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Die alte Villa

von

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Erschreck nicht

Sie liebte dieses Buch. Nein, sie liebte es nicht nur, sie vergötterte es. Sie hatte es jetzt schon fünfmal gelesen und las es nun schon zum sechsten Mal, aber sie konnte nicht genug davon bekommen. Sie liebte es nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke zu liegen und dieses Buch zu lesen, sie liebte es, bevor sie das Licht ausmachte noch mal unter dem Bett nach zusehen, ob sich dort nicht doch ein Clown oder ein Riesenvogel versteckte. Jedes Mal, wenn sie dieses Buch las, breitete sich an den gleichen Stellen dieses unangenehme Kribbeln über ihren Rücken aus. Ja, sie liebte dieses Buch. Aber sie wusste natürlich, dass all die Horrorgeschichten, die sie las, nicht wirklich geschahen, oder?

Als sie an ihrer Lieblingsstelle angelangt war, schreckte sie plötzlich hoch. War da nicht eben etwas? Hatte sie nicht gerade einen Schatten um ihr Haus schleichen sehen? Sie stand auf und schaltete das Licht ein, das war wohl die beste Lösung, wenn man allein zu Hause war. Ihre Eltern würden sie zwar wieder anmaulen, doch was soll’s, sie hatte keine Lust vor Angst zu sterben nur weil draußen die Zweige knackten. Als sie in jedem, der fünf Zimmer in der unteren Etage ihrer Villa das Licht angeschaltete hatte, kuschelte sie sich wieder in ihren Sessel und las weiter. Sie verschlang das Buch regelrecht, aber was sollte man machen.
 

Ihre Eltern waren nicht gerade reich, aber sie konnte sich über ihren Lebensstil nicht beklagen. Sie besuchte die 10te Klasse des Gymnasiums und war nicht gerade eine schlechte Schülerin. Sie hatte gute Freunde und war eigentlich rundum glücklich. Nur eine Sache quälte sie, Mike hatte noch eine Rechnung mit ihr offen. Er kannte sie besser als fast jeder andere. Er wusste, welche Vorlieben sie hatte, er kannte ihre größten Schwächen. Und das machte sie unsicher. Mike war unberechenbar, dass hatte sie schon am eigenen Leibe erfahren müssen. Sie befürchtete, dass er etwas im Schilde führte, und das war nicht gut.

Ihre erste Ahnung, dass Mike etwas ausheckte, hatte sie gestern. Er hatte sie nach der Schule abgefangen und sie nach Hause begleitete; das war eigentlich nichts besonderes, da er nur drei Straßen weiter wohnte. Als sie in ihre Straße einbogen fragte er plötzlich: „Gehen deine Eltern auch auf das Konzert morgen?“

Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die Frage irritierte sie: „Ja, aber das weißt du doch. Meine Eltern gehen mit deinen dorthin, oder nicht?“

„Stimmt, hatte ich vergessen. Das heißt, du bist morgen Abend allein zu Hause?“

„Ja, warum?“

„Ach, nur so. Was liest du denn zurzeit?“

Mittlerweile waren sie vor ihrem Gartentor stehen geblieben. Ihr kam die ganze Sache irgendwie spanisch vor: „Wieso willst du das wissen? Was ich lese, hat dich doch sonst auch nicht interessiert.“

„Na ja,...“, er war sichtlich verlegen, „ich muss los.“

‚Erwischt.’, war ihr erster Gedanke.

„Lass dich nicht wegfangen.“ Das sagte er immer. Die Leute behaupteten, dass es in ihrer alten Villa spukte, aber darauf gab sie nichts; sie liebte dieses alte gotische Gebäude und sie kannte es wie ihre eigene Westentasche. Sie hatte schon als kleines Kind gern in den Ecken geschnüffelt, sie "erforschte" den Dachboden und den Keller, sie suchte nach verborgenen Geheimnissen im Wandschrank,... Sie kannte das Haus also von Kopf bis Fuß, glaubte sie.

„Also, dann bis morgen.“ Sie winkte ihm noch einmal nachdenklich zu, öffnete dann das Gartentor und brachte ihr Fahrrad in die neu angebaute Garage. Als sie rund eine halbe Stunde später mit ihrer Mutter zu Mittag aß, hatte sie das Gespräch schon fast vergessen. Es fiel ihr erst wieder ein, als sie ihre Hausaufgaben machte und an Mike denken musste. ‚Was hatte er nur vor?’ Beim Einschlafen stellte sie sich diese Frage immer wieder. Doch Mike war einfach undurchsichtig, selbst für sie. Ein ständiges Rätsel. Doch sie hatte nicht viel Zeit darüber nach zu denken, denn sie wurde magisch in die Traumwelt gezogen. In dieser Nacht hatte sie einen der verrücktesten Träume in ihrem ganzen Leben.
 

Briiiiiiiiing, Briiiiiiiiing, das Telefon holte sie mit einem Schrei aus ihrem Buch in die Wirklichkeit zurück. Sie rannte über den Flur in die Küche, wo das Telefon an der Wand hing.

