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Herren der Winde

von

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Nicht einmal nahe dran

Kap 3 Vier sind noch kein Plan
 

Zirkons Familie war arm. So arm, dass Kameen beim Anblick der Hütte, in der sie lebten, Kopfschmerzen bekam. So arm, dass ihn die Mutter wie den Rah-Ten persönlich behandelt hätte, nur weil er zwei Schläuche Wasser mitbrachte – wenn er es zugelassen hätte. Zirkon und Pyroxen führten ihn hinein, während die anderen Rebellenmitglieder, deren Namen ihm bereits wieder entfallen waren, vor dem Haus warteten. Welches, genau genommen, den Namen „Haus“ nicht verdiente, aber das Hämmern in seinem Kopf war zu laut, als dass er sich darüber nähere Gedanken machen wollte. Im einzigen Raum, der Küche, Wohn- und Esszimmer zugleich war, war im hinteren Teil ein Lager aus Sand, Schilf, Stroh und fadenscheinigen Decken errichtet worden. Eine Frau kniete vor einem niedrigen Feuer und rührte in einem Topf, und als sie eintraten, sah sie auf. Das einstmals recht schöne Gesicht war zerfurcht von Falten und Linien... Dabei war diese Frau nicht älter als seine eigene Mutter, dachte Kameen, dennoch. Ein kleines, müdes Lächeln huschte über ihr Gesicht, bis sie Kameen sah. „Oh.“ Sie musterte ihn scharf. „Wer ist das denn? Er sieht irgendwie....“ „Das ist ein Heiler, Mutter“, sagte Zirkon beruhigend. „Er will nach Merina sehen und kann ihr vielleicht helfen!“ Hoffnung blitzte in ihrem Gesicht auf. „Aber...“ „Keine Sorge, Tante!“, sagte Pyroxen jetzt und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Kameen sah den Blick trotzdem, den sie austauschten. „Wo schläfst du eigentlich, Zirkon?“, fragte Kameen, nur, um etwas zu sagen. Er konnte außer dem offensichtlichen Krankenlager am Ende des Raumes keine weitere Schlafstatt sehen. Ohne eine Antwort deutete Zirkon auf eine Leiter, die im Dunkel einer Dachnische verschwand. Dort oben musste es tagsüber glühend heiß sein und Nachts eisig kalt.

Zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, tauchten aus dem Schatten aus und wuselten lachend um ihren großen Bruder herum. Leicht lächelnd fuhr er beiden liebevoll durch die Haare, überließ sie aber ihrem Fangspiel und winkte Kameen, ihm zu folgen.
 

Auf dem Lager lag ein Mädchen.
 

Und sie hatte die selben Augen und Haare wie Zirkon.
 

„Zwillinge!“, entfuhr es Kameen. Zwillinge waren selten in Xjunta. „Ja“, sagte Zirkon. „Das ist meine Schwester Merina.“ Bittend schaute er den Sohn des Heilers an. „Wie geht es ihr?“ Kameen fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Sie braucht Wasser“, seufzte er. Das war so offensichtlich. Das Mädchen trug ein Fieber mit sich herum, das sah er, ohne sie genauer untersucht zu haben, und was ihr jetzt am Meisten helfen würde, wären Ruhe, warme Decken, eine saubere Umgebung und gute Pflege gewesen, dazu Kräutertee und Wasser. Viel Wasser. Und nicht einmal das konnte ihre Familie ihr geben – ganz einfach, weil sie zu arm dafür waren. Erneut seufzte er auf, aber nicht so laut, als dass Zirkon sich hätte Sorgen machen müssen, griff in seine Tasche und holte ein kleines Beutelchen getrockneter Mondblüten hervor. „Mach Wasser über dem Feuer heiß“, instruierte er Zirkon, „Dann gib das hier dazu.“ Er sagte es teils, weil er Hilfe brauchte, teils, um ihn aus dem Weg zu schaffen, und erleichtert, etwas zu tun zu haben, wandte sich der Blonde ab. „Was ist das?“, fragte Pyroxen misstrauisch. „Getrocknete Mondblumen. Sie senken Fieber und geben dem Körper die Kraft, sich gegen die Krankheit zu wehren – vorausgesetzt, er ist noch willens, zu leben.“ „Und es ist nicht gefährlich?“ „Wie was, zum Beispiel?“ „Wie Gift, zum Beispiel.“ Der Heiler verdrehte die Augen. „Natürlich ist es gefährlich. Mondblumenextrakt ist das giftigste Gift überhaupt. Es tötet lautlos, geruchs- und geschmacklos innerhalb weniger Sekunden, und angenehm ist es sicher nicht. Aber das da sind Mondblumenblüten, und sie sind eine wirksame Fiebermedizin. Sie werden in der Heilkunst oft angewendet.“ Die Augen seines Gegenübers blitzten gefährlich. „Ich warne dich, Heilersöhnchen. Wenn du uns hier vergiften willst, wir werden Mittel und Wege finden, uns zu rächen!“

Tot, oder was.

