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Seelenseher

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Seelenseher

Seelenseher
 

Wenn ich am Anfang beginne, und das sollte ich der Verständlichkeit halber besser tun, so ist das nicht mein Anfang, nicht Tjuros Anfang nicht der Anfang des Jahres und auch nicht der Anfang der Welt. Es ist einfach der Anfang der Geschichte, die zu verbreiten ich mir als Ziel gesetzt habe. Warum? Weil sie wahr ist. Weil sie Tjuro und mir passiert ist. Und weil ich Tjuro damit danken möchte.
 

Vor einem Jahr begann alles. Damals sah ich Tjuro im Park. Ich hatte ihn schon oft gesehen, mich aber nie groß um ihn gekümmert und auch meine Freunde ignorierten ihn meistens völlig. Aber an jenem Tag war ich allein im Park. Ich saß im Gras am Teich und beobachtete die Schwäne, die hier ihr Zuhause hatten. Majestätisch und erhaben schwammen sie zwischen den Seerosen dahin. Alle anderen Vögel gingen ihnen aus dem Weg. Sie waren wie große, schöne und weise, doch Erfurcht gebietende Könige, denen sich die Untertanen nicht näherten.

Plötzlich hörte ich jemanden näherkommen und drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Schritte kamen. Tjuro ging mit vorsichtigen Schritten und konzentriertem Gesicht bis zum Rande des Sees und setzte sich ein paar Meter entfernt von mir in das Gras. Ich sah ihn an. Er hatte blonde, verwuschelte mittellange Haare und eisblaue Augen, die einen das Blut in den Adern gefrieren ließen, wenn man hineinblickte. Er fragte, ohne den Kopf zu wenden:

„Mina?“. Ich nickte. Dann sagte ich hastig:

„Ja, ich bin’s. Woher weißt du das?“. Er lächelte.

„Dein Geruch, deine Seele... es ist eindeutig!“. Ich stand auf.

„Meine Seele? Du kannst sie sehen?“. Er lächelte wieder.

Ich ging auf ihn zu und setzte mich dann neben ihn. Ich glaubte ihm, er strahlte irgendetwas aus, dass mich sicher machte. Er konnte nicht lügen. Nicht so. Auch wenn er sonst nichts sah, er konnte die Seelen der Menschen erblicken.

Ja, Tjuro war blind. Blind von Geburt an. Blind sein ganzes Leben lang. Aber er war nicht traurig darüber, er kannte es nicht anders. Er sah es als Gabe, die Seelen erkennen zu können und verließ sich auf seine anderen Sinne.

Ich saß neben ihm und schaute ihn an. Wie schön er war, auf dem Gras sitzend, völlig entspannt und mit seinen eisblauen Augen auf den See blickend, wo die schneeweißen Schwäne schwammen. Lange saßen wir so. Ich blickte ihn an und er auf das Wasser. Ich weiß nicht, was er sah.

Seine Lippen kräuselten sich zu einem weiteren Lächeln.

„Gefällt dir was du siehst, Mina?“. Ich errötete.

Er lachte. Sein Lachen war so fröhlich, so heiter, als kenne er das Wort Traurigkeit nicht. Und es war ansteckend. Ich grinste erst und dann lachte auch ich laut.

„Du bist so... unglaublich fröhlich... Wie machst du das?“, fragte ich schließlich, als wir uns wieder eingekriegt hatten. Ein Schatten huschte über Tjuros Gesicht.

„Fröhlich...“, sagte er ernst, „Fröhlich ist nur mein Äußeres. Ich habe Barrieren aufgebaut, die meine wahren Gefühle vor der Außenwelt geheim halten...“

Er lächelte traurig. Dann meinte er plötzlich:

„Tut mir leid, dass ich dir das gesagt habe, ich hätte er dir nicht sagen sollen, ich wollte dich nicht damit behelligen...“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nicht! Entschuldige dich nicht dafür! Ich finde es toll, dass du mir das alles anvertraust, wirklich!“

Er nickte langsam. Wahrscheinlich fragte er sich, warum er das ausgerechnet mir, die ich sonst nie etwas mit ihm zu tun hatte, erzählt hatte. Dann stand er auf und lächelte mir zu.