„Hallo?“, sie keuchte, ihr Herz schlug immer noch heftig.

„Ich kann dich sehen.“ Es war eine verstellte Stimme.

Ihre Gesichtszüge entspannten sich. Der Scream-Klassiker wirkte nicht mehr: „Hör auf Mike, was willst du?“

„Du hast mich erkannt?“, er versuchte nicht enttäuscht zu klingen, doch das gelang ihm nicht. Sie konnte seine betrübt nach unten gehenden Mundwinkel förmlich vor sich sehen und unterdrückte ein Kichern. „War nicht schwer. Also, was willst du?“

„Kann ich rüberkommen, ich langweile mich.“

„Na gut, komm her. Aber klopf, bevor du reinkommst.“ Sie legte auf. Jetzt war also der Moment gekommen, an dem Mike seine Rechnung begleichen würde. Sie beschloss, überall das Licht wieder auszumachen. ‚Na, mal sehen, wer hier wen erschreckt.’ Sie lächelte in die Dunkelheit und wartete darauf, dass Mike kommen würde. Die Standuhr im Wohnzimmer tickte, tick tack, tick tack... ‚Er braucht nicht mehr als zehn Minuten um hier zu sein.’ Tick tack, tick tack, tick tack. Die Dunkelheit umhüllte sie, es bewegte sich nichts. Tick tack, tick tack, tick tack. Ihr Atem wach flach, sie grinste in die sie umgebene Finsternis. Tick tack, tick tack, tick tack. Um Mike den geplanten Willkommensgruß zu geben, tastete sie sich in den Eingangsbereich des Flurs und wartete dort. Man hörte auch hier nur das eintönige Schlagen der Standuhr. Tick tack, tick tack, tick tack. Sie hatte gar nicht gewusst, dass die Standuhr so laut war. Die Stille gab ihr eine Gänsehaut. Es war als hätte die Villa ihre Luft angehalten, um ja keinen Laut von sich zu geben. Sie hörte das Gartentor quietschen. Dann schlürfende Schritte auf der Treppe. Als sie die sich anschleichende Gestalt hinter der Tür durch die Scheibe sah, schrie sie aus Leibeskräften. „Hilfe.“ Es war nicht viel mehr als ein Kreischen, das die ohrenbetäubende Stille plötzlich durchbrach. Die Tür flog auf und ein Typ mit langen, zerzausten Haaren, einem bleichen Gesicht und zerfetzten Klamotten stand vor ihr. Er sah sie entgeistert und beängstigt an, als sie wieder zu schreien begann. Ihr Herz hatte für einen Moment ausgesetzt. Das war nicht Mike. Sie nahm zwei Schritte rückwärts in Richtung Wohnzimmer und stolperte, immer noch geschockt, über die Türschwelle. Sie landete schmerzhaft auf ihrem Po.

„Beruhige dich.“, sagte die Gestalt auf sie zu stürmend. „Ich bin es, Mike.“

Sie keuchte. Jetzt erkannte sie ihn. Ihr Herz klopfte wild, als sie mit seiner Hilfe wieder aufstand: „Man, hast du mir einen Schrecken eingejagt.“

„Dann hab ich ja erreicht, was ich wollte.“, er grinste sie an. „Bist du okay?“

Sie strich über ihren immer noch schmerzenden Po. „Ja, alles okay.“

„Eigentlich wollte ich ja klopfen, aber dann hab ich dich schreien hören und hab gedacht, dir wäre etwas passiert.“

„Mike, du sollst nicht denken, du sollst nachdenken.“ Sarkastisch tat sie so, als sei nichts geschehen. „Wie siehst du eigentlich aus?“

Er grinste. „Hab ich bei Paps im Kleiderschrank gefunden.“ Dann schloss er die Tür hinter sich und sah sie erstaunt an.

„Sag mal, warum hast du eigentlich das ganze Licht ausgemacht?“

„Ich, ich -ähm-“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also knipste sie das Flurlicht an und betrachtete ihn einen Moment. Jetzt erkannte sie, dass Mike eine blonde Perücke trug, die er jetzt vom Kopf nahm. Und plötzlich kamen seine braunen wuscheligen Haare zum Vorschein. Die Klamotten, die er trug sahen selbst im Licht zum Fürchten aus. Seine Jeans war Motten zerfressen und staubig; das T-Shirt, schwarz mir einem gelben Anarchie-Zeichen vorn drauf, wies Löcher am Kragen und am Saum auf. Darüber trug er eine schmutzige Jeansjacke, an der ein Ärmel am Ellenbogen abgerissen war. ‚Wie ein Penner’, dachte sie kopfschüttelnd, dann fragte sie sich in Richtung Küche drehend: „Willst du was trinken?“

„Hm. Soll ich dich in die Küche begleiten, nur damit dich keiner wegfängt?!“

Sie drehte sich zu ihm: „Wer sollte mich denn wegfangen?“



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