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Vergissmeinnicht

Flo x Sven
von

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Manche Menschen sind einfach nicht dafür geschaffen, ewig zu leben. Manche Menschen sind nicht einmal dafür geschaffen, alt zu werden. Manche Menschen kann man sich alternd oder sterbend einfach nicht vorstellen. Genau so ein Mensch warst Du.
 

Ich erinnere mich noch ganz genau an unsere erste Begegnung. Ich war mit meiner Familie gerade erst umgezogen. Damals war ich dreizehn Jahre alt und hasste alles und jeden. Ganz besonders meine Eltern, denn diese hatten mich schliesslich aus meiner alten Welt herausgerissen, mich in eine Stadt verschleppt, die ich nicht kannte und die ich hasste und mich von meinen Freunden getrennt. Meine Geschwister, die sich über diesen Umzug riesig freuten und ganz aufgeregt waren, hasste ich ebenfalls, also nahm ich nur grummelnd den neuen Schlüssel entgegen und machte mich dann gleich aus dem Staub. Ich hatte keine Lust, meiner Familie beim Einräumen behilflich zu sein. Ich wollte meine Ruhe haben, niemanden sehen und mit niemandem sprechen, also begann ich, durch die nähere Umgebung meines neuen Zuhauses zu streifen.
 

Ein paar hundert Meter von dem neuen Haus meiner Familie entfernt gab es einen kleinen Spielplatz, der von einem ebenso winzigen Wäldchen umgeben war. Ich weiss bis heute nicht, was mich damals dorthin zog, aber ich hielt diesen Spielplatz, auf dem auch am Nachmittag trotz des für den Spätherbst noch recht sonnigen Wetters keine Kinder spielten, für den idealen Platz, um meinen Gedanken nachzuhängen und meinen Hass auf die ganze Welt zu pflegen.
 

Ich weiss noch, dass ich mich auf eine morsche Bank fallen liess, die neben der Schaukel stand, mir die Kopfhörer meines Walkmans aufsetzte und meine Augen schloss, um die ganze Welt um mich herum auszublenden. Eine Weile gelang mir das auch, doch dann musst Du beschlossen haben, meine Aufmerksamkeit auf Dich zu ziehen. Anders kann ich mir bis heute nicht erklären, dass Du plötzlich begonnen hast, mich von Deinem Aussichtsplatz aus mit Haselnüssen zu bewerfen.
 

Ich war im ersten Moment irritiert, aber als ich die Musik ausmachte und Lachen hörte, wurde ich wütend. "Hey, zeig Dich, Du Feigling!", schrie ich die umliegenden Bäume an, aber das Lachen wurde nur noch lauter. Ich sprang von der Bank auf und sah mich suchend um, aber erst eine weitere Haselnuss, die mich genau von oben traf, zeigte mir schliesslich, wo Du warst. Du hingst kopfüber von einem dicken Ast in einem der Nussbäume und hieltest Dir mit einer Hand Deinen offenbar vor lauter Lachen schon schmerzenden Bauch. In Deiner anderen Hand hattest Du noch ein paar Haselnüsse, doch da Du Dir meiner Aufmerksamkeit sicher warst, musstest Du sie nicht mehr nach mir werfen.
 

"Du bist neu hier.", stelltest Du fest, nachdem Du Dich von Deinem Lachanfall erholt hattest. "Sonst wärst Du nicht hergekommen. Hier kommt nie jemand her." "Warum nicht?", wollte ich wissen und Du zwinkertest mir zu. "Weil hier der Wald ist. Alle Eltern haben Angst davor, dass ihren Kindern im Wald was passiert, deshalb darf hier niemand zum Spielen herkommen. Hier sind schon Kinder verschwunden, weisst Du?", erklärtest Du mir und ich weiss noch, dass ich abfällig schnaubte. Das waren ganz sicher nur Ammenmärchen, die den Kindern erzählt wurden, damit sie brav waren und nichts anstellten.
 

