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Herren der Winde

von

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Ein eigenwillige Prinzessin

„Wie bitte?“
 

*
 

Die Wächter, die weit genug entfernt waren, damit die dem Gespräch nicht folgen konnten, runzelten die Stirn angesichts der Tatsache, dass er so herumschrie – auch wenn sie nicht wusste, worum es ging.
 

Das Mädchen mit den roten Locken, das in Wirklichkeit die Ra-Cria war, wie er hatte feststellen müssen, lächelte amüsiert hinter einem eleganten Fächer hervor, den sie aus einer versteckten Tasche ihres taschenlosen Kleides gezaubert hatte.

Und Kameen war völlig sprachlos und starrte.
 

*
 

Es hatte sich folgendermaßen abgespielt:

Ihm war nichts anderes übrig geblieben als den Wächtern der Ra-Cria zurück in den Garten zu folgen. Dort hatte nur das rothaarige Mädchen gewartet, aber ihm war schnell klar geworden, um wen es sich dabei eigentlich handelte. Spätestens, nachdem die Wächter sich vor ihr respektvoll verbeugten, allerspätestens, nachdem sie sie adressierten.

„Hier ist er, Ra-Cria.“

„Danke“, sagte die Prinzessin des Reiches freundlich, aber bestimmt, und deutete ihnen, sie mit Kameen allein zu lassen. „Zieht euch jetzt zurück. Ich möchte mich mit dieser Person unterhalten – und zwar sowohl ungestört als ungehört. Habt ihr verstanden?“

„Natürlich, Prinzessin“, murmelten Beide und verschwanden, und stumm und angespannt blieb Kameen stehen, wo er stand, und blickte das Mädchen an.
 

„Verzeihung“, sagte die Prinzessin leise lachend und sah ihn fast entschuldigend an. „Ich habe mich weder vorgestellt, noch war ich besonders höflich zu dir. Du musst verstehen, ich hatte meine Gründe. Ich bin Medusa Rah-Xjunta, die Ra-Cria. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“

Kameen beugte höflich den Kopf, einerseits, um die Geste zu erwidern, mit der sie ihn bedachte, andererseits, um die widerstreitenden Gefühle in seinem Gesicht zu verstecken. Schlimm genug, dass irgend jemand seinen Anhänger fand, nein, es musste ausgerechnet die Ra-Cria sein. Und dann... Plötzlich war sie ganz anders als die freche Dienerin, für die er sie zuerst gehalten hatte. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Welcher Charakter war ihr eigener? Wer war die wirkliche Prinzessin? Da er nichts weiter sagte, ergriff Medusa wieder das Wort.
 

„Gehörst du zu den Herren der Winde, Kameen D´un Jatcha?“, fragte sie.

Kameen presste seine Lippen so fest aufeinander, dass er das Gefühl für sie völlig verlor. „Ich weiß, dass die Rebellen dieses Symbol benutzen“, fuhr sie fort und betrachtete es genauer. „Ich weiß, dass sie sich Herren der Winde nennen, und da du nicht widersprichst, scheinen meine Vermutungen wahr zu sein. Also... Was hast du mit ihnen zu tun?“
 

Trotzig verschränkte Kameen die Arme vor der Brust. „Selbst wenn ich die Herren der Winde kennen würde und wüsste, wo sie zu finden sind, würde ich das nicht verraten.“

„Anscheinend hast du deine Grundsätze. Es würde mich interessieren, ob du noch an ihnen festhältst, wenn du zwei Tage in einem geschlossenen Raum ohne Fenster verbracht hast.“
 

Kameens Lippen zuckten verächtlich. „Ich hätte nicht gedacht, dass eine Person, die so mächtig ist wie Ihr, sich solcher Einschüchterungsversuche bedienen muss.“

Über den Inhalt ihrer Aussage machte er sich allerdings keine Illusionen. Schon viele Menschen waren in den Kerkern des Rah-Ten verschwunden, ohne dass man je wieder etwas von ihnen hörte. Nicht, dass er darauf erpicht gewesen wäre, sich mit Kakerlaken und Wüstenratten ein gemeinsames Leben aufzubauen, aber Zirkon und Pyroxen und die Anderen verraten würde er sicherlich nicht.
 

