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Herren der Winde

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Schatten des Windes

Die Herren der Winde
 

Prolog - Schatten des Windes
 

Die Sonne glühte vom wolkenlosen Himmel und fiel senkrecht auf die steinernen Mauern, welche die Stadt umgaben. Es war windstill. Ungewöhnlich. Wind und Sonne, dies waren die einzigen Konstanten im Leben der Bewohner der Ewigen Wüste. Sonne, die heiß auf der Haut brannte, Wind, der trocken und warm durchs Haar wehte. Die Herrscher der Wüste.
 

***
 

Die Stadt, die sich aus dem Sand erhob, war vor langer Zeit erbaut worden. Golden glänzten die Türme des Palastes im sinkenden Licht der Abendsonne, während die Schatten länger und länger wurden. Sie ragten über die niedrigen Häuser und Villen der Stadt hinaus, eine filigrane Arbeit mit allerlei Verzierungen. Aus einer Tür trat eine Gestalt auf den Balkon hinaus, der den höchsten Turm der Stadt umgab.

„Ah!“

Der Mann streckte die Arme aus, während er seinen Blick über die Dächer unter ihm gleiten liess. Blau schimmerte es dort, wo die Kanäle verliefen, die Wasserversorgung der Stadt, gespeist aus unterirdischen Quellen tief im Inneren der Erde. Golden dort, wo der Sand seine Herrschaft über die Menschen hartnäckig verteidigte.

„Wie schön sie ist“, sagte der Herrscher Xjuntas andächtig.

„Ein Juwel inmitten der Ewigen Wüste!“

„Wie Recht ihr habt, großer Rah-Ten!“, murmelte demütig ein Mann hinter ihm. Das aufgestickte Symbol an seinem Ärmel wies ihn als ein Mitglied einer Mittleren Familie aus, und der Kaiser achtete nicht weiter auf ihn.

„Die Kanäle schenken Unserer Stadt Leben. Sie speisen Unser Volk.“

„Ihre Anlegung war eine wundervolle Idee, Höchster.“

„Schweig.“

Die Stimme des Kaisers war kalt, und furchtsam schloss der Minister den Mund.

„Diese Elendsviertel jedoch... Sie gefallen Uns nicht... Sie sind schmutzig und stinken. Ihre Bewohner beschmutzen Unser kostbares Wasser. Eine Schande für Unsere Augen... Eine striktere Trennung zwischen den einzelnen Schichten ist erforderlich.“

Die Minister im Raum, die zum äußeren Kreis der Regierung gehörten, hielten den Atem an.

„Lasst verkünden, dass das gemeine Volk nur noch Wasser an den Kanälen schöpfen darf, keinesfalls an den Brunnen.“

„Aber Majestät!“

Ein Minister wollte aufbegehren.

„Das Wasser ist besonders für die Menschen des gemeinen Volkes wichtig, die es sich nicht leisten können, Wasser von den Händlern zu kaufen! Wenn Ihr ihnen verbietet, Wasser aus den Brunnen zu holen...“

Stumm starrte der Rah-Ten Xjuntas den Mann an und seine kalten Augen bohrten sich in die Seinen. Seine Stimme klang eiskalt.

„Ihr wagt es, Unseren Befehl in Frage zu stellen?“

Der Mann wich verängstigt zurück und sank in sich zusammen.

„Na-Natürlich nicht.“

Furchtsam verschränkte er seine Hände in den Falten seines Mantels, um ihr Zittern zu verbergen.

„Es soll so geschehen, wie Ihr es befehlt.“

„Gut.“

Die eisigen Augen liessen den armen Mann nicht los.

„Bedenkt bitte, dass Ihr nur hier seid, weil Wir in Unserer großen Gnade auch die Mittleren Familien an der Regierung Xjuntas teilhaben lassen. Und nur durch Unsere Gnade genießen Eure Familien solch einen guten Ruf.“

„Ja, Allerhöchster“, murmelte der Mann. Er sah auf seine Füße hinab, die in einfachen, aber dennoch teuer aussehenden Schuhen steckten.

Noch eine Weile sah der Rah-Ten vom Balkon hinab auf seine Stadt. Dann drehte er sich um und machte eine Handbewegung, ohne die Männer vor ihm, die so verschüchtert waren, dass sich kaum zu Atmen getrauten, anzusehen: „Das wäre dann alles.“

Die Minister wagten nicht sich sicher zu fühlen, bis sie sich wieder in ihren eigenen Häusern befanden.
 

***
 

„Eine Unverschämtheit ist das!“

In der dunklen Hütte, beleuchtet nur von einer einzigen Laterne, ging Pyroxen vom Orion-Bazaar auf und ab und ballte seine Fäuste. Seine nackten Füße hinterliessen Abdrücke im trockenen Sandboden, die sofort wieder verschwanden, als sei er niemals dagewesen. Schweigend beobachtete Zirkon vom Spica-Bazaar aus einer Ecke seinen Cousin. Beide waren ungefähr 20 Jahre alt und die grausame Sonne der Wüste hatte ihre Haare gebleicht und ihre Haut braun gebrannt. Das war bei Pyroxen ungleich auffälliger. Genauso, wie er größer war als sein Cousin und seine Schultern breiter. Er sah aus wie die Art von Männern, die man bei einer Prügelei liebend gerne auf der eigenen Seite als zum Gegner hatte, während Zirkon schmächtiger war und ruhiger wirkte. Ähnliche Unterschiede gab es in ihrem Charakter: Pyroxen war aufbrausend und tatendurstig während Zirkon der Vorsichtigere der Beiden war, der Ruhige, der Vernünftige, der Stratege im Hintergrund.

„Das ist einfach unglaublich! Wie, glaubt der Rah-Ten, werden wir überleben, wenn es uns nicht mehr erlaubt ist, Wasser aus den Brunnen zu schöpfen? Wir sollen uns mit dem Dreckwasser zufrieden geben, das durch die Kanäle fliesst, bis es gereinigt wird? Das ist... das ist einfach...“

Offensichtlich fehlten ihm die Worte, um seiner Verbitterung Ausdruck zu verleihen.

„Jetzt hat er sogar begonnen, Wächter an den Toren zu den Brunnenhöfen aufzustellen!“

„Xjunta ist nun einmal auf drei Schichten aufgebaut: die Obersten Vier, die Vier mächtigsten Familien, die Mittleren Familien, und das gemeine Volk. Viele Städte basieren auf diesem Prinzip, aber Xjunta ist sogar architektonisch so aufgebaut.“

Zirkons Stimme war leise.

„Als ob du schon viele Wüstenstädte neben Xjunta gesehen hättest!“

Spöttisch auflachend warf Pyroxen seinen Kopf angesichts des Vortrags seines Cousins in den Nacken.

„Du kennst andere Wüstenstädte doch auch nur aus Büchern oder Legenden. Aber das hier, das ist die Realität. Wir leben in der Realität.“

Wieder Ernst geworden, liess er sich auf den Boden fallen und stützte sein Kinn auf seine gefalteten Hände.

„Und so ist es nun einmal. Nur, wenn man in einer der Mittleren Familien oder gar in einer der Oberen Vier geboren wurde, hat man wirklich eine Chance auf Leben. Es ist einfach ungerecht!“

Zirkon nahm seine Brille ab und betrachtete sie im Dämmerlicht des verlöschenden Tages. Langsam kroch die Kälte über die Mauern und wischte die Hitze des Tages fort.

„Was willst du dagegen schon machen.“
 

Brennend versank die Sonne hinter dem Horizont.
 

Ende des Prologs
 

Gelaber und Infos

Willkommen bei den Herren der Winde!

Fortsetzung folgt auf Nachfrage^^ Ich lerne gerade für mein Abitur, deshalb werde ich nichts versprechen. Da aber alle Kapitel schon fertig sind, kann ich sie nach Belieben hochladen. Wer weiter lesen möchte, schreibt mir einfach ein Kommentar...
 

Ich hoffe, der Prolog zu "Die Herren der Winde" hat gefallen. Die Geschichte haben meine Freundin Fernan und ich vor zwei Jahren entwickelt, ich habe sie ausformuliert. Sie war ein Geschenk von mir an sie. Ich selbst hatte sehr viel Spaß beim Schreiben, weil es eine der ersten Geschichten mit eigenen Charakteren und Handlungen war und nicht eine FF mit bekannten Figuren. Außerdem habe ich das erste Mal ein komplettes Storyboard entwickelt und mich (zu Großteilen sogar) daran gehalten. Deshalb erscheint mir der Verlauf recht flüssig, die Handlung meist logisch und die Charaktere... Nun, ich mag meine Charaktere^^ Ich würde mich freuen, wenn ich eine Rückmeldung erhalte. Bis dahin alles Gute.
 

isa

Unfreiwillig schuldig

Sodale!
 

Ich freu mich sehr, hier wieder etwas zu schreiben, das bedeutet nämlich, dass sich jemand auf meinen Prolog hingemeldet hat und ich das zweite Kapitel hochlade!
 

Heute ist Montag, was einerseits doof ist... Weil Montage es an sich haben, doof zu sein. Aber gerade habe ich meine Englisch-Abiturprüfung versaut - im letzten Teil der letzten Aufgabe abbrechen müssen - weil meine Uhr zehn Minuten nach ging... Und ich hab mich so gefreut, dass es von der Zeit her hinkam. Tja, die Welt ist ungerecht. Hoffen wir mal, dass ich als brillante Schülern (*hust*) an anderen Stellen so viele Sonderpunkte rausgeschlagen habe, dass es trotzdem noch zu meiner Traumnote reicht...

Aber ansonsten war der Montag ganz okay. Ich hab meinen kleinen Bruder schon früher als gewöhnlich von seiner Tagesmutter abgeholt (was heißt klein, er ist 8) und er war beleidigt. Das hab ich kuriert, in dem ich ihn mit in die Bibliothek geschleppt habe und ihm dann beim Bäcker ein Brötchen besorgt habe... Und musste ihm auch versprechen, jetzt eine Runde mit ihm zu spielen, deshalb bin ich schon wieder auf dem Sprung. Statt herumzulabern sollte ich vielleicht einfach das Kapitel hochladen. Alles klar - kommt sofort!
 

Mein Dank geht an den allerersten Kommentator- Danke! Das Kapitel ist - direkt nach meiner Freundin, für die ich diese Geschichte rsprünglich geschrieben habe - ebenfalls für dich.

isa
 

Kapitel 1 - Unfreiwillig schuldig
 

Kameen D´un Jatcha vom Sirius-Bazaar war genervt. Xjunta war eine Wüstenstadt, bekannt für ihre Hitze – und gerade war Mittag. Sprich: die Zeit, in der die Sonne am Höchsten stand, in der es am heißesten war, in der jeder vernünftige Mensch zu Hause blieb und jeden Schatten suchte, den die Mauern zu bieten hatten – kein Mensch war in den Gassen des Sirius-Bazaars zu sehen. Die großen, verzierten Villen, zwischen denen sich die saubere Straße hinzog, waren heiß und leer, denn auch die Mitglieder der Mittleren Familien zogen es vor, der Hitze der Mittagsstunde aus dem Weg zu gehen, genau wie die der Obersten Vier. Hochgestellte Familien, dachte Kameen mit leichtem Unbehagen. Schliesslich war auch er der Sohn einer solchen Familie. Die Familie D´un Jatcha vom Sirius-Bazaar hatte zwar nicht das Geld, um in den obersten Rängen Xjuntas und im Palast des Rah-Ten Intrigen zu spinnen, aber sie hatte die Qualitäten dazu. Sein Vater war der beste Heiler der Ewigen Wüste, der angesehenste Arzt der Stadt und der persönliche Heiler der Kaiserlichen Familie. Er war oft im Herzen Xjuntas, dem sechseckigen Palast in der Mitte der Stadt, um sich um das Wohlergehen des Kaisers zu kümmern. Nicht, dass es unbedingt nötig gewesen wäre, der Kaiser war bei bester Gesundheit, aber es war seine Pflicht. Kameen war der älteste Sohn der Familie, und als solcher war er gleichzeitig auch der Lehrling, Assistent und späterer Nachfolger seines Vaters. Schon früh hatte er begonnen, seinem Vater zur Hand zu gehen, und so auch alles über die Heilkünste der Wüste zu erlernen. Und heute war er 19, dreimal klüger und wusste nun beinahe so viel wie sein Vater, in manchen Dingen hatte er ihn vielleicht sogar bereits übertroffen, aber nichts hatte sich verändert.

Was Kameen wieder zu seiner ursprünglichen Gereiztheit zurückfinden liess.

„Wasser holen!“, schimpfte er vor sich hin.

„Wasser holen? Das ist eine Aufgabe für Kinder! Pah! Ich bin doch kein kleiner Lehrling mehr!“

Missmutig trat er aus der Gasse und fand sich auf einem kleinen Platz vor einer hohen Mauer wieder. Der Platz war ebenso menschenleer wie die Straßen. Zuerst waren die zwei Torwächter nicht zu sehen, aber Kameen wusste, sie waren dort und suchten den einzigen Schatten, den es im Umkreis mehrerer Meilen geben konnte: Den Schatten unter dem Torbogen zum Brunnenhof.

„Halt!“, kommandierte einer der Beiden, als Kameen in Sicht kam.

„Wer seid Ihr?“

Stumm streckte Kameen den Arm aus, um den Wächter das Siegel seiner Familie am Aufschlag sehen zu lassen.

„Passierschein?“, fragte der Wächter trotzdem misstrauisch und der junge Mann verdrehte die Augen und holte eine Pergamentrolle hervor, die er den Wächtern zeigte. Mit einer steifen Verbeugung traten die Männer beiseite und gewährten ihm Eintritt zum Brunnenhof. Kameen betrat den leeren Platz, der von einer hohen Mauer umgeben war und in dessen Mitte ein Brunnen stand.
 

***
 

„Es ist einfach unerträglich heiß!“, jammerte der Jüngere der beiden Wächter, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fing sich eine Kopfnuss seines älteren Kollegen ein.

„Halt die Klappe, Rito! Du weißt, dass wir hier eine wichtige Aufgabe haben. Jammern hilft nichts!“

Grummelnd rieb Rito sich den Kopf.

„Du hast gut Reden, Harole! Noch zwei Jahre Beine in den Bauch stehen im Dienst des Rah-Ten und du bist frei. Und heute Abend wartet eine wunderschöne Frau auf dich... Wie ich dich beneide!“

„Es ist zufällig meine Frau, also benimm dich, aber du hast ausnahmsweise Recht. Sie ist wunderschön. Und jetzt halt den vorlautes Mundwerk und tu deinen Job.“

„Wache stehen, Wache stehen. Tagein, Tagaus, nur immer wieder und wieder Wache stehen! Es war eine dumme Idee des Rah-Ten, dem Unteren Volk den Zutritt zu den Brunnenhöfen zu verweigern. Es ist schon vier Wochen her und die Leute dürfen immer noch kein Wasser holen! Wir stehen hier vor einem Brunnen, der das sauberste und reinste Wasser der Ewigen Wüste zu Gunsten unserer Stadt hinaufbefördert, wir hören sie friedlich vor sich hin plätschern... Aber wir dürfen nicht von ihr schöpfen! Sollen wir etwa verdursten?“

Harole, der ältere Wächter, schürzte die Lippen.

„Was ist dir lieber: Für den Rah-Ten Wache stehen und dafür Wasser und Brot für deine Familie erhalten oder hier Wasser zu schöpfen, wo es dir verboten ist, dafür aus der Wache geworfen zu werden und zu Tode verurteilt zu werden? Deine Eltern und Geschwister werden ohne dich nicht überleben, sie sind doch auf das Wasser angewiesen. Dein Vater kann nicht mehr arbeiten, das weißt du. Nein, mein Lieber, das ist das Risiko nicht wert, denk so etwas lieber gar nicht erst!“

„Übervorsichtiger Spielverderber.“

„Ich verspüre nicht die geringste Lust, meine Frau und meine kleinen Töchter verdursten oder hinrichten zu lassen. Was ich dabei über den Rah-Ten denke, spielt keine Rolle, ich tue meinen Job.“

Harole seufzte.

„Dass ihr jungen Leute auch immer so neugierig auf Veränderungen seid! Ich sag dir, du wirst noch Ärger bekommen, Rito."

Rito rollte mit den Augen und ließ sich zurück in den Halbschatten sinken.
 

Vorsichtig liess Kameen den an einem Seil befestigten Eimer in den Brunnen hinab. Die Rolle, an der es befestigt war, quietschte leise. Es war zu still für seinen Geschmack... Viel zu still.
 

Ein junger Mann mit einer Kapuze gegen die Sonne auf dem Kopf kam die Straße herunter geschlendert, die Hände lässig in den Taschen seiner geflickten Hose vergraben, und hielt auf die Wächter zu.

„Seid gegrüßt! Heiß heute. Nicht wahr?“

Misstrauisch richteten Harole und Rito sich auf.

„Es ist immer heiß in Xjunta“, entgegnete der Ältere und lies seinen Blick über die Kleidung des Mannes streifen. Rotes Haar wie die untergehende Sonne im Sand. Unternehmungslustige Augen. Aber all dies täuschte nicht über die Tatsache hinweg, dass er statt einer Tunika ein geflicktes Hemd ohne Ärmel trug, dass er keinerlei Familiensymbole an seinen nicht vorhandenen Ärmeln trug und eine Schmutzspur sich quer über seine rechte Wange zog. Hier hatten sie es offensichtlich mit einem Jungen aus der unteren Schicht zu tun.

„Und du bist?“

„Ist das so wichtig?“

Der Junge lachte und zog seine Nase kraus.

„Wenn du hier bist, um Wasser zu holen – ihr aus den Bazaar-Vierteln habt hier nichts zu suchen!“

„Hey, Hey!“ Der Angesprochene hob abwehrend beide Hände.

„Ich bin rein zufällig hier. Ihr habt nicht vielleicht meine kleine Schwester gesehen? Ungefähr so...“

Er hob die Hände zu seiner Nase –

„...Groß, mit goldenem Haar?“

Der Ausdruck im Gesicht des älteren Wächters blieb, aber Ritos Aufmerksamkeit liess nach.

„Hab keine Frau vorbeikommen sehen – erst Recht keine mit solchem Haar. Eher ungewöhnlich, nicht?“

„Oh ja!“

Der Junge nickte nachdrücklich.

„Mein Vater sagte immer schon, sie werde einmal Ärger machen. Ich habe ihm nie geglaubt – und jetzt ist sie mit so einem Typen durchgebrannt.“

Der junge Wächter spitzte mitfühlend die Lippen.

„Frauen!“

„Das kannst du laut sagen! Wenn ich sie erwische, werd ich ihr was erzählen... Obwohl sie noch sturer sein kann als ein Kamel!“

„Wir haben sie nicht gesehen“, mischte sich Harole ein.

„Hier ist sie nicht. Such woanders.“

Der junge Mann seufzte.

„Das werd ich wohl tun müssen. Also, war nett, mit euch gesprochen zu haben.“

„Viel Glück bei der Suche“, sagte Rito und grinste.

„Wenn du ihr einen Marsch bläst, grüß sie von mir!“

„Werd ich machen.“

Der Mann entfernte sich zwei Schritte und wirbelte auf dem linken Bein herum, holte aus und trat Harole zielgerichtet in den Bauch.

„Was-“ –Rito griff zu seinem Schwert.

Aber er kam nicht dazu, es zu ziehen. Sein Angreifer hieb ihm die Handkante präzise ins Genick, sodass er wie ein Stein zu Boden ging. Das Letzte, was er sah, bevor er das Bewusstsein verlor, war eine Menschenmasse, die aus den Häusern rechts und links der Straße strömte, lärmte und alle möglichen provisorischen Waffen schwang. Der Wüstenfalke, der stumm auf dem Tor gesessen hatte, schwang sich mit einem schrillen Schrei in die Luft, um Verstärkung zu holen. Die Masse drängte sich um die Mauer zum Brunnenhof und begann, sie mit Fingern, Füßen und Haushaltsgeräten zu bearbeiten, um sie zum Einsturz zu bringen.

„Dabei habe ich doch nur fünf Brüder“, sagte Pyroxen, als er zufrieden auf die ausgeknockten Wächter hinabsah.
 

***
 

In dem Moment, in dem Kameen den sanftesten Beginn des allgemeinen Lärms hörte, reagierte er auch schon – und das so gezielt und effektiv, dass man hätte meinen können, er hätte den Aufstand erwartet. Vielleicht hatte er es auch – aber sicherlich nicht auf diese Weise! Seit Monaten hatte es in den Vierteln des gemeinen Volkes rumort, gebrodelt, die vier Bazaare waren beinahe übergekocht, als vor wenigen Tagen das Verbot erlassen worden war, Wasser aus den Brunnen zu schöpfen. Die Menschen waren durstig, arm, zum Teil krank vor Hitze und Wassermangel... Und wütend. Kameen, der gerne stille und ausgedehnte Streifzüge durch die Stadt machte, hatte beobachtet, wie die ersten Samen einer aufkeimenden Rebellion Früchte trugen.

So schnell er konnte, ohne das kostbare Wasser zu verschütten, füllte er es in die mitgebrachten Wasserschläuche und stöpselte sie gewissenhaft zu. Als er sie sich über den Rücken schwang, begannen die ersten Menschen, an den Mauern herumzuwerkeln. Sie wollten nicht hinein, um Wasser zu holen – sie wollten die Mauer zerstören, das Sinnbild der Herrschaft des Rah-Ten über das Wasser, das ihnen Leben schenkte. Zum wiederholten Mal verfluchte Kameen die Idee seines Vaters, ihn um diese Uhrzeit hinauszuschicken, dann ergriff er den Eimer, liess ihn an der Schnur wieder hinab und wandte sich dem Tor zu. Und dort stand jemand.

Rotes Haar, blitzende Augen. Lässig hatte der junge Mann, der vielleicht so alt war wie Kameen (oder ein halbes Jahr älter?) die geballten Fäuste in die Hüften gestützt, und er beobachtete Kameen lauernd. Offen erwiderte der den Blick.
 

Unter aufmunterndem Gebrüll der Rebellen fielen erste Steine der Mauer polternd in den Brunnenhof.

„Jetzt!“, schrie eine Frau mit überschnappender Stimme.

„Reißt sie ein!“

Gröhlend fuhren die Menschen fort, genau das zu tun. Unterdessen sah Kameen sich nach einer Möglichkeit um, sich möglichst unbemerkt aus dem Staub zu machen. Aber der Brunnenhof war so konstruiert, dass er jeglichen unbefugten Zugang verhinderte, was leider auch bedeutete, dass er jeglichen Ausgang außer dem Tor in der Mauer verweigerte (Was sich jetzt als ein Konstruktionsfehler herausstellte, dessen Behebung nicht in Kameens Zuständigkeitsbereich fiel, ihm aber enorme Schwierigkeiten bereitete). Und im Tor stand der offensichtliche Anführer der Rebellen. Fragen, ob er ihn nicht durchlassen würde, würde wohl nicht viel bringen, schoss es Kameen durch den Kopf. Also rannte er los. Direkt auf den Jungen zu.

„Denkst du, ein Stubenhocker wie du könnte gegen mich gewinnen?“, höhnte sein Gegenüber lachend und ging in Kampfstellung. Natürlich, er war in einem Bazaar-Viertel aufgewachsen, unter dem gemeinen Volk, er hatte sich schon als Kind vermutlich erfolgreich an Prügeleien beteiligt. Anders als Kameen hatte er ein gewisses Vorwissen, was Kämpfe anging. Aber wenn er glaubte, dass er so einfach gegen Kameen ankommen würde, dann irrte er sich... Der beschleunigte in der letzten Sekunde noch mehr, hielt direkt auf den Gegner zu, der seine Fäuste geballt hatte, um zuzuschlagen, sobald er in Reichweite sein sollte. Sah sicherlich gefährlich aus, dachte Kameen kurz, und tauchte gekonnt unter der Faust des Mannes hindurch.

Fegte an ihm vorbei, als wäre er ein Windhauch, und stürmte weiter, durch das Tor hindurch und hinaus auf die Straßen der Stadt. Hinter ihm erscholl ein wütender Schrei.

„Puh!“

Zufrieden wischte sich Kameen mit dem Ärmel über die Stirn. Und jetzt nichts wie weg hier!
 

„Nichts wie weg hier!“

Ein junger Mann mit weichen Gesichtszügen raste um die Ecke und lief mit Schwung in Kameen hinein.

„Oh, Entschuldigung!“

Dabei sah er ihn nicht an, sein Blick huschte suchend über die Menschenmasse. Kameen hielt an, als der Andere ihn wieder vergaß und zum Brunnenplatz stürmte, und im Laufen rief er wieder:

„Nichts wie weg! Die Wächter kommen!“

O-oh.

Nicht gut. Er hatte wirklich nicht das Gefühl, bleiben und zusehen zu wollen, wie die Wächter mit den Aufständischen verfahren würden. Es würde sicherlich kein schöner Anblick sein. Also wartete er gar nicht erst ab, bis er die ersten Schritte hinter der nächsten Ecke hörte, sondern drehte sich um und verschwand in der nächsten halbwegs schattigen Gasse.
 

Er lief den Männern des Rah-Ten geradewegs in die Arme.
 

***
 

„Ich frage dich zum letzten Mal: Wer hat euch dazu angestiftet, den Brunnenplatz anzugreifen, die Mauer niederzureißen und die kaiserlichen Wächter K.O. zu schlagen?“

Innerlich seufzte Kameen auf. Dieser Hauptmann war hartnäckig – und dachte immer, dass er alles besser wusste.

„Und ich sage Euch zum letzten Mal, dass ich nichts mit dem Aufrührern zu tun habe. Ich habe nur Wasser holen wollen, das ist mein gutes Recht.“

„Was haben sie dir dafür geboten, damit du ihnen hilfst und die Wachen ablenkst? Was haben sie dir dafür geboten? Was haben sie deiner Familie geboten, als sie sie geschmiert haben?“

Es fällt einem schwer, ruhig zu bleiben, wenn man sich mit solchen Anschuldigungen konfrontiert sieht.

„Geht das nicht in Euren Dickschädel? Weder. Ich. Noch. Meine. Familie. Haben. Mit. Diesen. Rebellen. Etwas. Zu. Tun. Solange Ihr mir nicht stichhaltige Beweise für mein Mitwirken vorlegen könnt, lasst mich wieder gehen. Sofort.“

„Ach, du hältst dich wohl für besonders schlau? Ich sage dir was.“

Der Mundgeruch des Hauptmanns ließ Kameen beinahe schwindlig werden und die geringe Entfernung zwischen ihnen, die absolut nichts mit Privatssphäre zu tun hatte, machte ihn krank. Auf seinem Stuhl rutschte er so unauffällig wie nötig so weit wie möglich zurück. „Wir haben stichhaltige Beweise, dass du zu den Rebellen gehörst. Erstens: Du warst da. Zweitens: Sie haben dir nichts getan.“

Kameen öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch der Mann vor ihm erhöhte seine Lautstärke und fuhr fort: „Und drittens, wenn du dich hinter deiner Familie verstecken willst, ist das zwecklos. Ich sehe nur eine Spirale auf deinem Ärmel – ihr seid weder reich noch mächtig noch anderweitig besonders begünstigt. Sie wird dir keine große Hilfe sein, wenn du erst im Kerker sitzt.“

Der Mann hatte anscheinend eine gewisse Ahnung, wie die Symbole der Mittleren Familien aussahen. Er hatte recht, Kameens Ärmel zeigte nur eine Spirale, also kaum Reichtum. Aber dann wiederum hatte der Hauptmann etwas anderes übersehen: Eines der kleinen Zeichen, die zeigten, dass die Familie D´un Jatcha weitaus mehr war als nur eine normale, mittlere Familie.

„Also, hast du gehört? Der Kerker wartet auf dich, dessen kannst du dir sicher sein!“

„Ich fürchte, so weit wird es gar nicht erst kommen“, sagte eine ruhige Stimme hinter Kameen und ein Mann mit grauem Haar und silbernem Bart trat in die Wachstube. Kameen brauchte sich gar nicht umzudrehen um zu wissen, wem diese Stimme gehörte.

„Vater!“

„Kennt Ihr mich?“, wandte sich der Meister der Heilkünste, persönlicher Leibarzt des Rah-Ten, an die plötzlich kleinlaute Wache.

„Ja... Aber natürlich, Herr...“

„Gut.“

Kameens Vater nickte, als wäre er es, der das Sagen hatte. Was in gewissem Sinne auch stimmte.

„Ich werde meinen Sohn jetzt mitnehmen. Ich bin mir sicher, dass Eure Anschuldigungen nicht der Wahrheit entsprechen. Kameen hat keinerlei Kontakte zu den Rebellen gehabt, ich selbst habe ihn heute Wasser holen geschickt. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Dennoch muss ich Euch danken.“

Er legte die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte sich leicht, während die völlig überraschten Wächter ihn anstarrten.

„Ihr habt gezeigt, dass Euch Eure Aufgabe und damit auch das Leben des Rah-Ten sehr wichtig ist. Ich als Leibarzt des Höchsten kann nur zu den Göttern flehen, dass alle seine Männer so pflichtbewusst und mutig sind wie Ihr.“

„Nun ja“, sagte der Hauptmann, nun sichtlich geschmeichelt.

„Wir tun ja alle nur, was wir können, Herr. Entschuldigt, dass wir Euren Sohn aufgehalten haben, aber wir musste natürlich jedem brauchbaren Hinweis nachgehen.“

„Aber natürlich. Das war nur Eure Pflicht, und ich habe vollstes Verständnis.“

Unter den besten Wünschen der Wächter, die sich nun wieder freundlich und ehrerbietig zeigten, verließen Kameen und sein Vater den Palast.

„Auf der Schleimspur hätte ein Kamel das Gleichgewicht verloren“, murmelte der Heiler und grinste in seinen silbernen Bart.

„Wie bitte?“

„Ach, nichts.“
 

***
 

Aus einer dunklen Ecke heraus betrachteten zwei Augenpaare, wie Vater und Sohn den Palast verließen, am Fuß der Treppe kurz stehenblieben und sich dann über die Südwestbrücke in Richtung Sirius-Bazaar wandten.

„Meinst du das wirklich ernst?“, fragte Zirkon, und seine gesamte Körperhaltung drückte seinen Zweifel aus. Es war unschwer zu erkennen, dass ihm das, was sein Cousin gerade vorgeschlagen hatte, überhaupt nicht gefiel, aber Pyroxen schnaubte nur abgebrüht. Manch einer hätte gesagt, dass das Ganze für ihn nur ein Spiel war, aber damit hatte er Unrecht. Pyroxen nahm sehr ernst, was er sich vorgenommen hatte, und er war bereit, das auf jeden Fall durchzusetzen. Also sagte er:

„Natürlich! Er ist der Sohn von diesem alten Heiler da. Er ist oft im Palast, da bin ich mir sicher. Er lernt bestimmt von seinem Alten. Und da er oft da ist, weiß er auch viel.“

„Wir wollten doch nur Leute mit hineinziehen, die selbst betroffen sind. Er ist es nicht. Du machst vielleicht sein ganzes Leben kaputt. Was, wenn er drauf eingeht und entdeckt wird? Oder was, wenn er ablehnt und die Wächter alarmiert?“

„Dann müssen wir eben etwas finden, zu dem er nicht nein sagen kann!“

Im Gegensatz zu Zirkon war Pyroxen voll Optimismus.

„Aber...“

„Nichts Aber. Wir brauchen Informationen, und zwar gute. Am Besten welche aus dem Palast. Also fragen wir jemanden, der oft da ist. Ihn zum Beispiel.“

Mit einem Finger zeigte er auf Kameen.

„Also gut“, stimmte Zirkon resigniert zu.
 

***
 

„Komm rein, Kameen!“, rief sein Vater aus dem Inneren des hell erleuchteten Hauses. Es war spät gewesen, als sie nach Hause gekommen waren, und die Mutter hatte schon besorgt gewartet. Sie war überglücklich, ihren Ältesten gesund und munter wiederzusehen, und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, aber da sie wusste, dass Kameen das absolut nicht leiden konnte, hielt sie sich tapfer zurück und machte sich mit Entschlossenheit an das Zubereiten des Abendbrotes. Dieser Elan verursachte einen Überfluss an Nahrung, den die Familie gelassen zur Kenntnis nahm.

„Merkwürdig...“, murmelte Kameen nun und starrte hinaus in die kalte, dunkle Wüstennacht. Er hätte schwören können, dass er auf dem Rückweg zwei Gestalten gesehen hatte, die ihnen gefolgt waren, den gesamten Weg vom Herzen Xjuntas aus. Und auch jetzt, im sicheren Heim, fühlte er sich beobachtet. Aber so sehr er auch lauschte, kein Ton drang an sein Ohr und so sehr er sich auch anstrengte, die Nacht blieb schwarz und undurchdringlich.

Achselzuckend schloss Kameen die Haustür und sperrte die Nacht aus.
 

Fortsetzung folgt...