Kameen zuckte die Schultern. Wenn er sie vergiften wollte, richtig vergiften, mit tödlichen Folgen, dann würden sie es erst wissen, wenn es für sie alle längst zu spät war. Ohne Ausnahme. Aber an so etwas hätte er in seinen größenwahnsinnigsten Träumen nicht geträumt. Sein Vater hatte ihn zusammen mit der Heilkunst einen tief verwurzelten Respekt vor allem Lebendigen eingeflößt, vor Menschen wie Tieren wie Pflanzen. Er würde die Heilkunst nicht verwenden, um zu töten. „Ich habe nichts gegen euch. Ihr seid die, die mir gefolgt sind und mich angreifen wollten.“ Und dann wandte er sich einfach von Pyroxen ab. „Darf ich deine Stirn berühren?“, fragte er leise das schwache Mädchen auf dem Lager. „Sie schläft!“, zischte Pyroxen wütend. Kameen zog die Brauen hoch, und die Augen des Mädchen öffneten sich ein wenig. Ängstlich sah sie ihn an. „Ja.“ Kameen konnte es nicht hören, aber er las es an ihren Lippen ab. Vorsichtig legte er seine kühle Hand auf ihre heiße Stirn. Sie hatte wirklich hohes Fieber, höchste Zeit, dass man ihr half. Noch länger, und die Hitze hätte ihren Körper von innen aufgezehrt. Merina sah den jungen Heiler über sich stehen, spürte seine Hand angenehm auf ihrer Stirn und schloss die Augen. Nach dem sie den Tee getrunken hatte, fielen ihr die Augen erneut zu. Zum ersten Mal seit langer Zeit schlief sie wieder tief und ruhig, und eine kühle Hand und eine sanfte Stimme begleiteten ihre Träume.
 

Der Sonnenstand war schon lange über die Mittagsschwelle getreten und war schon fast wieder in Begriff, sich hinter die Sanddünen der Ewigen Wüste zu senken, als Kameen wieder aus dem Haus trat. Pyroxen folgte ihm auf den Fuß. „Du scheinst wirklich zu wissen, was du tust“, gab er widerwillig zu. „Danke“, sagte Kameen steif und wischte sich die Hände an einem sauberen Tuch ab. „Und jetzt, da sie über den Berg ist, gehe ich auch wieder.“ Allein bei dem Gedanken, dass diese Männer ihn noch irgendwie in ihre Sache hineinziehen wollten, schüttelte es ihn. Sich gegen den Rah-Ten und gegen die Obersten Vier zu stellen, das bedeutete, seine Familie preisgeben zu müssen. Die Neutralität in politischen Fragen, die sich die Familie D´un Jatcha in so vielen Jahren erkämpft hatte, wäre dann dahin. Es kam nicht in Frage, mit den Menschen der Unterschicht gemeinsame Sache zu machen. Es tat Kameen weh zu sehen, wie arm sie waren, wie erbärmlich sie lebten. Aber er konnte nur tun, was in seiner Macht stand, und dazu gehörte sicherlich kein Aufstand. Wer etwas wagte, das mehr beanspruchte als die Kraft, welche die Person aufbringen konnte, konnte nur mit dem Tod rechnen. In seinem Kopf stritten schon lange Vernunft und Herz miteinander und versuchten, eine Lösung für sein moralisches Dilemma zu finden, aber anscheinend gab es keine.

„Du würdest jetzt einfach wieder gehen?“ Pyroxen musterte ihn scharf, und irgendwie fühlte sich der Heiler, als würde er gerade einer Prüfung unterzogen. Das Gefühl gefiel ihm gar nicht. „Warum nicht? Ich habe euch schon geholfen. Ich war euch nie einen Gefallen schuldig. Und jetzt habe ich euch schon wieder geholfen - eigentlich müsstet ihr mir dankbar sein.“ „Das sind wir auch, glaub mir.“ „Dann lasst mich wieder gehen.“

Eine Weile standen sich Beide stumm gegenüber und fixierten sich.