„Das habe ich auch nicht nötig“, sagte die Prinzessin mit seidenweicher Stimme. Kalt lief es Kameen den Rücken hinunter. Hatte sie etwa noch Schrecklicheres mit ihm vor? Aber dann sagte sie:

„Nun ja, eigentlich hatte ich ja gehofft, du würdest mir vertrauen, denn dann könnte ich dir und den Rebellen sicherlich helfen. Ich möchte genauso wenig wie ihr, dass die Herrschaft meines Vaters noch lange währt. Nicht, dass ich scharf darauf bin, selbst Herrscherin der Stadt zu werden, beileibe nicht!“

Nun, das hätte ich jetzt auch gesagt, dachte sich Kameen, der Mühe hatte, das Gesagte zu verarbeiten. Trieb sie Spielchen mit ihm? „Und ich habe die geeignetsten Verbindungen. Ich könnte euch Informationen aus dem Palast zukommen lassen.“

Das war schließlich der Punkt, an dem Kameen laut ausrief:

„Wie bitte?“
 

*
 

„Wie bitte?“, war genau der Ausdruck, welcher Pyroxen, Zirkon und Spinell synchron aus den Mündern kam, nachdem Kameen ihnen von seinen Erlebnissen des Tages erzählt hatte.
 

Die Vier Herren der Winde saßen in ihrem Hauptquartier, einer verlassenen Villa am äußersten Rande Xjuntas, die einst einer Mittleren Familie gehört hatte und von ihr verlassen worden war. Die großen Hallen waren teilweise bereits eingestürzt und der Sand hatte sich zurückgeholt, was ihm gehörte, und deshalb war dieser Ort als Treffpunkt so ideal. Niemand kam hierher.

„Du sollst einfach nur Informationen im Palast beschaffen, als Vertrauensbeweis, und das Einzige, das du erreichst, ist, dass du erwischt wirst? Von der Ra-Cria persönlich?“
 

Um seine Sorgen zu bekräftigen, fuhr Pyroxen sich mit beiden Händen durch seine Haare, erreichte jedoch keine (sichtbare) Verbesserung. „Dann sind wir geliefert! Bildet euch nicht ein, dass sie uns wirklich helfen wollte. Sie ist ein verwöhntes, eingebildetes Mädchen! Wenn sie behauptet, gegen ihren Vater zu sein, wird das entweder ein Trick des Rah-Ten sein oder eine ihrer Launen.“

„So kam mir das ganze aber nicht vor“, sagte Kameen und versuchte, vernünftig zu sein. „Sie wirkt weder verzogen noch, als ob sie uns eine Falle stellen wollte. Und wir können jede Hilfe gebrauchen.“
 

Es verärgerte ihn nicht, dass man seine Menschenkenntnis in Frage stellte. Er hatte erwartet, dass man diesem Angebot gegenüber misstrauisch sein würde. Aber es kränkte ihn, dass die Anderen seine Kompetenz in Frage stellten... Schließlich hatte er es nicht darauf angelegt, dass die Prinzessin ihn erwischen konnte, und er trug auch keine Schuld an dem Vorfall. Er hatte wirklich nur sein bestes geben wollen, und dann war das passiert.
 

„Er hat Recht“, sagte Zirkon seelenruhig, völlig das Gegenteil seines Cousins. „Wenn sie es wirklich ernst meint, ist es ein Geschenk des Himmels. Sie wird noch weitaus mehr erfahren als Kameen es je würde.“

Spinell schwieg und runzelte die Stirn, aber alle wandten sich ihm zu, um seine Meinung als nächstes zu hören. Also seufzte er auf und gab sie dazu: „Man könnte sie wenigstens vorher treffen und dann erst entscheiden, ob die Gegenleistung, die sie fordert, angemessen ist.“

„Wer sagt, dass sie eine Gegenleistung fordert?“

Wieder zuckte Spinell nur mit den Achseln.