Die Rebellen

Leise zog Spinell aus dem Hohen Haus Vega-Ban, der mächtigsten der Obersten Vier Familien von Xjunta, die Hintertür hinter sich zu und atmete tief ein. So roch also die Luft außerhalb der Mauern des Palastes. Die schwarzen Haare des etwa 20-Jährigen glänzten in der Sonne, seine violetten Augen schauten abwesend die leere Straße hinunter. So lange lebte er nun schon in dieser Stadt und so wenig hatte er erst von ihr gesehen. Aber uneheliche Söhne hatten in Xjunta keine hohe Stellung. Sie wurden versteckt, so wie er. Man kümmerte sich gut um sie, hatte die Familie das Geld dazu, es fehlte ihnen an Nichts. Auch Spinell konnte sich nicht daran erinnern, jemals schlecht behandelt worden zu sein, aber die Wände des Hauses Vega-Ban schienen, je älter er wurde, immer höher und enger um ihn herum zu wachsen.

Und eines Tages hatte er es einfach nicht mehr ausgehalten.

Spinell konnte nicht behaupten, dass er genauestens über die Situation in Xjunta Bescheid wusste. Deshalb konnte man es ihm auch nicht vorhalten, dass er in solch gefährlichen Zeiten das Haus verliess... Alles, was er wusste, war, dass sein „Vater“ seit Wochen mehr Zeit im Palast verbrachte als zu Hause – wobei er nie oft zu Hause gewesen war. Und selbst wenn er es war, auf Spinell achtete er kaum.

Und jetzt?

Jetzt stand er, Spinell, auf der Straße, eine farblose Tunika, die er einem Diener abgekauft hatte, an, damit man ihn nicht an den Ärmeln erkennen konnte (niemand konnte sagen, dass er keinerlei Voraussicht besaß), einen Schlauch mit Wasser, eines der wunderbaren Brote seiner Ziehmutter und ein bisschen Gold in der Tasche, und wusste nicht, wohin. Zurückgehen? Kam nicht in Frage. Niemand würde seine kurze Abwesenheit bemerkt haben und auch wenn niemand von seinem Weglaufversuch wusste, Spinell wollte vor sich selbst nicht versagen. Jetzt war er schon draußen, jetzt würde er auch gehen. Sturheit hatte ihn schon immer ausgezeichnet, sie musste ein Erbe seiner Mutter sein, denn sein Vater war zwar durchsetzungsfähig, aber wenn er wusste, dass etwas sich für ihn nicht lohnte, gab er nach. Außerdem interessierte es ihn wirklich. Wie Xjunta wohl außerhalb der Mauern der Villa des Hohen Hauses Vega-Ban aussah?

Spinell traf seine Entscheidung.

Ohne einen Blick zurückzuwerfen trat er aus dem Schatten der Tür in die weiche Morgensonne hinaus, wandte sich der Straße zu und begann zu laufen.
 

***
 

„Die Stadt ist im Aufruhr“, sagte Kameens Vater während er langsam an seiner Tasse Tee nippte. Seine Frau rührte in einem Topf auf dem Herd und nickte. „Du hast Recht. Die Menschen protestieren jetzt schon mehr als eine Woche lang – das gemeine Volk zumindest. Die Oberen Vier und die Mittleren Familien scheinen es doch tatsächlich immernoch zu schaffen, die Augen gänzlich vor ihrem Elend zu verschließen. Die Straßen sind nicht mehr sicher.“

„Warum nicht?“, rief Saphira, Kameens kleinste Schwester.

„Weil die Rebellen überall auf Wächter lauern und auf Angehörige der Mittelschicht, die alleine unterwegs sind“, erklärte der ihr. „Stimmts?“

„Hm-Hm.“ Sein Vater liess die Rolle Pergament sinken, die er bis gerade noch gelesen hatte. „Ihr solltet nicht mehr auf die Straße gehen, du und deine Mutter. Es könnte wirklich gefährlich werden.“ „Aber was wollen die Libellen denn, Papa?“ „Nicht Libellen, Rebellen, Saphira. Sie fühlen, dass sie ungerecht behandelt werden. Sie dürfen kein Wasser mehr aus den Brunnen holen und sie haben kein Geld, um welches bei den Händlern zu kaufen.“ „Das ist ungerecht!“ „Das ist es wohl.“ Für einen Moment war es still, als die Familie ihren Gedanken nachhing. Dann sah das Familienoberhaupt auf. „Kameen, könntest du einen Kräutertee für die Ra-Cria in den Palast bringen? Ich habe die neue Mischung zusammengestellt, nach der sie gefragt hat." „Hältst du das für klug?“, mischte seine Frau sich ein. „Du hast gerade selbst gesagt, wir sollten nicht nach draußen gehen.“ „Keine Sorge, Mutter“, sagte Kameen beruhigend. „Ich komme klar. Ich kenne einige Schleichwege zum Palast. Und ich weiß mich zu verteidigen. Nur im Falle eines Falles.“

Aber seine Mutter war noch nicht überzeugt. Ihr Mann beendete die Diskussion schliesslich: „Kameen, zieh dir etwas Unauffälliges an, eine Tunika ohne Symbole, wenn ich bitten darf. Sei vorsichtig, wenn du draußen bist. Die Prinzessin bekommt ihren Tee, ob wir wollen oder nicht. Und jetzt geh, solange der Tag noch jung ist.“

Kameen ging.
 

***
 

Die junge Frau, die sich in den Schatten hinter der Säule drückte, war nicht älter als 18. Sie trug ein feingeschnittenes, ausgeschmücktes Kleid, welches ihren zierlichen Körper betonte, einen goldenen Armreif um ihr rechtes Handgelenk und einen Schleier in ihrem Haar. Als Tochter des Rah-Ten war Medusa es gewöhnt, solche Kleider tragen zu müssen. Sie hatte sogar gelernt, sie zu mögen und sich trotz Spitze und Glöckchen so lautlos zu bewegen wie eine Wüstenkatze. Viele Söhne der Obersten Vier starrten sie mit offenem Mund an, wenn sie lautlos und starr an ihnen vorbeischwebte.

Aber im Moment dachte Medusa nicht an Kleider.

Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf den Mann vor ihr gerichtet, der mit dem Rücken zu ihr und mit dem Gesicht zur Delegation von Ministern vor ihm stand. Dieses Mal waren es die Abgesandten der Obersten Vier. „Ihr habt gesagt, Ihr hättet die Situation in der Stadt trotz der Zeit, die Wir Euch gegeben haben und trotz der Hilfe Unserer Wächter noch immer nicht unter Kontrolle?“

Die Stimme des Rah-Ten war tödlich still. Ein Mann in goldener Rüstung und einem edelsteinbesetzten Schwert trat vor, ein Schwert, das wahrscheinlich noch nie im Kampf benutzt worden war. „Höchster, wir haben unser Bestes gegeben, um die Rebellen zu beseitigen und das Volk zu beruhigen, aber sie werden immer wieder neu aufgestachelt. Sie fallen über die Brunnenhöfe her und schlagen alle Wächter, die ihnen in die Quere kommen, nieder. Es ist unmöglich, einzelne Wächter zur Verstärkung zu schicken, ihnen wird aufgelauert und sie bleiben gefesselt zurück! Es ist ein Wunder, dass diese Aufständischen noch keinen von ihnen getötet haben.“ Der Rah-Ten funkelte ihn bedrohlich an. „Es ist ein Wunder, dass Ihr bei Eurer Unfähigkeit noch nicht von den Rebellen überwältigt worden seid! Setzt euch endlich durch! Statuiert ein Exempel!“

„Aber Höchster!“ Ein anderer Minister trat zögerlich vor. „Es wäre taktisch sehr unklug, sich das gemeine Volk zum Feind zu machen. Wäre es nicht einfacher, in den Bestimmungen betreffend der Wasserversorgung ein wenig nachzugeben und ihnen zu erlauben, die Brunnen wieder nutzen zu dürfen? Auf diese Weise...“ „Wir wollen so etwas nicht hören!“ Der Rah-Ten hieb mit der Faust auf den Tisch, und seine Berater und Medusa fuhren zusammen. „Wir schließen keine Kompromisse! Wir dulden nicht, dass Unsere Autorität dermaßen in Frage gestellt wird! Wenn das gemeine Volk sich Uns widersetzt, werden Wir es strafen!“

Mit einem Herzen, so schwer wie Granit, zog Medusa sich lautlos zurück.
 

***
 

Mit vorsichtigen Blicken nach links und rechts lief Kameen die Straße hinunter, immer in Richtung des sechseckigen Palastes, der, umgeben von einem Gewirr an Kanälen, in der Mitte Xjuntas lag. Eigentlich war es nicht überaus gefährlich, zum Palast zu müssen, denn Sirius-Bazaar war genauso aufgebaut wie alle anderen Stadtviertel der Wüstenstadt: Außen die Armenviertel, im zweiten Ring die Teile der Mittleren Familien, dann die Wohnviertel der Obersten Vier und im Innersten Kreis der Palast des Rah-Ten. Insgesamt gab es vier Viertel, benannt nach den von Alters her Obersten Vier: Vega-Bazaar, Sirius-Bazaar, Spica-Bazaar und Orion-Bazaar. Kameen entstammte der Familie D´un Jatcha von Sirius-Bazaar, es war also unschwer auszumachen, wo er lebte. Auf seinem Weg zum Palast durchquerte er lediglich die Teile der Mittel- und der Oberschicht des Viertels und nicht die der Unterschicht und diese Letztgenannten waren es schliesslich, in denen es am Gefährlichsten war, sich frei zu bewegen. Zielstrebig lief er auf die große Treppe des Palastes zu und wurde dort von Wächtern abgefangen.

„Halt! Wer da?“

Stumm reichte Kameen ihnen seinen Passierschein und wartete geduldig ab, bis die Männer sich von seiner Echtheit überzeugt hatten. „Zur Vorsicht“, erklärte der Eine mit einem leicht verlegen wirkenden Lächeln, als sie mißtrauisch nach dem Symbol auf seinem Ärmel Ausschau hielten. Welches nicht da war, da er eine simple Tunika trug. „Vorsicht ist besser als Nachsicht“, sagte der Andere Wächter schliesslich mit zustimmendem Nicken und liess ihn herein.
 

Der Palast war leer.
 

Kameen lief durch die langen, hallenden Flure und Säle, die er meist schon kannte, und bis er an eine Tür kam, die eindeutig das Zeichen der Ra-Cria aufwies, eine silberne Mondsichel, umrahmt von dem Umriß der Stadt. „Merkwürdig“, sinnierte er im Laufen, während er die Tür hinter sich liess und einem weiteren, dunklen, hohen Flur ins Innere des Palastes folgte, schon so oft war er im Palast des Rah-Ten gewesen, aber noch nie in den Räumen der Prinzessin. Ebenso hatte er sie noch nie wirklich gesehen... Sie wurde im allgemeinen für ein scheues Mädchen gehalten, sie zeigte sich kaum in der Öffentlichkeit und so nahmen die üblen Schwätzer an, dass sie eine Entstellung oder Ähnliches hatte, was sie daran hinderte, sich dem Volk zu zeigen. Der Heiler hielt im Laufen Ausschau nach menschlichem Leben, Menschen, Dienern, Zofen, aber niemand zeigte sich. Die Ra-Cria lebte anscheinend nicht nur zurückgezogen, sondern ziemlich allein. Also hob Kameen am Ende des Flurs zögernd die Hand und klopfte an die große, verzierte Sandholztür.
 

Als hätte jemand dahinter nur auf ihn gewartet, öffnete sich die Tür sofort um etwa eine Handbreit und ein Paar mißtrauischer Augen blitzten ihn an. „Ja?“ Bemüht, sich nicht zu erschrocken zu zeigen, schluckte Kameen, bevor er zu Sprechen ansetzte. „Ich soll eine Teemischung abgeben, welche die Ra-Cria bei meinem Vater bestellt hat. Sie ist heute fertig geworden.“ „Und wer ist dein Vater, wenn ich fragen darf? Der beste Giftmischer der Stadt?“ Kameen war sprachlos. Was... Waren alle Mädchen so vorlaut und unhöflich? Oder war sie eine vielgepriesene Ausnahme? Er hatte in seinem Leben noch nicht oft mit Frauen in seinem Alter zu tun gehabt, und er wollte es auch nicht anders haben. Sie waren eben doch nur anstrengend. „Mein Vater ist das Oberhaupt der Familie D´un Jatcha und der beste Heiler der ewigen Wüste. Er würde niemals versuchen, die Ra-Cria zu vergiften“, brachte er schliesslich steif heraus. Das Mädchen kicherte. „Schon gut. Ich habe dich schon oft hier gesehen, ich weiß, wer du bist.“ Sie streckte ihm eine Hand entgegen, die er dümmlich anstarrte. „Was ist?“, fragte sie und zog die Brauen hoch. „Gibst du mir den Tee oder nicht?“ Hastig reichte der junge Mann ihr die kleine Tüte. „Die besten Grüße an die Ra-Cria“, sagte er höflich und verbeugte sich mit zusammengefalteten Händen. „Werde ich ihr ausrichten“, sagte das Mädchen – und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Kopfschüttelnd machte Kameen sich auf den Rückweg durch das Labyrinth des Palastes. Wer das nur gewesen war?, wunderte er sich. Waren alle Frauen so anstrengend? Aber dann wandte er seine Aufmerksamkeit einem Ort zu, der sie viel nötiger brauchte als eine Zofe im Dienste der Ra-Cria: der Straße. Nicht, dass etwas geschah, das seiner Aufmerksamkeit bedurft hätte. Nun, bis zu seiner Haustür ging alles gut. Aber dann sollte das Chaos über ihn hereinbrechen.
 

Genauer gesagt, Kameen D´un Jatcha befand sich in einer Seitenstraße des Sirius-Bazaars, keine 10 Meter von der Haustür seiner Eltern entfernt, als er das Geräusch hinter sich hörte. Blitzschnell drehte er sich herum, um herauszufinden, wer – oder was – sich hinter ihm befand – und sah sich plötzlich einer geschlossenen Mauer aus Jungen gegenüber, oder jungen Männern, der Kleidung nach zu schließen überwiegend aus den ärmeren Vierteln der Stadt. Der junge Heiler spannte seine Muskeln an – aber die Männer griffen ihn weder an, noch sagten sie etwas. Kurz musterte Kameen sie, kam zu dem Schluss, dass eine Konfrontation für ihn eher unliebsam enden würde, und drehte sich wieder der Richtung zu, in die er bis vor Kurzem gegangen war. Doch auch vor ihm standen plötzlich, wie aus dem Sand gewachsen, dunkle Gestalten. Kein Entkommen möglich.
 

***
 

Nicht nur Kameen sah sich gerade einer ziemlich ausweglosen Situation – im wahrsten Sinne des Wortes ausweglos – gegenüber, denn auch Spinell hatte gerade mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Zwei Probleme, mit denen er sich gerade auseinandersetzte: Er wusste nicht mehr genau, wo er war. Er hatte sich hoffnungslos verlaufen. Als er am Morgen das Haus verlassen hatte, war es so früh gewesen, dass niemand auf den Straßen gewesen war, dann war der Mittag über ihn hereingebrochen und die Menschen hatten sich wieder zurückgezogen. Er war der Einzige, der zu dieser Zeit unterwegs war. Zuerst war er einer vagen Karte in seinem Kopf gefolgt, die aus der Zeit stammte, in der er die Umgebung des Hauses der Familie Vega-Ban hatte auswendig lernen müssen, dann hatte er sich im Strom der Menschen treiben lassen. Die Straßen waren viel verwinkelter, als die oberflächlichen Karten der Bibliothek der Vega-Ban hatten vermuten lassen. Natürlich hätte er sich erkundigen können, wo er sich befand – aber andererseits: wer traute einem jungen Mann, der sich erkundigte, in welchem Viertel der Stadt er sich befand – erst Recht, wenn es in der Stadt nur vier Viertel gab? Man würde ihn für verrückt erklären. Also machte Spinell sich wieder auf seine Wanderung, ziellos. Richtungslos.

Aber der zweite Grund war wohl noch viel problematischer. Sechs junge Männer, dem Aussehen nach nicht aus dem besten Teil des Viertels (welches Viertel es auch immer war), hatten ihn umstellt. „Na, Kleiner?“, höhnte einer und spielte damit auf Spinells nicht gerade herausragende Körpergröße an. Zumindest nicht herausragend im Vergleich zu den Männern, die ihm umringten.

Spinell biss die Zähne zusammen. „So, wie du aussiehst, gehörst du sicherlich nicht hierher. Hast du dich verlaufen? Siehst aus wie diese hochnäsigen Diener aus dem Palast, die sich samt und sonders für was Besseres halten... Sollen wir dir helfen?“ Oh danke, nein, alles, nur das nicht. Auf die Hilfe solcher Hohlköpfe konnte er verzichten... Spinell überlegte fieberhaft. Das Wichtigste war, herauszufinden, wo er war. Dabei waren diese Sechs ein Hindernis – jedoch nicht so, wie alle denken würden. Er musste nur einen klaren Kopf bewahren. Als ob das so schwer wäre. Als ob er das nicht Tag für Tag hatte lernen müssen. Beinahe hätte der illegitime Sohn des Hauses Vega-Ban gegrinst.
 

***
 

Die Wand aus Körpern trennte sich vor Kameen, als zwei junge Männer hindurchschritten.

Bei ihrem Anblick atmete Kameen scharf ein. „Ihr!“ Der Kleinere von Beiden, derjenige, der Kameen auf dem Brunnenplatz umgerannt hatte, lächelte freundlich. „Hallo. Freut mich, dich wiederzusehen.“ Der Zweite nickte nur. Es war der junge Mann, den Kameen auf dem Brunnenplatz das letzte Mal gesehen hatte, wo sie beinahe gegeneinander gekämpft hatten und der junge Heiler entkommen war. Er seufzte. „Sagt ihr mir wenigstens, wer ihr seid?“, erkundigte er sich. Der Große, Braunhaarige trat vor. „Ich bin Pyroxen vom Orion-Bazaar. Und das...“ Er deutete auf den Kleineren, „Ist Zirkon. Vom Spica-Bazaar.“ „Kameen“, sagte Kameen und verweigerte aus Sicherheitsgründen seinen Familiennamen, der seine soziale Stellung zusammen mit seiner Familie preisgegeben hätte. Wie es sich herausstellte, war das gar nicht nötig. „Kameen D´un Jatcha vom Sirius-Bazaar, fast 20 Jahre alt.“ „Ihr wisst eine Menge über mich.“ „Klar!“ Zirkon strahlte ihn an und er kam nicht umhin zu denken, dass sie ihm vielleicht doch nichts Böses wollten. „Wir haben so unsere Quellen.“ „Zirkon!“ „Schon gut. Ich bin still. Absolut still.“ Pyroxen, der offensichtlich das Sagen hatte, wandte sich wieder Kameen zu. „Du warst letztens zu einer sehr ungünstigen Zeit an einem sehr ungünstigen Ort.“ „So kann man es auch sagen“, antwortete der Heiler ironisch. „Es war der Brunnen, der am nächsten zu uns lag, und mein Vater brauchte das Wasser dringend. Es war schlecht, dass ich in euren Streit hereingeraten bin. Eine schwangere Frau wäre beinahe gestorben.“ „Das ist traurig zuhören.“ Pyroxen sah wirklich so aus, als ob es ihm Leid täte. „Hat sie es überlebt?“ „Ja“, sagte Kameen trocken. „Aber nicht dank euch.“ Der Anführer der Rebellen sah in die Ferne. „Im Krieg gibt es immer unschuldige Opfer.“ „Wir befinden uns nicht im Krieg“, sagte Kameen scharf. Wie konnte dieser Grünschnabel – er war nicht einmal älter als er selbst – so erfahren von Krieg sprechen, von Opfern, die erbracht werden mussten? „Und wir haben nichts mit eurem Streit mit dem Rah-Ten zu tun. Wir wollen nichts mit ihm zu tun haben. Ihr lebt euer Leben, wir haben unseres, ja? Zieht uns nicht in eure Angelegenheiten.“

Die Ruhe und Freundlichkeit waren plötzlich von Zirkons Gesicht verschwunden wie die Sonne in der Nacht vom Himmel, und wütend funkelte er Kameen an. „Es geht euch nichts an, ja? Natürlich nicht! Ihr gehört ja auch zu den Mittleren Familien, euch geht es ja auch gut! Ihr habt Geld und Macht und Ansehen, ihr habt Wasser! Ihr braucht nicht zuzusehen, wie eure Geschwister allen Lebensmut verlieren, weil sie am Verdursten sind, wie eure Eltern verzweifeln, weil sie weder Geld für Wasser noch für Medikamente haben, wenn eines ihrer Kinder einmal krank ist! Das Leid der Armen geht euch nichts an, ihr wollt nicht in ihre Probleme mit hineingezogen werden! Ihr verschließt die Augen und tut so, als wärt ihr Märtyrer!“ „Hey, Zirkon.“ Pyroxen legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er drehte sich mit bebenden Schultern weg. Kameen schwieg betroffen. Dieser Ausbruch – er kam aus der Tiefe des Herzens des jungen Mannes, aber er hätte nicht sagen können, ob die Verzweiflung nun auf eine bestimmte Person bezogen war oder auf das Leid in seiner Welt im Allgemeinen. „Siehst du?“ Pyroxen wandte sich wieder ihm zu. „Den Menschen geht es schlecht. Sie leiden, während ihr, die Oberschicht, die Ach so tolle, und der Rah-Ten alles haben, was sie sich nur wünschen können. Das Leben in Xjunta ist nicht einmal halb so einfach wie ihr denkt, wenn man keinen Titel und kein Geld hat. Und das Schlimmste ist: Der Rah-Ten, der die Verantwortung für all die Menschen in seiner Stadt übernommen hat, den kümmert es nicht das Geringste, wenn alle Menschen in den Armenvierteln sterben! Das ist aber seine Pflicht, deshalb wurde er gewählt, und deshalb müssen wir etwas unternehmen.“ Er presste die Lippen zusammen und sah über die Schulter. Hinter ihm standen, mit ernsten, verhärmten Gesichtern, junge Männer, und jedem Einzelnen war das Leid anzusehen, das sich in ihre Züge eingegraben hatte, das Leid, welches sie verspürten, seit der Rah-Ten begonnen hatte, sich weniger und weniger um die Armen seines Volkes zu kümmern.

Kameen konnte sich nicht helfen: er verspürte den Drang, ihnen helfen zu wollen. Er hatte keine Lust, in diese Rebellion hineingezogen zu werden, überhaupt keine, er wollte auch nicht in die Angelegenheiten des Unteren Volkes hineingezogen zu werden. Aber es musste doch etwas geben, das er tun konnte, ohne allzutief in ihren Angelegenheiten zu versinken. Er seufzte wieder tief auf.

„Zirkon?“ Beim Klang seines Namens drehte der Angesprochene sich um und versuchte, das Lächeln wieder auf seine Züge zu bringen. Es misslang kläglich. „Ist jemand in deiner Familie krank?“ Der junge Mann nickte. „Meine Schwester.“, sagte er leise, ohne Kameen anzusehen. Der holte tief Luft. „Bringt mich zu ihr. Vielleicht kann ich ihr helfen?“ Er liess es wie eine Frage klingen, aber Zirkon klammerte sich sofort daran wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. „Wirklich?“ In seiner Stimme klang so viel Hoffnung, dass Kameen nickte, ohne überhaupt zu wissen, was das Mädchen denn hatte. „ich müsste aber erst ein paar Sachen aus meinem Zimmer holen“, schränkte er ein. „Ha!“ Pyroxen sprang vor und packte ihn am Kragen seiner Tunika. Kameen spielte mit dem Gedanken, ihm eine zu scheuern dafür, dass er ihn berührt hatte, aber er machte dieses Mal eine Ausnahme. „Um deinen Eltern und den Wächtern Bescheid zu sagen, ja? Für wie doof hältst du uns?“ Kameen sah ihn ruhig an. „Ich habe auch eine Schwester“, sagte er knapp. „Ich werde euch nicht verraten, mein Ehrenwort drauf. Ich gehe rein und hole eben meine Sachen, meine Eltern werden keinen Verdacht schöpfen. Ich gehe oft Kranke in anderen Vierteln besuchen. Bringt mich zu seiner Schwester, ich werde sehen, was ich für sie tun kann, und dann sind wir quitt.“ Schon eine ziemlich lange Rede für den sonst so wortkargen Heiler. „Gut“, sagte Pyroxen zögernd und liess ihn wieder los. Kameen überlegte, ob er sein Angebot wieder zurücknehmen wollte. Er hatte das Gefühl, dass da noch etwas war, etwas Tieferes, Gefährlicheres, und wenn er sich jetzt auf die Rebellen einließ, würde er genau dort enden, wo er nicht hinwollte. Aber das schob er beiseite. Jetzt galt es erst mal, sich um dieses kranke Mädchen zu kümmern. „Ihr habt bei mir nichts gut.“ Und dann lief er hinein, um seinen Beutel zu holen.

Nicht einmal nahe dran

Kap 3 Vier sind noch kein Plan
 

Zirkons Familie war arm. So arm, dass Kameen beim Anblick der Hütte, in der sie lebten, Kopfschmerzen bekam. So arm, dass ihn die Mutter wie den Rah-Ten persönlich behandelt hätte, nur weil er zwei Schläuche Wasser mitbrachte – wenn er es zugelassen hätte. Zirkon und Pyroxen führten ihn hinein, während die anderen Rebellenmitglieder, deren Namen ihm bereits wieder entfallen waren, vor dem Haus warteten. Welches, genau genommen, den Namen „Haus“ nicht verdiente, aber das Hämmern in seinem Kopf war zu laut, als dass er sich darüber nähere Gedanken machen wollte. Im einzigen Raum, der Küche, Wohn- und Esszimmer zugleich war, war im hinteren Teil ein Lager aus Sand, Schilf, Stroh und fadenscheinigen Decken errichtet worden. Eine Frau kniete vor einem niedrigen Feuer und rührte in einem Topf, und als sie eintraten, sah sie auf. Das einstmals recht schöne Gesicht war zerfurcht von Falten und Linien... Dabei war diese Frau nicht älter als seine eigene Mutter, dachte Kameen, dennoch. Ein kleines, müdes Lächeln huschte über ihr Gesicht, bis sie Kameen sah. „Oh.“ Sie musterte ihn scharf. „Wer ist das denn? Er sieht irgendwie....“ „Das ist ein Heiler, Mutter“, sagte Zirkon beruhigend. „Er will nach Merina sehen und kann ihr vielleicht helfen!“ Hoffnung blitzte in ihrem Gesicht auf. „Aber...“ „Keine Sorge, Tante!“, sagte Pyroxen jetzt und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Kameen sah den Blick trotzdem, den sie austauschten. „Wo schläfst du eigentlich, Zirkon?“, fragte Kameen, nur, um etwas zu sagen. Er konnte außer dem offensichtlichen Krankenlager am Ende des Raumes keine weitere Schlafstatt sehen. Ohne eine Antwort deutete Zirkon auf eine Leiter, die im Dunkel einer Dachnische verschwand. Dort oben musste es tagsüber glühend heiß sein und Nachts eisig kalt.

Zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, tauchten aus dem Schatten aus und wuselten lachend um ihren großen Bruder herum. Leicht lächelnd fuhr er beiden liebevoll durch die Haare, überließ sie aber ihrem Fangspiel und winkte Kameen, ihm zu folgen.
 

Auf dem Lager lag ein Mädchen.
 

Und sie hatte die selben Augen und Haare wie Zirkon.
 

„Zwillinge!“, entfuhr es Kameen. Zwillinge waren selten in Xjunta. „Ja“, sagte Zirkon. „Das ist meine Schwester Merina.“ Bittend schaute er den Sohn des Heilers an. „Wie geht es ihr?“ Kameen fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Sie braucht Wasser“, seufzte er. Das war so offensichtlich. Das Mädchen trug ein Fieber mit sich herum, das sah er, ohne sie genauer untersucht zu haben, und was ihr jetzt am Meisten helfen würde, wären Ruhe, warme Decken, eine saubere Umgebung und gute Pflege gewesen, dazu Kräutertee und Wasser. Viel Wasser. Und nicht einmal das konnte ihre Familie ihr geben – ganz einfach, weil sie zu arm dafür waren. Erneut seufzte er auf, aber nicht so laut, als dass Zirkon sich hätte Sorgen machen müssen, griff in seine Tasche und holte ein kleines Beutelchen getrockneter Mondblüten hervor. „Mach Wasser über dem Feuer heiß“, instruierte er Zirkon, „Dann gib das hier dazu.“ Er sagte es teils, weil er Hilfe brauchte, teils, um ihn aus dem Weg zu schaffen, und erleichtert, etwas zu tun zu haben, wandte sich der Blonde ab. „Was ist das?“, fragte Pyroxen misstrauisch. „Getrocknete Mondblumen. Sie senken Fieber und geben dem Körper die Kraft, sich gegen die Krankheit zu wehren – vorausgesetzt, er ist noch willens, zu leben.“ „Und es ist nicht gefährlich?“ „Wie was, zum Beispiel?“ „Wie Gift, zum Beispiel.“ Der Heiler verdrehte die Augen. „Natürlich ist es gefährlich. Mondblumenextrakt ist das giftigste Gift überhaupt. Es tötet lautlos, geruchs- und geschmacklos innerhalb weniger Sekunden, und angenehm ist es sicher nicht. Aber das da sind Mondblumenblüten, und sie sind eine wirksame Fiebermedizin. Sie werden in der Heilkunst oft angewendet.“ Die Augen seines Gegenübers blitzten gefährlich. „Ich warne dich, Heilersöhnchen. Wenn du uns hier vergiften willst, wir werden Mittel und Wege finden, uns zu rächen!“

Tot, oder was.

Kameen zuckte die Schultern. Wenn er sie vergiften wollte, richtig vergiften, mit tödlichen Folgen, dann würden sie es erst wissen, wenn es für sie alle längst zu spät war. Ohne Ausnahme. Aber an so etwas hätte er in seinen größenwahnsinnigsten Träumen nicht geträumt. Sein Vater hatte ihn zusammen mit der Heilkunst einen tief verwurzelten Respekt vor allem Lebendigen eingeflößt, vor Menschen wie Tieren wie Pflanzen. Er würde die Heilkunst nicht verwenden, um zu töten. „Ich habe nichts gegen euch. Ihr seid die, die mir gefolgt sind und mich angreifen wollten.“ Und dann wandte er sich einfach von Pyroxen ab. „Darf ich deine Stirn berühren?“, fragte er leise das schwache Mädchen auf dem Lager. „Sie schläft!“, zischte Pyroxen wütend. Kameen zog die Brauen hoch, und die Augen des Mädchen öffneten sich ein wenig. Ängstlich sah sie ihn an. „Ja.“ Kameen konnte es nicht hören, aber er las es an ihren Lippen ab. Vorsichtig legte er seine kühle Hand auf ihre heiße Stirn. Sie hatte wirklich hohes Fieber, höchste Zeit, dass man ihr half. Noch länger, und die Hitze hätte ihren Körper von innen aufgezehrt. Merina sah den jungen Heiler über sich stehen, spürte seine Hand angenehm auf ihrer Stirn und schloss die Augen. Nach dem sie den Tee getrunken hatte, fielen ihr die Augen erneut zu. Zum ersten Mal seit langer Zeit schlief sie wieder tief und ruhig, und eine kühle Hand und eine sanfte Stimme begleiteten ihre Träume.
 

Der Sonnenstand war schon lange über die Mittagsschwelle getreten und war schon fast wieder in Begriff, sich hinter die Sanddünen der Ewigen Wüste zu senken, als Kameen wieder aus dem Haus trat. Pyroxen folgte ihm auf den Fuß. „Du scheinst wirklich zu wissen, was du tust“, gab er widerwillig zu. „Danke“, sagte Kameen steif und wischte sich die Hände an einem sauberen Tuch ab. „Und jetzt, da sie über den Berg ist, gehe ich auch wieder.“ Allein bei dem Gedanken, dass diese Männer ihn noch irgendwie in ihre Sache hineinziehen wollten, schüttelte es ihn. Sich gegen den Rah-Ten und gegen die Obersten Vier zu stellen, das bedeutete, seine Familie preisgeben zu müssen. Die Neutralität in politischen Fragen, die sich die Familie D´un Jatcha in so vielen Jahren erkämpft hatte, wäre dann dahin. Es kam nicht in Frage, mit den Menschen der Unterschicht gemeinsame Sache zu machen. Es tat Kameen weh zu sehen, wie arm sie waren, wie erbärmlich sie lebten. Aber er konnte nur tun, was in seiner Macht stand, und dazu gehörte sicherlich kein Aufstand. Wer etwas wagte, das mehr beanspruchte als die Kraft, welche die Person aufbringen konnte, konnte nur mit dem Tod rechnen. In seinem Kopf stritten schon lange Vernunft und Herz miteinander und versuchten, eine Lösung für sein moralisches Dilemma zu finden, aber anscheinend gab es keine.