Keiner von Beiden drehte sich weg oder senkte die Augen, während aus einiger Entfernung Menschen das Wettstarren aufmerksam beobachteten. Kameen und Pyroxen waren zu weit weg von den Rebellen, als dass diese hätten verstehen können, wovon sie sprachen, trotzdem senkten sie ihre Stimmen. „So einfach ist das nicht.“ „Warum nicht?“ „Hast du dich nicht gefragt, warum wir dich vor deiner Haustür abgefangen haben?“ Wirklich, eine gute Frage. Sie hätte Kameen interessiert, stünde er noch immer dort, wo er vor Stunden gestanden hatte, aber nun war er genervt und desinteressiert. Seine eigene Unfähigkeit, seine Probleme im Kopf lösen zu können, nagte an ihm. „Nein. Ich will es nicht wissen.“ „Oh, das willst du doch.“ „Nein.“ „Sicher?“ „Sicher. Ich habe wegen euch sogar schon im Gefängnis gesessen. Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben. Lasst mich endlich gehen.“ „Eben deshalb. Tritt uns bei. Du hast gesehen, wie wir leben. Du weißt, was Gerechtigkeit ist und du weißt, dass das hier...“ Seine Geste umfasste das gesamte Hüttenviertel – „...Nicht Richtig ist. Du hast die Ungerechtigkeit des Rah-Ten am eigenen Leib erfahren. Hilf uns, dem ein Ende zu bereiten.“ „Wie bitte?“ Kameen glaubte, sich verhört zu haben. „Ihr wollt, dass ich euch beitrete? Wer ist überhaupt „euch“?“ „Wir sind die Rebellen.“ Kameen brauchte nicht lange zu überlegen. „Was für ein überaus großzügiges Angebot. Danke, aber Nein, Danke.“ Pyroxen liess sich nicht aus der Ruhe bringen. „Denk bitte darüber nach. Du bist aus einer Mittleren Familie, du hast das nötige Wissen über die Stadt. Du kannst gut organisieren und vorausplanen...“ „Woher willst du das wissen?“ „Ich habe gesehen, wie du deine Sachen gepackt hast, die du mitnehmen wolltest, bevor wir hierhergekommen sind...“ Schon fuhr er fort. „Du kennst dich sehr gut in der Stadt aus. Manche Schleichwege kannte nicht einmal ich...“ „Ihr seid mir gefolgt!“ „Du bist im Palast gut bekannt und kannst ein- und ausgehen...“ „Ich bin nur der Assistent meines Vaters!“ „Und du bist ein begnadeter Heiler.“ „Ich...“ Gegen diese Argumenteflut war Kameen machtlos. Wie lange hatte Pyroxen sie sich schon zurechtgelegt? Wie konnte er angesichts dieser Tatsachen vor seinen Augen ein steinernes Herz bewahren und ihnen weiterhin seine Hilfe verweigern? „Kannst du es nicht verstehen oder willst du es nicht verstehen?“ Langsam wurde seine Stimme lauter. Er konnte nichts dafür. Eigentlich brauchte es viel, um Kameen, den stillen, wortkargen Kameen, überhaupt zum Sprechen zu bewegen... Und jetzt war er beinahe am Schreien. „Ich kann meine Familie nicht gefährden! Wenn ich euch helfe, bringe ich sie auch in Gefahr. Deshalb haben wir uns Jahrzehnte neutral verhalten: Wir haben nicht genug Geld und Einfluss, um bei einem eventuellen Krieg zu überleben! Wir sind nur Heiler, seit Generationen schon!“ Auch sein Gegenüber wurde nun wütend, und er hatte keine Hemmungen, dies auch zu zeigen. „Und wir? Was denkst du dir, dass wir Spaß haben, uns immer und immer wieder mit den bewaffneten Wächtern anzulegen? Meinst du das? Auch wir gefährden unsere Familien und uns selbst. Aber glaub mir, alles ist Besser, als so zu leben, wie wir es nun müssen, selbst der Tod! Also sterbe ich lieber im Kampf für ein besseres Leben für meine Eltern und Geschwister, als dass ich weiterhin die Hände in den Schoß lege und mich selbst beschütze! Nichts auf der Welt ist schlimmer als im Angesicht der Gefahr passiv zu bleiben, denn wenn man nichts tut, verändert sich auch absolut Nichts! Geht das in deinen Schädel?“ Kalt starrte Kameen ihn an. „Schon“, sagte er ohne eine Regung, denn hätte er seinen Gesichtsmuskeln erlaubt, sich zu bewegen, hätte man die tiefe Traurigkeit gesehen. „Ich gehe jetzt wieder. Ich verspreche, ich werde euch nicht an die Wächter verraten, solange ihr mich ungehindert gehen lasst.“ Der Anführer der Rebellen lächelte grimmig. „Du vergisst, dass du dich auf unserem Gebiet befindest.“ Er hatte Recht. Kameen wäre ohne Probleme vom Spica-Bazaar nach Hause gekommen, aber mit einer dermaßen großen Zahl an Verfolgern... Trotzdem verschränkte er gelangweilt die Arme. „Ich bin für euch im Gefängnis gesessen. Ich habe Zirkons Schwester gerettet. Ihr seid mit etwas schuldig, glaubst du nicht auch?“ „Das kann man sehen, wie man will.“ „Und wie seht ihr es?“ Pyroxen lachte trocken. „Wir sehen nichts. Wir sind verzweifelt.“ Daraufhin wusste der braunhaarige Mann keine Antwort.
 