„Will sie nicht?“

Kameen wusste es nicht.
 

„Taktisch klug wäre es, sie zuerst zu treffen“, sagte er leise.

Pyroxen grummelte. „Aber wenn sie etwas vorhat...“

Sein Cousin unterbrach ihn, in dem er warnend den Zeigefinger hob. „Er war noch nicht fertig!“
 

Mit einem dankbaren Blick fuhr der Heilersohn fort. „Aber sie könnte etwa vorhaben, uns in eine Falle laufen zu lassen. Deshalb müssen wir vorbereitet sein. Und sehr, sehr vorsichtig. Wir sollten uns auf jeden Fall auf neutralem Gebiet treffen, aber uns trotzdem einen Vorteil verschaffen, in dem wir den Treffpunkt vorher festlegen. So haben wir das Gelände im Kopf und werden wissen, wenn sie etwas vorhat. Wir sollten sie auf jeden Fall treffen, und wenn nur, um herauszufinden, dass sie uns hereinlegen wird. Oder wollt ihr etwa behaupten, dass ihr Angst vor einem Mädchen habt, selbst, wenn es die Ra-Cria ist?“

Spinell nickte zustimmend. „Natürlich nicht“, sagte er, und er meinte damit die Angst.

Zirkon stieß Pyroxen einen Ellenbogen in die Seite. „Komm schon ich bin mir sicher, dass sie uns wirklich helfen kann!“

„Gut“, stieß der hervor. „Aber nur treffen! Und wenn sie etwas Linkes plant, dann...“ Zirkon grinste.

Und Kameen atmete erleichtert auf. „Ich dachte mir schon, dass ihr einverstanden sein würdet. Deshalb habe ich sie gebeten, uns heute Abend zu treffen.“
 

*
 

„Das nennst du neutral?“, fauchte Pyroxen zwei Tage später und sah hinaus in die Wüste.
 

Er, Zirkon, Spinell und Kameen standen im Schatten eines dunklen Wachturms auf der Außenmauer des Palastes des Rah-Ten und warteten auf das Erscheinen der Ra-Cria, mit der sie „verabredet“ waren. Zirkon, der bisher angestrengt in die Nacht gestarrt hatte, musste kichern.

„Ich nehme an, dass er einen guten Grund hatte, warum er ausgerechnet die Haustür des Palastes als Treffpunkt ausgemacht hat“, sagte er leise und warf einen Seitenblick auf Kameen.

Der zuckte nur die Achseln. Spinell spähte auf der anderen Seite von Pyroxen in den Hof hinunter.

„Es ist nicht so einfach, das Haus unbemerkt zu verlassen, wenn man zu einer der Obersten Vier gehört“, bemerkte er. „Ich schätze, die Ra-Cria dürfte es da noch viel schwerer haben.“

Der große, rothaarige Junge lehnte sich an die Mauer hinter ihm.

„Sie lässt sich Zeit“, maulte er.

„Psst!“

Aus dem stockfinsteren Burghof, der nur an einigen wenigen Ecken durch Fackeln erleuchtet war, die kaum einen Umkreis von drei Metern erhellten, hörte man leise Schritte. Fast unhörbar raschelte der Sand auf dem Boden, als barfüßige Füße über ihn hinwegschritten. Die vier Männer tauschten einen Blick aus und zogen sich in den Schatten des Turmes zurück.
 

*
 

Komisch.