„Du würdest jetzt einfach wieder gehen?“ Pyroxen musterte ihn scharf, und irgendwie fühlte sich der Heiler, als würde er gerade einer Prüfung unterzogen. Das Gefühl gefiel ihm gar nicht. „Warum nicht? Ich habe euch schon geholfen. Ich war euch nie einen Gefallen schuldig. Und jetzt habe ich euch schon wieder geholfen - eigentlich müsstet ihr mir dankbar sein.“ „Das sind wir auch, glaub mir.“ „Dann lasst mich wieder gehen.“

Eine Weile standen sich Beide stumm gegenüber und fixierten sich.

Keiner von Beiden drehte sich weg oder senkte die Augen, während aus einiger Entfernung Menschen das Wettstarren aufmerksam beobachteten. Kameen und Pyroxen waren zu weit weg von den Rebellen, als dass diese hätten verstehen können, wovon sie sprachen, trotzdem senkten sie ihre Stimmen. „So einfach ist das nicht.“ „Warum nicht?“ „Hast du dich nicht gefragt, warum wir dich vor deiner Haustür abgefangen haben?“ Wirklich, eine gute Frage. Sie hätte Kameen interessiert, stünde er noch immer dort, wo er vor Stunden gestanden hatte, aber nun war er genervt und desinteressiert. Seine eigene Unfähigkeit, seine Probleme im Kopf lösen zu können, nagte an ihm. „Nein. Ich will es nicht wissen.“ „Oh, das willst du doch.“ „Nein.“ „Sicher?“ „Sicher. Ich habe wegen euch sogar schon im Gefängnis gesessen. Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben. Lasst mich endlich gehen.“ „Eben deshalb. Tritt uns bei. Du hast gesehen, wie wir leben. Du weißt, was Gerechtigkeit ist und du weißt, dass das hier...“ Seine Geste umfasste das gesamte Hüttenviertel – „...Nicht Richtig ist. Du hast die Ungerechtigkeit des Rah-Ten am eigenen Leib erfahren. Hilf uns, dem ein Ende zu bereiten.“ „Wie bitte?“ Kameen glaubte, sich verhört zu haben. „Ihr wollt, dass ich euch beitrete? Wer ist überhaupt „euch“?“ „Wir sind die Rebellen.“ Kameen brauchte nicht lange zu überlegen. „Was für ein überaus großzügiges Angebot. Danke, aber Nein, Danke.“ Pyroxen liess sich nicht aus der Ruhe bringen. „Denk bitte darüber nach. Du bist aus einer Mittleren Familie, du hast das nötige Wissen über die Stadt. Du kannst gut organisieren und vorausplanen...“ „Woher willst du das wissen?“ „Ich habe gesehen, wie du deine Sachen gepackt hast, die du mitnehmen wolltest, bevor wir hierhergekommen sind...“ Schon fuhr er fort. „Du kennst dich sehr gut in der Stadt aus. Manche Schleichwege kannte nicht einmal ich...“ „Ihr seid mir gefolgt!“ „Du bist im Palast gut bekannt und kannst ein- und ausgehen...“ „Ich bin nur der Assistent meines Vaters!“ „Und du bist ein begnadeter Heiler.“ „Ich...“ Gegen diese Argumenteflut war Kameen machtlos. Wie lange hatte Pyroxen sie sich schon zurechtgelegt? Wie konnte er angesichts dieser Tatsachen vor seinen Augen ein steinernes Herz bewahren und ihnen weiterhin seine Hilfe verweigern? „Kannst du es nicht verstehen oder willst du es nicht verstehen?“ Langsam wurde seine Stimme lauter. Er konnte nichts dafür. Eigentlich brauchte es viel, um Kameen, den stillen, wortkargen Kameen, überhaupt zum Sprechen zu bewegen... Und jetzt war er beinahe am Schreien. „Ich kann meine Familie nicht gefährden! Wenn ich euch helfe, bringe ich sie auch in Gefahr. Deshalb haben wir uns Jahrzehnte neutral verhalten: Wir haben nicht genug Geld und Einfluss, um bei einem eventuellen Krieg zu überleben! Wir sind nur Heiler, seit Generationen schon!“ Auch sein Gegenüber wurde nun wütend, und er hatte keine Hemmungen, dies auch zu zeigen. „Und wir? Was denkst du dir, dass wir Spaß haben, uns immer und immer wieder mit den bewaffneten Wächtern anzulegen? Meinst du das? Auch wir gefährden unsere Familien und uns selbst. Aber glaub mir, alles ist Besser, als so zu leben, wie wir es nun müssen, selbst der Tod! Also sterbe ich lieber im Kampf für ein besseres Leben für meine Eltern und Geschwister, als dass ich weiterhin die Hände in den Schoß lege und mich selbst beschütze! Nichts auf der Welt ist schlimmer als im Angesicht der Gefahr passiv zu bleiben, denn wenn man nichts tut, verändert sich auch absolut Nichts! Geht das in deinen Schädel?“ Kalt starrte Kameen ihn an. „Schon“, sagte er ohne eine Regung, denn hätte er seinen Gesichtsmuskeln erlaubt, sich zu bewegen, hätte man die tiefe Traurigkeit gesehen. „Ich gehe jetzt wieder. Ich verspreche, ich werde euch nicht an die Wächter verraten, solange ihr mich ungehindert gehen lasst.“ Der Anführer der Rebellen lächelte grimmig. „Du vergisst, dass du dich auf unserem Gebiet befindest.“ Er hatte Recht. Kameen wäre ohne Probleme vom Spica-Bazaar nach Hause gekommen, aber mit einer dermaßen großen Zahl an Verfolgern... Trotzdem verschränkte er gelangweilt die Arme. „Ich bin für euch im Gefängnis gesessen. Ich habe Zirkons Schwester gerettet. Ihr seid mit etwas schuldig, glaubst du nicht auch?“ „Das kann man sehen, wie man will.“ „Und wie seht ihr es?“ Pyroxen lachte trocken. „Wir sehen nichts. Wir sind verzweifelt.“ Daraufhin wusste der braunhaarige Mann keine Antwort.
 

„Pyroxen!“ Sechs junge, bullige Männer kamen die Straße hinunter gelaufen, einen Siebten fest im Schlepptau. Dunkles Haar war für einen Moment sichtbar, dann zog der Fremde seine Kapuze wieder fest über den Kopf und schüttelte die Hände seiner „Garde“ trotzig ab. „Was soll das? Ihr könnt nicht einfach mitschleppen, wen ihr wollt, das ist gegen die Bürgerrechte.“ „Hörst du, wie er redet?“ Einer seiner Bewacher kicherte leise und sah seinen Anführer an. „Scheint ein Diener aus dem Palast zu sein, vielleicht Einer der Rechtsgelehrten. Er hatte das hier dabei...“ Einige Goldstücke fielen in Pyroxens ausgestreckte Hand – „Und sonst nichts.“ Verächtlich sah Pyroxen den jungen Mann an, der den Blick funkelnd erwiderte. „Warum habt ihr ihn hergebracht?“ Die Rebellen sahen sich an. „Wir dachten, er könnte nützlich sein...“, sagte der Eine, und Pyroxen seufzte. „Wie heißt du?“, fragte er den Fremden. Aber der presste fast spöttisch die Lippen zusammen und schwieg. „Hey!“ Pyroxen packte den Kragen der Tunika und zog den Mann zu sich – und der trat aus. „Autsch!“ Vom Tritt geschleudert, flog der Anführer der Rebellen gegen die Lehmmauer der zerbrechlichen Hütte, welche bedrohlich ächzte. Aber er war sofort wieder auf den Beinen und zeigte keine Spur von Schmerzen. „Passt auf!“, herrschte er die Sechs an, die den Mann mitgebracht hatten, aber diese hatten sich schon auf den Umsichschlagenden gestürzt und hielten ihn mit vereinten Kräften gerade eben noch so am Boden. Dabei rutschte die Kapuze vollends vom Kopf. „Was bildest du dich ein, ihn zu treten?“ Ein weiterer, diesmal deutlich älterer Mann war dazugetreten und sah erzürnt auf den Liegenden hinunter. „Er ist unser Anführer, und sogar die erfahrenen Männer dulden ihn! Zeige ihm wenigstens ein Wenig Respekt!“ „Pah!“, erwiderte der Andere ironisch. „Meinen Respekt muss er sich erstmal verdienen, und nicht, in dem er mich von sechs Leuten festhalten lässt. Feigling!“ „Du!“ Jemand trat ihm mit voller Wucht zwischen die Rippen, und ohne einen Laut von sich zu geben, krümmte sich der Mann zusammen. „Wartet!“ Alle blickten auf, als Kameens Stimme ertönte. „Er ist...“

Und dann schloss Kameen seinen Mund wieder. Es war vermutlich nicht klug, den verzweifelten Rebellen zu sagen, wen sie genau vor sich hatten. Der Heiler war nicht dumm, er hatte den Fremden genau beobachtet, und die Art, wie er sprach und wie er sich bewegte, schrien seine Herkunft geradezu in die Welt. Seine blasse Haut, die bewies, dass er nicht wie normale Gassenjungen tagtäglich auf der Straße herumlungerte, und seine schwarzen Haare... Er passte ebensowenig in das Viertel des armen Volkes wie Zirkon in den Palast des Rah-Ten gepasst hätte.

„Was?“ Stirnrunzelnd blickte Pyroxen Kameen an, aber dem blieben weitere Erklärungen glücklicherweise erspart. „Pyroxen! Zirkon!“ Ein kleiner Junge, vielleicht acht Jahre alt und bereits so abgemagert, dass Kameen in Gedanken eine Kur entwarf, rannte die Straße entlang. Und je näher er kam, desto offensichtlicher wurde der Ausdruck des Entsetzens auf seinem Gesicht. „Die Wächter des Rah-Ten durchkämmen sämtliche Viertel! Sie suchen jemanden!“
 

Wie erstarrt nahmen alle diese Nachricht auf. Jeder dachte das Selbe: Wen suchten die Wächter? Warum? Hatten sie sich verraten? Kameen drehte sich zu dem Fremden um und wollte ihm einen stirnrunzelnden Blick zuwerfen, da sah er gerade noch aus den Augenwinkeln, wie der Fremde sich gerade aus dem Staub machen wollte. „Hiergeblieben!“ Ein Verdacht durchzuckte den Heiler. Er machte einen Satz. Die Söhne der Obersten Vier wurden selten als Spione in die Untersten Viertel geschickt. Was machte er hier? Warum wollte er nicht von Wächtern gefunden werden? Dieser Mann würde viele Fragen beantworten müssen...

Zugegeben. Der Junge war gut. Kameen hatte schon oft den Waffenlosen Kampf geübt, und selten war er besiegt worden. Aber dieser Gegner war so verdammt gut. Schnell und gewandt kämpfte er mit Händen und Füßen gegen Kameen, fest entschlossen, zu gewinnen. Kameen lächelte grimmig. Es war lange her, dass er einen solchen Gegner gehabt hatte.

Spinell dachte ähnlich: Sein Gegner war schnell! So schnell, dass er Schwierigkeiten hatte, zu sehen, von wo er als nächstes würde angegriffen werden. Seit er mit Xyran angefangen hatte, einer Kampfsportart, die traditionell in seiner Familie weitergegeben wurde, hatte Spinell noch keinen Gegner gefunden, der ihm so ebenbürtig war, und Spinell war ein Meister dieser Disziplin. Aber dieser Junge machte ihn platt.
 

Im Hintergrund tönten die rauhen Stimmen der Wächter, welche die Bevölkerung herumkommandierten und ihnen befahl, die Türen zu ihren kleinen Hütten zu öffnen. Panisch blickte Zirkon sich um. Sie würden bald hier sein, bei ihnen, und Kameen und der Fremde kämpften in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit miteinander. Pyroxen verjagte die restlichen Rebellen. „Schnell, jeder zu sich nach Hause! Verhaltet euch unverdächtig! Nun macht schon, sie sind bald da!“ Ohne nachzudenken sprangen die Rebellen in alle Richtungen davon, und Pyroxen warf seinem Cousin einen Blick zu. „Geh, schnell!“, rief der. „Mach endlich! Ich kriege die Beiden schon hinein!“ Und als Pyroxen über das Dach verschwand, jedoch nicht, ohne einen letzten zweifelnden Blick auf die zwei kämpfenden Schemen zu werfen, griff Zirkon mit dem Mut und der Kraft der Verzweiflung in den Kampf ein und bekam beide Kämpfer irgendwie – er wusste selbst nicht, wie – an den Haaren zu fassen. Fassungslos starrten sich die Drei für einige Zeit lang an und verloren so wertvolle Sekunden, dann riss Zirkon beide herum und warf sich durch die Tür in die Hütte. Als würde auch sie das Geklirr der Herannahenden spüren, die Schwerter, die sich näherten, fiel diese zu und schloss für einen Moment die Sonne aus, bis sich die jungen Männer wieder an das dumpfe Feuerlicht gewöhnt hatten. In einer Ecke knieten Zirkons Mutter und die beiden Kleinen, dicht aneinander gedrängt und ängstlich. Das Mädchen weinte leise, der Junge vergrub sein Gesicht im geflickten Kleid der Frau. Doch trotz der Gefahr sah Kameen grenzenloses Vertrauen zu ihrem Sohn in den Augen glitzern, und der Kloß in seiner Kehle wurde größer, so dass er kaum schlucken konnte. Die Nachbarstür wurde unter Geschrei aufgerissen und schwere Stiefel polterten in den Raum. „Alle herhören!“, dröhnte es von Nahen, nah, so nah. „Verhaltet euch ruhig und tut so, als wäret ihr mit etwas beschäftigt!“, zischte Zirkon, und Kameen reagierte sofort und ergriff einen Topf, mit welchem er vorgab, „beschäftigt“ zu sein. Spinell zog sich seine Kapuze über den Kopf und verkroch sich mit einem Stock tief in den Schatten. „Aufmachen!“, dröhnte es.

Die Tür zitterte.

„Sofort!“ Zirkon richtete sich auf, ein Bündel Reisig, aus dem er anscheinend Besen band, in der Hand, und ging zur Tür. Doch bevor er sie erreichte, gab es ein splitterndes Geräusch und auf einmal standen vier Wächter in der Tür. „Wir suchen Spinell aus dem Hohen Haus Vega-Ban!“ Dieser Hauptmann sprach durch die Nase. Er hatte sicherlich Nasennebenhöhlenprobleme, dachte Kameen, er bedauerte die arme Frau, die Nacht für Nacht neben diesem Mann würde liegen müssen. „Ihr dreckiges Lumpenpack habt ihn nicht etwa entführt?“ Grölend vor Lachen stieß er Zirkon mit dem Zeigefinger in die Brust, und der stolperte einen Meter zurück. „Nein, Herr! Wir haben niemanden gesehen!“ „Ihr lügt doch alle!“ Der Wächter winkte seinen Männern, näherzukommen. „Durchsucht dieses Rattenloch!“

Kameen musste mit knirschenden Zähnen zusehen, wie die Wächter systematisch alles im Inneren des kleinen Hauses auf den Kopf stellten. Die schlichte, jedoch liebevolle Einrichtung war innerhalb weniger Sekunden zerstört. „Wen haben wir denn hier?“, brüllte plötzlich ein Wächter und zog mit einem Ruck die dünnen Decken vom Lager der Kranken, die sich zitternd und verängstigt so klein wie möglich machte. Merinas Augen starrten schreckgeweitet zu dem Wächter hinauf. „Na, wenn das kein kleines Püppchen ist! Warum liegst du denn da, Kleine? Mein Bett wäre bestimmt bequemer!“ Er leckte sich über die Lippen, und Zirkon machte einen Satz.

Bevor Kameen ihn machen konnte.

„Lasst sie in Ruhe!“

Wütend starrte er den Wächter an. „Sie hat hohes Fieber, könnt ihr das nicht sehen?“ Aus zusammengekniffenen Augen starrte der Mann zurück auf den Jungen. „Ach, mit dem Püppchen kann man nicht mehr spielen? Hat wohl schon zu oft die Betten gewechselt.“ Die Männer lachten dreckig. Sprachlos vor Zorn ballte Kameen die Fäuste und sah zu, wie sie die Decken brutal auf Merina zurückwarfen, die kaum in der Lage war, sich wieder daraus zu befreien. Am liebsten hätte er jeden Einzelnen von ihnen verprügelt, sie zusammengeschlagen, bis ihre eigenen Mütter sie nicht wiedererkannt hätten, ihnen... Aber er zügelte sich. Zirkon stand noch immer da, ebenso wütend über seine eigene Unfähigkeit, während seine Mutter und seine kleinen Geschwister sich wimmernd in eine Ecke drückten. Sie waren nur zu Beginn von einem Wächter beachtet worden, der sie dann unfreundlich angefahren hatte, sich aus dem Weg zu begeben. Vorsichtig schob Kameen die Decken beiseite, um Merina einen aufmunternden Blick zuzuwerfen (nachdem er sich gar nicht fühlte) und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie die Wächter sich Spinell näherten. Seine verhüllte Gestalt sah sich panisch nach allen Seiten um, aber kein Fluchtweg war frei. „Und wer versteckt sich da?“, fragte ein Mann höhnisch und griff nach Spinells Kapuze. Trotzig starrte der junge Mann ihn von unter seinem Umhang an und reckte das Kinn...

„Und halt.“

Der Wächter staunte nicht schlecht, als sein Arm sich plötzlich in Kameens Griff befand. Verwundert sahen alle ihn an und die Kleinen hörten sogar auf zu schluchzen. Kameen wandte seine Aufmerksamkeit völlig den Wächtern zu. „Das wollt Ihr sicherlich nicht sehen... Geschweige denn berühren“, sagte er liebenswürdig zum Wächter, der gerade zu einer Schimpftirade Luft holen wollte. Verdutzt schloss der den Mund wieder und öffnete ihn erneut. „Und warum nicht?“ „Der da hat Sandexzeme. Die sind hochgradig ansteckend, und“, Kameen näherte sich dem Mann verschwörerisch, „und sie zerstören nach und nach den gesamten Körper. Es ist wirklich kein schöner Anblick. Eine Berührung, oder sogar große Nähe, und Euer Gesicht ist ein für alle mal ruiniert.“

Entsetzt wich der Mann mehrere Meter zurück – oder gerade so viel, wie der begrenzte Platz in der Hütte es zuliess. Er musterte Spinell, der sich unbehaglich noch tiefer in seinem Umhang zu verstecken versuchte, ohne es verbergen zu wollen. „Hab davon gehört“, murmelte er. „Soll im Norden mehrere Dörfer ausgerottet haben.“ „Nun, so schlimm sind sie auch nicht!“, sagte Kameen. „Aber die Haut ist nie mehr zu retten. Die Menschen sehen heute bestimmt alle aus wie Missgeburten, die Armen.“ Mitleidig schüttelte er den Kopf und verfluchte sich selbst für die Verwendung dieses Begriffes. „Und schmerzhaft ist es obendrein auch.“

Die Wächter wandten sich wieder zum Gehen. „Hier war er auch nicht. Dann müssen wir eben weitersuchen.“

Ohne ein Wort der Entschuldigung verliessen sie lautstark die Hütte und liessen drei völlig verängstigte Kinder, eine weinende Mutter und drei sehr, sehr wütende junge Männer zurück. Ein Fehler.
 

„Mann!“ Zirkon liess sich fallen, wo er gerade stand – neben Merina auf das Bett. „Das war echt knapp!“ Seine Geschwister trauten sich erst langsam wieder aus der Ecke heraus. Schwankend zwischen Trauer und Wut beobachtete Kameen, wie sich die Mutter daran schickte, alle noch verwendbaren Gegenstände aus den Trümmern zu bergen. Ihre Tränen benetzten den Sandboden. Dabei hätte er fast – aber auch nur fast – Spinell vergessen...

„Ha-halt, mein Lieber!“ Gerade am Zipfel der Kapuze bekam er ihn noch zu fassen. „Du schuldest uns noch eine Erklärung! Sag – was macht der Sohn einer der Obersten Vier in den Bazaar-Vierteln von Xjunta?“ Störrisch verschränkte Spinell die Arme vor der Brust. „Wer sagt denn, dass ich freiwillig hier bin?“ „Tut!“ Kameen pfiff durch die Zähne.

„Also doch Oberste Familie, wie?“

Zirkon horchte auf.

„Wie bitte?“

Schicksalsergeben seufzte Spinell auf. „Vega-Ban, wenn ihr es genau wissen müsst.“

Der junge Mann aus der Unterschicht wusste offensichtlich nicht genau, wie er diese Botschaft aufnehmen sollte. „Und was machst du hier?“ Spinell zuckte die Achseln. „Eigentlich wollte ich nur weg von da, wo ich herkomme...“ „Wo bleibst du nun?“ „Keine Ahnung.“ Zirkon warf Kameen einen Blick zu. „Wenn du willst, kannst du erstmal hier bleiben...“ Dann dämmerte ihm etwas. „Das heißt, die Männer haben gerade nach dir gesucht?!" „Ja, so könnte man es auch nennen“, sagte der Angesprochene lakonisch. „Oh mein...“ Zirkon schlug gegen die Wand. „Wenn du hierbleibst, sind wir also in Gefahr!“ Kameen nickte. „Nun...“ Zirkon dachte einen Moment nach. „Also... Weißt du gut über die Gesellschaft der Obersten Vier Bescheid?“ Wieder zuckte Spinell die Achseln. „Ich bin in ihr aufgewachsen...“ „Also?“ „Also ja.“ „Na gut.“ Zirkon streckte ihm die Hand entgegen. „Wenn du hier bleiben willst, musst du uns helfen.“ Verächtlich schaute Spinell weg. „Ich muss nicht hierbleiben.“ Kameen grinste. „Aber du würdest gern.“ Ein tödlicher Blick traf ihn. Dann sah Spinell Zirkon an. „Ich schätze, wir stehen auf der selben Seite.“ „Wieso bist du gegen die Obersten Vier?“ Spinell zuckte die Schultern. „Persönliche Gründe. Die Art, wie man als Mitglied einer solchen Familie in Xjunta lebt. Die Art, wie...“ Er sah sich demonstrativ um – „...wie ihr lebt.“

„Klasse!“ Zirkon grinste ihn an. „Kannst ja doch ganz nett sein.“

„Nett? Ich? Niemals!“

Zirkon lachte.
 

Schweigend sah Kameen sich im Raum um. Spinell hatte Recht: So konnte man nicht leben. Er wusste nicht, wie es um das Leben der Obersten Schicht bestellt war, aber hier unten herrschte ein solches Leid, dass es ihm körperlich wehtat. Die Kopfschmerzen hatten wieder zugenommen. Aber konnte er ihnen wirklich helfen? Damit würde er seine und die Philosophie seiner Familie aufs Spiel setzen. Oder schlimmer, deren Leben. Was sollte er tun? Was würde sein Vater sagen?
 

Flashback:

„Jetzt, Kameen, bist du ein Heileradept.“

Er war 11 Jahre alt und stand seinem Vater gegenüber, stolz, endlich helfen zu können.

„Du wirst in deinem Leben noch viel sehen. Du wirst Menschen helfen und erleben, dass man manchmal nichts mehr tun kann. Du wirst lernen. Und wachsen.

Sein Vater stand ihm gegenüber, der lange silberne Bart fiel in Wellen über seine Brust.

„Als Heiler muss man Entscheidungen treffen können. Du wirst sie tagtäglich bei deiner Arbeit finden: Entscheidungen, die über das Leben einiger Menschen und über den Tod Anderer bestimmen werden.“

Atemlos lauschte er der ruhigen, tiefen Stimme des Mannes und versuchte, die Worte in seinem Gedächtnis abzuspeichern.

„Aber egal, was du tust, egal, wie du entscheidest, denke immer daran, dass du für das Leben derer verantwortlich bist, denen du helfen möchtest. Die Heilkunst ist eine Kunst, in der man nur zu helfen gedenkt, ohne einen Gedanken an die Folgen. Die Menschen liegen in deiner Hand.“

Die Sonne schien in den Raum und liess den Dolch an der Wand, ein altes Familienerbstück, erglänzten.

„Vater, das heißt, dass ich den Menschen immer helfen muss, egal, was ist?“

„Ja, Kameen. Egal was ist.“

„Und wenn dafür jemand, der mir wichtig ist, sterben muss?“

„Das ist eine schwere Entscheidung, und sie liegt allein bei dir. Aber dann solltest du darüber nachdenken, ob sich diese Person nicht auch opfern würde, wenn sie wüsste, dass sie durch ihren Tod jemanden anderes rettet. Ich würde sterben, wenn ich weiß, dass ihr dafür am Leben bleibt.“

„Das werde ich nicht können, Vater. Ich meine, richtig entscheiden.“

„Der Tag wird kommen, an dem du es können musst, Kameen. Und wenn er kommt, entscheide weise. Sei klug, handle nicht voreilig, entscheide weise.“

„Ja, Vater.“
 

„Ich bin dabei“, sagte Kameen und sah Zirkon an. „Ich werde euch auch helfen. Es ist ungerecht, wie ihr lebt, es ist unmenschlich, wie ihr behandelt werdet. Das kann ich nicht mit ansehen. Wenn es den Rebellen hilft, wenn ich ihnen beitrete, werde ich es tun.“ „Wirklich?“, rief Zirkon erfreut. „Das ist toll! Dann sind wir also Vier!“

„Wie, Vier?“ Kameen konnte nicht verhindern, dass sich ein entsetzter Unterton in seine Stimme schlich. „Du meinst, wir sind nur vier Leute gegen den Rah-Ten?!“

„Nein, natürlich nicht! Aber wir vier werden die Anführer der Rebellen, ist doch klar!“

Spinell schlug sich mit der flachen Hand gegen den Kopf. „Aus der Bratpfanne ins Feuer!“, murmelte er. Kameen war noch zu beschäftigt, einfach nur zu starren. „Wir nennen uns die Herren der Winde“, sagte eine weitere Stimme, und Pyroxen kam durch die Tür herein. „Zirkon und ich, meine ich. Weil wir irgendwann einmal die Herren der Wüste sein werden, und der Herr der Wüste ist der Wind. Also sind wir die Herren der Winde, ist doch klar!“ „Aha“, sagte Kameen lahm. „Also wir vier jetzt?“

Und Zirkon und Pyroxen nickten unisono.

Kameen hätte im Wüstensand versinken können. Das war kein Plan, den diese Leute hatten - es kam einem Plan nicht einmal annähernd nahe.

Wie sollte das nur gut gehen?

Ein Problem kommt selten allein

Kap 4 - Ein Problem kommt selten allein
 

„Das ist unglaublich!“ Mit einem Gesichtsausdruck, der einem Löwen den Appetit auf Fleisch verdorben hätte, schlug der Rah-Ten mit der Faust auf den Tisch. Die Vier Oberhäupter der Obersten Vier erschraken sehr, waren jedoch bemüht, dies nicht zu zeigen. Dem Schreiber auf einer Schilfmatte am hinteren Ende des Saals fiel der Stift aus der Hand. Das Porzellan klirrte. „Sie führen mich an der Nase herum! Mich, den Rah-Ten, Obersten Herrscher der einzigen Stadt in der Ewigen Wüste!“ Wahnsinn schien aus seinen Augen zu funkeln, als er die vier vor ihm versammelten Männer anstarrte. Es war der Rat der Obersten, den er gerade anschrie, die vier Männer, die ihn ins Amt gewählt hatten, aber dies kümmerte ihn schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Auch auf die Ratschläge der reichsten Männer der Stadt konnte er mittlerweile getrost verzichten. Sie waren schwach, genau wie alle anderen Menschen um ihn herum, lediglich darauf bedacht, ihren Ruhm und Reichtum aufrecht zu erhalten. Er konnte sehr gut ohne sie leben und noch besser: ohne sie regieren. Xjunta würde es viel besser gehen, wenn er allein die gesamte Macht über Leben und Tod der Bevölkerung erreicht hatte.
 

Hier lief etwas unglaublich schief, dachte Anthrazit Vega-Ban unglücklich. Einst hatte der Rat der Obersten den Rah-Ten gewählt, weil er ein kluger Mann mit bedeutenden Talenten gewesen war, einfühlsam und bedächtig wie kein Zweiter. Gut, das hatte er wenigstens gedacht, das Motiv ein oder zwei seiner Amtskollegen war sicherlich die Tatsache gewesen, dass sie gehofft hatten, über den warmherzigen Mann selbst die Herrschaft Xjuntas übernehmen zu können. Aber nun sah man deutlich, dass weder seine Hoffnung noch deren Pläne aufgegangen waren. „Außer Kontrolle“, sagte er halblaut und erntete einen zustimmenden, zwei wütende und einen absolut tödlichen Blick von den Anwesenden. Sofort gab der Rah-Ten seine endlose Wanderung durch den Saal auf und umrundete den Tisch, um hinter Anthrazit stehenzubleiben. „Anthrazit Vega-Ban“, sagte er mit sehr leiser, bedrohlicher Stimme. Hätte dieser in seinem Leben nicht bereits so viel gesehen und so vielem getrotzt, er hätte sicherlich seinem ersten Gedanken, der ganz einfach und laut „Flieh!“ rief, nachgegeben. So aber blieb er scheinbar ruhig sitzen. „Willst du allen Ernstes behaupten, Wir hätten die Lage nicht mehr unter Kontrolle?“ Oh nein, wir haben sie lediglich nicht mehr unter Kontrolle... „Erhabener Rah-Ten, ich würde es niemals wagen, Eure Fähigkeiten in Frage zu stellen!“ Aber um euren Geisteszustand sorge ich mich schon länger. „Das wollen Wir nicht hoffen! Also was hast du gemeint, das höchstmöglich außer Kontrolle sein könnte?“ Jetzt zuckten doch alle vier Herren zurück, denn die letzten Worte hatte er geschrien. Anthrazit vergrub seine Hände in den Ärmeln seiner weiten Tunika und blieb sitzen, während der Schreiber seinen Stift, den er erneut hatte fallen lassen, zitternd suchte und fand. Sitzungen mit dermaßen schlecht gelaunten Rah-Tenno würden in Zukunft nicht länger auf seiner Favoritenliste stehen. „Majestät, ich wollte sagen: Die Lage ist keineswegs außer Kontrolle. Ich bin mir sicher, dass Ihr bereits einen Eurer hervorragenden Pläne in Kraft gesetzt habt.“ „Ah.“ Zufrieden lockerte der Rah-Ten seinen Griff um die Lehne des Stuhls, auf dem Anthrazit saß. „Na also. Meine Herren, habt ein wenig Geduld. Wir arbeiten gerade an unserem kleinen... Problem... und werden es sicherlich bald zur allgemeinen Zufriedenheit beseitigt haben.“

Nicht nur der Schreiber atmete heimlich auf, nachdem er vom Zorn des Rah-Ten unberührt geblieben war und dem Sitzungssaal mit heiler Haut entkommen war.

In seinem nunmehr leeren Thronsaal liess sich der Herrscher der Wüstenstadt in seinen eleganten Sessel fallen und biss wütend die Zähne aufeinander. Nun musste er sich dank der absoluten Unfähigkeit seiner sogenannten „Berater“, mit dem Problem der Rebellen aufzuräumen, die es wagten, ihm, dem Herrscher der Ewigen Wüste, die Stirn zu bieten, selbst darüber Gedanken machen, wie sie aus dem Weg zu räumen waren. Denn etwas musste geschehen, so viel war sicher! Zornig sprang er auf uns fegte eine überaus teure Vase von ihrem Sockel.

„Bringt sofort Tigerauge zu mir!“

Es kam keine Reaktion, aber er wusste, dass jenseits der großen Flügeltür jemand bereits unterwegs war, um seinen Befehl auszutragen. Halbwegs befriedigt wanderte er zum Fenster und schaute durch die großen, bunten Scheiben hinaus. Der Anblick des kühlen Sees vor seinem Palast war wundervoll: Blaues, kristallklares Wasser! Er, der Rah-Ten, hatte dafür gesorgt, dass es floß. Was konnte es Besseres geben als dies, um zu zeigen, dass er allmächtig war? Es gehörte ihm! Er lachte wie wahnsinnig auf, als es plötzlich an der großen Flügeltür klopfte.

„Vater?“
 

Medusa erkannte ihren Vater nicht wieder.

Es war heute nicht das erste Mal gewesen, dass sie hinter einer Säule gestanden hatte und gelauscht hatte, während er eine Sitzung abhielt. Allein dass er sie nicht bemerkt hatte, bewies ihr schon, dass dieser Mann dort drüben nicht ihr Vater war. Es war zumindest nicht der selbe Mann, der sie früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, immer mühelos gefunden hatte wenn sie versucht hatte, ihre Nase in seine Angelegenheiten zu stecken. Die sie ja auch nichts angingen. Aber die Ra-Cria wusste, dass hier etwas nicht stimmte, und das schon seit geraumer Zeit nicht mehr.