„Pyroxen!“ Sechs junge, bullige Männer kamen die Straße hinunter gelaufen, einen Siebten fest im Schlepptau. Dunkles Haar war für einen Moment sichtbar, dann zog der Fremde seine Kapuze wieder fest über den Kopf und schüttelte die Hände seiner „Garde“ trotzig ab. „Was soll das? Ihr könnt nicht einfach mitschleppen, wen ihr wollt, das ist gegen die Bürgerrechte.“ „Hörst du, wie er redet?“ Einer seiner Bewacher kicherte leise und sah seinen Anführer an. „Scheint ein Diener aus dem Palast zu sein, vielleicht Einer der Rechtsgelehrten. Er hatte das hier dabei...“ Einige Goldstücke fielen in Pyroxens ausgestreckte Hand – „Und sonst nichts.“ Verächtlich sah Pyroxen den jungen Mann an, der den Blick funkelnd erwiderte. „Warum habt ihr ihn hergebracht?“ Die Rebellen sahen sich an. „Wir dachten, er könnte nützlich sein...“, sagte der Eine, und Pyroxen seufzte. „Wie heißt du?“, fragte er den Fremden. Aber der presste fast spöttisch die Lippen zusammen und schwieg. „Hey!“ Pyroxen packte den Kragen der Tunika und zog den Mann zu sich – und der trat aus. „Autsch!“ Vom Tritt geschleudert, flog der Anführer der Rebellen gegen die Lehmmauer der zerbrechlichen Hütte, welche bedrohlich ächzte. Aber er war sofort wieder auf den Beinen und zeigte keine Spur von Schmerzen. „Passt auf!“, herrschte er die Sechs an, die den Mann mitgebracht hatten, aber diese hatten sich schon auf den Umsichschlagenden gestürzt und hielten ihn mit vereinten Kräften gerade eben noch so am Boden. Dabei rutschte die Kapuze vollends vom Kopf. „Was bildest du dich ein, ihn zu treten?“ Ein weiterer, diesmal deutlich älterer Mann war dazugetreten und sah erzürnt auf den Liegenden hinunter. „Er ist unser Anführer, und sogar die erfahrenen Männer dulden ihn! Zeige ihm wenigstens ein Wenig Respekt!“ „Pah!“, erwiderte der Andere ironisch. „Meinen Respekt muss er sich erstmal verdienen, und nicht, in dem er mich von sechs Leuten festhalten lässt. Feigling!“ „Du!“ Jemand trat ihm mit voller Wucht zwischen die Rippen, und ohne einen Laut von sich zu geben, krümmte sich der Mann zusammen. „Wartet!“ Alle blickten auf, als Kameens Stimme ertönte. „Er ist...“

Und dann schloss Kameen seinen Mund wieder. Es war vermutlich nicht klug, den verzweifelten Rebellen zu sagen, wen sie genau vor sich hatten. Der Heiler war nicht dumm, er hatte den Fremden genau beobachtet, und die Art, wie er sprach und wie er sich bewegte, schrien seine Herkunft geradezu in die Welt. Seine blasse Haut, die bewies, dass er nicht wie normale Gassenjungen tagtäglich auf der Straße herumlungerte, und seine schwarzen Haare... Er passte ebensowenig in das Viertel des armen Volkes wie Zirkon in den Palast des Rah-Ten gepasst hätte.