Unwillkürlich zog Medusa den Kopf ein, als sie über den Hof schlich. Sie trug einen schwarzen Umhang, der sie von Kopf bis Fuß verdeckte und keinerlei Schlüsse auf Statur, Augen und Haar zuließ. Jemand, der sie gesehen hätte, hätte sich nicht gewundert: Nächte in Xjunta waren kalt.

Die Treppe zum äußersten Wachturm an der Südmauer war aus Stein gehauen, fast hätte sie erleichtert aufgeseufzt, als ihre Füße den warmen Sandstein berührten, der die tagsüber gespeicherte Wärme nun endlich abgab. In der Ferne schrie ein Wüstenstar, und das Mädchen zuckte zusammen. Die Nacht hielt ihre völlig eigene Palette an Geräuschen bereit...
 

Leise erklomm sie den Turm, auf dem sie sich mit den Herren der Winde treffen wollte. Sie war mißtrauisch gewesen, als der Sohn des Heilers ausgerechnet diesen Ort vorgeschlagen hatte. Aber was hätte sie auch tun sollen? Wenn man ihr eine Falle stellen wollte, dann wäre sie hilflos. Sie hatte niemandem gesagt, wo sie hinging. Sie hatte keine Verstärkung. Sie vertraute darauf, dass Kameen D´un Jatcha sein Wort halten würde, und im Gegenzug würde sie ihres halten.

Endlich an der Spitze angekommen, atmete sie lautlos auf und trat an den Rand der Plattform. Vorsichtig strich sie mit der Hand über die Feuerstelle, die, von weither deutlich sichtbar, auf der Spitze stand. Außer in Notsituationen brannte hier sowieso nie ein Feuer. Gleichwohl war heute hier kein Wächter anwesend, weil Medusa dem zuständigen Wächter verdeutlicht hatte, dass es der Wunsch des Rah-Ten war, dass nur jeder zweite Turm besetzt werden sollte, dies jedoch doppelt. Ihr Vater, das wusste sie, hätte diesen Befehl niemals gegeben – obwohl es taktisch klüger war.
 

Entlang der sechs Außenmauern des Palastes standen 12 Wachtürme, jeweils einer an der Seite und einer an der Ecke, so dass die meisten Türme das selbe Gebiet überwachten. Es reichte völlig, nur die Türme an den Ecken des Hexagons zu besetzten und es würde trotzdem noch das selbe Gebiet überwacht und das selbe Risiko getragen werden. Nein, es sank sogar, denn zwei Wächter in einem Turm waren sicherer nicht einzuschlafen als einer Allein.
 

„Guten Abend, Ra-Cria“, sagte eine Stimme leise aus dem Schatten.

Medusa beherrschte sich gut genug, um nicht allzu deutlich zurückzuschrecken, und sie drehte sich um. Abschätzig musterte sie den Mann, der nun in den Schein des Mondes trat.
 

„Wer bist du?“

Ihr Gegenüber zögerte. „Ich glaube nicht, dass...“

Offensichtlich wusste er es nicht zu deuten, dass sie keine Angst zeigte.

„...Dass Unsere Namen wichtig sind“, sagte eine zweite Person und schwang sich neben Medusa über die Brüstung.

Ein Dritter trat durch die Tür.

„Seid gegrüßt, Ra-Cria“, sagte er und verbeugte sich leicht.
 

„Na, wenigstens einer von euch hat Manieren“, sagte sie spöttisch und dachte, dass ihr die Art, wie sich der Mann bewegte, bekannt vorkam.

„Ich bin hier, um Kameen D´un Jatcha zu treffen.“ Als sie das sagte, passte ihre äußerliche Ruhe nicht zu dem Trommelwirbel, den ihr Herz veranstaltete.

„Wo ist er?“
 

Die drei Männer sahen sie wortlos an. Der Kleinste von ihnen (was nicht viel heißen mochte, er war immernoch größer als sie) betrachtete sie interessiert. „Ihr seid also die Ra-Cria?“

„Besteht ein Zweifel?“, schnauzte sie zurück. Aber er lächelte nur. „Nun, ich habe Euch noch nie gesehen, also wie soll ich mir sicher sein, dass Ihr es seid?“

Sie verstummte.