„Vater? Entschuldige bitte, aber ich hatte gehofft, dass du vielleicht heute Abend mit mir zusammen zu Abend essen könntest?“

Die Gestalt am Fenster drehte sich um, musterte sie kurz und wandte sich wieder ab. Nur wenige Sekunden hatte der kalte Blick auf ihr gelegen, und trotzdem fröstelte sie und verbarg ihre zusammengekrampften Hände auf ihrem Rücken. „Du bist sonst immer so beschäftigt und ich dachte...“ „Dann hast du falsch gedacht“, sagte der Rah-Ten eisgekühlt. „Ich bin beschäftigt, ich habe weder die Zeit noch die Lust, mich um Kinder oder Frauen zu kümmern, zähl dich bei irgendeiner Gruppe dazu. Wo ist deine Amme?“ „In meinen Gemächern, Vater. Warum...“ „Sie wird bestraft werden, da sie zulässt, dass du mich in solchen Momenten störst. Und nun geh.“ „Aber Vater!“, fuhr Medusa erschrocken auf. „Sie hat doch keine Schuld – dies ist doch mein Zuhause! Ich darf mich im Schloss frei bewegen wie ich will!“ Der große Mann ging zum Tisch in der Mitte des Raumes und goss sich aus einer Karaffe bernsteinfarbene Flüssigkeit in einen Kelch. „Du solltest aufpassen, was du sagst, sonst wirst du diesen Ort nicht länger dein Zuhause nennen können. Mit lästigen Personen will ich mich nicht herumschlagen müssen – ich habe besseres zu tun. Wichtigeres.“ Er stürzte den Arila hinunter, als sei es Wasser und nicht die seltenste Substanz der Ewigen Wüste. „Und jetzt verschwinde, junges Fräulein, ich muss etwas mit – Ah, da bist du ja.“ Er sah durch Medusa hindurch, als existiere sie gar nicht, zur Tür, in der ein kleiner, verschlagen aussehender Mann stand. „Komm herein, Tigerauge... Ich habe einen Auftrag für dich.“

In Medusas Augen brannten Tränen, als sie auf dem Absatz kehrt machte und in Richtung des Gartens davonstürmte. Sie brauchte etwas Zeit und Stille... Besonders die Stille. Wer war dieser Mann gerade gewesen? Aber egal, wer... Ihr Vater war dieser eiskalte Mann gerade nicht gewesen. Der hätte nämlich niemals seinem Volk das angetan, was der Rah-Ten den Menschen Xjuntas schon seit mehreren Jahren auferlegte. Medusa war weder dumm noch blind. Ihre regelmäßigen Auflüge auf den Markt waren zwar geheim und gefährlich, brachten ihr aber auch nahe, wie sehr das Volk litt. Nicht nur aufgrund der Armut und des Hungers, sondern auch wegen des Wassermangels und der Ungerechtigkeit des Rah-Ten. Sie hätte diesen Menschen so gerne geholfen, aber wie sollte sie das bewerkstelligen? Sie wusste nicht, was sie tun konnte, und um darüber nachzudenken, brauchte sie die Abgeschiedenheit des Gartens. Obwohl... Kurz zögerte sie. Dann drehte sie sich um und huschte den Weg zurück, den sie gerade gekommen war.
 

Derweil lief der Rah-Ten, Herrscher der Stadt Xjunta, wieder einmal aufgebracht durch den reich geschmückten Saal, der seine Macht in aller Protzigkeit zur Schau stellte. „Schon seit mehr als acht Mondumläufen (zwei Monaten) haben diese Aufständischen es darauf angelegt, Uns zu trotzen! Sie führen Uns an der Nase herum und tanzen Uns darauf herum wie lästige Fliegen! Sie greifen Unsere Wächter scheinbar wahllos an, plündern die Händler aus, deren Waren für den Palast bestimmt sind und reißen die Mauern um die Brunnenhöfe ein! Und dies nur, um Uns zu schaden. Dabei tun wir doch nur das Beste für sie! Diese Undankbaren, Undankbaren...“ Vor Wut musste er nach Luft schnappen und suchte nach Worten. „Das mag ärgerlich sein, Herr“, sagte Tigerauge demütig, ein unscheinbarer Mann mit einem Gesicht, dass so gewöhnlich war, dass man ihn unter hunderten nicht wiedererkannt hätte. „Aber ich bin sicher, Ihr wisst damit umzugehen. Das ist für Euch kein Hindernis.“ Scharf musterte der Hochkaiser den Mann vor ihm, als wolle er prüfen, ob er das, was er gerade gesagt hatte, ehrlich meinte. Was er sah, schien ihn zu befriedigen, denn er fuhr merklich ruhiger fort: Natürlich. Aber seit einigen Wochen scheinen die Rebellen sich viel koordinierter zu bewegen, wenn das denn noch ging. Aber ihre Übergriffe werden ausgefeilter und geschickter – es ist, als ob sie von einer Person aus dem Hintergrund gelenkt werden, die wirklich weiß, was sie tut.“ Bei dem Gedanken daran, wie schwer ihm die Sache im Magen lag, ballte der Rah-Ten unwillkürlich die Fäuste. „Sie untergraben Unsere Autorität! Ihnen muss Einhalt geboten werden.“ „Habt Ihr einen Vorschlag, wie das zu bewerkstelligen ist, eure Majestät?“, sagte sein Gegenüber mit einer samtweichen Stimme. Unwillig sah ihn der Kaiser an. „Natürlich! Zuerst einmal aber... Sieh dir das hier an.“ Aus den Händen des Herrschers empfing der Mann eine Schriftrolle. Neugierig rollte er sie auf und versuchte, sich ein Bild von der Darstellung zu machen. „Das ist eine Karte Xjuntas... Die vier Bazaare, die Viertel der Mittleren Familien und die der Obersten Vier... Und hier, in der Mitte, der Königspalast, wie es sich gehört.“ „Das sehe ich selbst“, fauchte der Kaiser, aber Tigerauge blieb ruhig. „Und was hat das für eine Bedeutung?“ „Das ist das Siegel Xjuntas, hast du Idiot es noch nie gesehen? Das Siegel des Herrschers – Unser Siegel! Und diese Rebellen“ - er spuckte das Wort praktisch aus – „Benützen mein Siegel im Kampf gegen Uns! Sie verhöhnen Uns!“ „Ich habe es noch nie unter ebenjenem Verwendungszweck gesehen, großer Rah-Ten.“ „Natürlich nicht! Dachtest du, Wir würden etwas, dass Uns so beleidigt, publik werden lassen? Es ist kein Geheimnis, dass sie es immer hinterlassen, aber Wir müssen das Geheimnis nicht aufdecken.“ „Sie benutzen das Herrschersiegel Xjuntas gegen euch, Euer Majestät?“ „Würdest du aufhören, jedes Unserer Worte zu wiederholen? Es langweilt uns.“, erwiderte der Kaiser gereizt, obwohl Tigerauge nichts wiederholt, sondern eher zusammengefasst hatte. „Sie haben sich zu einer festen Allianz zusammengeschlossen und sich organisiert. Sie benutzen ein Siegel, um Uns zu verhöhnen. Aber sie werden niemals gegen Uns gewinnen! Wir werden ihnen zeigen, wer der wahre Herrscher der Wüste ist!“ Der Spion namens Tigerauge nickte und zuckte nicht mit der Wimper. „Da habe ich auch schon eine Idee.“ Stumm registrierte er, wie eine kleine, dunkle Gestalt hinter einer Säule verschwand.
 

***
 

Kameen seufzte leise, während er seinem Vater durch die Gänge des Palastes zu seinem kleinen Garten folgte, mehrere Rollen Pergament, eine Masse kleiner Beutelchen, getrocknete Kräuter und Mörsel und Stampfer in seinen voll beladenen Armen. Der Garten war seine Idee gewesen, deshalb „sein“ Garten, eine Art Haus aus Glas, in dem verschiedene Heilkräuter gezogen wurden, und normalerweise freute er sich jedes Mal, wenn er auf dem Weg dorthin war. Aber so sehr, wie Kameen D´un Jatcha vom Sirius-Bazaar seine Arbeit liebte, so sehr waren heute seine Gedanken auf der Wanderung. Genauer gesagt: seit er seit er mehr oder weniger freiwillig (eher weniger) ein Mitglied der Rebellengruppe „Herren der Winde“ geworden war, war sein Kopf voll von Zweifeln, Ideen und Widersprüchen. Und jetzt musste er auch noch eine Aufgabe bewältigen, um zu beweisen, dass er vertrauenswürdig war? Entschuldige bitte, warum hatten sie ihn aufgenommen, wenn sie sich nicht sicher waren, ob sie ihm trauen konnten? Kameen seufzte leise. Es waren doch nur Menschen. Menschen, die ebenfalls ein Anrecht auf ein friedliches und glückliches Leben hatten, genau wie er. Warum sollte ausgerechnet er das Risiko auf sich nehmen und versuchen, Informationen aus dem Palast zu beschaffen? „Wenn du gute Nachrichten hast und wir uns sicher sein können, dass du die Wahrheit sagst, dann werden wir dich als vollwertiges Mitglied betrachten“, hörte er Pyroxens Stimme noch nachhallen. Schön, wenn sie ihn noch nicht als „vollwertiges Mitglied“ betrachteten, warum hatten sie ihm diese Kette angedreht? Ihr Gewicht lastete schwerer aus seinem Schlüsselbein, als er gedacht hatte dass sie wiegen würde. Er trug sie unter seiner Tunika verborgen, einen Anhänger, der die Umrisse seiner Heimatstadt zeigte. Er hatte gar nicht erst nachgefragt, woher Zirkon und Pyroxen diese Ketten – ihrer vier – besorgt hatten, er wollte es gar nicht erst wissen. Es reichte schon, dass es ihm nun an einem Lederband um den Hals hing und ihm vor Verantwortung und der Angst, jemand könne es sehen, ganz schlecht wurde. „Anstrengend“, murmelte er, und bezog damit Alles um ihn herum mit ein. Aber er musste die Kette ja tragen. Stumm folgte er seinem Vater, der durch eine Tür verschwand, welche hinter ihm wieder zufiel. „Wa...“ Kameens Stimme erstarb, und er zuckte die Achseln. Seine Schuld, er war zurückgefallen. Stumm seufzte er auf und schob die Tür mit der Schulter auf. Vier junge Männer und die Unterschicht einer Stadt gegen deren Oberhaupt.

In was war er da nur hineingeraten?
 

Im Garten auf einer kleinen Bank, die auch mal dazu diente, Kräuter abzulegen und zu sortieren, saß eine junge Frau. Ihre Haare fielen ihr offen über die Schulter, rote Locken, die nicht in den traditionellen Hochsteckfrisuren der Adligen gefangen waren. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände im Schoß gefaltet, ihr langes, aber einfaches Kleid breitete sich in Wellen um sie aus.

Kameen stoppte abrupt, während sein Vater einen Blick über die Schulter warf, ihn kommen sah und sich wieder abwandte, um sich eine Schere zu holen. Sein Sohn aber betrachtete die Gestalt, bis ihm einfiel, wo er sie bereits gesehen hatte: es war das Mädchen aus den Gemächern der Ra-Cria. Die Dienerin. Die roten Haare funkelten wie Gold in den Strahlen der Mittagssonne, die durch die hohen Fenster und die gläserne Decke der Halle hineinfielen. Sie hatte Kameen gehört, aber sie öffnete die Augen nicht.

„Seid gegrüßt“, sagte sie mit erstaunlich melodischer Stimme, die heute keinen Spott beeinhaltete.

„Der Wüstenwind sei mit Euch“, murmelte Kameen höflich zurück und wandte sich ab. Solange sie ihm nicht auf die Nerven ging, konnte sie seiner Meinung nach den ganzen Tag dort wie eine Statue sitzen und in der schwülen Luft kochen. Sorgfältig begann er, die vertrockneten Blätter einer Lilas-Pflanze zu entfernen.
 

Gerade als der Heiler die Juanano-Frucht beschnitten und gegossen hatte, dem kleinen Baum liebevoll über den Stamm gestrichen hatte und sich daran machte, die reifen Kapseln der Orinpflanze zu ernsten, tauchte sie lautlos neben ihm auf. Erschrocken sah Kameen auf, als sich das rothaarige Mädchen ohne jeden Federlesens und ebenso geräuschlos ihr Kleid schürzte und sich neben ihn auf den Boden hockte, aber sie achtete nicht darauf.

„Wogegen helfen diese?“, fragte sie und deutete auf die dünnen, länglichen Kapselhüllen.

Perplex betete Kameen herunter, was er schon seit seiner Kindheit auswendig beherrschte: „Gegen Schwangerschaftsbeschwerden, periodisch auftretende Übelkeit und manchmal auch gegen einfache Bauchschmerzen.“

Ihr helles Lachen hallte durch den Garten. „Schwangerschaftsbeschwerden? Für wen ist es also bestimmt?“

Verärgert über ihre vermeintliche Naivität sah er sie an. „Es sind nicht nur die Menschen im Palast, denen wir helfen, Mylady. Auch in den niederen Bezirken werden Kinder geboren – wenngleich auch nicht unter solch angenehmen Umständen wie hier.“ Ihre klaren Augen musterten ihn amüsiert. „Ihr setzt Euch sehr für die unteren Bevölkerungsschichten ein, Kameen D´un Jatcha.“ „Also?“, antwortete er heftiger als beabsichtigt und schnitt wütend eine Bohne ab. Ein Schauer lief ihm kalt den Rücken hinunter. Was meinte sie? „Nun ja...“, sagte das Mädchen gedehnt. „Weißt du nicht, dass es unhöflich ist, andere Menschen bei ihrem Namen zu nennen und sich selbst nicht vorzustellen?“, schnitt er ihr das Wort ab und stand auf.

Orinpflanzen wuchsen im Gebirge, als dichte, robuste Sträucher mit harten Ästen und erstaunlich fester Rinde. Als er sich aufrichtete, blieb er mit dem Kragen an einem Ast hängen. Ungeduldig riss er sich los und ging weiter, darauf bedacht, das Mädchen loszuwerden, aber sie folgte ihm weiterhin wie eine Katze.

„Du bist interessant, Kameen D´un Jatcha... gehört das hier dir?“

Etwas Leuchtendes, Glänzendes war aus seiner Tunika gefallen und sie bückte sich, um das klirrende Etwas aufzuheben. Entgeistert sah der junge Heiler auf den Boden, dann fasste er sich an den Hals. Das Lederband, welches das mittlerweile recht vertraute Gewicht des Anhängers trug, war weg.

Erstaunt starrte das Mädchen auf die winzige, detailgetreue Abbildung Xjuntas im Metall – eine verkleinerte Abbildung des Herrschersiegels des Rah-Ten. Und sie wusste, was sie sah: sie runzelte die Stirn, als sie es erkannte, und sie wusste, dass Kameen nicht das Recht hatte, es zu tragen... Er gehörte sicherlich nicht zur Familie des Herrschers. Er war nur der Sohn eines Heilers. Der Himmel wusste, was sie noch alles über ihn wusste, er hatte nicht vor, länger zu bleiben und das herauszufinden.

Bei Kameen D´un Jatcha, Sohn des Besten Arztneimittelkundigen der Ewigen Wüste und selbst recht passabler Heiler, setzten sich die Fluchtinstinkte durch.
 

Mit hochgezogenen Brauen starrte das junge Mädchen auf das Siegel des Rah-Ten, welches sie in diesem Schloss schon fast zu oft gesehen hatte. „Interessant“, murmelte sie. Dieser Junge gehörte also zu den Rebellen – und noch besser, zu der Gruppe auserwählter Leute, die sich die „Herren der Winde“ nannten. Bemerkenswert jung, ging es ihr durch den Kopf, sie hätte sich Rebellen als mittelalte durchschnittliche Männer mit durchschnittlichem Aussehen und durchschnittlicher Intelligenz vorgestellt. Kameen D´un Jatcha entsprach so gar nicht dem Idealbild eines Terroristen, wie der Rah-Ten die Rebellen mittlerweile nannte. Andererseits, warum auch nicht. Warum er wohl beschlossen hatte, den Rebellen zu helfen? Er war selbst aus einer recht angesehenen Familie, ihm ging es doch gut... Sicherlich, das Volk litt, sie war sich dessen nur zu bewusst, aber was sollte sie schon tun können... Ein wenig Sympathie konnte sie schon für ihn aufbringen. Aber es war es nicht ihre Pflicht, ihn zu melden? Oder konnte sie...Ein zufriedenes Lächeln bereitete sich über ihren Lippen aus, und ruckartig löste sie ihren Blick vom Amulett. „Wache!“
 

Kameen hörte die Schritte der Verfolger schon lange, bevor er die Hand schwer auf seiner Schulter spürte, und hätte er alle farbenfrohe Ausdrücke, die ihm gerade durch den Kopf schwirrten, losgelassen, wäre ein Gossenjunge wohl vor Neid erblasst. Dieses Mädchen hatte die Wache verständigt. Jetzt würden die Wächter nur noch eins und eins zusammenzählen, würden auf zwei kommen, und dann würde nicht nur er in Schwierigkeiten stecken...

Schlimmer hätte es gar nicht kommen können.

Kameen verfluchte sich für seine eigene Dummheit. Zufall, dass das Band gerissen war? Eindeutig schlechtes Karma.

„Kameen D´un Jatcha. Die Ra-Cria will dich sehen.“

Kameen gab alle Hoffnung auf.

Schlimmer geht’s nimmer, huh?

Ein eigenwillige Prinzessin

„Wie bitte?“
 

*
 

Die Wächter, die weit genug entfernt waren, damit die dem Gespräch nicht folgen konnten, runzelten die Stirn angesichts der Tatsache, dass er so herumschrie – auch wenn sie nicht wusste, worum es ging.
 

Das Mädchen mit den roten Locken, das in Wirklichkeit die Ra-Cria war, wie er hatte feststellen müssen, lächelte amüsiert hinter einem eleganten Fächer hervor, den sie aus einer versteckten Tasche ihres taschenlosen Kleides gezaubert hatte.

Und Kameen war völlig sprachlos und starrte.
 

*
 

Es hatte sich folgendermaßen abgespielt:

Ihm war nichts anderes übrig geblieben als den Wächtern der Ra-Cria zurück in den Garten zu folgen. Dort hatte nur das rothaarige Mädchen gewartet, aber ihm war schnell klar geworden, um wen es sich dabei eigentlich handelte. Spätestens, nachdem die Wächter sich vor ihr respektvoll verbeugten, allerspätestens, nachdem sie sie adressierten.

„Hier ist er, Ra-Cria.“

„Danke“, sagte die Prinzessin des Reiches freundlich, aber bestimmt, und deutete ihnen, sie mit Kameen allein zu lassen. „Zieht euch jetzt zurück. Ich möchte mich mit dieser Person unterhalten – und zwar sowohl ungestört als ungehört. Habt ihr verstanden?“

„Natürlich, Prinzessin“, murmelten Beide und verschwanden, und stumm und angespannt blieb Kameen stehen, wo er stand, und blickte das Mädchen an.
 

„Verzeihung“, sagte die Prinzessin leise lachend und sah ihn fast entschuldigend an. „Ich habe mich weder vorgestellt, noch war ich besonders höflich zu dir. Du musst verstehen, ich hatte meine Gründe. Ich bin Medusa Rah-Xjunta, die Ra-Cria. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“

Kameen beugte höflich den Kopf, einerseits, um die Geste zu erwidern, mit der sie ihn bedachte, andererseits, um die widerstreitenden Gefühle in seinem Gesicht zu verstecken. Schlimm genug, dass irgend jemand seinen Anhänger fand, nein, es musste ausgerechnet die Ra-Cria sein. Und dann... Plötzlich war sie ganz anders als die freche Dienerin, für die er sie zuerst gehalten hatte. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Welcher Charakter war ihr eigener? Wer war die wirkliche Prinzessin? Da er nichts weiter sagte, ergriff Medusa wieder das Wort.
 

„Gehörst du zu den Herren der Winde, Kameen D´un Jatcha?“, fragte sie.

Kameen presste seine Lippen so fest aufeinander, dass er das Gefühl für sie völlig verlor. „Ich weiß, dass die Rebellen dieses Symbol benutzen“, fuhr sie fort und betrachtete es genauer. „Ich weiß, dass sie sich Herren der Winde nennen, und da du nicht widersprichst, scheinen meine Vermutungen wahr zu sein. Also... Was hast du mit ihnen zu tun?“
 

Trotzig verschränkte Kameen die Arme vor der Brust. „Selbst wenn ich die Herren der Winde kennen würde und wüsste, wo sie zu finden sind, würde ich das nicht verraten.“

„Anscheinend hast du deine Grundsätze. Es würde mich interessieren, ob du noch an ihnen festhältst, wenn du zwei Tage in einem geschlossenen Raum ohne Fenster verbracht hast.“
 

Kameens Lippen zuckten verächtlich. „Ich hätte nicht gedacht, dass eine Person, die so mächtig ist wie Ihr, sich solcher Einschüchterungsversuche bedienen muss.“

Über den Inhalt ihrer Aussage machte er sich allerdings keine Illusionen. Schon viele Menschen waren in den Kerkern des Rah-Ten verschwunden, ohne dass man je wieder etwas von ihnen hörte. Nicht, dass er darauf erpicht gewesen wäre, sich mit Kakerlaken und Wüstenratten ein gemeinsames Leben aufzubauen, aber Zirkon und Pyroxen und die Anderen verraten würde er sicherlich nicht.
 

„Das habe ich auch nicht nötig“, sagte die Prinzessin mit seidenweicher Stimme. Kalt lief es Kameen den Rücken hinunter. Hatte sie etwa noch Schrecklicheres mit ihm vor? Aber dann sagte sie:

„Nun ja, eigentlich hatte ich ja gehofft, du würdest mir vertrauen, denn dann könnte ich dir und den Rebellen sicherlich helfen. Ich möchte genauso wenig wie ihr, dass die Herrschaft meines Vaters noch lange währt. Nicht, dass ich scharf darauf bin, selbst Herrscherin der Stadt zu werden, beileibe nicht!“

Nun, das hätte ich jetzt auch gesagt, dachte sich Kameen, der Mühe hatte, das Gesagte zu verarbeiten. Trieb sie Spielchen mit ihm? „Und ich habe die geeignetsten Verbindungen. Ich könnte euch Informationen aus dem Palast zukommen lassen.“

Das war schließlich der Punkt, an dem Kameen laut ausrief:

„Wie bitte?“
 

*
 

„Wie bitte?“, war genau der Ausdruck, welcher Pyroxen, Zirkon und Spinell synchron aus den Mündern kam, nachdem Kameen ihnen von seinen Erlebnissen des Tages erzählt hatte.
 

Die Vier Herren der Winde saßen in ihrem Hauptquartier, einer verlassenen Villa am äußersten Rande Xjuntas, die einst einer Mittleren Familie gehört hatte und von ihr verlassen worden war. Die großen Hallen waren teilweise bereits eingestürzt und der Sand hatte sich zurückgeholt, was ihm gehörte, und deshalb war dieser Ort als Treffpunkt so ideal. Niemand kam hierher.

„Du sollst einfach nur Informationen im Palast beschaffen, als Vertrauensbeweis, und das Einzige, das du erreichst, ist, dass du erwischt wirst? Von der Ra-Cria persönlich?“
 

Um seine Sorgen zu bekräftigen, fuhr Pyroxen sich mit beiden Händen durch seine Haare, erreichte jedoch keine (sichtbare) Verbesserung. „Dann sind wir geliefert! Bildet euch nicht ein, dass sie uns wirklich helfen wollte. Sie ist ein verwöhntes, eingebildetes Mädchen! Wenn sie behauptet, gegen ihren Vater zu sein, wird das entweder ein Trick des Rah-Ten sein oder eine ihrer Launen.“

„So kam mir das ganze aber nicht vor“, sagte Kameen und versuchte, vernünftig zu sein. „Sie wirkt weder verzogen noch, als ob sie uns eine Falle stellen wollte. Und wir können jede Hilfe gebrauchen.“
 

Es verärgerte ihn nicht, dass man seine Menschenkenntnis in Frage stellte. Er hatte erwartet, dass man diesem Angebot gegenüber misstrauisch sein würde. Aber es kränkte ihn, dass die Anderen seine Kompetenz in Frage stellten... Schließlich hatte er es nicht darauf angelegt, dass die Prinzessin ihn erwischen konnte, und er trug auch keine Schuld an dem Vorfall. Er hatte wirklich nur sein bestes geben wollen, und dann war das passiert.
 

„Er hat Recht“, sagte Zirkon seelenruhig, völlig das Gegenteil seines Cousins. „Wenn sie es wirklich ernst meint, ist es ein Geschenk des Himmels. Sie wird noch weitaus mehr erfahren als Kameen es je würde.“

Spinell schwieg und runzelte die Stirn, aber alle wandten sich ihm zu, um seine Meinung als nächstes zu hören. Also seufzte er auf und gab sie dazu: „Man könnte sie wenigstens vorher treffen und dann erst entscheiden, ob die Gegenleistung, die sie fordert, angemessen ist.“

„Wer sagt, dass sie eine Gegenleistung fordert?“

Wieder zuckte Spinell nur mit den Achseln.

„Will sie nicht?“

Kameen wusste es nicht.
 

„Taktisch klug wäre es, sie zuerst zu treffen“, sagte er leise.

Pyroxen grummelte. „Aber wenn sie etwas vorhat...“

Sein Cousin unterbrach ihn, in dem er warnend den Zeigefinger hob. „Er war noch nicht fertig!“
 

Mit einem dankbaren Blick fuhr der Heilersohn fort. „Aber sie könnte etwa vorhaben, uns in eine Falle laufen zu lassen. Deshalb müssen wir vorbereitet sein. Und sehr, sehr vorsichtig. Wir sollten uns auf jeden Fall auf neutralem Gebiet treffen, aber uns trotzdem einen Vorteil verschaffen, in dem wir den Treffpunkt vorher festlegen. So haben wir das Gelände im Kopf und werden wissen, wenn sie etwas vorhat. Wir sollten sie auf jeden Fall treffen, und wenn nur, um herauszufinden, dass sie uns hereinlegen wird. Oder wollt ihr etwa behaupten, dass ihr Angst vor einem Mädchen habt, selbst, wenn es die Ra-Cria ist?“

Spinell nickte zustimmend. „Natürlich nicht“, sagte er, und er meinte damit die Angst.

Zirkon stieß Pyroxen einen Ellenbogen in die Seite. „Komm schon ich bin mir sicher, dass sie uns wirklich helfen kann!“

„Gut“, stieß der hervor. „Aber nur treffen! Und wenn sie etwas Linkes plant, dann...“ Zirkon grinste.

Und Kameen atmete erleichtert auf. „Ich dachte mir schon, dass ihr einverstanden sein würdet. Deshalb habe ich sie gebeten, uns heute Abend zu treffen.“
 

*
 

„Das nennst du neutral?“, fauchte Pyroxen zwei Tage später und sah hinaus in die Wüste.
 

Er, Zirkon, Spinell und Kameen standen im Schatten eines dunklen Wachturms auf der Außenmauer des Palastes des Rah-Ten und warteten auf das Erscheinen der Ra-Cria, mit der sie „verabredet“ waren. Zirkon, der bisher angestrengt in die Nacht gestarrt hatte, musste kichern.

„Ich nehme an, dass er einen guten Grund hatte, warum er ausgerechnet die Haustür des Palastes als Treffpunkt ausgemacht hat“, sagte er leise und warf einen Seitenblick auf Kameen.

Der zuckte nur die Achseln. Spinell spähte auf der anderen Seite von Pyroxen in den Hof hinunter.

„Es ist nicht so einfach, das Haus unbemerkt zu verlassen, wenn man zu einer der Obersten Vier gehört“, bemerkte er. „Ich schätze, die Ra-Cria dürfte es da noch viel schwerer haben.“

Der große, rothaarige Junge lehnte sich an die Mauer hinter ihm.

„Sie lässt sich Zeit“, maulte er.

„Psst!“

Aus dem stockfinsteren Burghof, der nur an einigen wenigen Ecken durch Fackeln erleuchtet war, die kaum einen Umkreis von drei Metern erhellten, hörte man leise Schritte. Fast unhörbar raschelte der Sand auf dem Boden, als barfüßige Füße über ihn hinwegschritten. Die vier Männer tauschten einen Blick aus und zogen sich in den Schatten des Turmes zurück.
 

*
 

Komisch.

Unwillkürlich zog Medusa den Kopf ein, als sie über den Hof schlich. Sie trug einen schwarzen Umhang, der sie von Kopf bis Fuß verdeckte und keinerlei Schlüsse auf Statur, Augen und Haar zuließ. Jemand, der sie gesehen hätte, hätte sich nicht gewundert: Nächte in Xjunta waren kalt.

Die Treppe zum äußersten Wachturm an der Südmauer war aus Stein gehauen, fast hätte sie erleichtert aufgeseufzt, als ihre Füße den warmen Sandstein berührten, der die tagsüber gespeicherte Wärme nun endlich abgab. In der Ferne schrie ein Wüstenstar, und das Mädchen zuckte zusammen. Die Nacht hielt ihre völlig eigene Palette an Geräuschen bereit...
 

Leise erklomm sie den Turm, auf dem sie sich mit den Herren der Winde treffen wollte. Sie war mißtrauisch gewesen, als der Sohn des Heilers ausgerechnet diesen Ort vorgeschlagen hatte. Aber was hätte sie auch tun sollen? Wenn man ihr eine Falle stellen wollte, dann wäre sie hilflos. Sie hatte niemandem gesagt, wo sie hinging. Sie hatte keine Verstärkung. Sie vertraute darauf, dass Kameen D´un Jatcha sein Wort halten würde, und im Gegenzug würde sie ihres halten.

Endlich an der Spitze angekommen, atmete sie lautlos auf und trat an den Rand der Plattform. Vorsichtig strich sie mit der Hand über die Feuerstelle, die, von weither deutlich sichtbar, auf der Spitze stand. Außer in Notsituationen brannte hier sowieso nie ein Feuer. Gleichwohl war heute hier kein Wächter anwesend, weil Medusa dem zuständigen Wächter verdeutlicht hatte, dass es der Wunsch des Rah-Ten war, dass nur jeder zweite Turm besetzt werden sollte, dies jedoch doppelt. Ihr Vater, das wusste sie, hätte diesen Befehl niemals gegeben – obwohl es taktisch klüger war.
 

Entlang der sechs Außenmauern des Palastes standen 12 Wachtürme, jeweils einer an der Seite und einer an der Ecke, so dass die meisten Türme das selbe Gebiet überwachten. Es reichte völlig, nur die Türme an den Ecken des Hexagons zu besetzten und es würde trotzdem noch das selbe Gebiet überwacht und das selbe Risiko getragen werden. Nein, es sank sogar, denn zwei Wächter in einem Turm waren sicherer nicht einzuschlafen als einer Allein.
 

„Guten Abend, Ra-Cria“, sagte eine Stimme leise aus dem Schatten.

Medusa beherrschte sich gut genug, um nicht allzu deutlich zurückzuschrecken, und sie drehte sich um. Abschätzig musterte sie den Mann, der nun in den Schein des Mondes trat.
 

„Wer bist du?“

Ihr Gegenüber zögerte. „Ich glaube nicht, dass...“

Offensichtlich wusste er es nicht zu deuten, dass sie keine Angst zeigte.

„...Dass Unsere Namen wichtig sind“, sagte eine zweite Person und schwang sich neben Medusa über die Brüstung.

Ein Dritter trat durch die Tür.

„Seid gegrüßt, Ra-Cria“, sagte er und verbeugte sich leicht.
 

„Na, wenigstens einer von euch hat Manieren“, sagte sie spöttisch und dachte, dass ihr die Art, wie sich der Mann bewegte, bekannt vorkam.

„Ich bin hier, um Kameen D´un Jatcha zu treffen.“ Als sie das sagte, passte ihre äußerliche Ruhe nicht zu dem Trommelwirbel, den ihr Herz veranstaltete.

„Wo ist er?“
 

Die drei Männer sahen sie wortlos an. Der Kleinste von ihnen (was nicht viel heißen mochte, er war immernoch größer als sie) betrachtete sie interessiert. „Ihr seid also die Ra-Cria?“

„Besteht ein Zweifel?“, schnauzte sie zurück. Aber er lächelte nur. „Nun, ich habe Euch noch nie gesehen, also wie soll ich mir sicher sein, dass Ihr es seid?“

Sie verstummte.

„Nun, egal wer Ihr seid, ihr müsst entweder sehr mutig und von euch selbst überzeugt sein oder sehr dumm. Mitten in der Nacht vier wildfremde Männer zu treffen, jedes kleine Kind könnte euch sagen, wie gefährlich das ist. Wir könnten euch entführen. Oder, noch schlimmer...“, er lächelte in einer vagen Andeutung aus Schatten und kaltem Mondlicht, „Wir könnten Euch ermorden. Keine angenehme Aussicht, nicht wahr?“
 

„Ich habe gehofft, dass mir das erspart bleibt“, meinte sie schnippisch. „Ich bin hergekommen, weil Kameen D´un Jatcha mir sein Wort gegeben hat, dass mir nichts passieren wird. Wo ist er jetzt?“
 

Kameen trat aus dem Schatten wie ein Schattenwolf, ein Wesen, dass sich so perfekt in den Dunkeln des Lichtes tarnen konnte, dass man sich seiner Gegenwart erst zu spät bewusst wurde.