"Nein, ernsthaft." Du bemerktest sofort, dass ich Dir nicht glaubte. Ich erschrak ziemlich, als Du Dich urplötzlich von dem Ast, an dem Du gehangen hattest, fallen liessest. Anstatt jedoch, wie ich geglaubt hatte, kopfüber auf dem Boden aufzuschlagen, schafftest Du es irgendwie, auf Deinen Füßen zu landen. "Wie eine Katze.", entfuhr es mir und wieder lachtest Du. "Das sagt mein Vater auch immer." Du grinstest mich an und ich weiss bis heute nicht, wieso, aber ich erwiderte Dein Grinsen. Deine dunkelbraunen Haare standen wegen Deiner Aktion auf dem Baum wirr ab und die grauen Augen, die mich musterten, machten es gleich wett, dass Du kleiner warst als ich. Unter Deinem Blick kam ich mir nicht wie sonst wie der Ältere und Größere – meine beiden Brüder und meine Schwester waren schliesslich jünger als ich – vor, sondern so, als stünde ich jemandem gegenüber, der mir voraus war. Ich wusste nur nicht, wobei.
 

"Und warum bist Du hier, wenn es doch verboten ist, so nah am Wald zu spielen?", erkundigte ich mich neugierig und Dein Grinsen wurde noch breiter. "Weil ich am Wald wohne. Ich kann sogar von meinem Zimmerfenster aus gleich auf einen Baum klettern, wenn ich will. Ausserdem ist mein Vater nicht so ängstlich wie andere Eltern.", antwortetest Du und sahst mich mit schiefgelegtem Kopf an.
 

"Du bist wirklich neu hier. Sonst würdest Du nicht mit mir sprechen." Diese Worte machten mich nur noch neugieriger, aber eine Männerstimme, die nach Dir rief, hielt mich davon ab, nach dem Warum zu fragen. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie Du in Richtung eines kleinen Häuschens wegranntest, das ich bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wahrgenommen hatte. Ich starrte Dir nach, bis die Haustür hinter Dir zufiel. Erst dann rang ich mich dazu durch, auch endlich nach Hause zu gehen. Was es mit Dir auf sich hatte, konnte ich schliesslich auch noch am nächsten Tag herausfinden.
 

Das war unsere erste Begegnung. Am nächsten Tag – meinem ersten Schultag an der neuen Schule – sah ich Dich gleich wieder und wurde sofort von einigen neuen Klassenkameraden vor Dir gewarnt. Du wärest nicht normal, weil schon Deine Mutter nicht normal gewesen wäre. Sie würde in einer Anstalt leben und ich sollte mich besser von Dir fernhalten, riet man mir, aber ich schlug alle Warnungen in den Wind. Du interessiertest mich und ich wollte mehr über Dich wissen, also ging ich am Nachmittag wieder zu dem kleinen Spielplatz.
 

Wie erwartet fand ich Dich wieder dort vor. Ich werde nie vergessen, wie erstaunt Du mich angesehen hast, als ich wiederkam. "Warum bist Du hier?", wolltest Du wissen und ich zuckte mit den Schultern. "Ich wollte Dich wiedersehen.", antwortete ich ehrlich und meine Belohnung dafür war ein warmes, beinahe schon glückliches Lächeln, weil es tatsächlich jemanden gab, der sich nicht von den Geschichten über Dich und Deine Familie abschrecken liess.
 

Dieser Tag markierte den Beginn unserer Freundschaft. Von da an waren wir beide jeden Tag zusammen. Wir waren wohl das, was man 'unzertrennlich' nennt. Jede freie Minute verbrachten wir beide miteinander und bald gingst Du bei mir zu Hause ebenso ein und aus wie ich bei Dir. Ich lernte Deinen Vater kennen und erfuhr, dass die Geschichten, die über Deine Familie kursierten, zumindest einen wahren Kern hatten. Deine Mutter litt wirklich unter einer psychischen Störung, aber das war mir egal. Du warst mein bester Freund und ich war Deiner. Mehr musste ich nicht wissen. Sicher, hin und wieder warst Du ziemlich wild und gingst unnötige Risiken ein – ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie oft Du in die höchsten Bäume geklettert bist oder auf dem Gestell der alten Schaukel am Spielplatz balancieren musstest, nur um zu beweisen, dass Du Dich das traust –, aber das taten doch schliesslich alle Jungs. Ich selbst war ja auch nicht anders. Und ausserdem war ich ja immer da, um Dich aufzufangen, falls Du fallen solltest.
 