„Was?“ Stirnrunzelnd blickte Pyroxen Kameen an, aber dem blieben weitere Erklärungen glücklicherweise erspart. „Pyroxen! Zirkon!“ Ein kleiner Junge, vielleicht acht Jahre alt und bereits so abgemagert, dass Kameen in Gedanken eine Kur entwarf, rannte die Straße entlang. Und je näher er kam, desto offensichtlicher wurde der Ausdruck des Entsetzens auf seinem Gesicht. „Die Wächter des Rah-Ten durchkämmen sämtliche Viertel! Sie suchen jemanden!“
 

Wie erstarrt nahmen alle diese Nachricht auf. Jeder dachte das Selbe: Wen suchten die Wächter? Warum? Hatten sie sich verraten? Kameen drehte sich zu dem Fremden um und wollte ihm einen stirnrunzelnden Blick zuwerfen, da sah er gerade noch aus den Augenwinkeln, wie der Fremde sich gerade aus dem Staub machen wollte. „Hiergeblieben!“ Ein Verdacht durchzuckte den Heiler. Er machte einen Satz. Die Söhne der Obersten Vier wurden selten als Spione in die Untersten Viertel geschickt. Was machte er hier? Warum wollte er nicht von Wächtern gefunden werden? Dieser Mann würde viele Fragen beantworten müssen...

Zugegeben. Der Junge war gut. Kameen hatte schon oft den Waffenlosen Kampf geübt, und selten war er besiegt worden. Aber dieser Gegner war so verdammt gut. Schnell und gewandt kämpfte er mit Händen und Füßen gegen Kameen, fest entschlossen, zu gewinnen. Kameen lächelte grimmig. Es war lange her, dass er einen solchen Gegner gehabt hatte.

Spinell dachte ähnlich: Sein Gegner war schnell! So schnell, dass er Schwierigkeiten hatte, zu sehen, von wo er als nächstes würde angegriffen werden. Seit er mit Xyran angefangen hatte, einer Kampfsportart, die traditionell in seiner Familie weitergegeben wurde, hatte Spinell noch keinen Gegner gefunden, der ihm so ebenbürtig war, und Spinell war ein Meister dieser Disziplin. Aber dieser Junge machte ihn platt.
 

Im Hintergrund tönten die rauhen Stimmen der Wächter, welche die Bevölkerung herumkommandierten und ihnen befahl, die Türen zu ihren kleinen Hütten zu öffnen. Panisch blickte Zirkon sich um. Sie würden bald hier sein, bei ihnen, und Kameen und der Fremde kämpften in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit miteinander. Pyroxen verjagte die restlichen Rebellen. „Schnell, jeder zu sich nach Hause! Verhaltet euch unverdächtig! Nun macht schon, sie sind bald da!“ Ohne nachzudenken sprangen die Rebellen in alle Richtungen davon, und Pyroxen warf seinem Cousin einen Blick zu. „Geh, schnell!“, rief der. „Mach endlich! Ich kriege die Beiden schon hinein!“ Und als Pyroxen über das Dach verschwand, jedoch nicht, ohne einen letzten zweifelnden Blick auf die zwei kämpfenden Schemen zu werfen, griff Zirkon mit dem Mut und der Kraft der Verzweiflung in den Kampf ein und bekam beide Kämpfer irgendwie – er wusste selbst nicht, wie – an den Haaren zu fassen. Fassungslos starrten sich die Drei für einige Zeit lang an und verloren so wertvolle Sekunden, dann riss Zirkon beide herum und warf sich durch die Tür in die Hütte. Als würde auch sie das Geklirr der Herannahenden spüren, die Schwerter, die sich näherten, fiel diese zu und schloss für einen Moment die Sonne aus, bis sich die jungen Männer wieder an das dumpfe Feuerlicht gewöhnt hatten. In einer Ecke knieten Zirkons Mutter und die beiden Kleinen, dicht aneinander gedrängt und ängstlich. Das Mädchen weinte leise, der Junge vergrub sein Gesicht im geflickten Kleid der Frau. Doch trotz der Gefahr sah Kameen grenzenloses Vertrauen zu ihrem Sohn in den Augen glitzern, und der Kloß in seiner Kehle wurde größer, so dass er kaum schlucken konnte. Die Nachbarstür wurde unter Geschrei aufgerissen und schwere Stiefel polterten in den Raum. „Alle herhören!“, dröhnte es von Nahen, nah, so nah. „Verhaltet euch ruhig und tut so, als wäret ihr mit etwas beschäftigt!“, zischte Zirkon, und Kameen reagierte sofort und ergriff einen Topf, mit welchem er vorgab, „beschäftigt“ zu sein. Spinell zog sich seine Kapuze über den Kopf und verkroch sich mit einem Stock tief in den Schatten. „Aufmachen!“, dröhnte es.