„Es freut mich, dass Ihr gekommen seid, Ra-Cria“, sagte er leise und verbeugte sich ebenfalls.

„Bah!“, murmelte Pyroxen, während Zirkon und Spinell zwischen beiden hin und hersahen.
 

„Nun?“, sagte Medusa fordernd, ohne Begrüßung, ohne Vorrede.

„Ich habe euch meine Hilfe angeboten, wenn ihr den Rah-Ten stürzen wollt. Ich kann für euch im Palast spionieren, ich kenne ihn besser als meinen Kleiderschrank, und die Menschen im Palast kennen mich. Sie werden es nicht verwunderlich finden, wenn ich Fragen stelle. Wollt ihr jetzt oder nicht?“

Kameen, der ahnte, dass immernoch etwas kam, sah sie misstrauisch an. „Was wird die Gegenleistung für Eure Hilfe sein?“, fragte er ruhig, in der Erwartung, dass sie irgendwelche Dinge verlangen würde, die nicht in seiner Macht standen. Aber Medusas Beweggründe waren anderer Art. Was sie nun versuchte, den Anderen darzulegen. Schweigend hörten Zirkon, Spinell, Kameen und sogar Pyroxen zu.
 

„Mein Vater, der Rah-Ten, war nicht immer so ein grausamer Mann, wie er heute ist, das müsst ihr mir glauben. Als ich noch ein kleines Mädchen war, kann ich mich daran erinnern, dass er der freundlichste und umgänglichste Mensch überhaupt war, er hatte immer ein offenes Ohr für die Probleme anderer Menschen und versuchte zu helfen, so weit es in seiner Macht stand. Xjunta, die Stadt, die ihm anvertraut worden war, liebte er aus ganzem Herzen.“

„Wann war das nochmal?“, unterbrach Pyroxen spöttisch. „In einem anderen Leben?“

Wütend funkelte Medusa ihn an. „Ich kann dir genau sagen, wann dieser Wahnsinn begann, und ihr wisst es!“

Kameen schnitt vorsichtig ein. „Prinzessin, hättet Ihr die Güte, genau zu sagen, ab wann?“

„Seit dem Jahr, in dem meine Mutter starb. Ich war ein kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt.“
 

Das brachte Pyroxen, der gerade wieder ein bissiges Kommentar auf den Lippen hatte, zum Schweigen. „Das tut mir leid“, sagte Zirkon leise. „Das muss schrecklich für Euch gewesen sein.“
 

Mit einem schrägen Blick auf den Blonden fuhr sie fort. „Sie starb, als sie auf den Markt ging. Wüstenpiraten überfielen sie auf dem Rückweg, vergewaltigten sie und liessen sie liegen, bis sie verblutete. Mein Vater fand sie Stunden später. Und seit damals hat er sich verändert. Sie hatte ihn immer beruhigt, wenn er sich aufregte, sie war immer seine ausgleichende Hälfte gewesen. Nun, da sie fehlte, war er wahnsinnig vor Schmerz über ihren Verlust, und niemand konnte ihn aufhalten. Das war der Tag des Gemetzels im Piratenviertel.“

Betroffenes Schweigen hatte sich über sie gelegt. Alls starrten sie an, ohne ein Wort zu sagen.
 

„Das ist nicht der Mann, der mein Vater war“, sagte Medusa, heftiger, als sie es beabsichtigt hatte. „Er kümmert sich nicht mehr um seine Stadt. Er kümmert sich nicht mehr um sein Volk. Er will die Herrschaft ganz für sich haben, er hasst die Unterschicht, weil Sandpiraten ihr nun mal angehören. Er hasst die Mittleren Familien, weil sie nichts unternehmen können, um ihm zu helfen, und er hasst die Oberen Vier, weil sie nichts unternehmen, um ihm zu helfen, die Unteren Familien ein für alle Mal auszurotten. Er ist nicht mehr nur darauf aus, meine Mutter zu rächen. Er will Genugtuung, und wer dafür leiden muss, ist ihm egal. Mittlerweile ist er nur noch ein seelenloses Monster, welches die Herrschaft ganz an sich reißen und es mit niemandem teilten will. Er hört nicht einmal auf mich. Und deshalb“ – Medusa holte Luft – „Deshalb muss er gestürzt werden. Er würde nur noch mehr Leid bringen. Er ist wahnsinnig geworden.“
 

„Bravo, Ra-Cria“, bemerkte Spinell.

„Sei still!“, fuhr ihn Zirkon an. „Kannst du dir nicht vorstellen, wie sie sich jetzt fühlen muss? Sie kämpft gegen ihren eigenen Vater!“

Von einer Sekunde auf die nächste verschloss sich Spinells Gesicht völlig. Es war im Dunkel der Nacht nicht gut erkennbar, aber Kameen stand direkt neben ihm und sah es doch. Und weil keine Erwiderung kam, wandte sich Zirkon achselzuckend ab.
 

Pyroxen und Kameen sahen sich an und verständigten sich lautlos. „Können wir ihr vertrauen?“, fragten Kameens Finger in einer Sprache, die sie in den letzten Wochen selbst entwickelt hatten. Pyroxen konnte die Hände seines „Gesprächspartners“ zwar kaum erkennen, aber er verstand, worauf der andere hinauswollte.

„Wir müssen vorsichtig sein. Aber wir sollten es versuchen. Sie scheint vertrauenswürdig zu sein.“ Zufrieden nickte Kameen und wandte sich der Prinzessin zu.

„Ra-Cria, wenn Ihr immernoch sicher seid, dass Ihr uns helfen könnt... Dann seid willkommen als Mitglied der Herren der Winde. Macht unserem Namen keine Schande.“

„Wie jetzt?“ Ungläubig schaute Medusa von Einem zum Anderen. „Ihr vertraut mir einfach so?“ „Warum nicht? Gäbe es einen Grund, es nicht zu tun?“, fragte Zirkon fröhlich.

„Ja, aber... aber...“

„Was habt Ihr erwartet? Eine Aufnahmezeremonie?“, kam es spöttisch von Spinell.

„Ja, aber...“

Die vier jungen Männer erwiderten den Blick des Mädchens fest.

„Ich will nur, dass mein Vater nicht mehr Rah-Ten ist, klar?“, sagte sie trotzig. „Keine Sorge, mehr wollen wir auch nicht“, beruhigte sie Kameen. „Oder glaubt Ihr, dass wir einen Krieg anzetteln wollen?“ Medusa schüttelte den Kopf.

„Und jetzt geht Ihr besser wieder, bevor irgendjemand Euer Fehlen bemerkt und auf die Idee kommt, auf den Wachtürmen zu suchen. Ich werde Euch benachrichtigen, sollte etwas Wichtiges sein.“

„Gut.“

Plötzlich war sie wieder Herrin der Situation. „Dann gehe ich jetzt und lasse den Rah-Ten wissen, dass ihr hier seid.“ Ohne eine Miene zu verziehen, machte sie sich an den Abstieg vom Wachturm. „HA...!“

Pyroxen, Zirkon, Spinell und Kameen setzten entsetzt dazu an, ihr zu folgen, aber sie war ihnen bereits weit voraus. Wollte sie jetzt wirklich dem Rah-Ten berichten, was sie heute erfahren hatte? Sie war also doch nur eine Spionin gewesen! Aber dann tauchte ihr Kopf noch einmal über dem Geländer der Wendeltreppe auf, die auf den Hof führte, und sie grinste über beide Ohren.

„Das war ein Scherz! Ich werde euch auf keinen Fall verraten! Ehrenwort der Ra-Cria!“

Und sie verschwand wie ein Schatten.

„Gut zu wissen“, sagte Kameen und presste eine Hand auf sein wie rasend schlagendes Herz.

„Sie hat einen merkwürdigen Humor“, sagte Spinell trocken und liess sich auf den warmen Steinboden des Turmes sinken. Kameen nickte nur. Was für eine Prinzessin! Das würde ja noch heiter werden!
 

*
 

„Ach, übrigens“, sagte Zirkon einige Zeit später. Sie hatten beschlossen, den Sonnenaufgang vom Turm aus zu beobachten. Es war ein Wunder, wie strahlend die Farben der Welt leuchteten, wenn die ersten Sonnenfinger sie im Schlaf sanft berührten... Einträchtig saßen sie nebeneinander und schwiegen. Bis Zirkon die Stille brach.

„Meint ihr nicht auch, dass Kameen es verdient hat, unser Anführer zu sein?“

„Wie bitte?!“

Der Ausruf kam sowohl vom Genannten als auch von Pyroxen. Spinell nickte nur zustimmend, und Zirkon warf ihm einen dankbaren Blick zu.

„Nun, er hat das Treffen mit der Ra-Cria ordentlich organisiert und vorbereitet. Dadurch, dass wir sie zur Verbündeten haben, haben wir eine wirklich gute Chance gegen den Kaiser. Außerdem ist er ein guter Heiler, ein kluger Stratege und er denkt voraus.“ „Du bist auch ein Stratege“, sagte Pyroxen. „Und ich organisiere. Und Spinell hat alles im Kopf. Warum brauchen wir einen Anführer?“

Kameen wäre lieber im Sand versunken als diesem Gespräch weiter zuhören zu müssen.

„Hört mal, er hat ganz Recht. Wir brauchen keinen Anführer, und ich will auch keiner sein. Viel zu anstrengend.“

Zirkon ignorierte ihn so gekonnt, dass er selbst das Gefühl hatte, nichts gesagt zu haben. Oder gar nicht erst da zu sein.

„Aber Kameen hat alle diese Eigenschaften in sich vereint. Er wäre ein wirklich guter Chef, das meinst du doch auch, Pyroxen!“ Der grummelte, aber trotzdem konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, dass sein Cousin Recht hatte. Kameen war der ideale Anführer. Er konnte froh sein, ihn getroffen zu haben.

„Meinen Segen hat er“, sagte Spinell und tätschelte Kameen über den Kopf wie einem kleinen Hund.

Zirkon grinste. „Meinen auch!“

„Na, meinethalben“, grummelte Pyroxen. „Aber wenn er Mist baut, fliegt er!“
 

Kameen schloss entsetzt die Augen. Chef. Warum er? Was hatte er wieder angestellt? Das würde mühsam werden.

Beginn des Endes

„Was gibt es, Calcit?“

Zerstreut schaute Pyroxen auf von dem, was immer er gerade las. Seit nunmehr anderthalb Monaten bestanden die Herren der Winde, vor zwei Wochen hatte das geheime Treffen mit der Ra-Cria auf dem Turm des Palastes stattgefunden. Seitdem hatte die Prinzessin den Rebellen über Kameen und andere Boten interessante Informationen zugespielt, woher auch immer sie stammen mochten. Kameen war sich zumindest sicher, dass er gar nicht wissen wollte, wie sie an ihre Infos kam... Aber im Schloss musste es eine Menge alter Schleichwege geben. Pyroxen lockerte seine vom Sitzen verkrampften Schultern. Er versuchte schon seit Ewigkeiten, einen Plan zu entwerfen, wie man die Obersten Vier auf seine Seite ziehen konnte. Sie mussten doch eine Schwachstelle haben... Die Obersten Vier waren die Säulen der Herrschaft des Rah-Ten. Sie wählten seinen Nachfolger und hatten rein theoretisch auch die Befugnis, einen alten Kaiser abzusetzen... Aber das war der theoretische Teil. Praktisch stand fest, dass selbst die Obersten Vier Familien, die den jetzigen Rah-Ten ins Amt gerufen hatten, auch nicht mehr wussten, wie ihnen geschah. Dieser Mann war unberechenbar und gefährlich, und er hatte die Armee der Wächter hinter sich. Aus irgendeinem Grund standen diese loyal zum Rah-Ten, und gegen diese geballte Übermacht konnten selbst die Obersten Vier nichts ausrichten.

„Also?“

Wartend sah Pyroxen den Mann vor sich an. Calcit wippte ungemütlich von einem Fuß auf den anderen.

„Nun... Ich habe einen Freund, er... Er war ein Wächter, aber seine Familie ist vom Rah-Ten gefangengenommen, gefoltert und getötet worden, und er...“

„Er möchte uns helfen?“

Das Gesicht des Rebellen leuchtete auf, als er merkte, dass sein Gegenüber verstand.

„Vertraust du ihm, Calcit?“

„Absolut.“

„Ist er hier?“

Pyroxen warf einen Blick auf den belebten Marktplatz, in dessen Mitte er saß.

„Ja, er wartet dort hinten.“

„Dann hol ihn bitte her.“

Während Calcit den Mann ansprach und ihn in seine Richtung führte, musterte Pyroxen ihn genau. Ohne Einleitung oder Begrüßung sprach er ihn an: „Du warst also ein Wächter?“

Der nickte, und sein Gesicht verschloss sich. Es war ein Allerweltsgesicht mit keinen auffälligen Merkmalen und keinen markanten Auffälligkeiten.

„Ich verstehe“, sagte Pyroxen, der zwar nichts verstand, aber der Unwillen, über das Geschehene zu sprechen, war deutlich in der Miene des fremden Mannes zu lesen. „Wir freuen uns, dass du dich entschlossen hast, zu uns zu kommen. Du bist herzlich willkommen. Wende dich, wenn du Fragen hast, einfach an uns, ja?“

Für einen Moment war Pyroxen sich sicher, ein spöttisches Grinsen im Gesicht des Anderen gesehen zu haben, aber wenn es da gewesen sein sollte, es verschwand sofort wieder.

„Danke.“

Die Stimme war unpassend, samtweich und geschmeidig. Verwundert starrte der Braunhaarige dem Ex-Wächter hinterher, als der den Platz verliess – ein merkwürdiger Mann! Als auch Calcit gehen wollte, hielt er ihn mit einem Wink auf und rief ihn zu sich. „Calcit?“ „Ja?“ „Das nächste Mal, wenn du einen potentiellen Rekruten hast, bringst du uns zu ihm und nicht ihn zu uns, verstanden? Wir sollten uns zuerst ein Bild von ihnen machen. Wer weiß, für wen sie arbeiten.“ „Oh.“ Mit der Möglichkeit, dass der Rah-Ten Spione in ihre Gruppe einschleusen konnte, hatte Calcit anscheinend noch gar nicht gerechnet. „Alles klar. Entschuldige, Pyroxen.“ Der Mann zog seine Stupsnase kraus und bedeutete dem Anderen zu gehen. Er würde sich später noch einmal mit diesem Mann befassen – vielleicht erfuhr er dann wichtige Dinge über die Wächter des Kaisers. Aber zunächst schob er diese Gedanken in den Hintergrund – die anderen Drei warteten schon auf ihn.

Er konnte nicht wissen, dass er damit einen Fehler beging, der sie alle den Kopf kosten konnte.
 

***
 

„Das kann nicht Ewig so weitergehen“, sagte Kameen und sprach damit aus, was alle Anwesenden dachten.

Die Halle, in der sie saßen, war groß und dunkel, und staubiges Licht fiel durch die zerbrochenen Fenster hinein. Möbel und Dekorationen hatte diese alte Villa sicherlich seit Jahrzehnten nicht gesehen... Lediglich Laternen standen zur Unterstützung des Tageslichtes an strategisch wichtigen Punkten in der Halle. Die vier Herren der Winde, stadtbekannte, aber sonst unbekannte Rebellen, gehasste und bewunderte Hintergrundfädenzieher, saßen im Schneidersitz auf dem Boden – was nicht auf ihr Image zutraf. Und es kümmerte sie wenig bis gar nicht. Kameen D’un Jatcha vom Sirius-Bazaar liess seine Augen über seine drei Freunde wandern.

Es behagte ihm nach zwei Wochen noch immer nicht im Geringsten, von ihnen als Anführer anerkannt zu werden, aber er sagte sich, wenn er es durchstand, dann mit Bravour. Pyroxen vom Orion-Bazaar und Zirkon vom Spica-Bazaar hatten recht gehabt, er war sowohl die logischste als auch die beste Wahl gewesen. Spinell Vega-Ban äußerte sich nicht dazu, aber er schien im Großen und Ganzen zufrieden, als er sich gegen eine Säule lehnte und die Arme vor der Brust kreuzte.

„Kommt die Ra-Cria heute?“

„Ach!“, sagte Pyroxen und grinste. „Vermissen wir das Prinzesschen?“

„Bestimmt nicht“, sagte Spinell ausdruckslos. „Ich wollte mich nur informieren. Ich bin immernoch der Meinung, wir hätten ihr nicht sagen dürfen, wo unsere Basis ist.“

„Willst du etwa behaupten, sie könnte uns verraten?“, fuhr Zirkon auf. „Sie hat uns ihr Wort gegeben!“

„Sei nicht so naiv. Jeder kann sein Wort brechen.“

„Ich bin mir sicher“, sagte Zirkon bestimmt. „Sie ist keine Spionin.“
 

Und wenn sie eine wäre, würde sie es dir nicht auf die Nase binden, dachte Kameen, behielt den Gedanken aber sicherheitshalber für sich. Die Prinzessin hatte ihnen bereits gute Informationen zukommen lassen, die sich immer als korrekt herausgestellt hatten, sie schien vertrauenswürdig. Deshalb hatte er ihr auch verraten, wo sich das Hauptquartier der Herren der Winde befand, und sie hatte versichert, dass sie kommen würde, wenn sie sich einmal aus dem Palast würde schleichen können. Was gewöhnlich an Marktagen wie heute der Fall war.
 

„Wir haben bisher viel erreicht“, sagte er statt dessen laut.

„Wir haben die Brunnenmauern niedergerissen und Wächter aus dem Verkehr gezogen. Wir haben Ministern aufgelauert und ein oder zwei Straßenmobs auf Plätzen verursacht, auf denen öffentliche, politische Auftritte stattfanden... Und was wir erreicht haben, ist, dass die Wasserversorgung völlig lahmgelegt wurde, dass noch mehr Männer zum Wächterdienst herangezogen werden und dass die Minister gegen uns sind. Dabei wollen wir sie auf unserer Seite haben.“

„In einem Jahr würden wir auch eingezogen werden“, erinnerte sie Pyroxen. Mit 21 war es so weit. „Bis dahin dürfen wir es erst gar nicht kommen lassen. Wenn wir erst mal da sind, kommen wir nie wieder raus!“

„Das“, bestätigte Zirkon, „Und wir haben nicht erreicht, was wir uns als Ziel gesetzt haben. Wir wollten den Rah-Ten stürzen, damit das Leben auch für die Unterschicht wieder lebenswert ist.“

Kameen kratzte sich am Kopf. „Ja, aber wie stürzt man einen Tyrannen?“

Während Pyroxen und Zirkon ihn nur anstarrten, schlug sich Spinell mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Und so was will unser Anführer sein! Du sollst Pläne machen, nicht unlösbare Fragen in den Raum stellen!“

Kameen lächelte nur. „Du musst zugeben, dass es ein wenig kompliziert ist, den Rah-Ten überhaupt nur zu sehen, wenn er Tag für Tag nur unerreichbar fern in seinem Palast sitzt. Selbst für mich ist es schwer, da reinzugehen, nicht zu sprechen von der Gefahr. Also wie wollt ihr alle da reinkommen, um ihn zu stürzen?“

Stille.

„Aber irgendwie müssen wir da rein. Dieser Wahnsinnige muss endlich verschwinden! Es herrschen schon viel zu lange Terror und Angst.“

„Meinst du im Ernst, Zirkon, dass die Wächter dich reinlassen werden, wenn du sie lieb bittest?“

„Wir könnten die Prinzessin nach einem Geheimweg hinein fragen.“

„Dein Vertrauen in ihre Fähigkeiten in Ehren – aber selbst eine Prinzessin ist nur ein Mensch, und sie hat noch viel weniger Macht als ihr Vater – selbst als Prinzessin.“

Kameen sah Spinell scharf an, und der behielt seine letzten, scharfzüngigen Kommentare bei sich. „Auf jeden Fall“, fasste der kluge Heiler zusammen, „Müssen wir möglichst bald, möglichst schnell und unter allen Umständen erfolgreich zuschlagen.“
 

Die anderen Drei schwiegen zustimmend, aber niemand von ihnen sah nur im Entferntesten glücklich aus. Sie mussten einen Plan entwerfen. Man konnte nicht gegen den Rah-Ten vorgehen wenn sie allein waren – das würden sie niemals schaffen. Sie brauchten die Unterstützung des einfachen Volkes und wenn möglich auch noch die der Mittleren Familien. Die Obersten Familien erschienen ihnen unerreichbar weit fern. Sie würden sich an denjenigen halten, der ihrer Sache dienlich war... Das würden sicher nicht die Rebellen sein. Es sei denn, es geschah ein Wunder.
 

***
 

Trotz der gefährlichen Zeiten (besonders gefährlich für Prinzessinnen) und trotz der Rebellion, die wie ein drohendes Zweihänderschwert über der ganzen Stadt hing, ging genau diese am Marktplatz noch genau ihren Traditionen nach. Die Menge wogte wie riesige Wellen um Medusa herum, und aus einem unbestimmten Grund fühlte sie sich geborgen. Ihre einfache Kleidung, die aus einem Rock und einer Art Wickeltunika bestand und die sie sich selbst genäht hatte, liess sie in der Menschenmasse untergehen und machte sie zu Einer der Ihren...

Mit einem Lächeln auf den Lippen wanderte sie an den Ständen vorbei, die Haushaltswaren, Hühner und Eier, Stoffe, gebrauchte Schriftrollen und Süßigkeiten anboten und lauschte dem pausenlosen Gerede der Händler, hörte das Gebrüll der Ochsen und roch die Gerüche, die sich über dem Platz ausbreiteten wie eine Decke.

Es war immer und immer wieder riskant, sich aus dem Palast fortzuschleichen.

Sie hatte ihre Zofen hinausgeschickt, hatte gesagt, ihr ginge es nicht gut und sie wolle nicht gestört werden. Mit Hilfe ihrer alten Amme hatte sie sich in Medusa, das Wüstenmädchen verwandelt – da das Volk sie nie ohne Schleier sah, erkannte sie auch niemand. Sie konnte nur hoffen, dass niemand ihren Ausflug bemerken oder ihr gar folgen würde. Das würde Konsequenzen haben.

Gestern Abend hatte der Rah-Ten erfahren, dass die Rebellengruppe namens Herren der Winde offensichtlich ein Mitglied der Obersten Vier als Geisel genommen hatten. Angesichts der Tatsache, dass die Familie Vega-Ban nicht korrekt auf ihren Erben aufpassen konnte, hatte er getobt und wutschnaubend Porzellan im Wert von vielen Wochenrationen Wasser zerschlagen. Schweigend hatte Medusa zugesehen und dann den Raum still verlassen, wohl wissend, dass es ihn nicht kümmerte, was sie sagte oder tat. Und jetzt war sie unterwegs, um Kameen und die Anderen zu treffen.
 

Die Menschen auf dem Mark waren erstaunlich guter Laune. Händler priesen lautstark ihre Waren an, Boten eilten geschäftig hin und her und lieferten bestellte Ware in den Hohen Häusern ab. Reiche Damen, ihre Diener im Schlepptau, promenierten unter den Arkaden entlang, die am Rande des Platzes schattige Plätze bildeten, Kinder liefen lachend und schreiend den fluchenden Trägern vor die Füße. Medusa genoß das Leben auf der Straße. Früher hatte ihr Vater sie manchmal mitgenommen, damals, als er noch nicht zum Rat des Palastes gehört und dann zum Rah-Ten gewählt worden war. Sie konnte sich lebhaft daran erinnern, wie starke Schultern sie hoch über der schreienden Menge sicher trugen, während sie kichernd die Köpfe der Menschen von oben besah und an einer kandierten Tish-Frucht lutschte...

Die junge Frau liess sich für einen Moment treiben und bemerkte erst verzögert, dass die Menschenmenge plötzlich still wurde.
 

Von jetzt auf gerade lag eine Spannung in der Luft, die Medusa das Atem zu erschweren schien und deren Dichte beinahe greifbar war. Erschrocken sah sie sich um und bemerkte, dass die Menschen ihre Aufmerksamkeit nach vorne richteten, in die Richtung, in der sich an einem Marktplatzende eine erhöhte Tribüne befand. Normalerweise wurde sie für Feste und Darbietungen genutzt, heute standen zwei Wächter in voller Rüstung darauf. Einer von ihnen führte drei gefesselte, panisch umherblickende Männer hinter sich her.

Medusa erstarrte.

Was sollte das? Wer waren diese Männer? Warum wurden sie hier vorgeführt? Weshalb waren sie angeklagt? In Zeiten wie Diesen konnte sie sich nur einen Grund vorstellen, nur eine Tat, die den Kaiser genug reizen würde, um Männer öffentlich auszustellen, und dass war die Rebellion...

Ihr wurde eiskalt.

Sie keuchte leise auf und begann, sich mit Händen und Füßen einen Weg nach vorne, zur Bühne, freizumachen. Sie hatte es so eilig, dass sie sich nicht einmal entschuldigte, als sie einer alten Dame den Stock aus der Hand schlug und diese taumelte, das Entsetzten fuhr durch ihre Adern, heiß und warnend.
 

Der Aushand am Rande der Tribüne war ordentlich geschrieben und sauber verfasst, und seine Mitteilung war unmißverständlich.
 

Medusa drehte sich auf dem Absatz um und rannte.
 

***
 

Kameen stöhnte auf und hielt sich den Kopf.

„Da können wir auch gleich in den Palast stürmen und den Rah-Ten als Geisel nehmen!“

Langsam bereitete sich ein pochender Schmerz in seinen Schläfen aus, er hatte es kommen sehen. Die vielen Menschen um ihn herum kamen einfach zu keiner vernünftigen Entscheidung, und wenn schon mal etwas Konstruktives vorgeschlagen wurde, dann wurde der Vorschlag niedergebrüllt, weil er zu langwierig oder kompliziert erschien. Aber vielleicht lag es auch daran, dass diese Menschen nicht so entschlossen waren, wie sie schienen. Natürlich wollten alle den Rah-Ten stürzen, natürlich wollten alle kämpfen, aber beim zweiten Blick... Wer wollte schon sterben? Wer war schon bereit, sich selbst für Andere zu opfern, die man gar nicht kannte? Frei sein, gut, ohne Angst leben, schön – aber wer garantierte ihnen, dass es auch wirklich funktionierte? Und wenn nicht, wer würde dafür leiden?

Sie.

Deshalb waren ihre Aktionen eingeschränkt.

Das Treffen hatte keinen Sinn, dachte Kameen, es führte ja doch nur zu nichts. Oder zu Zwist und Streitigkeiten, und Uneinigkeit innerhalb der Gruppe konnten tödlich sein...

„Sie sind einfach feige“, bedeutete ihm Spinell mit seinen Händen, aber Kameen schüttelte den Kopf. Wer wären sie, wenn sie keine Angst hätten? Verdammt, sogar er hatte Angst.

Wieder seufzte er leise auf und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was ein älterer, weißhaariger Mann gerade von sich gab. So viel Unsinn es auch sein mochte.
 

KNALL!
 

Alle sprangen erschrocken auf, als die Tür mit einer Wucht aufflog, die sie beinahe aus ihren Angeln katapultiert hätte, aber noch ausreichte, um lautstark gegen die gegenüberliegende Wand zu fliegen.

Hatte man sie gefunden?

Nein.

Eine leichenblasse, aber keuchende junge Frau kam hereingestürzt, ihre Röcke undamenhaft gerafft, ihr Haar wirr. Ihre leichenhafte Blässe passte nicht zu ihrer Brust, die sich schnell hob und senkte, als sei sie den gesamten Weg her gerannt.

„Was zum...“, sagte Zirkon, und Kameen erhob sich.

„Was erlaubt sie sich?“, rief der selbe Mann, der gerade noch gesprochen hatte. „Wie kann eine Frau es wagen, so hier hereinzuplatzen?“

„Sei ruhig“, sagte Spinell beinahe unhöflich.

„Medusa“, sagte Kameen und trat an sie heran, er benutzte mit Absicht ihren Namen und keinen Titel. „Was ist geschehen? Du bist gerannt!“

Medusa kümmerte sich weder um die Anrede noch um die Anwesenden, sondern blickte nur die Herren der Winde an.

„Schnell!“, rief sie verzweifelt.

„Ihr müsst schnell kommen!“

Der Ton in ihrer Stimme veranlaßte die vier Freunde, ihr ohne eine weitere Frage sofort zu folgen, und sie liessen einen zeternden und schimpfenden Haufen Rebellen hinter sich. Die Klügsten standen auf und folgten ihnen.

Waren die Menschen von Natur aus ängstlich und bedacht, ihren Herrscher nicht zu verärgern, so hinderte dies auch ihre Reaktionsfähigkeit. So entstand ihr Unwille zum Kampf.

Diese Menschen brauchten einen Anstoß, etwas, dass sie dazu zwang, in Aktion zu treten.

Die Menschen würden ihn bekommen.
 

***
 

Auf der Bühne auf dem Markt baumelten die erhängten Leichen der drei Männer, die Medusa zuvor gesehen hatte.

Wie zu Stein erstarrt blieben Kameen, Zirkon, Pyroxen und Spinell stehen und starrten ungläubig auf die makabere Szene vor ihnen.

Das konnte nicht sein.

„Er hat es getan“, flüsterte Medusa völlig ungläubig.

„Nein“, quetschte Kameen zwischen schmerzhaft zusammengebissenen Zähnen hervor.

Eine junge Frau kauerte vor der Bühne und weinte herzzerreißend, neben ihr schrie eine alte Mutter ihren Schmerz in den Himmel hinaus. Ein kleines Mädchen wurde von drei älteren Brüdern mit steinernem Gesicht festgehalten, es versuchte immer wieder, ihnen zu entkommen und auf die Bühne zu klettern.

Spinell ballte die Fäuste so fest, dass seine Fingernägel in sein Fleisch schnitten und Blutstropfen hervorquollen.

Zirkon wandte schmerzerfüllt den Blick ab, und Pyroxen hämmerte seine geballten Fäuste gegen eine Säule.

„Scheiße!“

Er kannte einen der jungen Männer dort. Er hatte heute Morgen auf dem Marktplatz noch mit ihm gesprochen. Es war Calcit.

Stumme Tränen liefen Medusa über ihr Gesicht. Sie stand vor dem Beweis, dass ihr Vater tot war. Er hätte niemals jemanden erhängen lassen. Mit diesen Männern starb ein Stück von ihr.
 

***
 

Der Rückweg verlief in absoluter Stille. Medusa war bereits wieder in den Palast zurückgekehrt, sie hatte, als die Männer sich nach scheinbar unendlich langer Zeit zu ihr umdrehten, alle Tränen vergossen gehabt, die sie hatte. Trotzig starrte sie die Vier an.

„Das darf nicht sein“, fauchte sie wie eine wütende Katze. „Ihr seid verantwortlich. Tut irgend etwas.“

Niemand hatte etwas erwidert.

Angesichts der Grausamkeit des Rah-Ten, drei Männer hinzurichten, öffentlich, ohne Scheu, waren sie sprachlos.

Sie schwiegen noch immer, als sie die Tür aufzogen, die zu ihrem Hauptquartier führte, und nacheinander aus der Helligkeit des Tages in die Dunkelheit eintraten. Ihre Augen brauchten eine Zeit, bis sie sich an das Dämmerlicht gewöhnten.
 

Licht flammte auf, blendend hell.
 

Erschrocken hoben die Herren der Winde die Hände, um ihre Augen abzuschirmen.
 

„Im Namen des Sechzehnten Rah-Ten von Xjunta: Ihr seid festgenommen, ihr dreckigen Rebellen! Widersetzt euch uns und werdet verletzt in den Kerker geworfen oder kommt friedlich mit uns als unsere Gefangenen. Der Rah-Ten erwartet euch bereits.“

Aus der Kohlepfanne...

Wisst ihr, was schlimm an der Sache ist? Dass ich nicht weiß, für wen ich das hier tue. Aber ich bringe die Dinge zu Ende, die ich einmal begonnen habe, und folglich lade ich auch die ganze Geschichte der Herren der Winde hier hoch. Dann werde ich mich vermutlich löschen. Am Ende dieses Jahres wahrscheinlich. Mal sehen. Bis dahin wünsche ich allen, die das hier lesen, viel Spaß dabei. Aber da es keiner zu lesen scheint, interessiert es wahrscheinlich auch niemanden. Also dann. Noch 4 Kapitel, so weit ich weiß.
 

~***~
 

Die Kerkerzelle war stinkig und feucht, dunkel und im Ganzen einfach ungemütlich. Kein Ort, an dem man sich unter gewöhnlichen Umständen freiwillig mehr als 10 Minuten lang aufhielt.