"Ich hab keine Angst. Ich weiss ja, dass Du immer da sein wirst, Flo.", sagtest Du mal zu mir, als ich Dich fragte, weshalb Du ständig solche waghalsigen Dinge tun musstest. Danach lachtest Du – so wie immer. Wenn ich mich heute an Dich erinnere, sehe ich Dich immer nur lachen. Du warst ein fröhlicher und lebensfroher Mensch und genauso habe ich Dich auch in Erinnerung. Natürlich weiss ich, dass es auch Momente gab, in denen Du traurig oder wütend warst, in denen Du geweint, getobt, geschrieen hast – schliesslich war ich fast immer dabei –, aber dennoch lachst Du in den meisten meiner Erinnerungen.
 

"Ich liebe Dein Lachen." Genau das sagte ich Dir an Deinem sechzehnten Geburtstag. Wieder lachtest Du und im nächsten Moment spürte ich Deine Lippen auf meinen. "Und ich liebe Dich.", war Deine schlichte Erwiderung, aber diese vier Worte machten mich unglaublich glücklich. Und sie markierten den Beginn eines neuen Lebensabschnitts für uns beide. Waren wir vorher schon gemieden worden, so begegnete man uns jetzt mit offener Ablehnung und teilweise sogar mit Abscheu. Doch das interessierte uns nicht. In unserer kleinen Welt hatte es für andere Menschen sowieso noch nie Platz gegeben, also lachten wir nur, wenn man uns beschimpfte. Meine Eltern, meine Geschwister und auch Dein Vater standen voll und ganz hinter uns, also was konnte uns schon passieren? Richtig, gar nichts. Damals ahnten wir noch nichts davon, wie sehr wir uns täuschen sollten.
 

Ich erinnere mich auch heute noch an jedes Detail des Tages, der mein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Meine Familie hatte darauf bestanden, dass ich, obwohl ich schon neunzehn war, mit ihnen gemeinsam in den Urlaub fahren sollte. Drei Wochen von Dir getrennt zu sein erschien mir damals wie die pure Hölle und ich war unendlich froh, als der Urlaub endlich vorbei war und wir nach Hause kamen. Mein Vater hatte den Wagen noch nicht einmal richtig geparkt, da hatte ich auch schon meinen Anschnallgurt gelöst, die Tür aufgerissen und war losgesprintet zu 'unserem' Spielplatz, der noch immer unser Treffpunkt war. Ich weiss noch, dass mein jüngster Bruder lachte und mir hinterher rief, ich sollte es mit der Wiedersehensfreude nicht übertreiben. Ich reagierte nicht darauf, denn für mich zählte nur noch, schnell zu Dir zu kommen.
 

Als ich den Spielplatz erreichte, sah ich mich suchend um und entdeckte Dich gleichermaßen zu meinem Entsetzen und meiner Belustigung oben auf dem alten, morschen Schaukelgestell. Der Anblick, wie Du dort oben mit ausgebreiteten Armen, mir den Rücken zuwendend, herumbalanciertest, hatte für mich etwas derart Vertrautes, dass ich erst in diesem Augenblick das Gefühl hatte, wirklich wieder zu Hause zu sein. Seit ich Dich kennengelernt hatte, warst Du mein Zuhause. Bei diesem Gedanken lächelte ich, das weiss ich noch. Und genau in diesem Moment drehtest Du Dich um und Deine grauen Augen, die ich so sehr liebte, begannen zu strahlen, als Du mich erkanntest.
 

"Du bist wieder zu Hause, Flo!", riefst Du und ich nickte. "Jetzt ja.", erwiderte ich und trat aus purer Gewohnheit näher auf die Schaukel zu. Genau in dem Augenblick jedoch, in dem Du das Ende beinahe erreicht hattest, gab der alte Holzbalken unter Deinen Füßen knirschend nach und ich sah, wie Deine Augen sich in plötzlichem Erschrecken weiteten, als Du den Halt verlorst. Zum Glück stand ich nah genug, um Dich auffangen zu können, aber Dein Schwung riss mich von den Beinen und ich landete unsanft auf dem Boden. Durch den Aufprall wurde die Luft aus meinen Lungen gepresst. Mir wurde sekundenlang schwarz vor Augen und ich konnte Dich nicht festhalten.
 