Die Tür zitterte.

„Sofort!“ Zirkon richtete sich auf, ein Bündel Reisig, aus dem er anscheinend Besen band, in der Hand, und ging zur Tür. Doch bevor er sie erreichte, gab es ein splitterndes Geräusch und auf einmal standen vier Wächter in der Tür. „Wir suchen Spinell aus dem Hohen Haus Vega-Ban!“ Dieser Hauptmann sprach durch die Nase. Er hatte sicherlich Nasennebenhöhlenprobleme, dachte Kameen, er bedauerte die arme Frau, die Nacht für Nacht neben diesem Mann würde liegen müssen. „Ihr dreckiges Lumpenpack habt ihn nicht etwa entführt?“ Grölend vor Lachen stieß er Zirkon mit dem Zeigefinger in die Brust, und der stolperte einen Meter zurück. „Nein, Herr! Wir haben niemanden gesehen!“ „Ihr lügt doch alle!“ Der Wächter winkte seinen Männern, näherzukommen. „Durchsucht dieses Rattenloch!“

Kameen musste mit knirschenden Zähnen zusehen, wie die Wächter systematisch alles im Inneren des kleinen Hauses auf den Kopf stellten. Die schlichte, jedoch liebevolle Einrichtung war innerhalb weniger Sekunden zerstört. „Wen haben wir denn hier?“, brüllte plötzlich ein Wächter und zog mit einem Ruck die dünnen Decken vom Lager der Kranken, die sich zitternd und verängstigt so klein wie möglich machte. Merinas Augen starrten schreckgeweitet zu dem Wächter hinauf. „Na, wenn das kein kleines Püppchen ist! Warum liegst du denn da, Kleine? Mein Bett wäre bestimmt bequemer!“ Er leckte sich über die Lippen, und Zirkon machte einen Satz.

Bevor Kameen ihn machen konnte.

„Lasst sie in Ruhe!“

Wütend starrte er den Wächter an. „Sie hat hohes Fieber, könnt ihr das nicht sehen?“ Aus zusammengekniffenen Augen starrte der Mann zurück auf den Jungen. „Ach, mit dem Püppchen kann man nicht mehr spielen? Hat wohl schon zu oft die Betten gewechselt.“ Die Männer lachten dreckig. Sprachlos vor Zorn ballte Kameen die Fäuste und sah zu, wie sie die Decken brutal auf Merina zurückwarfen, die kaum in der Lage war, sich wieder daraus zu befreien. Am liebsten hätte er jeden Einzelnen von ihnen verprügelt, sie zusammengeschlagen, bis ihre eigenen Mütter sie nicht wiedererkannt hätten, ihnen... Aber er zügelte sich. Zirkon stand noch immer da, ebenso wütend über seine eigene Unfähigkeit, während seine Mutter und seine kleinen Geschwister sich wimmernd in eine Ecke drückten. Sie waren nur zu Beginn von einem Wächter beachtet worden, der sie dann unfreundlich angefahren hatte, sich aus dem Weg zu begeben. Vorsichtig schob Kameen die Decken beiseite, um Merina einen aufmunternden Blick zuzuwerfen (nachdem er sich gar nicht fühlte) und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie die Wächter sich Spinell näherten. Seine verhüllte Gestalt sah sich panisch nach allen Seiten um, aber kein Fluchtweg war frei. „Und wer versteckt sich da?“, fragte ein Mann höhnisch und griff nach Spinells Kapuze. Trotzig starrte der junge Mann ihn von unter seinem Umhang an und reckte das Kinn...