Kameen, Zirkon, Pyroxen und Spinell waren nun schon seit dem Mittag des vorangegangenen Tages hier unten. Gezwungenermaßen, verstand sich von selbst.

Ihr Aufenthalt war begleitet vom Rasseln der Ketten um ihre Fußgelenke, vom Stampfen der harten Stiefelabsätze der Soldaten, wenn die Wächter wechselten und vom Schaben der Ratten im modrigen Stroh. Und ein paar Mal waren sie von Hauptmännern des Rah-Ten „befragt“ worden.
 

„Au“, stöhnte jemand verhalten, und Ketten rasselten in Kameens Nachbarzelle.

„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt und versuchte, die hämmernden Kopfschmerzen, die ihn bereits seit zwei Tagen begleiteten, in den Hintergrund zu drängen. Seine rechte Wange war geschwollen, und etwas lief ihm über die Stirn, warm und klebrig – er nahm an, dass es sich dabei um Blut handelte, welches aus einer Wunde an seiner Stirn stammte. Sein Kopf hatte vor nicht all zu langer Zeit gewaltsam Bekanntschaft mit dem harten Steinboden des Palastes gemacht.

„Ja“, sagte Zirkon schwach. „Mein Rücken tut weh...“

Das war kein Wunder. Kameen hatte nur einen kurzen Blick im dämmrigen Licht der wenigen Fackeln darauf werfen können, er war überzogen mit Striemen. Kreuz und quer zogen sie sich, der Hauptmann war nicht zimperlich mit der Rute gewesen. Pyroxen, den es wahrscheinlich am Stärksten erwischt hatte, weil er sich mit seinem frechen Mundwerk zur Wehr gesetzt hatte, knallte die Faust gegen das Gitter, welches seine Zelle vom Flur trennte, ungeachtet seiner ausgekugelten Schulter.

„Wenn ich diesen Mistkerl in die Finger bekomme, der uns verraten hat!“

Spinell schnaufte höhnisch von der anderen Seite des Flurs. „Ein Kerl, ja?“

„Was willst du damit sagen?“, fragte Kameens Stimme aus dem Dunkel, welches sie alle umgab, sie einhüllte und sich wie Watte über ihre Ohren legte, so dass ihre Stimmen plötzlich so laut erschienen wie nie zuvor. Niemand antwortete, weil alle den selben Gedanken hatten.

Die Dunkelheit wirkte bedrohlich.
 

Flashback:

„Hier sehen wir uns also wieder!“

Der Hauptmann sah Kameen feixend an. „Und diesmal ist sicher, dass du schuldig bist. Dein Vater kann dich jetzt nicht mehr aus der Affäre ziehen ---- du bist auf frischer Tat ertappt worden!“

Trotziges Schweigen folgte seinen Worten, als der Anführer der Herren der Winde den bulligen Hauptmann hasserfüllt anstarrte. Dem wurde ein wenig mulmig.

„Was habt ihr als nächstes geplant?“

Stille.

„Wer war euer Informant im Palast?“

Nichts.

Er hätte genausogut mit einem Stein reden können.

„Antworte mir!“

Klatsch.

Kameen unterdrückte einen Schmerzenslaut, als der Mann ihm brutal ins Gesicht schlug.

„Wirst du mir wohl antworten, du Ratte?“

Die nächste Ohrfeige warf Kameen aus dem Stuhl, auf dem er saß, er landete auf dem Boden. Ohne seine Hände zum Aufstützen, die ihm auf dem Rücken zusammengebunden waren, konnte er sich nicht abfangen und sein Kopf schlug hart auf den Steinfliesen auf.

Sekunden verblassten zu Minuten, Minuten zu Stunden. Es spielte keine Rolle. Kameen biss die Zähne zusammen – er hatte versagt. Auf der ganzen Linie. Es war ihm weder gelungen zu helfen, noch seine Freunde zu beschützen. Er hatte sie alle enttäuscht.
 

„Du da!“

Ein Wächter trat mit klirrenden Schlüsseln an die Zellen, in der die Rebellen langsam die Köpfe hoben.

„Du bist doch Spinell Vega-Ban? Mitkommen!“

„Und wenn nicht?“, sagte der Angesprochene trotzig.

„Dann...“

Die Drohung blieb in der Luft hängen als der Wächter eintrat und ihn brutal an den Armen in die Höhe zog.

„Komm!“
 

Spinell war stark.

Vielleicht hätte er auch im Normalfall gegen einen Einzelnen Wächter gewinnen können, aber er war geschwächt, hungrig und verletzt. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu folgen.
 

***
 

„Reichtum hat also auch solche Vorteile.“

Der Raum, in den Spinell geführt wurde, war karg und leer, und in seiner Mitte stand ein einzelner Mann.

„So begrüßt mich also mein Sohn, der seit Wochen verschollen ist und von Rebellen als Geisel genommen wurde?“

„Dein Sohn? Eher dein Bastard.“

Der reichste und zweitmächtigste Mann Xjuntas, Anthrazit Vega-Ban, Oberhaupt des Hauses Vega-Ban, sah sich im Wachraum um.

„Dass du die Gesellschaft dieser Leute unter diesen Umständen dem Haus Vega-Ban vorziehst, ist mir unbegreiflich. Du hättest den Wächtern erklären können, dass du eine Geisel warst, statt gegen sie zu kämpfen, wie man es mir berichtet hat. Dann wärst du längst wieder zu Hause.“

Beinahe hätte Spinell verbittert aufgelacht. „Zu Hause?“

„Warst du freiwillig bei diesen .... Rebellen?“

Spinell schwieg und rieb sich die Handgelenke, wo die Fesseln sich in die Haut eingeschnitten hatten. Er sah den Mann vor ihm nicht an.

Der schloss die Augen und atmete tief durch, als müsste er sich davor bewahren, etwas zu sagen, das er später bereuen würde.

„Ich bin hier, um dich wieder mitzunehmen.“

Der Angesprochene stockte.

„Mitzunehmen?“

„Nach Hause, wohin sonst.“

„Und was ist mit Kameen, Zirkon und Pyroxen?“

„Heißen so diese...“

„Meine Freunde?“

Es war das erste Mal, dass Spinell sie so nannte, aber als er es aussprach, merkte er: Es war die Wahrheit. „Ja, das sind sie.“

„Nun, für sie kann ich nichts tun. Du kennst die Regeln.“

Spinell kannte sie nur zu gut. Familie stand an erster Stelle. Alles Andere war unwichtig, egal ob Menschen oder Dinge.

„Dann bliebe ich auch hier.“

„Wie bitte?“

Anthrazit Vega-Ban zeigte zum ersten Mal eine Regung, als er seinen Sohn fassungslos anstarrte.

„Du hast mich schon verstanden. Ich bliebe hier, so lange sie auch hier sind.“

„Was interessiert doch so an ihnen?“

Wütend starrten sie sich an, aber es war Spinell, der den Blick abwandte.

„Ihre Sache“, sagte er leise. „Sie kämpfen für die richtige Sache. Ich werde ihnen helfen, wenn ihr es schon nicht tut, ihr, die ach-so-mächtigen Obersten Vier. Ich habe gesehen, wie sie leben. Das kann so nicht weiter gehen – es muss sich ändern.“

Stumm erwiderte er den Blick des älteren Mannes, dem zum ersten Mal in seinem Leben die Worte fehlten.

„Gut“, brachte er schliesslich heraus. „Wenn es das ist, was du willst, dann bleib hier und werde zusammen mit deinen „Freunden“ gehenkt. Sie interessiert es doch nicht, ob du stirbst oder nicht – sie sind nur gewöhnliche Bürger. Sie würden dich ohne mit der Wimper zu zucken verraten und zusehen, wie du stirbst.“

„Und wenn?“, fauchte Spinell und verlor die Beherrschung. „Es interessiert dich doch auch nicht, ob ich sterbe! Lass mich in Ruhe!“

Ohne ein weiteres Wort verliess sein Vater den Raum.
 

***
 

Zirkon keuchte leise auf, als der Stoff seines zerfetzen Hemdes die Wunden auf seinem Rücken berührten. Es tat weh...

Aber eine andere Sache schmerzte ihn noch mehr. Die Ra-Cria. Medusa würde sie nicht verraten haben, oder? Sie war ihm so freundlich und vertrauenerweckend erschienen. Was war passiert? Wer hatte dem Rah-Ten gesagt, wo er die Herren der Winde finden konnte? Medusa stand ihm von allen ihren Mitgliedern am Nächsten. Aber wenn sie es nicht getan hatte, wer dann? Wen hatte der Rah-Ten bestochen?

Der blonde Mann biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, um den Verdacht loszuwerden. Er war sich sicher, dass die Prinzessin sie nicht verraten hatte.
 

Flashback:

Hitze lag über den Straßen und über dem Marktplatz wie eine Leichendecke. Ohne von seiner Arbeit aufzusehen, wischte sich Zirkon unwillig mit dem Arm über die Stirn, um die Schweißtropfen zu vertreiben, die ihm stetig über das Gesicht liefen. Er musste sich etwas mitbringen, um seinen Kopf zu bedecken, wenn er morgen nicht mit einem Sonnenstich im Bett landen wollte... Seine Arbeit konnte er nicht im Stich lassen. Sie war lebensnotwendig für seine Eltern und seine Geschwister. Als Gehilfe eines Töpfers wurde er schlecht bezahlt, denn eigentlich konnte der Mann sich selbst keinen Assistenten leisten. Aber es war halbwegs bezahlte Arbeit, und der Töpfer war froh, eine so kompetente Person gewonnen zu haben wie Zirkon.

Die Feder, mit der er den Verkaufserlös des Tages in ein fleckiges Heft eintrug, kratzte laut und unangenehm. Die Stimmen der Menge um ihn herum flossen zusammen wie zäher Zuckersirup und bildeten einen undurchdringlichen Teppich über seinen Ohren...

Und ein Schatten fiel auf ihn.

„So trifft man sich“, sagte die Ra-Cria und sah mit funkelnden Augen auf den knienden Mann hinab. Sie war gekleidet wie ein Mädchen aus einfachem Hause, etwa einer Mittleren Familie, und eine Dienerin trippelte nervös hinter ihr auf und ab. „Ich wusste gar nicht, dass du Lesen und Schreiben kannst.“

Im ersten Moment war er sprachlos, sie hier zu sehen, und obendrein noch zu erleben, wie sie ihn ansprach. Aber in ihren Augen lachte der Humor, und sie wirkte wie ein unbeschwertes Mädchen, welches sich für – zugegebenermaßen doch recht schöne – Töpferware interessierte.

„Ich hab es mir selbst beigebracht“, sagte er schliesslich und sah sie nicht an, um die leichte Röte in seinen Wangen zu verbergen. „Ich liebe es zu lesen.“

„Warum arbeitest du dann nicht in einer Bibliothek oder für einen reichen Händler? Viele Leute suchen einen persönlichen Assistenten. Sie wären froh, jemanden wie dich zu haben.“

Sie beäugte das Papier.

„Alle Rechnungen sind richtig, deine Rechtschreibung ist tadellos und deine Schrift überaus schön.“

„Ich darf nicht“, sagte Zirkon bitter und tauchte die Feder in ein kleines Fass Tinte neben ihm.

„Mitglieder des Untersten Volkes dürfen solche Arbeiten nicht mehr erledigen.“

Von der Art, wie sie ihre Brauen hochzog, sah er, dass sie nichts davon gewusst hatte.

„Wirklich“, versicherte er. „Ich habe es versucht, aber seit vor sechs Tagen der Aushang überall hängt, haben ziemlich viele Menschen ihre Arbeit verloren. So wie ich.“

Die Ra-Cria fuhr fort, in anzustarren.

„Das kann nicht sein“, sagte sie und ballte die Fäuste fest. „So grausam kann der Rah-Ten doch nicht sein.“

Zirkon schwieg, und sein Schweigen war Antwort genug für Medusa.

„Das kann er nicht machen!“, zischte sie. „Das ist...“

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verschwand in der Menge, ihre Zofe im Schlepptau.
 

***
 

Kameen seufzte tief auf.

„Ist euch niemand in der letzten Zeit verdächtig vorgekommen?“, fragte er zum Hundertsten Mal seine Freunde.

„Wir haben offensichtlich einen Spion bei uns gehabt. Wie kann er uns durch die Maschen geschlüpft sein?“

Zirkon und Spinell schwiegen, aber Pyroxen erhob seine Stimme.

„Es muss doch jemand gewesen sein, der ziemlich neu war, oder?“

„Ja, aber er könnte auch schon länger bei uns geblieben sein und erst letztens entschieden haben, dass die rechte Zeit gekommen war“, gab Zirkon zu bedenken, und Spinell nickte abwesend.

„Klingt logisch. Trotzdem, lasst uns nachdenken: Wer ist in letzter Zeit neu dazugekommen?“

Stille.

„Niemand, an den ich mich speziell erinnern kann“, sagte Pyroxen schliesslich.

„Sicher?“

„Ja, eigentlich schon... Oder?“

Plötzlich sah Pyroxen einen recht kleinen Mann vor sich, in dessen Gesicht die Schadenfreude nur so glänzte.

„Scheisse“, stiess er heraus.

„Was?“, fragte Kameen besorgt.

„Dieser Mistkerl!“ Pyroxen fluchte mit Ausdrücken, die Spinell das Gesicht verziehen liessen, aber niemand kümmerte sich darum.

„Ich glaube, ich weiß, wer es war.“
 

Flashback:

Stumm stand der Mann vor Pyroxen.

Eine farblose Tunika, bequeme Sandalen, abgenutzt und geflickt, ein Allerweltsgesicht von der Sorte, die man nach einmaligem Sehen sofort wieder vergaß. Der angebliche Wächter, der ihnen helfen wollte, weil seine Familie vom Rah-Ten gefoltert und getötet worden war... Wenn diese Geschichte stimmte, wollte Pyroxen einen Besen fressen! Aber so sehr er auch überlegte, der Name diesen Mannes wollte ihm einfach nicht einfallen. Calcit hatte ihn dazu gehholt, Calcit, dessen Brüder und dessen kleine Schwester noch immer über seinem Verlust trauerten... Calcit, der vertrauensselige, naive Calcit... Diese Dummheit hatte ihn und seine drei Freunde also das Leben gekostet.

Pyroxen ballte die Fäuste und schlug immer und immer wieder gegen die harte, rauhe Steinwand, bis seine Finger glitschig waren vor Blut. Das war er also gewesen, dieser Verräter.

Das würde er büßen.
 

***
 

„Gut gemacht, Tigerauge!“, lachte der Rah-Ten kehlig. „Du hast deine Aufgabe zu meiner vollsten Zufriedenheit erfüllt. Du wirst wie versprochen reich belohnt werden.“

Tigerauge grinste und verbeugte sich tief. Er war der Diener seines Herren. Was immer der auch von ihm befahl, er würde da sein, um den Befehl auszuführen.

Der Spion lebte noch einen Tag.

Medusa hatte genug von Kameen gelernt, um zu wissen, dass Mondblumenextrakt, der gepresste Blütenstaub der Mondblüte, auch in geringsten Portionen tödlich war.

Ein Kelch Wein vor dem Schlafengehen, mehr gönnte sich der durchtriebene Spion nicht.

Mehr war auch nicht nötig.
 

***
 

Wie eine eingesperrte Tigerin lief Medusa in ihren Räumen auf und ab.

Von der Tür zum Fenster, quer über den Teppich und am Sofa vorbei waren es 51 Schritte, von der Frisierkommode bis zum Bett auf der gegenüberliegenden Seite 48.

„Verdammt!“

Die Worte, die seit geraumer Zeit ihren Mund verließen, hätten selbst Pyroxen erröten lassen.

„Ra-Cria!“

Ihre alte Amme sah sie strafend an, während ihre Zofe sich verängstigt in den angrenzenden Raum drückte und nur den Kopf durch die Tür geschoben hatte, um zu sehen, was ihre Herrin da so tat.

„Schon gut!“, winkte Medusa ab. Ihre Amme trat durch die Tür, die das Schlafzimmer vom Ankleideraum trennte, nahm sie an der Hand und führte sie zum Sofa.

„Was quält dich, meine Kleine?“

Hilflos liess sich die junge Frau in den Arm nehmen.

„Was soll ich nur tun?“, flüsterte sie erstickt, und die alte Frau strich ihr über ihre rostroten Locken.

„Du wirst das Richtige tun“, sagte sie leise und tröstend.

„So wie deine Mutter. Sie hat auch immer das Richtige getan. Ach... Du ähnelst ihr so sehr!“

Medusa schwieg.

Das Richtige?

Wer konnte schon sagen, was das Richtige war? Niemand befand sich in ihrer Situation. Niemand konnte nur im Ansatz verstehen, was sie quälte...

Dann straffte sie die Schultern. Genau, niemand konnte ihr sagen, was sie tun sollte. Sie musste einfach Irgendetwas tun statt hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen.
 

Erstaunt sah die junge Zofe zu, wie ihre Prinzessin an ihr vorbei in die Garderobe stürtze wie ein Wirbelwind und in Windeseile Ketten, Armreifen und Schleier ablegte. Ihr leichtes, aber nichtsdestotrotz elegantes Kleid folgte. Sie griff sich den einfachsten Rock, den sie fand, und eine abgewetzte Tunika. Erschrocken wohnte die Zofe der Verwandlung einer Prinzessin in ein gewöhnliches Mädchen bei.

Dann stürmte Medusa wieder ins Schlafzimmer und umarmte ihre Amme stürmisch.

„Ich bin bald wieder da, Nana, mach dir keine Sorgen!“

Die alte Frau stöhnte nur, erwiderte die Umarmung jedoch liebevoll. „Ja, ja. Pass auf dich auf, Kind.“

Und schon war die Ra-Cria aus dem Schlafzimmer in den Vorraum gestürzt.

„Aber!“ Nun endlich fand die Zofe den Atem, um empört aufzukeuchen. „Aber sie kann doch nicht einfach...“

„Tst, Tst!“

Die alte Amme schnalzte mit der Zunge.

„Sie kann nicht? Unterschätze die Ra-Cria nicht, Mädchen!“
 

***
 

Der Wächter vor den Gemächern der Ra-Cria langweilte sich in Grund und Boden. Aber einen Vorteil hatte diese Wache doch – hier drinnen gab es keine Sonne... Obwohl – ob das ein Vorteil war? Rito fror fast in der kühlen Dunkelheit vor der großen Sandholztür. Früher hätte niemand vor dieser Tür zu stehen brauchen – aber seit die Ra-Cria sich mehrmals unerlaubt vom Palast entfernt und sich in Gefahr begeben hatte, in dem sie ohne Leibwache auf den Markt gegangen war, liess der Rah-Ten seine Tochter bewachen. Der junge Wächter hatte so seine eigenen Ideen, was die Ra-Cria auf dem Markt wohl so unternahm, wenn sie der strengen Bewachung des Palastes entfloh...

Er lachte in sich hinein.

Alle Mädchen sehnten sich doch nach einem Freund!

Ein leises Räuspern unterbrach seine Gedanken, und er fuhr auf.

„Was...“

Vor ihm stand eine junge Dienerin. Ihr rotgoldenes Haar war offen und fiel in schönen Wellen über ihre Schultern, sie trug einen einfachen Rock und ein Schultertuch.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte Rito, nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hatte, charmant.

Das Mädchen schlug scheu ihre Augen nieder.

„Meine Herrin hat gesagt, es ist Eure Aufgabe, niemanden aus dem Gemächern der Ra-Cria zu lassen, ist das richtig?"

„Ja“, sagte Rito stolz. „Wir Wächter sollen die Prinzessin Tag und Nacht bewachen.“

„Oh“, kam es leise vom Mädchen, und ihre Mundwinkel sackten nach unten.

„Warum fragst du?“, wollte der junge Wächter wissen.

„Wolltest du hinaus?“

„Genau“, flüsterte sie erstickt und zu seinem großen Entsetzen füllten sich ihre Augen mit Tränen.

„Ich wollte... Ich meine, er wartet schon Tage lang...Ich konnte ihm nicht einmal einen Brief schreiben. Ich...“

„Aber, aber...“, versuchte Rito sie zu beruhigen.

„Alles wird wieder gut, du wirst sehen.“

Die Dienerin schluchzte auf, und ihre Haare fielen über ihr schönes Gesicht.

„Meinst du deinen Freund?“

„Er ist mein Verlobter.“ Sie schniefte und wischte mit dem Handrücken die Tränen fort. „Ich vermisse ihn so!“

Unbehaglich wand sich Rito. Einerseits hielt er sich fest an seine Befehle. Andererseits – was barg es schon für ein Risiko, eine einzige Dienerin für ein paar Stunden hinauszulassen? Sie würde schon keine Rebellion anzetteln. Und nun, da die sogenannten Herren der Winde in den Kerkern des Rah-Ten schmorten, waren die verstreuten Aufständischen kein Problem mehr.

„Also gut“, sagte er leise. „Geh schnell, ehe dich jemand sieht. Und sei bis Sonnenuntergang wieder da, dann endet meine Wache.“

Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an. „Was meint Ihr damit?“

„Los doch, geh schon und besuch deinen Verlobten!“ Ich kann einfach keine Mädchen weinen sehen, dachte Rito unbehaglich. Er drehte sie an ihren Schultern um und gab ihr einen leichten Stoß. „Und schnell!“

Von dem Lächeln, welches sie ihm zuwarf, bevor sie im dunklen Gang verschwand, schmolz sein Herz.
 

Zufrieden raffte Medusa ihren Rock und stürmte davon.

Sie hatte nicht gewusst, dass sie eine so überragende Schauspielerin war.
 

***
 

Das Lokal war dunkel, verraucht und stank nach Pfeifentabak, Alkohol, und – in geringen Massen – Erbrochenem. Es war eine der Arbeiterkneipen, in denen sich die Männer aus den Bazaar-Vierteln nach einem langen und schweren Arbeitstag trafen, um bei einem oder zwei Krügen alkoholhaltiger Getränke zu „entspannen“, wie man sagte. Hier wurde das hart erarbeitete Geld des Tages des Nachts zum Teil auch bereits wieder versoffen.

Medusa schüttelte es, als sie eintrat, sie bekam kaum Luft. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an das dämmrige Licht. Als zweites bemerkte sie, dass es still geworden war.

Sämtliche Augen richteten sich auf sie.

Zuerst befürchtete sie, dass man sie erkannt hatte, aber dann kam die Erleuchtung: Mann starrte sie an, weil Frau in einer Kneipe erstens selten und zweitens ungern gesehen war.

„Hey!“, rief plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund. „Hast du dich verlaufen, Kleine?“

Damit war der Bann gebrochen. Dröhnendes Gelächter kam auf, von allen Seiten rief man ihr Sprüche, Einladungen und Anmachen entgegen. Verbissen kämpfte Medusa sich durch die Masse, ignorierte sämtlich die Menschen, die sie ansprachen, trat einem Mann, der sie am Allerwertesten begrabschen wollte, zwischen die Beine und setzte ihre Ellenbogen gegen einige allzu aufdringliche Bewerber ein. Im Stillen dankte sie Spinell und Kameen für einen Trainingskampf, dem sie beigewohnt hatte und nachdem ihr Beide eine Kurzeinführung in die Selbstverteidigung gegeben hatten. Und schliesslich stand sie vor dem Barmann.

Der Gastwirt musterte sie misstrauisch.

„Fräulein?“

Die höfische Anrede „Mylady“ wurde in den Bazaar-Vierteln nicht benutzt.

Medusa rief sich ins Gedächtnis zurück, was Zirkon und Pyroxen sie gelehrt hatten, und bestellte.

„Einen Becher Trisana-Limonade, bitte.“

Plötzlich wandte ihr der Wirt seine vollste Aufmerksamkeit zu – und sein vollstes Misstrauen.

„Mit oder ohne Tris-Blüten?“

„Mit, aber bitte ohne Fruchtfleisch.“

Der stämmige Mann musterte sie von oben bis unten, dann öffnete er eine Tür so dass sie hinter den Tresen treten konnte.

„Kommt mit, Lady.“

Medusa betrat den Raum hinter der Gaststube.
 

In dem mit Laternen erhellten Raum saß eine nicht zu schätzende Anzahl Männer und unterhielt sich zwanglos. Becher mit kaltem Siruuk-Bier gingen um, und die alkoholische Flüssigkeit füllte die Luft mit einem betäubenden Geruch. Als Medusa und der Wirt eintraten, verstummten augenblicklich alle Gespräche, und alle Gesichter wandten sich der jungen Frau zu. Es war wie im Schankraum.

„Sie wollte zu euch“, sagte der Wirt kommentarlos und verließ wieder den Raum, und Medusa lieb allein zurück, den mißtrauischen Blicken der Männer ausgesetzt.

Aber sie wäre nicht Medusa gewesen, wenn sie sich hätte einschüchtern lassen.

Vorsichtig zog sie eine Kette aus ihrem Ausschnitt hervor, zog sie über den Kopf und hielt sie hoch. Das vergoldete Abzeichen der Herren der Winde leuchtete auf.

„Die Vier sind in Schwierigkeiten“, sagte sie mit klarer Stimme, als das Raunen verstummte. „Der Rah-Ten hat sie gefangen genommen.“

„Du bist ein kluges Mädchen“, sagte ein älterer Mann spöttisch und prostete ihr zu. „Das haben wir auch schon festgestellt.“

Medusa richtete ihren Blick ohne zu zwinkern auf ihn. Es war der selbe Blick, den ihr Vater benutzte, um Menschen einzuschüchtern, und sie wollte ihn nicht verwenden. Aber hier kam sie ohne ihn nicht weiter.

„Dann helft ihnen. Und zwar schnell.“

„Und wie soll das gehen?“

Nun lachten die Männer verbittert und sahen sich gegenseitig an.

„Sollen wir streiken? Oder brauchen wir nur mit dem Rah-Ten zu sprechen und ihn lieb fragen? Oder uns selbst an ihrer Statt ausliefern?“

„Das hätten sie nicht gewollt“, stellte Medusa klar.

„Na dann... Sie ist traurig, diese Situation, aber wir müssen auch an uns denken. An unsere Familien. Wenn wir gefangen genommen werden und sterben, geht es ihnen noch schlechter als zuvor.“

Noch immer verzog die Prinzessin keine Miene, aber ihre Stimme und ihre Augen waren kalt wie Eis.

„Ihr erwartet, dass sich etwas ändert, aber ihr tut nichts, um Veränderungen herbeizuführen. Ihr erwartet, dass jemand euch hilft, aber ihr helft nicht. Ihr erwartet, dass euch jemand schützt, aber ihr selbst schützt nicht. Ihr wünscht euch Gerechtigkeit, aber ihr tut nichts, um für sie zu kämpfen. Sobald es um euer Leben geht, kneift ihr. Wie lächerlich.“

Mit einem Ruck entzog sie dem offenkundigen Anführer ihre Kette, der es in der Hand gedreht und gewendet hatte und es nun nicht wagte, sie anzusehen.

Die Wut kochte glühend heiß in Medusa, aber ihre Haltung strahlte bittere Kälte und Verachtung aus. Die Männer hatten nicht viel zu ihrer Verteidigung gesagt, aber sie wusste, was kommen würde und sie wollte es nicht hören. Es war also doch immer das Selbe.

„Nun?“, fragte sie auffordernd. „Was sagt ihr?“

Ungemütlich blickten die Männer an ihr vorbei. „Wir können nicht“, murmelten sie. „Zu gefährlich.“

„Gut!“, fauchte Medusa.

Unter ihren erbarmungslosen Blick sanken die Männer in sich zusammen.

„Dann gehe ich und sehe nach, ob alle Männer dieser Stadt so erbärmliche Feiglinge sind wie ihr!“

Die Tür flog krachend hinter ihr zu, als sie hinausstürmte.
 

***
 

„Und jetzt?“, fragte Kameen erschöpft in die Dunkelheit hinein.

Wie lange er schon dort unten saß, in einem dunklen Kerker, konnte er nicht sagen. Gewöhnt an die Hitze des Tages und die Grelle der Wüstensonne, fühlte er sich hier unten verloren, völlig desorientiert und verlasen. Tage wurden zu Stunden, zu Minuten, zu Sekunden...

„Mein Vater“, sage Spinell, wohl wissend, dass es sich sowieso nicht mehr lohnte, um den heißen Brei herumzureden, und alle horchten auf. „Er war hier.“

„Ah“, sagte Kameen in die Richtung hinein, in der er seinen Freund vermutete. „Dein Vater?“ Spinell antwortete nicht.

„Aber du bist immernoch hier“, fasste der Andere zusammen. Er konnte sich Spinells charakteristisches Schulterzucken lebhaft vorstellen.

„Aua“, stöhnte Zirkon und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich.

„Wie geht es dir?“, wollte Pyroxen besorgt fragen, aber es wurde ein Flüstern darauf. Seine wunde Kehle verweigerte den Dienst, nach dem sie Wassermangel und quälenden Husten hatte erleiden müssen. Kameen ballte die Fäuste. Es hätte so wenig gefehlt, um seinen Freunden zu helfen, und doch... Doch konnte er es nicht.

„Gut“, sagte Zirkon leise. „Mein Fuß ist geschwollen. Nichts Schlimmes.“

Nichts Schlimmes. Nichts Schlimmes. Am liebsten hätte er auf etwa eingeschlagen, hätte den Rah-Ten und alle seine Wächter höchstpersönlich erwürgt für das, was sie ihnen antaten...

Das Klirren der Kellerschlüssel liess ihn auffahren.

Unangenehm rieben die Fußfesseln, als er zum Gitter kroch.

Die Schritte, die nahten, waren anders als die der Wächter, bedächtig und leicht und vorsichtig. Was es wieder für eine Falle war, eine neue, ausgeklüngelt grausame Methode, um sie zum Sprechen zu bewegen? Ein Lichtschein kroch den Gang hinunter, und er schirmte seine Augen ab, bis er sich blinzelnd an die Helligkeit gewöhnt hatte. Die Silhouette der Person kam immer näher, bis sie schliesslich vor seiner Zelle stehen blieb...

Und Kameen keuchte vor Überraschung laut auf. Dies war die Person, die er am Wenigsten hier erwartet hätte...
 

„Ra-Cria!“
 

Spinell, Pyroxen und Zirkon fuhren auf.

„Was macht Ihr hier?“

„Pst!“, beschwor die Prinzessin und legte einen Finger auf die Lippen. „Ich will euch befreien“, flüsterte sie. „Schnell, wir müssen weg sein, bevor die Wachen...“

Sie machte sich am Kerkerschloss zu schaffen.

Entsetzt sah Kameen zu.

„Ra-Cria, das ist zu gefährlich! Ihr könntet...“
 

BAMM,
 

wurde die große, sperrige Tür zum Kerker oben an der Treppe aufgeworfen, und wütende Stimmen wurden laut.

„Ra-Cria!“ Zirkon schrie beinahe vor Sorge. „Schnell, haut ab! Sie dürfen Euch nicht finden!“

Aber Medusa hantierte noch immer am riesigen, unhandlichen Schlüssel herum der im Loch des Schlosses zu Kameens Zelle steckte. Sie konzentrierte sich nur auf ihre Aufgabe, ihre Freunde zu befreien, und brachte sich selbst dabei in tödliche Gefahr... Die schweren Stiefel polterten die Treppe hinunter, ein Lichtschein kam immer näher und näher und laute Stimmen riefen nach Verstärkung. Panisch sah Kameen an Medusa vorbei in den Gang. Sie durfte nicht hier gefunden werden, nicht hier, nicht jetzt, nicht so...

Zu spät.

Ein Lichtschein fiel um die Ecke, erst schwankend, dann immer ruhiger, während die widerhallenden Schritte schon so nahe waren, dass man das Quietschen des Leders auf dem Steinfußboden hören konnte.

Noch immer klemmte der Schlüssel im Schloss, noch immer sah die Ra-Cria nicht auf.

Zu spät.

... Ins Feuer

Medusa Rah-Xjunta, Tochter des Rah-Ten, hatte trotz der recht bescheidenen Anzahl von Lebensjahren, die sie besaß, schon recht viel erlebt und mitangesehen.

Mit vier Jahren, mit dem Tod ihrer Mutter, der Rah-Tea, hatte ihre unbeschwerte Kindheit geendet. Von da an war sie, weitab von ihrem Vater, von einer alten Amme aufgezogen worden, die bereits ihre Mutter erzogen hatte.

Die Entfernung zu ihrem Vater war nicht räumlich groß.

Die emotionale Distanz zwischen ihnen wuchs jedoch mit jedem Tag, den der Kaiser Xjuntas, einst Obsidian D’u Tral, seine Tochter ignorierte. Nach der Ermordung von Aragona Rah-Xjunta, Tochter des letzten Rah-Ten, hatte er sich in seinen Gemächern verschlossen und liess weder seine Berater noch seine Freunde und auch nicht seine Tochter hinein. Er aß wenig und wurde von Tag zu Tag blasser und dünner. Er wusch sich nicht, kämmte sich nicht, wechselte seine Kleidung nicht.

