Schnee
Schnee
Der erste Schnee des Jahres war in der letzten Nacht gefallen. Alles war weiß. Von den Dächern hatten sich kleine Lawinen gelöst, die Schneehügel vor den Häusern aufgeworfen hatten.
Die Straßen waren frei. Frei von Autos. Auch auf ihnen lag der Schnee, sodass man keinen Unterschied zwischen Straße und Bürgersteig erkennen konnte.
Sie ging barfuß durch das eisige Weiß und ließ ihre Zehen tief in die Kälte sinken. Staunend betrachtete sie die Leere um sie herum. Niemand war bei den eisigen Temperaturen draußen, auch die Kinder nicht, die sonst immer fröhlich im Schnee tollten. Sie alle saßen zusammen am Ofen und aßen von ihren Weihnachtssüßigkeiten.
Sie ging weiter, in Richtung Park. Der See war gefroren. Auf der spiegelglatten Eisfläche herrschte die gleiche Leere, die sie überall sonst auch angetroffen hatte.
Sie setzte sich auf eine der Parkbänke. Ihre Füße froren. Dennoch ließ sie sie im Schnee.
Wieder blickte sie sich um. Alles war weiß. Die kahlen Stämme der Birken unterschieden sich kaum von dem schneebedeckten Boden.
Weiter wanderten ihre Augen. Da entdeckte sie etwas schwarzes inmitten der Kälte, inmitten des Schnees.
Sie stand auf. Ihre Füße schmerzten. Sie ging auf das Schwarz zu.
Sie hockte sich hin, um besser sehen zu können. Dann hob sie es hoch. Sie drückte es sanft an ihre Brust und hauchte mit ihrem warmen Atem über das schwarze Ding.
Doch es regte sich nicht.
Sie setzte sich in den Schnee, schloss das schwarze Etwas in ihre Hände ein, wie um es zu wärmen. Ihre Finger waren schon steif vor Kälte, sie zitterte.
Immer wieder hauchte sie ihren warmen Atem in ihre Hände, drückte den schwarzen Gegenstand an ihre Brust.
Sie fror nicht mehr. Sie spürte die Kälte nicht mehr.
Sie sah, wie es sich schüttelte, erst ganz vorsichtig, dann immer wilder, als wolle es die Kälte und den Schnee abschütteln. Es stand auf und legte seinen Kopf sanft an ihre Hand. Dann breitete es seine Flügel aus und schüttelte auch diese, wie um sie auszuprobieren.
Es sah sie mit dunklen Augen an und nickte dann einmal mit seinem Köpfchen.
Sie nickte ebenfalls.
Es reckte sich noch einmal und breitete dann seine Flügel aus. Dann sprang es von ihrer Hand und flog los.
Sie blickte ihm hinterher und freute sich, als es sich zu ihr umdrehte und wieder nickte.
Dann spürte sie, wie etwas aus ihrem Rücken zu wachsen begann.
Sie blickte nach hinten und sah zwei wunderschöne, weiße, große Flügel aus ihren Schultern sprießen.
Es wartete immer noch auf sie. Sie lächelte und sprang in die Luft. Ihre Flügel trugen sie immer weiter fort vom Boden.
Es flog vor ihr her und sie ließen die Stadt hinter sich zurück.
Sie blickte bald nicht mehr zurück, nur noch nach vorne.
Dann waren sie fort...
Am Abend wird in den Nachrichten ein Bild gezeigt, auf dem ein junges Mädchen, das im Schnee liegt, einen schwarzen, kleinen Vogel in den Händen an ihre Brust drückt. Das Mädchen lächelt, seine blicklosen Augen sind liebevoll auf das tote Tier gerichtet.