„Ich muss jetzt nach Hause, meine Mutter wartet sicher schon auf mich.“

Ich sagte leise:

„Kommst du morgen wieder hierher? Wollen wir uns hier treffen?“

Er wandte den Blick in meine Richtung.

„Möchtest du das?“, fragte er und sein Ton kam mir hoffnungsvoll und ängstlich zugleich vor.

„Wenn du auch möchtest?“.

Er nickte.

„Sehr gern! Hast du morgen früh so gegen zehn Uhr Zeit?“

„Ja klar! Wollen wir uns dann wieder hier am See treffen?“

„Okay, bis dann!“

Er ging, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und konzentrierte sich auf seine anderen Sinne.
 

Nach diesem Gespräch trafen wir uns öfter, beinahe jeden Tag. Da Ferien waren, konnten wir von morgens bis abends am See sitzen. Tjuro erzählte mir viel über seine Gabe, das Seelensehen.

„Ich bemerkte es ziemlich früh, mit drei oder vier Jahren, glaube ich. Damals erzählte ich es meinen Eltern, die sofort voller Hoffnung waren, dass ich doch sehen konnte. Doch der Arzt tat es als Halluzination ab und meinte, dass viele Blinde Bilder sehen. Seitdem habe ich es nie wieder erzählt... Außer dir letztens.

Aber mit der Zeit lernte ich, dass ich sie nicht nur sehen, sondern auch unterscheiden konnte. Es gibt verschiedene... Farben... Wahrscheinlich nicht die Farben, die auch du kennst, aber sie sind da... Die meisten Seelen sind weiß. Das sind die Reinen, die Unschuldigen. Kinder haben meist weiße Seelen und einige ältere Leute auch. Dann gibt es bunte Seelen, die den Menschen gehören, die gerade ein großes Gefühl in sich tragen. Die Seele eines Verliebten ist beispielsweise rosa, die eines Liebenden violett, die eines Zornigen meist sehr dunkelrot, die eines Hoffnungsvollen blau oder grün, und so weiter... Doch bunte Seelen sind eigentlich weiße Seelen.

Es gibt jedoch auch Seelen, die niemals bunt werden können. Diese Seelen sind schwarz. Meistens gehören sie Verbrechern und oft Mördern. Diese können mit der Schwärze leben. Doch auch „normale“ Menschen können eine ganz oder teilweise schwarze Seele haben. Wenn jemand sehr stark hasst oder trauert, frisst sich der Groll oder Schmerz immer tiefer, bis er an der Seele angelangt ist. Diese beginnt dann, sich zu schwärzen. Die schwarzen Stellen können sich nicht mehr bunt verfärben und wenn eine Seele vollkommen schwarz ist, kann man nicht mehr richtig fühlen... Daran sterben die meisten schnell...“.

An dieser Stelle schwieg er lange und ich störte ihn nicht. Schließlich sprach er von allein weiter:

„Vor einigen Monaten, als wir uns das erste Mal trafen, habe ich einen Mann gesehen. Er saß auf einer Bank und starrte unglücklich vor sich hin. Ich setzte mich neben ihn und sah in seine Seele. Sie war beinahe gänzlich schwarz. Ich wollte ihm helfen, denn er trauerte, hegte also keinen Hass gegen jemanden und wollte niemandem schaden. Ich wollte ihm einen Teil seiner Schwärze abnehmen. Ich weiß nicht, wie es passierte, aber als ich aufstehen wollte, streifte ich ihn mit der Hand und ein... ein seltsames Gefühl breitete sich in mir aus. Verwirrt ging ich weiter, doch dann blickte ich noch einmal zurück. Die Seele des Mannes war weißer geworden. In die Schwärze war ein leuchtend weißes Stück getreten. Seitdem hat meine eigene Seele einen schwarzen Fleck gehabt, der anfangs genauso groß war, wie der weiße des Mannes...“

Er seufzte. Dann lächelte er.

