Dem Tod so nah
8. Dem Tod so nah
Joey war nicht dumm gewesen. Bevor all dies passierte, hatte er die Polizei eingeschaltet, etwa eine halbe Stunde vor Eintreffen auf dem Busbahnhof. Er hatte es Mokuba nicht wissen lassen. Er hätte nur gesagt, dass die Entführer das nicht wollten.
Joey war geschockt. Sein Vater... und das nur, weil er ihm nicht mehr jeden Tag zur Verfügung stand, sich wehrte, sich nicht mehr vergewaltigen ließ. Wenn er sich daran erinnerte, wie sehr das früher schmerzte, nicht nur körperlich, da wurde ihm bewusst, wie wichtig Kaiba ihm war. Mehr noch, er war so etwas wie eine Bezugsperson, ja, sogar ein Vorbild. Er hatte ihn immer bewundert für das, was er war, und für das, was Joey so fehlte. Mut, Intelligenz, Reichtum. All das waren Eigenschaften, die nur bedingt zu ihm gehörten. Natürlich konnte Joey mutig sein, doch seinen Erfahrungen nach war das sehr schwierig, es war eher wie eine Maske, nicht der richtige Joey. Natürlich konnte er intelligent sein, aber er hatte eben auch seine Schwächen. Natürlich war er reich, reich an schlimmen Erfahrungen, die ihn so sehr geprägt haben, dass es ihn innerlich fast zerreißt.
Und während die Polizeibeamten seinen Vater abführen, ist Joeys Blick leer. Das war zu viel. Warum Kaiba? Warum musste Kaiba denn jetzt dafür büßen, dass Joey sich wehrte, endlich wehrte? Warum nur?
Ein Röcheln ließ ihn aufwachen. Kaiba hustete, und überall war Blut. Er hatte gar nicht gemerkt, wie er sich auf den Boden gekniet hat, Kaiba auf seinen Beinen, und sanft mit einer Hand in seinem Haar wuschelte. Wieso nur rief er keinen Arzt? Kaiba brauchte Hilfe! Aber Joey war starr, er konnte nichts tun. Bis ihn eine Stimme erneut ins Leben ruft.
"Joey..."
"Warum nur, warum hast du das gemacht?"
"Ich.. ich weiß es nicht. Mach dir keine Sorgen, so wie ich das mitbekommen habe, wurde schon ein... argh!"
"Nein, nein! Bitte, Seto, du musst leben! Warum nur musstest du so dumm sein? Wenn schon jemand dafür büßen muss, dann ich!"
"Nein, Joey, du hast schon viel zu lange für diesen Vater büßen müssen. Es ist wichtig, dass du weißt.... ich... aaaaaah!"
"NEEEEEEEEEEEEIN!!!!"
~
Joey wachte erst wieder auf der Intensivstation auf. Was war denn nur passiert? Er wird wohl ohnmächtig geworden sein. Aber dann gleich Intensivstation?
Wieder einmal vernimmt er ein Röcheln. Ein Blick zur Seite zeigt ihm, dass es der Jungmillionär ist. An seiner Seite ist Mokuba.
Joey setzte sich langsam auf.
"Autsch, mein Kopf", sagte der Blondschopf, während er sich den Kopf hielt.
"Hey... Gott sei dank ist wenigstens bei dir alles in Ordnung."
"Was meinst du damit? Was ist mit Seto?"
"Er...", der kleine Junge fängt an zu schluchzen, "es kann sein, dass er nie wieder aufwacht. Er musste in ein künstliches Koma versetzt werden. Die Ärzte wissen nicht, wann und ob er jemals wieder aufwacht. Ich habe Angst, Joey."
Mokuba liefen schon wie verrückt die heißen Tränen über die Wangen. Joey stand auf, sah, dass er keine andere Kleidung hatte. Man hatte ihn wahrscheinlich auch nur hierher verfrachtet, weil Mokuba das so wollte. Und was ein Kaiba sagte, das war Gesetz.
"Ich habe auch Angst."
Wie der Oberarzt ihn untersuchte, merkte er kaum. Seine Gedanken waren bei dem schon fast leblosen Körper vor ihm. Was hatte er nur getan? Er hatte mit der Sache doch gar nichts zu tun. Es war eigentlich eine Sache zwischen Joey und seinem Vater. Aber Seto musste sich einmischen. Er hatte sich eingemischt, ohne dass Joey auch nur ein kleines bisschen davon erfahren hat.
Machte Kaiba sich Sorgen um ihn? Warum eigentlich? Hasste er ihn nicht abgrundtief?
Scheinbar nicht...
Da gab es etwas, dass Joey nicht wusste, noch nicht, da war er sich ganz sicher. Irgendwas lief hier falsch.
Und nun lag er da, musste künstlich beatmet und versorgt werden. Das war doch alles nicht mehr normal. Vor zwei Wochen lag dieser Jungmillionär um diese Uhrzeit noch behütet in seinem Bettchen. Ohne offene Wunden, ohne Angst vor dem Sterben.