„Nun, egal wer Ihr seid, ihr müsst entweder sehr mutig und von euch selbst überzeugt sein oder sehr dumm. Mitten in der Nacht vier wildfremde Männer zu treffen, jedes kleine Kind könnte euch sagen, wie gefährlich das ist. Wir könnten euch entführen. Oder, noch schlimmer...“, er lächelte in einer vagen Andeutung aus Schatten und kaltem Mondlicht, „Wir könnten Euch ermorden. Keine angenehme Aussicht, nicht wahr?“
 

„Ich habe gehofft, dass mir das erspart bleibt“, meinte sie schnippisch. „Ich bin hergekommen, weil Kameen D´un Jatcha mir sein Wort gegeben hat, dass mir nichts passieren wird. Wo ist er jetzt?“
 

Kameen trat aus dem Schatten wie ein Schattenwolf, ein Wesen, dass sich so perfekt in den Dunkeln des Lichtes tarnen konnte, dass man sich seiner Gegenwart erst zu spät bewusst wurde.

„Es freut mich, dass Ihr gekommen seid, Ra-Cria“, sagte er leise und verbeugte sich ebenfalls.

„Bah!“, murmelte Pyroxen, während Zirkon und Spinell zwischen beiden hin und hersahen.
 

„Nun?“, sagte Medusa fordernd, ohne Begrüßung, ohne Vorrede.

„Ich habe euch meine Hilfe angeboten, wenn ihr den Rah-Ten stürzen wollt. Ich kann für euch im Palast spionieren, ich kenne ihn besser als meinen Kleiderschrank, und die Menschen im Palast kennen mich. Sie werden es nicht verwunderlich finden, wenn ich Fragen stelle. Wollt ihr jetzt oder nicht?“

Kameen, der ahnte, dass immernoch etwas kam, sah sie misstrauisch an. „Was wird die Gegenleistung für Eure Hilfe sein?“, fragte er ruhig, in der Erwartung, dass sie irgendwelche Dinge verlangen würde, die nicht in seiner Macht standen. Aber Medusas Beweggründe waren anderer Art. Was sie nun versuchte, den Anderen darzulegen. Schweigend hörten Zirkon, Spinell, Kameen und sogar Pyroxen zu.
 

„Mein Vater, der Rah-Ten, war nicht immer so ein grausamer Mann, wie er heute ist, das müsst ihr mir glauben. Als ich noch ein kleines Mädchen war, kann ich mich daran erinnern, dass er der freundlichste und umgänglichste Mensch überhaupt war, er hatte immer ein offenes Ohr für die Probleme anderer Menschen und versuchte zu helfen, so weit es in seiner Macht stand. Xjunta, die Stadt, die ihm anvertraut worden war, liebte er aus ganzem Herzen.“

„Wann war das nochmal?“, unterbrach Pyroxen spöttisch. „In einem anderen Leben?“

Wütend funkelte Medusa ihn an. „Ich kann dir genau sagen, wann dieser Wahnsinn begann, und ihr wisst es!“

Kameen schnitt vorsichtig ein. „Prinzessin, hättet Ihr die Güte, genau zu sagen, ab wann?“

„Seit dem Jahr, in dem meine Mutter starb. Ich war ein kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt.“
 

Das brachte Pyroxen, der gerade wieder ein bissiges Kommentar auf den Lippen hatte, zum Schweigen. „Das tut mir leid“, sagte Zirkon leise. „Das muss schrecklich für Euch gewesen sein.“
 

Mit einem schrägen Blick auf den Blonden fuhr sie fort. „Sie starb, als sie auf den Markt ging. Wüstenpiraten überfielen sie auf dem Rückweg, vergewaltigten sie und liessen sie liegen, bis sie verblutete. Mein Vater fand sie Stunden später. Und seit damals hat er sich verändert. Sie hatte ihn immer beruhigt, wenn er sich aufregte, sie war immer seine ausgleichende Hälfte gewesen. Nun, da sie fehlte, war er wahnsinnig vor Schmerz über ihren Verlust, und niemand konnte ihn aufhalten. Das war der Tag des Gemetzels im Piratenviertel.“

Betroffenes Schweigen hatte sich über sie gelegt. Alls starrten sie an, ohne ein Wort zu sagen.
 