Ohne seine Frau im Wahnsinn versinkend, nährte er den Hass gegen ihre Mörder und damit gegen die Mitglieder der Unterschicht der Stadt, die ihm anvertraut worden war. Natürlich gehörte nicht jeder Mensch des Untersten Volkes zu den Sandpiraten, die Aragona vergewaltigt und ermordet hatten. Aber die von Trauer und Hass verschleierten Augen Obsidians machten keinen Unterschied zwischen Schuld und Unschuld.

Und als er nach Wochen des Grübeln wieder den Thronsaal betrat, war er ein anderer Mensch.

Eine einzelne Träne lief Medusa die Wange hinunter und tropfte auf den Boden. Sie hatte es versucht, immer und immer wieder, hatte versucht, ein noch so kleines Stück ihres Vaters in der Person zu finden, die der Rah-Ten heute war.

Es war umsonst gewesen.

Das Einzige, was sie zustande gebracht hatte, war, dass sie noch mehr Menschen in ihren Kampf hineingezogen hatte. Nun waren noch mehr Menschen in Schwierigkeiten als vorher.
 

Hinter ihr donnerten Schritte den Gang entlang, Stahl kratzte, als die Wächter ihre Schwerter zogen.

„Ra-Cria! Was sucht Ihr hier unten? Tretet beiseite, diese Männer sind gefährlich!“

„Tut, was er sagt!“, hörte sie Zirkons flehende Stimme, als er versuchte, sie zu retten. Kameen sah sie beschwörend an.

„Ihr kennt uns nicht, Prinzessin! Bringt Euch nicht in Gefahr!“

Die Wächter hatten sie fast erreicht.

„Was ist, Ra-Cria? Bedrohen sie Euch? Sagt etwas!“

Medusa sah Kameen an, aber sie sprach zu allen Anwesenden.

„Jetzt ist genug. Ich lasse euch nicht im Stich und rette mich!“

Stolz richtete sie sich auf und drehte sich zu den Wächtern. In ihren Augen funkelte der herrische Blick, der jeden Menschen wünschen liess, sie mochte sofort aufhören, ihn anzustarren. Die Wächter schraken zurück.

„Das sind meine Freunde! Lasst sie frei!“, befahl Medusa herrisch.

Verblüfft starrten die Wächter auf die „schwache“ Prinzessin vor ihnen, die es wagte, ihnen Befehle zu erteilen.

„Wird’s bald? Lasst sie frei, ich befehle es euch!“

„Ra-Cria, wir haben die strikte Anweisung, niemand zu den Rebellen zu lassen. Kommt bitte mit uns.“

„Ich sagte, lasst sie frei!“

„Das wäre eine Zuwiderhandlung des Befehls des Kaisers. Bitte kommt nun.“

„Nein!“ Medusa klang fast hysterisch. „Ich gehe nicht!“

„Mylady...“

„Nein!“

„Medusa“, rief Zirkon, aber sie reagierte nicht. Das Einzige, was er erhielt, war eine Ohrfeige für seine Unverschämtheit, die Prinzessin mit ihrem Namen anzusprechen. Das brachte das Mädchen wieder zu sich.

„Nein“, wiederholte sie, nun ruhiger. „Ich gehe nicht, bis ihr sie freigelassen habt. Es sind meine Freunde!“

Die Wächter warfen sich vielsagende Blicke zu. Dann trat einer vor und packte die Ra-Cria an der Schulter.

„Mylady...“

„Fass mich nicht an!“ Medusa schlug seine Hand beiseite und ihre Fingernägel fuhren ihm über die Wange, hinterließen drei blutige Kratzspuren. Der Soldat holte aus.

„Du kleine, hinterhältige...“

„Nein!“, rief Zirkon, aber er konnte nichts tun. Genauso wenig wie Kameen, Pyroxen und Spinell.

Grimmig starrte Medusa den Wächter an. „Na? Schlag mich doch!“

„Du... Du...“
 

Wumm.

Krachend traf eine Faust auf weiches Fleisch.
 

Medusa, die die Augen unwillkürlich zusammengepreßt hatte, öffnete sie wieder, als der erwartete Schmerz ausblieb.

Blinzelnd starrte sie ins Fackellicht.

„Na, Prinzessin?“
 

***

„Ihr habt aber lange gebraucht“, beschwerte sich Medusa, während sie Zirkons geschwollenen Fuß mit einem langen Stoffstreifen bandagierte. Der liess die Behandlung ruhig über sich ergehen und gab keine Laut von sich, als ihre Hände über die Schwellung drifteten.

„Gut so, Prinzessin“, sagte Kameen, der sie überwachte, während er Pyroxens Schulter vorsichtig massierte, um herauszufinden, ob sie wieder eingerenkt werden musste. An seine eigenen Schmerzen dachte er gar nicht.

Um die Herren der Winde und die Ra-Cria herum standen, saßen, hockten oder knieten all Diejenigen, die gekommen waren, um ihre Anführer zu befreien und ihnen zu helfen.

„Es hat eine Menge Überzeugungsarbeit gekostet“, sagte ein junger Mann entschuldigend und schielte zu einem der Älteren hinüber, der mit abweisender Miene und gekreuzten Armen an der Wand lehnte. Medusa hatte beide bereits gesehen: Es war dieser Mann gewesen, der sie in der Wirtsstube abgewiesen hatte, in dem er sagte, dass sie ihr Leben nicht für Kameen und die Anderen opfern konnten. Der Jüngere war auch dort gewesen, aber er hatte sich sehr im Hintergrund gehalten. Medusa kannte seinen Namen nicht.

„Quarz“, sagte er lächelnd auf ihren fragenden Blick hin, und sie nickte erleichtert.

„Danke, Quarz. Das wäre um ein Haar schief gegangen.“

Kameen legte ihm eine Hand auf den Arm. „Wir haben euch eine Menge zu verdanken. Wie können wir das je wieder gut machen?“

„Du und die Anderen, ihr hättet das Selbe auch für uns getan.“ Verlegen blickte der junge Mann auf den Boden.

„So, so...“, murmelte Spinell.

„Bist du etwa anderer Meinung?“, fauchte Pyroxen ihn gereizt an und stöhnte auf. „Kameen, was machst du da?“

„Ich bringe deine Schulter wieder in Ordnung, du Jammerlappen! Sieh dir Zirkon an, er wird verarztet und gibt keinen Ton von sich!“

Der Braunhaarige grummelte. „Er wird ja auch von der Ra-Cria versorgt... Nicht der Rede wert.“

„Was meintest du, Spinell?“, fragte Kameen.

„Ich frage mich nur, ob wir hier noch ewig sitzen bleiben wollen oder ob wir uns jetzt aufrappeln und noch etwas tun? Wo wir schon mal hier sind.“

„Hier?“

„Im Palast?“

„Ach ja...“

Kameen sah in die Ferne.

„Nun, eigentlich heiße ich es nicht gut, jetzt beim Rah-Ten hineinzuspazieren... Wir sind geschwächt. Und es könnte falsch verstanden werden.“

„Was soll da falsch verstanden werden? Wir wollen ihn stürzen! Da gibt es nichts zu ver...“

Medusa unterbrach die Tirade des alten Mannes, der sich von der Mauer abgestoßen hatte.

„Ich stimme Kameen zu. Es wäre sogar sehr dumm, das nun zu tun, denn heute ist die alljährliche Große Ratsversammlung des Rates von Xjunta. Das bedeutet, selbst die Ratsabgeordneten der Mittleren Familien sind heute hier und können mit dem Kaiser sprechen.“

„Die Mittleren Familien?“

Dann war sein Vater da.... Kameens Herz machte einen Sprung. Bei dem selben Gedanken verzog sich Spinells Herz schmerzhaft.

Pyroxen durchschnitt die allgemeinen Vater-Gedanken mit seiner Stimme.

„Also weg hier, bevor sie uns bemerken – ich bin nicht scharf drauf, in eine Gruppe Menschen zu platzen, die uns hasst und die das Kommando über noch mehr Menschen haben, die uns noch mehr hassen. Vor allen Dingen unvorbereitet.“

„Aber die meisten Leute hassen uns nicht!“, widersprach Zirkon.

„Spielt keine Rolle“, sagte Kameen und renkte mit einem Ruck Pyroxens Schulter wieder ein.

„Willst du mich umbringen?!“, fuhr der ihn an, wurde aber nicht beachtet. Medusa zog Zirkon hoch, bevor der Einwand erheben konnte.

„Wir müssen raus. Wir haben zu viel Zeit vertrödelt!“

„Das ist doch hirnverbrannt!“

Der alte, sture Mann, der bisher geschwiegen hatte, sprang auf. „Jetzt, wo wir schon mal hier sind, sollten wir auch gleich da reingehen und den Rah-Ten ein für alle Mal beseitigen!“

Eisige Stille fiel über das Kellergewölbe.

Das war es wieder, dachte Kameen. Die Leute erkannten nicht, was die beste Vorgehensweise für die jeweilige Situation war. Nun, da sie dachten, sie wären Helden, weil sie unbemerkt in den Palast eingedrungen waren, wollten sie noch weiter gehen. Alle Vernunft wurde beiseite gelassen, um das zu erreichen, was sie sich schon lange wünschten: Gerechtigkeit. Aber was nützte die, wenn sie alle in ihrem eigenen Blut lagen? Konnten sie nicht sehen, dass Strategie und Planung wichtig war und nicht blindwütiger Hass?

Entsetzt über eben diesen Hass in der Stimme des Sprechers begannen alle Rebellen zu flüstern und zu tuscheln. Die Idee war ja nicht grundlegend schlecht... Sie waren im Vorteil, hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite... Und wenn sie nun mit dem Rah-Ten aufräumten, war das Problem ein für alle mal beseitigt...

Medusa wollte auffahren, aber Zirkon legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. Sie drehte sich fragend zu ihm um, und er zeigte mit dem Kopf auf Kameen. Der würde das schon regeln.
 

Kameen D’un Jatcha hatte schweigend und ohne die geringste Regung der Konversation zugehört. Niemand hätte anhand seines Gesichtes erraten können, was er dachte, als er nun vortrat.

„Gut, dann schleichen wir uns bis zum Ratszimmer vor, klopfen an, überraschen die Wächter und töten den Rah-Ten und die meisten Ratsabgeordneten schnell, bevor sie sich wehren können.“
 

Medusa blieb vor Schreck fast das Herz stehen.

Zirkon und Pyroxen lächelten, Spinell schaute weiterhin kalt und gleichgültig.

„Ja!“, riefen die Rebellen tatendurstig. „Lasst uns das machen!“

Kameen bedachte sie mit einem eisigen Blick und alle Worte gefroren in ihren Mündern.

„Und lassen uns unbewaffnet von den bewaffneten Wächtern abschlachten, die in der Überzahl sind, die ein spezielles Training genossen haben. Die anderen werden gefangen genommen und zu Tode gefoltert. Unsere Familien werden ohne uns verhungern und wir treffen uns alle im nächsten Leben und beginnen das ganze erbärmliche Dasein von vorne.“
 

Entgeistert starrten die Rebellen ihn an. Niemandem fiel auch nur etwas ein, das im Entferntesten gepasst hätte.
 

„Denn das ist es, worauf ihr es anlegt! Selbstmord! In diesem Palast sind viele Truppen stationiert, und ein Wächter kommt auf vier von uns! Sie kennen die Umgebung, alle Schleichwege, Abkürzungen und Geheimgänge. Sie kennen ihre Waffen, ihre Strategien und ihre Kampfgefährten! Glaubt ihr, dass ihr mit den zwei oder drei Stunden Nahkampftraining auch nur im Entferntesten an sie heranreicht? Glaubt ihr, ihr könnt euren Eltern, Frauen, Kindern und Geschwistern helfen, in dem ihr im Gefängnis landet? Glaubt ihr das im Ernst?“
 

Betroffene Stille.
 

„Bravo“, sagte Spinell, und zum ersten Mal ohne jeden Spott in der Stimme. „Gut gesagt, Kameen. Wir sind nicht hier, um Selbstmord zu begehen.“

„Aber wir müssen doch etwas unternehmen“, sagte Quarz verzweifelt. „Es kann nicht ewig so weitergehen. Zuschlagen und wieder verschwinden. Sich verstecken, das hält mit der Dauer niemand aus!“

Zirkon nickte ihm beruhigend zu.

„Keine Angst, deine Zeit wird schon noch kommen, schneller, als du es vielleicht wirklich möchtest. Nur ist jetzt nicht der richtige Augenblick.“

Er wandte sich an Medusa. „Wie kommen wir am Besten hier raus?“

Die Prinzessin, die den Palast kannte wie ihre eigenen Rockfalten, zögerte keinen Augenblick. „Am besten wäre es durch den Geheimgang in der Empfangshalle. Er endet dicht vor den Palastmauern. In der Halle sollten keine Wächter sein, aber eventuell davor. Und...“ Sie zögerte.

„Ja?“

„Um dort hinzukommen, müssen wir durch den Innenhof. Und der Empfangssaal liegt direkt vor dem Ratssaal, in dem die Abgeordneten nun tagen. Es ist gefährlich.“

„Gibt es einen anderen Weg?“

Nachdrücklich schüttelte das Mädchen den Kopf.

„Nicht, wenn ihr nicht durch das Haupttor marschieren wollt. Oder durch die Küche, so seit ihr doch hereingekommen, oder?“

Quarz nickte stellvertretend für alle Rebellen.

„Nun, ihr hattet wirklich Glück, dass die Köche eine Pause machen, bevor sie mit den Vorbereitungen für das Festmahl heute Abend beginnen. Ein paar Minuten später, und ihr wärt entdeckt worden, vermute ich.“

„Woher sollen wir wissen, dass Ihr die Wahrheit sagt? Ihr könntet genauso gut...“

Es war wieder der alte Mann, der an jedem Plan etwas auszusetzen hatte. Aber als Kameen ihn ansah, verstummte er, atmete tief durch und gab nach.

„Also gut. Wenn Ihr es sagt, Prinzessin, und ihr...“ – er nickte den vier Herren der Winde zu – „Dann werden wir eben alle verschwinden, als wären wir nie dagewesen.“

Er hob einen Finger.

„Was jedoch nicht heißt, dass wir nicht eines Tages mit Sicherheit zurückkommen werden, um den Kopf des Rah-Ten zu holen.“

Die Menschen um ihn herum murmelten zustimmend.
 

***
 

Auf den Treppen im Schloss war alles ruhig.

Die Rebellen schlichen aus dem Keller über eine breite Treppe hinauf bis in die dunklen, langen Flure der Palastes. Kein Lüftchen rührte sich.

„Wo sind die alle?“, flüsterte Zirkon Medusa zu, und sie hauchte zurück: „Die Große Ratsversammlung ist ein großes Ereignis. Alle Diener arbeiten entweder in der Küche oder sind anderweitig beschäftigt.“

Vier Wächter blieben zurück, gefesselt und geknebelt und in der hintersten, schallgedämpftesten Ecke des Kerkers. Medusa hatte nicht zulassen können, dass sie noch ein zweites Mal K.O. geschlagen wurden.

Kameen atmete erleichtert auf, als sie die Flure erreichten, aber er blieb angespannt. Von der Prinzessin geführt, schlichen sie durch die Korridore, am Ende Kameen, Zirkon, Spinell und Pyroxen, die den „Rückzug deckten“. Vor einer Ecke blieb die Ra-Cria stehen und spähte hinaus.

„Da ist niemand“, sagten Sekunden später ihre Hände zu Spinell und den Anderen. Die waren verblüfft. Keine Wächter vor der Tür zur Empfangshalle? Wenn das nicht verdächtig roch! Aber ihnen blieb keine Wahl.

„Geht!“, signalisierte Kameen. Medusa ging, bevor Zirkon Protest einlegen konnte.

Die große Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren, und erschrocken hielten sie an. Aber nichts rührte sich.

Auch in der großen Halle befand sich niemand.

Alle hielten den Atem an, als die Prinzessin hoch aufgerichtet und sicheren Schrittes die Empfangshalle durchquerte. Sie schaute lediglich einmal nach Rechts und links, bevor sie auf einen antiken Wandteppich zuhielt und davor Halt machte.

„Hier ist es!“

Als sie den Teppich beiseite zog, kam ein niedriger Gang hinter einer kleinen Tür zum Vorschein.

„Kommt!“, winkte sie den Rebellen, doch die wandten sich nervös an die Herren der Winde. Erst, als Kameen ihnen bedeutete, der Aufforderung zu folgen, kamen sie ihr nach und schlichen durch den Saal.

Atemlos hielten die Vier Freunde an der Tür Wache. Sie hatten ein schlechtes Gefühl, was diese Flicht betraf... Warum zeigte sich kein einziger Wächter? So wahr sie hier standen... Was war hier los?

Die kleine Geheimtür war so eng, dass nur eine Person auf einmal hindurch passte.

Ungeduldig stand Medusa daneben und unterdrückte mit Mühe den Wunsch, einige besonders langsame Männer mit einem kräftigen Fußtritt hineinzubefördern... Je länger sie brauchten, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass Kameen und der Rest entdeckt wurde. Sie teilte die Sorge um die fehlenden Wächter mit ihren Freunden, kam aber nicht umhin, die Ironie der Situation zu geniessen. Da machte man sich Sorgen, wie man unbemerkt in den Palast eindringen konnte... Und nun, wo sie drin waren, kannten sie nichts schöneres als sofort wieder zu entschwinden! Nervös biss sie sich auf die Unterlippe.

„Beeilung!“
 

Es geschah, als der letzte Rebell durch die Pforte geschlüpft war und die Herren der Winde Anstalten machten, selbst zu folgen.
 

Ein geflüsterter Fluch von Pyroxen wurde gefolgt von Zirkons panischer Warnung „Schnell, verschwinde!“, Spinells blitzschneller Reaktion, in der er seine Freunde hochzog und aus der Tür schob und Kameens ruhigem Gesicht, was das letzte war, was die Prinzessin von ihnen sah.

Dann schloss sich die große Tür zum Empfangssaal mit einem dumpfen, alles-erschütterndem Knall.

***

Anthrazit Vega-Ban war abgelenkt, und das ärgerte ihn.

Die wichtigste Ratsversammlung des gesamten Jahres – und seine Gedanken wanderten auf Bahnen, die weder mit Regierung noch mit Politik etwas auch nur im Entferntesten gemein hatten. Ihm gegenüber am Tisch saß das Oberhaupt der mittleren Familie D’un Jatcha, an dessen Vornamen sich Anthrazit gerade nicht erinnern konnte, und spielte abwesend mit seinem Stift. Nun – wenigstens war er nicht der Einzige, der mit dem Thema gerade nichts anfangen konnte. So abgelenkt, wie D’un Jatcha aussah, so fühlte sich das Oberhaupt von Vega-Ban. Gerade sprach der Abgeordnete des Obersten Hauses Spica-Ban, bis der Herr von Sirius-Ban ihm ungestüm ins Wort fiel. Spinells Vater fühlte mit dem Mann aus Spica-Bazaar, sie beide waren im Rat der Obersten Vier vermutlich die, die am wenigsten an Geld dachten und deren Handlungen am wenigsten durch die Gier nach Macht bestimmt wurde. Anthrazit wusste: Macht, die man sich mit Geld sicherte, hielt nur so lange, wie auch das Geld hielt, und das war erfahrungsgemäß nicht lange. Wenn er all diese Leute nur davon würde überzeugen können, dass eine Neuwahl des Rah-Ten dringend notwendig war... Er gestand es sich nicht ein, dass er sich um die Menschen der Stadt sorgte. So etwas passte weder zu ihm noch zu seinem Image. Aber erhielt sich krampfhaft an dem Wissen fest, dass es sowohl innen- als auch außenpolitisch gute Gründe gab, für die er sich für einen Wechsel an der Spitze der Stadt stark machen konnte.

Die Abgeordneten von Spica-Ban und Sirius-Ban stritten sich noch immer, wobei Spica-Ban ihn um Hilfe flehend ansah. Schon öffnete er den Mund, um etwas zu sagen...
 

„SCHLUSS!“,
 

brüllte der Rah-Ten und hieb mit der Faust auf den Tisch, dass die Weinkelche hüpften.

„Ich höre mir das nicht länger an! Ich entscheide, wie die Wächter eingesetzt werden, Schluss aus! Ich habe nicht vor...“
 

Das Öffnen der großen Türflügel unterbrach seine Zornesrede.

Die Wächter hätten keinen besseren Zeitpunkt wählen können, vier gefesselte Herren der Winde in den großen Ratssaal zu führen, die, gefolgt von der einer fassungslosen – oder wütenden? – Ra-Cria eintraten, die Hände fest auf den Rücken gebunden.

Das Oberhaupt der Familie D’un Jatcha sprang auf, Anthrazit hingegen blieb beim Anblick seines Sohnes wie erstarrt sitzen. Abgesehen davon jedoch, dass sie gefesselt waren, zeigte keiner der vier Männer eine Regung. Und keiner von ihnen sah geschlagen aus angesichts des misslungenen Fluchtversuchs.

Und diese unverhohlene Weigerung, eine Niederlage einzugestehen, welche die Männer zeigten, zusammen mit dem Wissen, dass sie gerade versucht hatten, aus seinem Kerker zu fliehen und es ihnen beinahe gelungen war, zusammen mit dem offensichtlichen Beweis der Unfähigkeit seiner Wächter sowie ihrer Information „Eure Erhabenheit – diese Vier Verbrecher haben versucht, aus Eurem Kerker zu fliehen und in Eure Gemächer einzudringen. Wir konnten sie erst vor dem Ratssaal stoppen.“ –

All dies trieb den Kaiser zur Weißglut.

Aber als ein Rebell vortrat, der offensichtlich ihr Anführer war, ihn direkt ansah, eine kleine Verbeugung machte und schließlich respektvoll sagte:
 

„Eure Majestät. Ich hatte nicht gehofft, so schnell vorgelassen zu werden, aber da ich schon einmal hier bin – würdet ihr mir das Recht gestatten, angehört zu werden?“
 

Als der Rah-Ten dies hörte, platzte ihm vollends der Kragen.
 

Und Anthrazit, der gewiefte Politiker, der durch eine gut plazierte Heirat der zweitmächtigste Mann der gesamten Stadt geworden war, Anthrazit, den nichts mehr erschrecken, überraschen und schockieren konnte, Anthrazit, der so klug in diplomatischen Fragen war und der so viel gehört und gesehen hatte und jedes Mal ruhig geblieben war, Anthrazit dachte:
 

Bravo.

Auf der Spitze des Turms

Kap 9 Auf der Spitze des Turms
 

Leider konnte der Rah-Ten nicht die selbe Bewunderung für Kameens taktischen Schachzug aufbringen wie Anthrazit Vega-Ban.
 

„Wie könnt ihr es wagen?“

Ob er mit seinem Aufschrei die Wächter meinte, die es wagten, ihn während der Ratsversammlung zu stören, oder die Rebellen mit hrem selbstsicheren Verhalten, war unklar. Klar war jedoch, dass sich die Wächter deutlich ehr angesprochen fühlten als die Herren der Winde...

„Ihr! Schafft sie sofort wieder in den Kerker und sperrt sie ein, ich will sie nicht sehen! Ihr persönlich garantiert mir, dass so etwas nicht wieder vorkommt!“

Hätten Blicke morden können, die Wächter wären langsam und qualvoll zu Tode gefoltert worden. Langsam und sehr schmerzhaft.

Aber so zuckten sie nur unter den Worten ihres Herrn zusammen und gaben den Männern in Fesseln einen Stoß.

„Bewegt euch!“

Keiner machte Anstalten, dieser Aufforderung nachzukommen, sondern starrten stumm und grimmig in die Runde.

„Es gibt von jeher das Gesetz in unserer Stadt“, liess Spinell leise vernehmen, „Dass der Rah-Ten und die Ratsversammlung jeden anhören müssen, der höflich und mit gutem Grund darum bittet.“

Verdutzte Stille, unterbrochen vom Kaiser.

„Ich dulde es nicht, dass jemand wie ihr so mit mir sprechen! Schafft sie weg, und zwar sofort! Bevor ich euch alle hängen lasse, euch samt eurer Unfähigkeit!“

Noch immer vom Schweigen der Versammelten untermalt, wurden Kameen und seine Freunde von den Wächtern zur Tür gezogen. Alle Abgeordneten hatten ihre Blicke gesenkt und starrten auf einen von ihnen erwählten Punkt im Raum, als gäbe es nichts interessanteres in der Welt. Enttäuscht wandte Kameen die Augen ab und biss sich auf die Lippen. Was hatte er erwartet?

Dies war der Rat.

Von ihnen würde er mit keiner Hilfe rechnen können.

„Wartet!“, ertönte eine Stimme plötzlich und durchschnitt die Stille wie splitterndes Glas. „Wir sollten wenigstens anhören, was sie zu sagen haben.“

Anthrazit Vega-Bans Augen bohrten sich in die seines Sohnes.

„Wir müssen verstehen, was sie so handeln lässt. Vielleicht sind wir dann in der Lage, einen Kompromiss zu schliessen.“

Gemurmel erhob sich, teils zweifelnd, teils zustimmend, und Turmalin D’un Jatcha warf ihm einen dankbaren Blick zu, ehe er seine Stimme erhob.

„Ich bin der selben Meinung. Man sollte diese Männer anhören, immerhin haben sie das selbe Recht wie jeder Bewohner Xjuntas.“

Die Wächter an der Tür waren stehengeblieben und starrten unsicher von den Abgeordneten zum Rah-Ten. Gehen? Bleiben? Gehen? Warten?

Das Oberhaupt von Sirius-Ban erhob sich.

„Ich stimme nicht mit dem Abgeordneten von Vega-Ban überein“, erklärte er arrogant. „Ein Kompromiss ist nicht nötig. Jedoch bin ich dafür, die Rebellen zu befragen – hier und jetzt, im Kreis sämtlicher Abgeordneten. Sie ohne Befragung zu hängen wäre eine Dummheit, ich bin sicher, dass sie eine Menge Informationen besitzen, die für uns von Wert sein könnten.“

„Da muss ich leider enttäuschen“, rief Pyroxen spöttisch. „Er hat es schon mit nett fragen versucht und kein Ergebnis erreicht.“

„Genug!“

Scherben, Wein und Wasser landeten auf dem Boden, als der Rah-Ten mit einem Streich das Geschirr vor ihm auf den Steinboden fegte.

„Ich schließe keine Kompromisse mit Terroristen und niederem Volk! Ich befrage keine Verräter öffentlich! Ich höre keine Rebellen an! Und ich bin der Herr dieser Stadt! Schafft sie mir endlich aus den Augen!“

„Nein!“

Die Abgeordneten von Spica-Ban, Sirius-Ban und Vega-Ban standen, der Abgeordnete von Orion-Ban ähnelte in seiner Gesichtsfarbe dem Rah-Ten.

„Hört sie an, Erhabener! Wir verlangen es!“

„Ihr wagt es, etwas von mir zu verlangen?!“

Unversehens fand sich der Kaiser den undurchdringlichen Mienen der Mehrheit seiner Ratsmitglieder gegenüber.

„Wollt ihr euch gegen mich auflehnen?“

Seine Stimme war trügerisch ruhig, aber in seinen Augen funkelte der Wahnsinn. Anthrazit war der Einzige, der dem Blick voller Wahn standhielt.

„Nein, Majestät. Wir denken lediglich an Euer Wohl und das Wohl der gesamten Stadt.“

Stumm vor Wut sank der Kaiser in seinen Stuhl zurück.

Anthrazit winkte den Wächtern. „Bringt sie wieder her!“ Dem herrischen Tonfall wagte niemand zu widersprechen.

„Du redest“, zischte Pyroxen Kameen zu. Und der hatte keine Zeit, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

„Ihr seid also die Rebellengruppe, die sich die „Herren der Winde“ nennen?“, begann Jedyt Sirius-Ban.

Kameen nickte stumm.

Und begann zu reden.
 

***
 

Was er sagte, liess seine Freunde vor Staunen erstarren.

Allein die Tatsache, dass Kameen, der Stille und Schweigsame, sprach, vor einer solchen Menge, war erstaunlich. Aber dass er so viele Sätze so gekonnt und so fesselnd aneinanderreihte, grenzte an ein Wunder.

Was er sagte, ließ die Politiker am großen Tisch verstummen und nachdenklich mit dem Stift auf die Tischplatte klopfen. Es ließ sie sich fragen, ob das, was er sagte, nicht vielleicht sogar die Wahrheit war und warum ihnen das selbst noch nie aufgefallen war.

Es liess den Rah-Ten vor Wut amarenakirschrot anlaufen und seinen Vater stolz werden.

Was Kameen sagte, hatte Hand und Fuß, klang vernünftig, überlegt und weise.

Kurz umriss der Heiler das Problem – Wasser-, Nahrungs-, Arbeits- und Geldmangel, Krankheiten – er beschrieb das einfache, aber doch so schwere Leben in den Vierteln des Untersten Volkes und ihren Wunsch, dies zu ändern.

Er erklärte, welche Pläne sie gemacht hatten, wie man neue Arbeit und weniger Leid schaffen konnte, Krankheiten eindämmen und die Unterschiede zwischen Arm und Reich ein wenig verkleinern konnte.

Und seine Ideen waren so ausgereift, sein Plan war so gut und seine Stimme so fesselnd, dass ihm alle Mitglieder der Obersten Vier und der Mittleren Familien gespannt zuhörten, ihm förmlich an den Lippen hingen und sich erstaunt fragten, warum sie nicht von selbst auf diese Idee gekommen waren.

Als Kameen fertig war und tief Luft holte, befreit von der Last der Verantwortung, herrschte zunächst Stille. Beifällig nickte Spinell, Zirkon und Pyroxen hingegen grinsten über das ganze Gesicht und hätten im Kreis gegrinst, hätten sie keine Ohren gehabt.

Ihr Trumpf.

Der Grund, warum Kameen ihr Anführer war, war endlich enthüllt worden.

Es musste einfach gelingen.
 

„Ihr hattet also vor, die übergeordnete Position des Rah-Ten abzuschaffen und einen allgemeinen Rat stattdessen zu etablieren?“, unterbrach Jedyt Sirius-Ban sie nachdenklich.

Na, das muss dir doch gefallen, dachte Kameen als er nickte. Manche Menschen taten einfach alles, um an der ihnen gegebenen Macht zu bleiben, und als solche Person hätte er den Abgeordneten von Sirius-Ban auch eingeschätzt. Schön zu wissen, dass seine Menschenkenntnis noch intakt war.

„Er sollte aus Mitgliedern aller Schichten bestehen, Oberste, Mittlere und Unterschicht. Die Beiden Erstgenannten dürfen zusammen jedoch nur so viele Stimmen haben wie das Volk, so dass dieses nicht überstimmt werden kann. Niemand darf irgendwelche Sonderrechte besitzen. Und dieser Rat soll Xjunta regieren – mehr oder weniger.“

„Was ist, wenn jemand sich Sonderrechte herausnimmt?“

„Gibt’s nicht.“

„Und wenn die Unterschicht zu viel fordert?“

„Die Mitglieder werden so ausgewählt, dass sie vernünftig und verantwortungsbewußt handeln und entscheiden können.“

„Und auch höhere Berufe sollen wieder für die Unterschicht frei werden?“

„Ja.“

Fragen über Fragen prasselten nun auf die Herren der Winde ein.

Schon merkwürdig, dachte Kameen. Sie waren nicht einmal halb so alt und erfahren wie manche Ratsmitglieder – und doch gingen diese bereitwillig auf ihre Vorschläge ein. Vermutlich hatte ihnen die Regentschaft des Rah-Ten nicht besonders viel Freude gemacht - und vielleicht lag ihnen das Volk Xjuntas doch mehr am Herzen, als sie zugeben wollten. Nur einige Wenige waren deutlich mehr an Macht und Geld interessiert als an Demokratie, aber das würden sie irgendwie schon schaffen, so wie sie bisher alles...
 

„Das reicht!“
 

Der Rah-Ten sorgte immer dafür, dass man ihn nicht vergaß. Stumm wandten sich alle Anwesenden ihm zu.

„Wisst ihr, was ihr vergesst? Ihr vergesst, dass ich noch immer der Rah-Ten bin! Ich sage euch, was getan wird, ich bin der Herr über diese Stadt! Wie könnt ihr es wagen, so von solchen Dingen zu sprechen? Das ist eine Beleidigung!“

Spinell und Kameen hielten den Atem an.

Ab jetzt kam es nicht mehr auf das an, was sie sagten, sondern auf das, was die Menschen im Raum entschlossen. Nun waren die Abgeordneten am Zug.

„Wächter! Bringt diese... diesen Abschaum hinaus!“
 

Die Wächter wagten nicht, Widerstand zu leisten. Zu lange waren sie vom Rah-Ten missbraucht und herumkommandiert worden, zu lange waren ihre Freunde spurlos verschwunden, zu lange hatten sie mit der Angst leben müssen, nach Hause zu kommen und ihre Familie abgeschlachtet und ihr Heim zerstört vorzufinden. Vom wutverzerrten Gesicht des Rah-Ten verfolgt, griffen sie Kameen und seine drei Freunde an den Schultern und schubsten sie unsanft zur Tür.