„Ich habe den Mann noch oft gesehen. Er hat jetzt wieder Glück im Leben gefunden und das Schwarz ist fast vollkommen verschwunden. Er hat mich angesprochen und mir gedankt, als hätte er etwas gespürt... Es war gut, ihm geholfen zu haben, er wäre sonst zerbrochen...

Nach diesem Erlebnis hielt ich Ausschau nach trauernden Personen mit schwarzen Seelen und half ihnen. Es klappte jedes Mal...“

Ich nickte.

„Aber die Schwärze in dir ist auch wieder verschwunden, oder?“, fragte ich dann.

„Noch nicht ganz. Es ist nicht meine eigene Schwärze, meine Seele braucht länger als sonst, sie zu vernichten... Aber ich muss den Leuten helfen!“

Ich blickte zu ihm auf. Wie stolz er dort stand. Stolz... und einsam...

„Kann ich dir denn nicht helfen? Kannst du mir nicht ein wenig von der Schwärze geben, wenn du den Menschen hilfst? Ich will nicht, dass deine Seele ganz schwarz wird! Du sollst doch bei mir bleiben!“

Er sah in meine Richtung, kam vorsichtig zu mir und nahm mich in den Arm.

„Das kann ich nicht. Ich kann dir nicht die Schwärze geben, die ich zu tragen habe. Wenn dir deswegen etwas zustieße... Versteh bitte, ich kann nicht!“

Ich nickte.

„Ich wollte nur helfen... Dir helfen!“, sagte ich leise.

Er küsste mich sanft. Erst auf die Stirn und dann, ganz ganz vorsichtig auf den Mund. Ich erwiderte ebenso vorsichtig den Kuss. Er löste sich wieder und sagte leise:

„Aber du hilfst mir doch! Jedes Mal, wenn ich dich sehe, deine Seele sehe, freue ich mich und vernichte so die Schwärze ein bisschen mehr...“

Ich fragte flüsternd:

„Welche Farbe hat meine Seele?“

Doch er antwortete halb neckisch, halb ernst:

„Das sag ich dir nicht!“

Ich respektierte das, obwohl ich neugierig war.

„Sieh mal, Mina, der Mann dort trauert sehr stark. Lass uns einmal zu ihm gehen und ihm helfen!“. Tjuro deutete auf einen jungen, schwarz gekleideten Mann, der allein auf einer Parkbank saß und ins Wasser starrte. Sein Gesicht war schön, doch von Trauer gezeichnet. Tjuro und ich gingen zu ihm. Plötzlich schien Tjuro das Gleichgewicht zu verlieren und er kippte leicht vornüber. Der Mann handelte aus Reflex und hielt ihn an den Schultern fest, sodass Tjuro nicht fiel. Sein Gesicht entspannte sich plötzlich und Tjuro stellte sich fest auf beide Füße.

„Vielen Dank! Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte, vielen Dank!“, sagte er und wir gingen wieder zu unserem Platz unter der Birke. Der Mann setzte sich verwirrt hin und blieb dort noch eine ganze Weile. Tjuro lächelte.

„Das war knapp! Seine Seele war schon fast ganz schwarz...“

Ich sah ihn beunruhigt an.

„Hast du ihm viel Schwärze genommen?“

Tjuro nickte.

„Ja, sonst hätte er nicht wieder geheilt werden können...“

Ich schluckte.

„Wie viel weiß hast du noch?“

Er senkte den Kopf.

„Wie viel?“

„Nichts... nichts weißes mehr...“

Ich sah ihn entsetzt an.

„Was? Du hast deine Seele vollkommen geschwärzt?“

„Ich habe fast einhundert Leuten geholfen, aus ihrer Trauer zu erwachen und nicht zu sterben... Dafür lohnt es sich...“

Ich sagte an diesem Tag nichts mehr zu ihm.
 

