
 

>Ja, und wer starb jeden Tag aufs neue, um dann wieder ins Leben zurück zu kehren?<
 

So schwachsinnig kam es Lydia auf einmal gar nicht mehr vor.
 

„Kann sein.“, antwortete sie abgehackt.
 

„'Kann sein', aha.“, der Junge schien belustigt. „Mein Name ist übrigens Daniel.“
 

„Lydia.“ Sie sah ihm immer noch nicht in die Augen.
 

„Ein merkwürdiger Name.“, kommentierte Daniel ihre müde Antwort.
 

Lydia rümpfte die Nase. „Ich mag ihn auch nicht besonders.“
 

Im Augenwinkel bemerkte Lydia, wie sie von Daniel neugierig gemustert wurde. Er hatte eine Augenbraue hoch gezogen. „Seinen Vornamen nicht mögen.“, sprach er mehr zu sich selbst, als an Lydia gewandt. „Ich kenne ja viele Menschen, die mt ihren Nachnamen Probleme haben“, ein Lächeln huschte über sein Gesicht, „- mich eingeschlossen. Aber der Vorname... ist doch das, was einen Menschen ausmacht. Meine Schwester, zum Beispiel, sagt mir immer, sie könne sich nicht vorstellen, wie ich all den Unsinn mit ihr durchstehen könnte, wenn ich 'Frederick' heißen würde.“ Er kicherte. „Was vielleicht auch daran liegt, dass man 'Daniel' leichter – und vor allem schneller – rufen kann.“
 

Sein Kichern ließ Lydia schmunzeln. Er hatte ihr Interesse geweckt. „Naja, wenn du Frederick heißen würdest, würde ich mich vermutlich nicht mit dir abgeben wollen.“ Aus dem Schmunzeln wurde ein leises Lachen. Sie traute sich wieder in seine Augen zu schauen.
 

„Warum magst du den Namen nicht? Also, ich mag ihn schon.“ Er grinste und zog einen Schmollmund. Beide lachten.
 

„Sag doch mal, wieso magst du deinen Nachnamen nicht?“, fragte Lydia Daniel nach dem befreienden Lachen. Schon lange hatte sie nicht mehr so herzhaft lachen können. Schon viel zu lange nicht mehr.
 

Plötzlich wurde Daniels Miene ernst. „Weil meine Schwester ihn nicht mag.“
 

„Du magst deinen Nachnamen nur nicht, weil deine Schwester ihn nicht mag? Ist das nicht ein wenig...“
 

„Es ist so. Und damit hat's sich, okay?“ Diesmal war Daniel an der Reihe den Blick abzuwenden. Seine schroffe Abweisung ließ auch Lydia wieder ihre kalte Schulter zeigen.
 

„Okay.“, sagte sie schnippisch und schaute weg. Beide schienen sich ungewöhnlich stark für den, in voller Blüte stehenden, Wacholderbusch zu interessieren. Jedenfalls würde das wohl jeder Mensch denken, der an ihnen vorbei laufen würde.
 

Da fiel Lydia wieder ihre Theorie mit dem Gedankenlesen ein. Sie durchbrach die Stille. „Du kannst keine Gedanken lesen, oder?“ Sie klang etwas ängstlicher, als sie wollte.
 

Daniel sah Lydia an, als hätte er eine Verrückte vor sich. Rückte er nicht sogar ein Stück weiter weg von ihr, oder bildete sie sich das nur ein? Dann lachte er laut los. Ein schallendes Gelächter, das Lydia beinahe in den Ohren weh tat.
 

Als er sich wieder beruhigt hatte, antwortete Daniel: „Nein. Aber eine lustige Vorstellung. Wie kommst du da drauf?“
 

Beschämt schaute Lydia zur Seite. „Ach, ich... nur so.“
 

„'Nur so'. Schon wieder so eine Antwort von dir. Du redest nicht viel, kann das sein?“
 

Lydia zuckte mit den Schultern. Das sollte ihm Antwort genug sein.
 

„Aber wir waren immer noch nicht fertig mit dem Thema 'Tod', nicht wahr?“
 

„Ebenso wenig, wie mit dem Thema 'Nachnamen'.“, konterte Lydia.
 

Was von Daniel mit einem wissenden Grinsen belohnt wurde. „Du hast Recht. Schließen wir einen Kompromiss.“ Lydia gab ihm zu erkennen, dass sie zuhörte. „Wir sagen beide die Gründe, wieso wir nicht drüber reden wollen. Gleichzeitig. Na, ist das ein Vorschlag?“
 

Lydia überlegte. Wenn sie leise genug sprach, würde er es vielleicht überhören... Also stimmte sie zu. „Okay, auf drei. Eins... Zwei... Drei-“
 

„Mein Nachname ist Adams.“

„Ich sterbe und erwache wieder zum Leben.“
 

Beide sahen schockiert zum jeweils anderen herüber. Lydia glaubte ihren Ohren nicht. Sie saß direkt neben Daniel Adams, dem Sohn der berühmten Schauspielerin und dem bestbezahltesten Anwalt auf der Welt. Er war der rechtmäßige Erbe des millionenschweren Adams-Unternehmens. Und selbst seine Schwester war so berühmt-berüchtigt, wie ihre beiden Eltern zusammen.
 

Lydia rückte unwillkürlich beiseite und hielt vor Ehrfurcht die Luft an. „Daniel. Adams.“, hauchte sie. Ihre Augen waren voller Erstaunen weit aufgerissen auf Daniel gerichtet.
 