Als ich meine Umgebung endlich wieder erkennen konnte, setzte ich mich sofort auf und sah mich nach Dir um. Du lagst neben mir auf der Seite und ich wollte schon aufatmen, als ich die große Blutlache unter Deinem Kopf erblickte. Du warst mit der Schläfe auf einen herumliegenden Stein aufgeschlagen und ich wollte sofort aufspringen, um Hilfe zu holen, doch ein erstaunlich fester Griff Deiner Hand um mein Handgelenk hinderte mich daran.
 

"Mir geht's gut, Flo. Du hast mich doch aufgefangen. Das ist nur ein Kratzer. Tut auch nicht weh. Mach Dir keine Sorgen, ja?", batest Du mich leise und ich zog Dich vorsichtig in meine Arme, um Dir nicht versehentlich doch noch Schmerzen zuzufügen. Behutsam strich ich Dir über die Platzwunde und löste ein paar Haare, die dort festklebten. Du zucktest nicht einmal zusammen, sondern lächeltest mich die ganze Zeit unverwandt an.
 

"Du hast mir gefehlt, Flo. Sehr sogar." Deine Worte liessen mich ebenfalls lächeln. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich noch, dass alles wieder gut werden würde. Ich zog Dich vom Boden hoch zur Bank und setzte mich mit Dir dort hin. Du lehntest Dich an mich und ich legte meinen Arm um Deine Schultern, um Dich noch näher bei mir zu haben. "Du hast mir auch gefehlt. Den nächsten Urlaub verbringen wir zusammen, okay? Nur wir beide, Du und ich.", schlug ich vor und spürte Dein Nicken mehr, als ich es sah.
 

"Das wär schön." Deine Stimme war leise, aber ich dachte mir nichts dabei. Auch als Du danach ganz schwiegst, bemerkte ich noch nichts. Mir fiel erst auf, dass etwas nicht stimmte, als Dein Arm, den Du um meinen Bauch geschlungen hattest, langsam zu rutschen begann. Im ersten Moment glaubte ich, Du wärest vielleicht eingeschlafen, aber als es mir nicht gelang, Dich wie sonst mit einem Kuss auf Deine Haare zu wecken, machte sich ein seltsames Gefühl in meinem Inneren breit. Ich hatte immer gewusst, wenn mit Dir irgendetwas Gravierendes nicht stimmte und auch jetzt spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Vorsichtig hob ich Dein Kinn an und in der Sekunde, in der ich Deine geschlossenen Augen und das sanfte, friedliche Lächeln auf Deinen Lippen sah, wusste ich, dass Du mich nie wieder ansehen oder für mich lachen würdest. Du warst einfach gegangen und hattest Dich nicht einmal richtig von mir verabschiedet.
 

Wie lange ich noch mit Dir im Arm dagesessen habe, weiss ich heute nicht mehr. Es war allerdings schon dunkel, als ich mich endlich dazu aufraffen konnte, Dich auf meine Arme zu nehmen und Dich nach Hause zu tragen. Dein Vater, der uns beide kommen sehen hatte, öffnete mir die Tür. Er warf einen kurzen Blick auf Dich, stellte jedoch keine Fragen, sondern ging nur vor in Dein Zimmer, in dem wir beide so viel Zeit miteinander verbracht hatten. Gemeinsam legten wir Dich dort in Dein Bett und ich weiss noch, dass ich Dir die Schuhe auszog und Dich zudeckte, als würdest Du nur schlafen. Ich wusste, dass Du nicht mehr aufwachen würdest, aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Noch nicht.
 

An das, was in den nächsten Tagen geschah, habe ich nur sehr verschwommene Erinnerungen. Meine Eltern haben mir später irgendwann erzählt, dass ich einige Tage im Krankenhaus war und Beruhigungsmittel bekommen habe. Das erklärt wahrscheinlich die seltsame Taubheit, an die ich mich noch erinnere. Erst am Tag vor Deiner Beerdigung wurde ich entlassen, denn meine Eltern waren der Meinung, dass ich dabei sein sollte. Ich bin ihnen heute noch dankbar dafür, dass sie gegen den Rat meines Arztes gehandelt haben, als sie mich nach Hause holten. Sie hatten Recht. Ich wollte und musste einfach dabei sein.
 