„Das ist nicht der Mann, der mein Vater war“, sagte Medusa, heftiger, als sie es beabsichtigt hatte. „Er kümmert sich nicht mehr um seine Stadt. Er kümmert sich nicht mehr um sein Volk. Er will die Herrschaft ganz für sich haben, er hasst die Unterschicht, weil Sandpiraten ihr nun mal angehören. Er hasst die Mittleren Familien, weil sie nichts unternehmen können, um ihm zu helfen, und er hasst die Oberen Vier, weil sie nichts unternehmen, um ihm zu helfen, die Unteren Familien ein für alle Mal auszurotten. Er ist nicht mehr nur darauf aus, meine Mutter zu rächen. Er will Genugtuung, und wer dafür leiden muss, ist ihm egal. Mittlerweile ist er nur noch ein seelenloses Monster, welches die Herrschaft ganz an sich reißen und es mit niemandem teilten will. Er hört nicht einmal auf mich. Und deshalb“ – Medusa holte Luft – „Deshalb muss er gestürzt werden. Er würde nur noch mehr Leid bringen. Er ist wahnsinnig geworden.“
 

„Bravo, Ra-Cria“, bemerkte Spinell.

„Sei still!“, fuhr ihn Zirkon an. „Kannst du dir nicht vorstellen, wie sie sich jetzt fühlen muss? Sie kämpft gegen ihren eigenen Vater!“

Von einer Sekunde auf die nächste verschloss sich Spinells Gesicht völlig. Es war im Dunkel der Nacht nicht gut erkennbar, aber Kameen stand direkt neben ihm und sah es doch. Und weil keine Erwiderung kam, wandte sich Zirkon achselzuckend ab.
 

Pyroxen und Kameen sahen sich an und verständigten sich lautlos. „Können wir ihr vertrauen?“, fragten Kameens Finger in einer Sprache, die sie in den letzten Wochen selbst entwickelt hatten. Pyroxen konnte die Hände seines „Gesprächspartners“ zwar kaum erkennen, aber er verstand, worauf der andere hinauswollte.

„Wir müssen vorsichtig sein. Aber wir sollten es versuchen. Sie scheint vertrauenswürdig zu sein.“ Zufrieden nickte Kameen und wandte sich der Prinzessin zu.

„Ra-Cria, wenn Ihr immernoch sicher seid, dass Ihr uns helfen könnt... Dann seid willkommen als Mitglied der Herren der Winde. Macht unserem Namen keine Schande.“

„Wie jetzt?“ Ungläubig schaute Medusa von Einem zum Anderen. „Ihr vertraut mir einfach so?“ „Warum nicht? Gäbe es einen Grund, es nicht zu tun?“, fragte Zirkon fröhlich.

„Ja, aber... aber...“

„Was habt Ihr erwartet? Eine Aufnahmezeremonie?“, kam es spöttisch von Spinell.

„Ja, aber...“

Die vier jungen Männer erwiderten den Blick des Mädchens fest.

„Ich will nur, dass mein Vater nicht mehr Rah-Ten ist, klar?“, sagte sie trotzig. „Keine Sorge, mehr wollen wir auch nicht“, beruhigte sie Kameen. „Oder glaubt Ihr, dass wir einen Krieg anzetteln wollen?“ Medusa schüttelte den Kopf.