Aber Daniel erging es nicht anders. Er war kreidebleich geworden, starrte Lydia fassungslos an und wiederholte immer wieder, wie ein Mantra die Worte „Sterben und Leben?“ Nach einer Weile sprach er, ungläubig und skeptisch: „Du stirbst und lebst dann wieder? Wie soll man das denn verstehen? Ich... ich tue es nämlich nicht wirklich.“
 

Lydia war ebenso überrascht wie Daniel. Aber sie verstand, dass ihre Mitteilung wesentlich bedeutungschwangerer war, als seine. Was war schon so toll daran der berühmteste Junge der Welt zu sein, wenn man starb und wieder lebte?
 

Lydia schluckte. Und seufzte. Schloss die Augen. Und öffnete sie wieder.
 

„Ich sterbe jeden Tag und wache jeden Morgen wieder auf – lebendig und voller Leben, egal wie schwer meine Verletzungen auch sein mögen.“
 

Ihr Blick zeigte ihr Unwohlsein nur allzu gut. All die Angst, die sie jedes mal spürte, all die Zweifel und Fragen die aufkamen. Und auch Daniels Blick war voller Fragen. Seine blauen Augen sprühten geradezu voller Wissbegierigkeit. Er wollte wissen, wie das passierte, warum es passierte und ob Lydia überhaupt wusste, wieso es geschah. Was Lydia aber am meisten irritierte war, dass Daniel keinerlei Fragen darüber stellte, ob sie nicht verrückt sei, dass sie so einen Unsinn erzählte.
 

„Lydia, das... das klingt...“, brachte Daniel verblüfft heraus.
 

„Verrückt?“, half sie ihm ein wenig auf die Sprünge.
 

Doch er schüttelte den Kopf. „Unglaublich.“ Ein Grinsen stiehlt sich auf sein Gesicht. „Was du alles anstellen kannst.“ Lydia sah ihn fragend an. „Und herausreden kannst du dich dann damit, dass du stirbst. Das ist doch cool. Eine Art Unsterblichkeit.“
 

„Wie...?“ Sie verstand nicht, was er meinte.
 

Er legte seine Hände auf ihre und blickte ihr tief in die Augen. „Hast du denn noch nie versucht etwas positives in deiner Gabe zu sehen?“
 

„Ich habe es nie als Gabe gesehen.“, erwidert Lydia.
 

Daniel lacht leicht. „Tja, dann hast du da etwas ganz schön falsch gemacht.“
 

Plötzlich lässt er ihre Hände wieder los und springt auf. Er wendete sich zum Gehen und Lydia überfiel die Angst, dass er sie alleine hier zurücklassen würde. „Warte!“ Auch sie sprang auf. Er drehte sich zu ihr um.
 

„Hm?“
 

„W-was... warum lässt du mich mit dieser irrsinnigen Geschichte durchgehen? Du musst doch eigentlich denken, dass das eine große Lüge ist und ich nur zu viel Fantasie habe.“
 

„Nein. Ich glaube dir.“
 

„Aber wieso?“
 

„Weil man es dir deutlich ansiehst, dass du die Wahrheit erzählst.“
 

Lydia musste Grinsen über Daniels offenherzige und nette Art. „Gib's zu. Du kannst doch Gedanken lesen.“
 

Er schüttelte nur die schwarze Mähne und lachte schallend. Das Lachen steckte Lydia an und sie verabschiedeten sich mit einer Umarmung, nachdem sie noch ein Stück im Park gegangen waren.
 

„Besuch mich doch mal.“, schlug Daniel vor. Doch Lydia lehnte ab.
 

„Wenn wir uns wiedersehen sollen, dann werden wir uns schon wiedersehen.“, meinte sie zuversichtlich. Beide schauten hinaus auf den Teich. „Ach, und Daniel?“
 

„Ja?“
 

„Danke.“
 

„Kein Problem.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  little_sunshine
2009-08-21T18:24:08+00:00 21.08.2009 20:24
Ich muss nur zustimmen, die Story is echt gut, ich glaub ich hab mich in deinen Stil verliebt *kicher*
ja ich frag mich auch warum sie immer stirbt, is das Erblich oder so?? oder irgend was dahinter ??
wär echt interessant^^

Aber Daniel ist auch mein Lieblingscharakter, schön getroffen und beschrieben^^
irgendwie erinnert er mich an meinen Freund, der auch Daniel heißt *kicher*

schreib bald wieder was ^^


LG sunny

PS: wenn ne fortsetzung kommt, musst du mir bescheid geben, umbedingt *lächel*

Von:  RhapsodosGenesis
2009-04-12T19:40:21+00:00 12.04.2009 21:40
Su-per. *staun*
Die Geschichte gefällt mir total gut!
ICH mag Daniel und Lydia^^ Die sin dmit beide sympathisch - bis auf das, dass Daniel raucht.
Warum stirbt Lydia immer wieder? Undlebt danach wieder? HAt sie dasd geerbt oder sowas?
*Favo*

lg. Avada K.
Von:  elma
2008-12-30T21:52:03+00:00 30.12.2008 22:52
>oo<
Die elma liebt dies Story..und wie...und besonder gefällt mir dieser Daniel *-*... dem haste voll sympatisch geschrieben...
Ach, allgemein genailes geschichte...
Aber was mcih interesiert, warum Lydi *schon Nick verpasst hat* immer stirbt und wieder lebt...das interessiert mich echt...kommt irgendwann ncoh ne Fortsetzung...würd mich echt freuen *-*...
*FAV*


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