„Und halt.“

Der Wächter staunte nicht schlecht, als sein Arm sich plötzlich in Kameens Griff befand. Verwundert sahen alle ihn an und die Kleinen hörten sogar auf zu schluchzen. Kameen wandte seine Aufmerksamkeit völlig den Wächtern zu. „Das wollt Ihr sicherlich nicht sehen... Geschweige denn berühren“, sagte er liebenswürdig zum Wächter, der gerade zu einer Schimpftirade Luft holen wollte. Verdutzt schloss der den Mund wieder und öffnete ihn erneut. „Und warum nicht?“ „Der da hat Sandexzeme. Die sind hochgradig ansteckend, und“, Kameen näherte sich dem Mann verschwörerisch, „und sie zerstören nach und nach den gesamten Körper. Es ist wirklich kein schöner Anblick. Eine Berührung, oder sogar große Nähe, und Euer Gesicht ist ein für alle mal ruiniert.“

Entsetzt wich der Mann mehrere Meter zurück – oder gerade so viel, wie der begrenzte Platz in der Hütte es zuliess. Er musterte Spinell, der sich unbehaglich noch tiefer in seinem Umhang zu verstecken versuchte, ohne es verbergen zu wollen. „Hab davon gehört“, murmelte er. „Soll im Norden mehrere Dörfer ausgerottet haben.“ „Nun, so schlimm sind sie auch nicht!“, sagte Kameen. „Aber die Haut ist nie mehr zu retten. Die Menschen sehen heute bestimmt alle aus wie Missgeburten, die Armen.“ Mitleidig schüttelte er den Kopf und verfluchte sich selbst für die Verwendung dieses Begriffes. „Und schmerzhaft ist es obendrein auch.“

Die Wächter wandten sich wieder zum Gehen. „Hier war er auch nicht. Dann müssen wir eben weitersuchen.“

Ohne ein Wort der Entschuldigung verliessen sie lautstark die Hütte und liessen drei völlig verängstigte Kinder, eine weinende Mutter und drei sehr, sehr wütende junge Männer zurück. Ein Fehler.
 

„Mann!“ Zirkon liess sich fallen, wo er gerade stand – neben Merina auf das Bett. „Das war echt knapp!“ Seine Geschwister trauten sich erst langsam wieder aus der Ecke heraus. Schwankend zwischen Trauer und Wut beobachtete Kameen, wie sich die Mutter daran schickte, alle noch verwendbaren Gegenstände aus den Trümmern zu bergen. Ihre Tränen benetzten den Sandboden. Dabei hätte er fast – aber auch nur fast – Spinell vergessen...

„Ha-halt, mein Lieber!“ Gerade am Zipfel der Kapuze bekam er ihn noch zu fassen. „Du schuldest uns noch eine Erklärung! Sag – was macht der Sohn einer der Obersten Vier in den Bazaar-Vierteln von Xjunta?“ Störrisch verschränkte Spinell die Arme vor der Brust. „Wer sagt denn, dass ich freiwillig hier bin?“ „Tut!“ Kameen pfiff durch die Zähne.

„Also doch Oberste Familie, wie?“

Zirkon horchte auf.

„Wie bitte?“

Schicksalsergeben seufzte Spinell auf. „Vega-Ban, wenn ihr es genau wissen müsst.“

Der junge Mann aus der Unterschicht wusste offensichtlich nicht genau, wie er diese Botschaft aufnehmen sollte. „Und was machst du hier?“ Spinell zuckte die Achseln. „Eigentlich wollte ich nur weg von da, wo ich herkomme...“ „Wo bleibst du nun?“ „Keine Ahnung.“ Zirkon warf Kameen einen Blick zu. „Wenn du willst, kannst du erstmal hier bleiben...“ Dann dämmerte ihm etwas. „Das heißt, die Männer haben gerade nach dir gesucht?!" „Ja, so könnte man es auch nennen“, sagte der Angesprochene lakonisch. „Oh mein...“ Zirkon schlug gegen die Wand. „Wenn du hierbleibst, sind wir also in Gefahr!“ Kameen nickte. „Nun...“ Zirkon dachte einen Moment nach. „Also... Weißt du gut über die Gesellschaft der Obersten Vier Bescheid?“ Wieder zuckte Spinell die Achseln. „Ich bin in ihr aufgewachsen...“ „Also?“ „Also ja.“ „Na gut.“ Zirkon streckte ihm die Hand entgegen. „Wenn du hier bleiben willst, musst du uns helfen.“ Verächtlich schaute Spinell weg. „Ich muss nicht hierbleiben.“ Kameen grinste. „Aber du würdest gern.“ Ein tödlicher Blick traf ihn. Dann sah Spinell Zirkon an. „Ich schätze, wir stehen auf der selben Seite.“ „Wieso bist du gegen die Obersten Vier?“ Spinell zuckte die Schultern. „Persönliche Gründe. Die Art, wie man als Mitglied einer solchen Familie in Xjunta lebt. Die Art, wie...“ Er sah sich demonstrativ um – „...wie ihr lebt.“

„Klasse!“ Zirkon grinste ihn an. „Kannst ja doch ganz nett sein.“

„Nett? Ich? Niemals!“

Zirkon lachte.
 