„Und jetzt geht Ihr besser wieder, bevor irgendjemand Euer Fehlen bemerkt und auf die Idee kommt, auf den Wachtürmen zu suchen. Ich werde Euch benachrichtigen, sollte etwas Wichtiges sein.“

„Gut.“

Plötzlich war sie wieder Herrin der Situation. „Dann gehe ich jetzt und lasse den Rah-Ten wissen, dass ihr hier seid.“ Ohne eine Miene zu verziehen, machte sie sich an den Abstieg vom Wachturm. „HA...!“

Pyroxen, Zirkon, Spinell und Kameen setzten entsetzt dazu an, ihr zu folgen, aber sie war ihnen bereits weit voraus. Wollte sie jetzt wirklich dem Rah-Ten berichten, was sie heute erfahren hatte? Sie war also doch nur eine Spionin gewesen! Aber dann tauchte ihr Kopf noch einmal über dem Geländer der Wendeltreppe auf, die auf den Hof führte, und sie grinste über beide Ohren.

„Das war ein Scherz! Ich werde euch auf keinen Fall verraten! Ehrenwort der Ra-Cria!“

Und sie verschwand wie ein Schatten.

„Gut zu wissen“, sagte Kameen und presste eine Hand auf sein wie rasend schlagendes Herz.

„Sie hat einen merkwürdigen Humor“, sagte Spinell trocken und liess sich auf den warmen Steinboden des Turmes sinken. Kameen nickte nur. Was für eine Prinzessin! Das würde ja noch heiter werden!
 

*
 

„Ach, übrigens“, sagte Zirkon einige Zeit später. Sie hatten beschlossen, den Sonnenaufgang vom Turm aus zu beobachten. Es war ein Wunder, wie strahlend die Farben der Welt leuchteten, wenn die ersten Sonnenfinger sie im Schlaf sanft berührten... Einträchtig saßen sie nebeneinander und schwiegen. Bis Zirkon die Stille brach.

„Meint ihr nicht auch, dass Kameen es verdient hat, unser Anführer zu sein?“

„Wie bitte?!“

Der Ausruf kam sowohl vom Genannten als auch von Pyroxen. Spinell nickte nur zustimmend, und Zirkon warf ihm einen dankbaren Blick zu.

„Nun, er hat das Treffen mit der Ra-Cria ordentlich organisiert und vorbereitet. Dadurch, dass wir sie zur Verbündeten haben, haben wir eine wirklich gute Chance gegen den Kaiser. Außerdem ist er ein guter Heiler, ein kluger Stratege und er denkt voraus.“ „Du bist auch ein Stratege“, sagte Pyroxen. „Und ich organisiere. Und Spinell hat alles im Kopf. Warum brauchen wir einen Anführer?“

Kameen wäre lieber im Sand versunken als diesem Gespräch weiter zuhören zu müssen.

„Hört mal, er hat ganz Recht. Wir brauchen keinen Anführer, und ich will auch keiner sein. Viel zu anstrengend.“

Zirkon ignorierte ihn so gekonnt, dass er selbst das Gefühl hatte, nichts gesagt zu haben. Oder gar nicht erst da zu sein.

„Aber Kameen hat alle diese Eigenschaften in sich vereint. Er wäre ein wirklich guter Chef, das meinst du doch auch, Pyroxen!“ Der grummelte, aber trotzdem konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, dass sein Cousin Recht hatte. Kameen war der ideale Anführer. Er konnte froh sein, ihn getroffen zu haben.

„Meinen Segen hat er“, sagte Spinell und tätschelte Kameen über den Kopf wie einem kleinen Hund.

Zirkon grinste. „Meinen auch!“

„Na, meinethalben“, grummelte Pyroxen. „Aber wenn er Mist baut, fliegt er!“
 

Kameen schloss entsetzt die Augen. Chef. Warum er? Was hatte er wieder angestellt? Das würde mühsam werden.



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