Zirkon wollte auffahren, aber Kameen sah ihn durchdringend an und hieß ihn Schweigen. Angespannt wartete er ab, ob etwas geschah. Ob jemand etwas sagen würde.

Er wurde nicht enttäuscht.
 

„Vater“, sagte Medusa und trat aus dem Schatten der Säule hervor, hinter der sie sich verborgen hatte. Sie hatte Kameen zugehört, und ihr Herz war angeschwollen vor Stolz: das war der Mann, dem sie von Anfang an vertraut hatte. Er hatte endlich ausgesprochen, was sie alle schon so lange mit sich herumtrugen und was ihnen allen schon so lange auf der Seele gelegen hatte.

Wenn man Probleme hatte, musste man doch versuchen, sie zu lösen, oder?
 

„Ja?“, schnappte der Rah-Ten und wandte den Kopf in ihre Richtung. Als er sie sah, verzerrten sich seine Züge.

„Du? Ach, ich hätte mir doch denken können, dass du mit ihnen unter einer Decke steckst! Welche Schande! Mein eigenes Blut!“

Seine Weigerung, sie „Tochter“ zu nennen, trieb ihr die Tränen in die Augen.

„Aber sie haben doch recht, Vater. Und du könntest ein Mitglied des Rates werden!“

Das Gesicht des Rah-Ten war leichenblass vor Wut, seine Fäuste waren geballt, als er seiner Tochter ins Gesicht schrie.

„Mitglied des Rates? Des Rates? Wenn ich doch der Kaiser sein kann? Diese Stadt gehört mir!“

Er lachte plötzlich auf und hob die Hände, und Kameen sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

„Ich habe die Macht über Leben und Tod der Menschen hier! Alle hängen sie von meiner Gnade ab! Aber sie bedeuten mir nichts. Ich bin der Herrscher, und sie sind meine Diener!“

Erschüttertes Schweigen folgte, als den Menschen klar wurde, dass der Rah-Ten wahnsinnig geworden war.

Serpentin Orion-Ban öffnete steif den Mund und sagte: „Erhabener, bei allem Respekt, ich denke nicht, dass...“

„Schweig!“, herrschte der Herrscher ihn an und warf den silbernen Pokal, den er gerade in den Händen gehalten hatte, nach ihm. Der Kelch verfehlte den Kopf des Mannes um Haaresbreite.

„Du bist nur hier dank meiner Güte! Ich kann mit einem Fingerschnippen wieder alles von dir nehmen, was du besitzt! Also sei vorsichtig mit dem, was du sagst – sei vorsichtig mit dem, was du denkst!“

Serpentin erbleichte, und der Kaiser grinste höhnisch.

„Seht ihr? Diese Macht besitze ich. Gibt es hier noch jemanden, der sich gegen mich auflehnen möchte und die Zukunft seines Hauses aufs Spiel setzen möchte?“
 

Vielsagende Stille.
 

Der Kaiser wollte schon zufrieden wieder den Mund öffnen, da erhob sich Anthrazit Vega-Ban.

„Ich lege hiermit mein Amt als Ratsvorsitzender nieder.“
 

Blitzschnell fuhr der Rah-Ten zu ihm herum.

„So, Anthrazit!“, sagte er lauernd, während die restlichen Mitglieder ihn alle entwedern bewundernd oder entsetzt ansahen. „Begehrst du doch auf? Ich wusste immer, dass es eines Tages so weit sein würde – oh ja, das wusste ich! Ich entlasse dich in Schande. Deine Familie wird sowohl ihren Einfluss als auch ihr Vermögen verlieren.“

Atemlos sah er sich in der Halle um.

„Und jetzt habe ich genug von diesem Theater. Geht jetzt – die Sitzung ist beendet, verschwindet schon!“

Niemand rührte sich.

„Was?“

„Ich trete ebenfalls aus“, sagte Malachit Spica-Ban.

Die Augen des Rah-Tens wurden groß vor Überraschung.

„Ich auch.“ Kameens Vater stand auf.

„Ich auch.“

„Und ich.“

„So wie ich.“
 

Und dann geschah das Unglaubliche.
 

Bei jedem Mitglied, das diese Worte aussprach, wurde das Gesicht des Rah-Ten fröhlicher.
 

Schliesslich waren nur noch Serpentin Orion-Ban und Jedyt Sirius-Ban übrig.

„Meine Herren?“

Kameen trat vor uns musterte sie, löste sich so von den erstarrten Wächtern, die nicht wussten, was sie nun tun sollten.

„Es wäre von Vorteil, wenn Sie sich ihren Kollegen anschliessen würden, nicht wahr?“

Jedyt zögerte. In Schande entlassen zu werden – war es nicht das, was er noch mehr fürchtete als den Verlust seines Reichtums?

Aber die Entscheidung wurde ihm abgenommen, nämlich vom Kaiser, der wieder wie ein Wahnsinniger zu lachen begann.

„Haha! Ihr geht – und ich löse hiermit den Rat auf! Jetzt bin ich der alleinige Herrscher der Stadt – wer braucht schon einen Beraterstab? Kommt und sehr euch an, wie meine Stadt mir zu Füßen liegt!“

Wie von einer Tarantel gestochen sprang er auf und rannte zum Fenster, wo er sich gegen das Glas warf. Die dünne Scheibe zitterte drohend.

„Vater!“, rief Medusa besorgt und lief auf ihn zu, aber er stiess sie beiseite.

„Meine Stadt! Kein Rat – ich bin der Kaiser! Ich herrsche ganz allein!“

Medusa prallte hart gegen eine Säule, und Zirkon lief auf sie zu. „Medusa! Alles in Ordnung?“

Aventurin D’un Jatcha indessen lief auf seinen eigenen Sohn zu und löste ihm die Fesseln, als würde der Rah-Ten, der, ängstlich beobachtet von den ehemaligen Ratsmitgliedern, noch immer lachte und sich an das Fenster drückte, nicht existieren.

Eine kräftige Kopfnuss und eine liebevolle Umarmung später packte Aventurin Kameen an beiden Schultern und starrte ihn ernst an.

„Ich bin mir sicher, dir ist etwas aufgefallen...“

Kameen nickte.

„Er ist krank. Psychisch labil. Ihm muss geholfen werden.“

„Das überlasse ich dir.“
 

Irres Lachen hallte durch den Saal, wurde verstärkt von der Größe der Halle und kam als vielfach gebrochenes kleines Echo wieder zurück. Die ehemaligen Mitglieder zuckten unbehaglich, als sich der Kaiser mit einem irren Blick zu ihnen umdrehte. Den Kopf in den Nacken gelegt, atmete er ein und schien Medusa, die ihn an den Schultern gefasst hatte und kräftig schüttelte, nicht einmal zu sehen.

Vorsichtig näherte Kameen sich ihm.

„Majestät,Ihr müsst Euch ausruhen. Ihr seid nicht wohl.“

„Ich bin krank? Lächerlich! Mir geht es blendend.“

„Das mögt Ihr denken, aber in Wirklichkeit...“

„Komm nicht näher, Abschaum!“

Von einer Sekunde auf die nächste ähnelte der große, dürre Mann eher einem Kind als einem Kaiser.

„Geh weg!“, wimmerte er. Medusa trat auf ihn zu.

„Vater?“, sagte sie unendlich behutsam, und das kleine, verängstige Kind in der Gestalt des großen Mannes schlug die Hände vor die Augen, als wolle es sich verstecken.

„Papa! Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen!“ Die Stimme war hoch und dünn und zitterte vor Angst. „Wo bist du? Lass mich nicht allein!“

„Vater!“ Medusa wollte ihn umarmen, aber er stiess sie weg.

„Wo ist sie nur hingegangen?“ Er richtete sich auf und murmelte düster vor sich hin. Es war erschreckend, aus dem Kind war ein Erwachsener geworden, Sorgenfalten auf der Stirn.

„Teara ist immernoch nicht da...“, murmelte er wieder. Medusa schluckte.

„Vater“, sagte sie leise. „Mutter ist tot...“

„Wer bist du?“, fragte er sie, die Stirn vor Anstrengung gefurcht. Medusa richtete sich auf, Tränen in den Augen, und streckte ihm eine Hand hin.

„Bitte“... flüsterte sie kraftlos.

Auf dem Gesicht des Mannes, der nicht mehr wusste, wer er war, erschien ein überglücklicher Ausdruck.

„Teara!“, rief er erfreut. „Da bist du ja! Ich dachte schon, du kommst nie mehr nach Hause!“ Glücklich kam er ihr entgegen und sah die Träne, die über ihre Wange lief.

„Teara, warum weinst du?“, fragte er, und die Geste, mit der er die Träne auffing, war pure Zärtlichkeit. „Ist etwas passiert? Du weißt, ich liebe dich, oder?“
 

Mittlerweile schien es, als ob nur noch Kameen, Zirkon, Pyroxen, Spinell, Medusa und der Rah-Ten anwesend wären. Der Rest schien weit, weit weg, die Entfernung wuchs mit jeder verstreichenden Sekunde. Medusa nahm seine Hand, als er ihre an seine Lippen hob und sacht küsste.

„Vater“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich bin es, Medusa. Deine Tochter. Mutter ist schon lange tot.“
 

Der Ausadruck veränderte sich zum letzten Mal.
 

„Tot!“
 

Wie irre lachte der Rah-Ten auf. „Tot! Tot, dahingegangen wie alles in dieser Welt! Aber ich, ich werde unsterblich sein, der Herrscher dieser Stadt für alle Ewigkeiten!“
 

Und damit stieß er Kameen zu Boden, der ihn hatte festhalten wollen, entwischte Medusas zupackenden Händen und stürmte davon. Die kleine Wendeltreppe, die er nahm, führte auf die Spitze des Turms.
 

„Nein!“, rief Kameen schmerzerfüllt. „Haltet ihn auf! Er ist wahnsinnig!“
 

Aber nicht einmal Anthrazit Vega-Ban rührte sich, sondern folgte dem irren Monarchen nur mit den Augen. Medusa hockte wie ein Bündel Elend am Boden und wimmerte, Zirkon kniete aufrichtig besorgt neben ihr. Pyroxen und Spinell kamen zu Kameen.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja!“

Fast schon grob stiess er sie zur Seite, ignorierte den Schmerz im Rücken und auch sonst überall in seinem Körper und stürmte ebenfalls auf die Wendeltreppe zu. Die beiden Anderen blieben ihm dicht auf den Fersen.
 

Der Aufstieg war aus Felsen gehauen, gewunden und eng und steinig.

Kameen riss sich die Ellenbogen auf, als er die erste Kurve zu eng nahm, aber er spürte es kaum. Mit jeder Faser seines Wesens konzentrierte er sich darauf, die Treppe zu erklimmen, diesen dunklen Schacht in diesem dunklen Turm, durch den die Echos hallten wie unglückliche Seelen, die seit Jahrhunderten gefangengehalten wurden. Das Keuchen seiner eigenen Atemzüge hallte ihm in den Ohren wieder. Immer höher und höher kletterte er, nur das eine Ziel vor Augen: den Mann vor ihm so schnell wie möglich zu erreichen. Der Wahnsinn in ihm hatte schon so lange geschwelt, es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er ausbrach. Und nun war er völlig unzurechnungsfähig, anders konnte er es nicht sagen, er musste ihn erreichen, bevor er etwas Unüberlegtes tat...

Und plötzlich war ein Licht zu sehen, welches ihn blendete und ihn zwang, die Augen zuzukneifen... Und dann war er oben.
 

Der Turm über dem Ratssaal war der höchste Turm der Stadt.

Von hier oben erblickte man ganz Xjunta und die weite, goldene Ewige Wüste... Die Treppe endete auf einer Plattform, die ringsum von einem steinernen Geländer gesäumt war, und dort stand der Rah-Ten und hatte die Arme weit ausgestreckt. Lachend sah er auf Xjunta hinunter, bis er Kameens Schritte hinter sich hörte. Und als er ihn erblickte, wurde die Freude auf seiner Miene durch eine Grimasse des Hasses ersetzt.

„Was willst du hier?“, schnauzte er. „Das ist mein Turm! Mein Palast! Mach, dass du weg kommst!“

Kameen versuchte, sich dem alten und wahnsinnigen Mann so vorsichtig wie möglich zu nähern.

„Majestät“, sagte er behutsam, „Wie fühlt ihr euch?“

„Wie soll ich mich denn fühlen? Es geht mir Bestens! Und nun verschwinde, und nimm diese Beiden da mit!“

Nach Kameen waren auch Pyroxen und Spinell auf die Spitze des Turms gelangt.

Kameen gab wirklich nicht auf, dachte Spinell mit einem Hauch von Bewunderung. Er selbst hätte den Mann schon KO.-geschlagen und nach unten geschleppt... Aber das war vermutlich der Grund dafür, dass Kameen der Chef war und nicht er.

„Wer bist du überhaupt? Niemand erteilt mir befehle – ich tue, was ich will!“

„Aber ich will doch nur...“

„Nein!“

Und zum allgemeinen Entsetzen der drei jungen Männer zog der ehemalige Kaiser einen Dolch.
 

Für Kameen blieb die Zeit stehen, als der kalte Stahl im grellen Licht der Mittagssonne aufblitzte. Es war ein Langdolch, schlicht, mit einer einfachen Ziselierung, ansonsten keine Muster oder Edelsteine.

„Verschwindet endlich!“, brüllte der Rah-Ten. Speicheltröpfchen flogen durch die Gegend und er fuchtelte mit dem Dolch herum. Dazu kam: offensichtlich konnte er mit diesem Dolch herumfuchteln. Er konnte mit einer Waffe gut umgehen... Und Kameen hatte nicht einmal selbst eine.

Fieberhaft überlegte er, wie er den alten Mann entwaffnen konnte, ohne ihn zu sehr zu verletzen. Das war Medusas Vater, er wollte ihm jederlei Schmerzen ersparen. Er war Heiler. Er wusste, was Schmerz bedeutete.

Hinter ihm knarzte die Treppe, und ein roter Haarschopf tauchte aus der Luke auf. Medusa, registrierte Kameen aus den Augenwinkeln, und beim Anblick des Dolches schrie sie leise auf.

„Vater! Was tust du da?“
 

Der Angriff kam ohne Vorwarnung und selbst für die Herren der Winde zu schnell und es waren nur Kameens gute Reflexe, denen er zu verdanken hatte, dass er unverletzt blieb. Blitzartig stach der Dolch zu, stiess ins Leere, als das Opfer abtauchte, und dann waren Spinell und Pyroxen da. Spinell drehte rasch die Hand des Rah-Tens einmal und kräftig um, so dass der den Dolch fallen liess, und Pyroxen trat ihm die Beine weg. Schwerfällig landete der Rah-Ten auf dem heißen Stein.

„NEIN!“

Medusas gellender Schrei durchbrach die keuchend atmende Stille.

Mit einem Knurren war der Kaiser wieder auf den Beinen, bewegte sich in seinem Wahn schneller als Spinell es konnte, und warf sich voll auf Kameen, der diesmal weder Zeit noch Platz zum Ausweichen hatte. Sekunden später lag er mit dem Rücken auf der Brüstung, ein Paar Hände schraubstockartig um seinen Hals geklammert, und er bekam keine Luft, konnte nicht mehr atmen....

Vergeblich zerrte er an den Armen des Herrschers.

„Kameen!“

Spinell und Pyroxen stürzten sich beide auf den Gegner, um ihrem Freund zu helfen, und trotz der im Wahn übermenschlichen Kräfte des Kaisers schafften sie es, ihn irgendwie von Kameen wegzuziehen. Kameen keuchte auf, als sie die Hände um seinen Hals gewaltsam lösten, doch so oft sie den Rah-Ten von Kameen wegzogen, desto wilder kämpfte er darum, freigelassen zu werden.
 

Dann erschlaffte der Herrscher plötzlich.
 

Erschrocken liessen Spinell und Pyroxen los, und der Kaiser machte keine Anstalten, zu fliehen. Er lag einfach da, wie ein kleines Kind zusammengerollt, welches einen Alptraum hat, und atmete schwer.

Seine Augen schauten verträumt ins Leere.

„Die Sterne sind heute schön, Terea“, sagte er leise. „Ich wünschte, du könntest sie noch einmal sehen.“
 

Kameen trat vorsichtig an ihn heran.
 

Der Kaiser stand auf. Medusa trat vor.
 

Wie ein Schlafwandler bewegte er sich zur Brüstung hin, die Augen auf die heiße Wüste gerichtet, die sich vor seinen Augen erstreckte.
 

„Ich habe immer gehofft, dass du eines Tages wiederkommst. Aber du hast mich verlassen.“

„Das stimmt nicht!“

Mittlerweile stand der Mann direkt am Geländer und achtete nicht auf das, was Medusa sagte.

„Doch. Du bist weg.“
 

Kameen sah ihn lächeln und setzte sich in Bewegung, aber es schien noch immer, als wäre die Zeit angehalten worden. Er kam nicht vorwärts, bewegte sich wie durch eine dickte, schleimige Suppe, die nicht wollte, dass er vorwärts ging...

„Leben ohne dich ist kein Leben...“

Er fiel über die Brüstung, als würde er von unten gezogen. Kein Zeichen dafür, dass er hatte fallen wollen, keines dafür, dass man gewollt hatte, dass er fiel – es geschah einfach.
 

Die Zeit sprang für Kameen D’un Jatcha wieder in die richtigen Bahnen zurück.

Seine Hand griff ins Leere.

Und Obsidian D’u Tral stürzte in den Tod.

[

Wüstennacht

Es war kalt.
 

Obwohl die Sonne wie jeden Tag erbarmungslos auf die Sande der Ewigen Wüste geschienen hatte, begann es nach Einbruch der Dunkelheit eindeutig abzukühlen, und ein kalter Wind strich über die Häuser, die sich flach an die Erde duckten.

Wolkenlose, heiße Tage brachten wolkenlose, kalte Nächte.

Jeder Stern am Himmel war kristallklar zu sehen, und hell stand die Mondsichel des verschwindenden Mondes über den Dünen. In der Ferne rief ein Steinfuchs seine Jungen.
 

Es war kalt.
 

Dunkelheit hatte sich wie Watte über die Häuser gelegt, so samtig und vollkommen, dass sich Viele nicht trauten, die kleine Laterne vor den Haustüren anzuzünden. Diese kleine Insel aus purem Licht hätte die Dunkelheit nur noch bedrohlicher erscheinen lassen.

Dennoch leuchteten stumme, trotzige Lichter auf dem großen Platz in der Mitte der Stadt. Die weißgekleideten Menschen um sie herum bewegten sich langsam, leise und sparsam, sie stachen aus der Nacht hervor wie weiße Fische in einem Nachtschwarzen See. Hier und dort zogen einige Frauen ihre Kleider enger um sich.
 

Es war kalt.
 

Es wurde Nacht.
 

Medusa Rah-Xjunta bemerkte die Kälte nicht.

Stumm und starr stand sie da, die Hände in die Ärmel ihres weißen Kleides geschoben. Fest umklammerten ihre beiden Hände die Ellenbogen, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Ihr Blick war momentan auf den Scheiterhaufen vor ihr gerichtet.

Es war schon merkwürdig, wie viele Menschen doch noch gekommen waren, um Abschied vom verstorbenen Rah-Ten zu nehmen. War es Respekt? Schadenfreude? Medusa wusste es nicht, und es interessierte sie auch nicht.

Medusa biss sich auf die Lippen, bis es schmerzte. Der Ausdruck in ihren Augen war klar und hart.

Sie wusste, worüber die Frauen auf der anderen Seite des Holzstoßes sich das Maul zerrissen. Warum sie wohl nicht weinte?

Immerhin handelte es sich bei der Person, die heute bestattet wurde, um ihren Vater.

Aber die Prinzessin wusste genau, dass dies hier nicht mehr ihr Vater gewesen war. Sie konnte nicht um diesen Fremden weinen, zu dem ihr Vater geworden war, nachdem ihre Mutter gestorben war, und sie würde es nicht tun. Die Figur auf dem Scheiterhaufen ähnelte weder charakterlich noch äußerlich ihrem Vater.

Sie hatte den zerschmetterten Körper gesehen, obwohl Zirkon sie hatte davon abhalten wollen, und sie hatte den Mann gekannt. Die im Tod geöffneten Augen, sie irgendwie friedlich wirkten, als hätte der Rah-Ten endlich die Person gesehen, der sein Herz immer gehört hatte. Die Glieder zerschmettert und verdreht.

Das war nicht ihr Vater gewesen.
 

Kein Grund zum Weinen.
 

Langsam, fast widerwillig, löste sie ihren Blick vom Podest und liess ihn über die Menge schweifen.
 

Spinell stand im Schatten einer Säule unter den Arkaden und beobachtete Anthrazit Vega-Ban, wie immer, ohne es selbst zu bemerken. Was für ein Graben wohl zwischen diesen Männern existieren mochte, die sich doch so ähnlich waren?

Anthrazit war ein guter Mann und ein begnadeter Politiker. Er würde eine gute Ergänzung für den Rat sein. Er hatte sogar schon damit begonnen, das allgemeine Chaos, welches nach dem Tod des Herrschers entstanden war, halbwegs wieder auszusortieren. Dabei hatten ihm Malachit Spica-Ban und Aventurin D’un Jatcha sehr geholfen... Die Drei waren ein perfektes Team, auch wenn sie sich die ganze Zeit nur in den Haaren lagen.

Jedyt Sirius-Ban und Serpentin Orion-Ban konnte sie nirgendwo entdecken. Vermutlich waren diese bereits zu Hause und organisierten eine Wahlkampagne für ihre Wahl zum Ratsmitglied.

Medusa machte sich da keine Illusionen. Sie würden mit Sicherheit nicht gewählt werden, dafür hätte sie eine Heuschrecke gegen ein Pferd gewettet. Aber durch solche Geld- und Machtorientierten Leute im Staat merkte man erst, was man an den anderen Menschen hatte.
 

Ihr Blick wanderte hinüber zu Pyroxen, der mit einer jungen Frau auf einer niedrigen Steinmauer saß. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er lachte leise auf und sah sie an.

Ob das seine Schwester war, oder seine Cousine, oder gar Verlobte? Oder einfach eine Zufallsbekanntschaft? Sie wusste es nicht.

Aber Medusa wusste, dass Pyroxen in Zukunft besonders im exekutiven Bereich ihrer neuen Demokratie arbeiten würde. Dafür war er wie geschaffen...

Die vier älteren Ladys auf der anderen Seite des Feuers musterten sie stirnrunzelnd, und sie schenkte ihnen ein zuckersüßes Lächeln. Es erfüllte sie mit Genugtuung, zu sehen, wie sie sich verlegen abwandten und ihr den Rücken zudrehten. Palasttratsch war ärger als ein Bürgerkrieg, dachte sie. Deshalb bevorzugte sie die Gesellschaft der einfacheren Leute so sehr. Gemeines Volk konnte noch so verfeindet sein, schlechte Dinge über den Feind zu verbreiten war jedoch allerunterste Stufe.
 

Mit hochgezogenen Brauen registrierte sie das Ankommen einer Person, die sie schon vermisst hatte, und ihr Herz wurde leichter. Zirkon schritt über den Vorplatz, ein Mädchen im Schlepptau... Welches die selbe Augen- und Haarfarbe, das selbe Gesicht und den selben Gang hatte wie er.
 

Das musste wohl seine Zwillingsschwester sein.
 

Ängstlich hielt sie sich einen Schritt hinter Zirkon, ihre Hände vor sich gefaltet und verkrampft. Anscheinend fühlte sie sich genauso fehl am Platz wie Medusa dies empfand, sie nahm sich vor, nachher noch einmal mit ihr zu sprechen.

Zielstrebig steuerte Zirkon auf Kameen zu, der an einer Säule lehnte und gedankenverloren in den Himmel starrte. Medusa hatte gelernt, ihn sehr zu schätzen. Hinter seiner schweigsamen Fassade verbarg sich ein Geist erster Klasse, der Klugheit, Schweigsamkeit und sein Wissen gekonnt einsetzte. Kameen würde noch einmal unverzichtbar für den Rat werden, dessen war sie sich sicher.
 

Unverzichtbar für Xjunta.
 

Als Zirkon direkt vor ihm stand und ihn ansprach, zuckte er zusammen und Medusa konnte förmlich den Knall hören, mit dem er wieder in der Realität landete. Medusa grinste. Wo er nun wieder gewesen war?

Aber als Kameen das Mädchen sah, hellte sich sein Gesicht sofort auf. Zirkon schob das Mädchen vor, und sie wagte kaum, aufzusehen, aber als sie merkte, dass auch Kameen lächelte, erblühte ein Lächeln auf ihrem Gesicht – schön wie eine Rose. Medusa hielt den Atem an. Welchen Effekt dieses Lächeln wohl auf Kameen haben würde?

Sie grinste in sich hinein, dankbar für die Ablenkung, und wandte ihr Gesicht wieder dem Scheiterhaufen zu.

Er wurde nun entzündet.

Lodernd fraßen sich die Flammen an dem trockenen Holz empor, der typische Geruch von Zandyir-Holz lag in der Luft. Die Gespräche versiegten, als alle dem Feuer ihr Gesicht zuwandten.

Kameen und Spinell und ihre Väter verbeugten sich ehrerbietig. Pyroxen wandte sich nur ab.
 

Keinen Respekt für den Tyrannen.
 

Medusa konnte ihn verstehen.

Ohne zu blinzeln starrte sie in den Flammen, bis ihre Augen tränten. Obwohl sie diesem... Mann... Im Feuer nicht nachtrauerte, da sie ihn nie gekannt hatte, legte sich ein eiserner Ring um ihr Herz, hinderte sie am atmen und am lachen. Medusa ballte die Faust, die andere Hand legte sie sich auf ihr Herz. Es tat so weh...

Das war nicht ihr Vater. Dies hier nicht. Aber das Wissen, dass es einstmals ihr Vater gewesen war, schmerzte fürchterlich.

Sie schloss die Augen, um das Gesicht auszublenden, welches vor ihren Augen hing.
 

„Geht es euch nicht gut, Prinzessin?“
 

Eine Stimme sprach sie an, eine Stimme, die sie unter Tausenden wiedererkannt hätte.

Zirkon stand vor ihr und sah sie aus besorgten Augen aus an, seine blonden Haare glänzten im Feuerschein.
 

„Ich bin müde, Zirkon“, sagte sie mit leiser Stimme und drehte ihm den Rücken zu. „Ich werde dir nicht noch einmal sagen, dass du aufhören sollst, mich Prinzessin zu nennen. Verstanden?“
 

Sein Grinsen war fühlbar. „Wie ihr befehlt, Prinzessin.“
 

Sie lächelte zurück und spürte, wie sie anfing zu weinen. Die Kälte, die Dunkelheit und nun seine freundliche Stimme und sein unwiderstehliches Grinsen... Dies alles wirkte von allen Seiten auf sie ein. Sollte sie lachen? Oder emotionslos bleiben? Wie fühlte sie sich überhaupt? Am Liebsten hätte sie geweint, aber hier in der Öffentlichkeit wollte sie sich keine Blöße geben. Trotzdem spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Schnell wischte sie diese weg.

„Schau nicht hin“, sagte sie mit erstickter Stimme. „Ich will nicht, dass du...“
 

Vorsichtig nahm Zirkon ihre Hand in seine und wischte mit der anderen Hand liebevoll eine Träne weg. Die nächste liess er laufen. Die Übernächste auch.

Stattdessen zog er sie an sich und legte die Arme sacht um sie, und Medusa klammerte sich an ihn, als wäre er der letzte und einzige Ankerpunkt in dieser Welt für sie, während auf dem Scheiterhaufen langsam die Überreste ihres Vaters, den sie so sehr geliebt hatte, verbrannten.

Sie hatte ihn selbst dann noch geliebt, als er herrschsüchtig und wahnsinnig wurde.

Langsam verbrannte Osidian D‘u Tral zu Asche und Staub, der im Nachtwind verstreut herumwirbelte, bevor er in die Weiten der Wüste verschwand.
 

Das Feuer erwärmte die kalte Wüstennacht.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Taroru
2013-02-05T02:47:40+00:00 05.02.2013 03:47
so... es hat ein wenig gedauert... aber ich habe nun doch alles gelesen und ich muss sagen.... ich bin froh das du diese geschichte nicht gelöscht hast! du hattest da so eine andeutung in einem kapitel. denn wenn du sie gelöscht hättest, hätte ich sie nun nicht mehr lesen können, und mich von den worten so weit fort tragen lassen können.
ich muss sagen, deine art dinge zu beschreiben und ins geschehen ein zu binden, gefällt mir ganz gut. es ist eine ruhige art und dennoch ist spannung drin, die so schnell auf einem übergreift, das ich an manchen momenten das gefühl hatte, es würde alles zu schnell gehen. dabei ist das geschehen einfach nur so schnell, das man es gar nicht langsammer lesen konnte. (gott... ich hoffe das war jetzt irgendwie verständlich ausgedrückt)
der konflikt war jedenfalls gut dargestellt und auch ausgearbeitet, bei ein paar punkten hätte ich mir persönlich zwar noch mehr gewünscht, aber das liegt wohl einfach daran, das ich immer nicht aufhören kann zu lesen, wenn ich dann angefangen habe :-D
die dialoge haben mir auch gut gefallen, sie wirkten sehr lebendig und nicht irgendwie aufgesetzt. wie die einzelnen charaktere agieren und denken war auch sehr passend geschrieben.
was mich gestört hat waren manchmal diese falshbacks, also das flashback selbst nicht, das fand ich passend und erklärte vieles auch einfach noch mal, aber ich hätte da nicht hin geschrieben das es ein flashback ist, sondern es vielleicht einfach umschrieben, das man sich halt gerade an diese situationen erinnert, oder ähnliches. also einfach das wort 'flashback' streichen und eben die erinnerung (letztendlich ist es ja eine) einfach ins gesammt geschehen eingearbeitet. so wirkte es irgendwie abgehackt beim lesen. aber das ist nur meine persönliche meinung, und sollte jeder handhaben wie er es mag :-)
zum verlauf selbst, ich finde schon, das es wirklich sehr flüssig war. die handlungsstränge waren logisch erzählt. es gab ein flut zum lesen, wurde davon aber nicht erschlagen, sondern einfach sanft mit genommen, so das man einfach nicht aufhören konnte zu lesen.
ich finde es zwar schon ein bisschen schade, das es schon vorbei ist. aber es hat sich gelohnt, ich hatte meinen spaß beim lesen :-)
und mir gefällt deine einstellung, etwas zu ende zu bringen, was man angefangen hat :-)
du hast jetzt zwar nur einen kommi mehr.... aber vielleicht verirrt sich der ein oder andere noch hier her und lässt auch noch ein paar worte da :-) verdient hättest du es auf jeden fall :-)
Von: abgemeldet
2009-05-20T14:23:37+00:00 20.05.2009 16:23
Hey,
Hab gerade nichts zu tun und wende mich daher deiner Geschichte zu.
Ja, ich weiss, eigentlich sollte ich deine mails lesen usw., aber das will ich im Moment einfach nicht.

Nun zur Geschite:
Ich weiss natuerlich schon was passieren wird, schliesslich hab ich das ganze schon Mal gelesen, aber ich mag die Geschichte - es schadet also nicht hier reinzuschauen. Du veraenderst ja manchmal alles, wenn du es abtippst.
Der Prolog ist wirklich gut geworden. Mir gefaellt vor allem wie du die Berater des - ich hab den Titel vergessen - beschreibst. Andererseits wuerde ich dir raten manchmal auf Pronomen zurueckzugreigen anstatt den Charakter zu beschreiben - wenn du weisst, was ich meine.

Was ich hier auch umbedingt reischreiben muss: Ich liebe denaufbau der Stadt wirklich! Deine Beschreibung ist dir gut gelungen, aber vor allem die Idee...

Bist du jetzt eigentlich endlich mit den Pruefungen durch?
Wenn nciht wuensch ich dir viel Glueck!
Ina_Sofia
Von: abgemeldet
2009-04-20T09:39:54+00:00 20.04.2009 11:39
Hab grad zufällig mal hier rein geschnuppert, und ja.... mir hats bisher gefallen :D

Bei nur 15 geplanten Kapiteln werden diese wohl ungleich länger werden, als der Prolog, deshlab kann ich nicht versprechen, dass ich die einzelnen Kapitel genauso aufmerksam lese wie den Anfang (hab leider eine extreme konzentrationsschwäche und besonders am Monitor, fällt es mir schwer mehr als eine Seite auf einmal zu lesen).

Aber der Auftakt ist sehr interessant und ich würde gerne mehr von Deiner Welt erfahren.

Ich setzt mal erwartungsvoll ein Abo, damit ich nix verpasse *g*

Viel Glück und Erfolg beim Abi!


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