Schweigend sah Kameen sich im Raum um. Spinell hatte Recht: So konnte man nicht leben. Er wusste nicht, wie es um das Leben der Obersten Schicht bestellt war, aber hier unten herrschte ein solches Leid, dass es ihm körperlich wehtat. Die Kopfschmerzen hatten wieder zugenommen. Aber konnte er ihnen wirklich helfen? Damit würde er seine und die Philosophie seiner Familie aufs Spiel setzen. Oder schlimmer, deren Leben. Was sollte er tun? Was würde sein Vater sagen?
 

Flashback:

„Jetzt, Kameen, bist du ein Heileradept.“

Er war 11 Jahre alt und stand seinem Vater gegenüber, stolz, endlich helfen zu können.

„Du wirst in deinem Leben noch viel sehen. Du wirst Menschen helfen und erleben, dass man manchmal nichts mehr tun kann. Du wirst lernen. Und wachsen.

Sein Vater stand ihm gegenüber, der lange silberne Bart fiel in Wellen über seine Brust.

„Als Heiler muss man Entscheidungen treffen können. Du wirst sie tagtäglich bei deiner Arbeit finden: Entscheidungen, die über das Leben einiger Menschen und über den Tod Anderer bestimmen werden.“

Atemlos lauschte er der ruhigen, tiefen Stimme des Mannes und versuchte, die Worte in seinem Gedächtnis abzuspeichern.

„Aber egal, was du tust, egal, wie du entscheidest, denke immer daran, dass du für das Leben derer verantwortlich bist, denen du helfen möchtest. Die Heilkunst ist eine Kunst, in der man nur zu helfen gedenkt, ohne einen Gedanken an die Folgen. Die Menschen liegen in deiner Hand.“

Die Sonne schien in den Raum und liess den Dolch an der Wand, ein altes Familienerbstück, erglänzten.

„Vater, das heißt, dass ich den Menschen immer helfen muss, egal, was ist?“

„Ja, Kameen. Egal was ist.“

„Und wenn dafür jemand, der mir wichtig ist, sterben muss?“

„Das ist eine schwere Entscheidung, und sie liegt allein bei dir. Aber dann solltest du darüber nachdenken, ob sich diese Person nicht auch opfern würde, wenn sie wüsste, dass sie durch ihren Tod jemanden anderes rettet. Ich würde sterben, wenn ich weiß, dass ihr dafür am Leben bleibt.“

„Das werde ich nicht können, Vater. Ich meine, richtig entscheiden.“

„Der Tag wird kommen, an dem du es können musst, Kameen. Und wenn er kommt, entscheide weise. Sei klug, handle nicht voreilig, entscheide weise.“

„Ja, Vater.“
 

„Ich bin dabei“, sagte Kameen und sah Zirkon an. „Ich werde euch auch helfen. Es ist ungerecht, wie ihr lebt, es ist unmenschlich, wie ihr behandelt werdet. Das kann ich nicht mit ansehen. Wenn es den Rebellen hilft, wenn ich ihnen beitrete, werde ich es tun.“ „Wirklich?“, rief Zirkon erfreut. „Das ist toll! Dann sind wir also Vier!“

„Wie, Vier?“ Kameen konnte nicht verhindern, dass sich ein entsetzter Unterton in seine Stimme schlich. „Du meinst, wir sind nur vier Leute gegen den Rah-Ten?!“

„Nein, natürlich nicht! Aber wir vier werden die Anführer der Rebellen, ist doch klar!“

Spinell schlug sich mit der flachen Hand gegen den Kopf. „Aus der Bratpfanne ins Feuer!“, murmelte er. Kameen war noch zu beschäftigt, einfach nur zu starren. „Wir nennen uns die Herren der Winde“, sagte eine weitere Stimme, und Pyroxen kam durch die Tür herein. „Zirkon und ich, meine ich. Weil wir irgendwann einmal die Herren der Wüste sein werden, und der Herr der Wüste ist der Wind. Also sind wir die Herren der Winde, ist doch klar!“ „Aha“, sagte Kameen lahm. „Also wir vier jetzt?“

Und Zirkon und Pyroxen nickten unisono.

Kameen hätte im Wüstensand versinken können. Das war kein Plan, den diese Leute hatten - es kam einem Plan nicht einmal annähernd nahe.

Wie sollte das nur gut gehen?



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