Wie viel Uhr war es denn jetzt? Eine Uhr verriet Joey, dass es bereits nachts um kurz nach zwei war. Draußen regnete es wie aus Bächen. Und Joey hatte Angst, Angst um den Menschen, dem er am meisten vertraute.
Na klar gab es da Yugi und die anderen, aber er hatte immer das Gefühl, mit ihnen nicht reden zu können. In diesem Moment erinnerte sich Joey an eine Szene zwischen ihm und Kaiba. Kein Streit, kein Lärm, ein ganz normales Gespräch...
~~Flashback~~
Joey saß wie immer in der großen Pause auf dem Dach, dort sah ihn niemand. Heute morgen war sein Vater wieder grob, so grob, dass er zu spät zur Schule kam.
Der heiße Sommerwind wehte ihm durch das Haar, bis er plötzlich Schritte hörte. Diese Schritte würde er auf hundert Kilometer Entfernung erkennen.
"Was willst du, Kaiba? Hast du mich heut noch nicht genug geärgert?"
"Hey."
Hey? Hatte Kaiba da wirklich gerade nur 'Hey' gesagt? Fast schon unglaublich, wie er das sagte. Einfach nur 'Hey'.
"Ich will mit dir reden."
"Und worüber willst du bitteschön mit einem Straßenköter reden wollen?"
"Hör zu. Ich... wie fange ich das bloß an?"
"Was ist los?"
Joey wirkte fast schon besorgt, ließ sich aber nichts anmerken. Sein Blick war in den strahlend blauen Himmel gerichtet. Er bemerkte, wie sich Kaiba plötzlich neben ihn setzte.
"Schöner Tag heute, was?"
"Wie man's nimmt. Das Wetter ist toll, wenn du das meinst."
"Woher hast du die Kratzer an der Wange?"
"Bin hingefallen."
"Und der blaue Fleck am Oberschenkel?"
"Selber Grund."
"Und die Narbe hinter deinem Pony?"
"Warum willst du das alles wissen, Kaiba?"
"Weil ich denke, dass wir mehr gemeinsam haben, als dir lieb ist."
"Was..."
Und in genau diesem Moment steht Kaiba auf und geht. Joey blieb sitzen, noch immer erstaunt von dem, was sich gerade abgespielt hat.
~~Flashback Ende~~
Nein, Seto Kaiba hatte sicherlich nicht das Gleiche durchlebt wie er. Das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Und er wollte es auch nicht.
"Entschuldigen Sie, Mr. Kaiba. Sie müssen jetzt leider gehen. Es tut mir leid, aber ihr Bruder braucht Ruhe", verkündete der Oberarzt. Mokuba nickte, sah mir nochmal traurig in die Augen und verließ das Zimmer, ohne seinen Blick auch nochmal nach hinten schweifen zu lassen.
"Mr. Wheeler, Sie dürfen selbstverständlich bis morgen bleiben. Schlafen Sie sich aus."
"Können Sie mir sagen, was mit meinem Vater ist?"
"Soweit ich weiß, ist er noch immer auf dem Polizeipräsidium. Er wird wahrscheinlich erst einmal für ein paar Tage weggesperrt. Nun wird gegen ihn ermittelt. Und nun schlafen Sie, auch Sie können diese Ruhe gut gebrauchen."
Joey nickte, dachte aber nicht im Traum daran, nun schlafen zu gehen.
Mit einem freien Hocker setzte er sich neben den Braunhaarigen. Sein Blick wirkte traurig, hoffnungslos.
Vorsichtig strich er dem Brünetten eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Du bist dumm, Seto, ganz dumm. Das hättest du für mich nicht tun sollen. Und vielleicht, ja vielleicht haben wir wirklich mehr gemeinsam als ich denke. Aber ich hoffe nicht, dass du dasselbe Schicksal erdulden musst wie ich. Das will ich nicht.
Denkst du eigentlich noch immer, ich wäre dein Erzfeind? Vergiss es. Ich bin dein Freund. Ich werde dir wohl für den Rest deines Lebens auf die Nerven gehen. Hoffentlich geht dieser Rest deines Lebens noch länger als nur ein paar Monate."
Joey bekam Tränen in den Augen. Er wollte nicht weinen, konnte sich aber nicht zurückhalten. Alles fiel von ihm ab. Die ganze Sache mit seinem Vater, und dann konnte es auch sein, dass Mokuba seinen Bruder verlor.
Er legte seinen Kopf auf den Bauch des anderen. Er war erschöpft, sehr müde, konnte aber nicht aufhören zu weinen. Die Tränen verließen seinen Körper und hinterließen nur Leere. Nichts, was noch an den fröhlichen Joey Wheeler von vor zehn Jahren erinnert. Damals war alles noch schön, alles noch toll. Er hatte seine Mum, seinen Dad, seine Schwester. Was ist nur passiert in all diesen Jahren. Und nun, nun ist nich nur Seto, sondern auch er dem Tod so nah. Denn seelischer Tod bedeutet zugleich auch Leben ohne etwas, das einem Lieb ist.
Wenn Seto geht, dachte Joey, so werde ich ein leerer Körper, bloß noch eine Hülle sein. Geh nicht, Seto, geh nicht. Lass mich nicht im Stich. Ich brauche dich doch...