Am nächsten Tag trafen wir uns wieder. Doch als Tjuro kam, sah ich sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“, fragte ich, kaum hatte er sich zu mir gesetzt.

„Die Schwärze...“, sagte er nur.

„Gib mir etwas davon, Tjuro, bitte!“

Ich wollte ihm etwas abnehmen, ihm helfen. Doch er schüttelte nur den Kopf.

„Das hilft nicht mehr... Ich habe heute noch einem Menschen geholfen. Sie hatte ihre Tochter verloren und stand kurz vor einem Suizidversuch... Ich musste ihr helfen, das verstehst du doch, oder?!“

Ich nickte langsam.

„Diese Schwärze... Deine Seele... Du konntest sie nicht mehr aufnehmen... Was...“, ich konnte keine zusammenhängenden Sätze mehr herausbringen. Ich saß einfach nur da. Völlig erstarrt.

„Mina...“, Tjuro umarmte mich. Tränen liefen mir über das Gesicht.

„Mina, weine nicht!“

Doch ich konnte nicht anders.

„Mina,...“.

Er küsste mich, küsste meine Tränen fort und kam doch gegen den Strom der salzigen Fluten nicht an.

„Mina, ich liebe dich, auch mit schwarzer Seele!“, er umarmte mich.

„Tjuro... Warum...? Warum...?“, ich schluchzte. Er antwortete nicht. Ich schloss die Augen. Tjuro legte sich auf den Boden und bettete seinen Kopf in meinen Schoß. Seine Atemzüge wurden schwächer. Ich spürte das, wollte Hilfe holen, einen Arzt holen, etwas tun. Doch er sagte:

„Mina, mir kann keiner helfen... Ich bin glücklich...“, er lächelte.

Sein Gesicht war so schön, so friedlich. Immer langsamer schlug sein Herz. Immer schwächer wurde sein Atem.

„Violett... Dunkelviolett...“, flüsterte er.

Dann atmete er nicht mehr.
 

Es dauerte lange, bis ich wieder sprechen und lachen konnte, sehr lange. Was seine letzten Worte bedeuteten, war mir dagegen sofort klar gewesen. Er hatte eine Seele beschrieben, die Seele einer Liebenden... meine Seele.

Tjuro ist vor fast eineinhalb Jahren gestorben. Seit genau dieser Zeit besitze ich die Gabe, Seelen sehen und heilen zu können. Doch meine Seele hat selbst ein eigenes Stück Schwärze. Ich muss Acht geben, dass ich diese Schwärze nicht gewinnen lasse, ich muss sie zurückdrängen, verschwinden lassen. Doch ich verstehe nun, warum Tjuro mir kein bisschen Schwarz abgeben wollte. Er konnte nicht. Genauso, wie ich es nicht vermag. Es fühlt sich falsch an, jemandem mit reiner Seele ein unreines Stück zu geben, nur um selbst länger leben zu können...

Ich werde mich also bemühen, diese Schwärze so lange, wie möglich zu unterdrücken, um vielen Menschen zu helfen.
 

Jeden Tag gehe ich einmal über den Friedhof, bleibe vor Tjuros Grab stehen und warte. Und jedes Mal kommt es mir vor, als sehe ich seine Seele, wie sie einst war, als wir uns das erste Mal trafen: Violett... Dunkelviolett...



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  mi-chan_
2008-10-19T19:41:18+00:00 19.10.2008 21:41
Diese Geschichte ist wirklich toll!!! Sie ist so einfühlsam und sanft!!
Die Idee mit den Farben der Seelen ist so schön! Ich habe absolut nichts an dieser Geschichte auszusetzen! (Aber Frau S. hat dir ja auch schon eine Topberatung gegeben!)
Hab dich lieb
-^_^-
mi
Von:  Januce_Mizu
2008-09-14T19:01:12+00:00 14.09.2008 21:01
Wow...das ist wirklich schön geschrieben...
Ich kann wirklich nicht mehr sagen...bin sprachlos


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