In der Woche, die seit Deinem Unfall vergangen war, hatte Dein Vater sich um alles gekümmert. Er hatte ein Grab in einer ruhigen Ecke unseres kleinen Friedhofs ausgesucht und dafür gesorgt, dass kein Priester eine Rede halten würde. Du hattest für solche Rituale nichts übrig und er wollte, dass alles so wird, wie Du es gewollt hättest. Ich bin sicher, wenn Du dabei gewesen wärst, hätte es Dir gefallen. Die Trauergemeinde war zwar nur sehr klein – sie bestand nur aus Deinem Vater, meinen Eltern und Geschwistern und mir, denn Deine Mutter war ein Jahr zuvor verstorben –, aber dafür bestand sie aus Menschen, denen Du etwas bedeutet hast und die Dich aufrichtig geliebt haben. Niemand, der Dich nicht so kannte wie wir, wusste von Deinem Unfall und Deinem Tod. Ich bin sicher, das hättest Du auch nicht gewollt – ebenso wenig, wie Du gewollt hättest, dass wir Deinetwegen trauern.
 

Für Aussenstehende mochte es vielleicht seltsam anmuten, aber Deine Beerdigung glich wohl mehr einer Feier als einem Trauerritual. Du hattest mir mal gesagt, Du wolltest nicht, dass irgendjemand um Dich trauert, und wir alle bemühten uns, uns nach Deinem Wunsch zu richten. Wir liessen uns bei Deinem offenen Grab nieder, nachdem der Sarg herabgelassen worden war, unterhielten uns und tauschten Erinnerungen über Dich aus. Erst als der Friedhofswächter seine Runde machte, brachen wir auf, aber ich ging nicht mit meiner Familie nach Hause, sondern mit Deinem Vater. Ich wollte einfach bei Dir sein, wenn auch nur im Geiste, und er hatte Verständnis dafür. Du kennst ihn ja, nicht wahr?
 

Wir machten beide die ganze Nacht lang kein Auge zu, sondern saßen auf der Bank auf 'unserem' Spielplatz und redeten – über Dich und Dein Leben, über ihn, über mich, über Deinen Unfall. Ich entschuldigte mich bei Deinem Vater, weil ich nicht besser auf Dich aufgepasst habe, doch er schüttelte nur den Kopf und lächelte. "Weisst Du eigentlich, dass Sven niemals Pläne für sein späteres Leben gemacht hat, Flo?", fragte er mich und ich sah ihn irritiert an. Erst in diesem Moment, in dem er mich darauf aufmerksam machte, fiel mir auf, dass er Recht hatte. Wenn wir über unsere Zukunft gesprochen hatten, war ich der Einzige gewesen, der wirklich Pläne geschmiedet hatte. Du hattest mir immer nur dabei zugesehen und gelächelt, aber niemals hattest Du über das gesprochen, was Du mit Deinem Leben vorhattest. Nur ein einziges Mal habe ich Dich darauf angesprochen. Wie so oft hast Du auch damals gelacht und den Kopf geschüttelt. "Ich werde nie alt, Flo. Nie.", hast Du geantwortet. Danach haben wir nie wieder darüber gesprochen.
 

"Warum?", wollte ich von Deinem Vater wissen und sein Lächeln bekam etwas Trauriges. "Weil er niemals alt werden wollte. Und das wäre er auch ohne den Unfall nicht geworden.", erklärte er mir und erst jetzt erfuhr ich, dass Du schon mit einem Herzfehler zur Welt gekommen warst. Für die Ärzte und Deinen Vater war jedes Jahr, das Du erlebtest, wie ein kleines Wunder. Deine Krankheit war auch der Grund dafür, dass Deine Mutter ihre letzten Jahre in dieser Klinik verbracht hatte. Sie hatte es einfach nicht verkraftet, jeden Tag mit der Angst leben zu müssen, Dich zu verlieren.
 

"Er hat Dir nie davon erzählt, das weiss ich, Flo. Und er hat mich auch gebeten, Dir gegenüber zu schweigen. Ich sollte Dir erst nach seinem Tod davon erzählen. Er wollte nicht, dass Du ihn behandelst, als wäre er aus Glas. Ich musste ihm mein Wort geben. Ich hoffe, Du verstehst das. Er ist nicht an dem Sturz gestorben, Flo. Es war sein Herz." Der Blick Deines Vaters war fragend und auch etwas schuldbewusst, doch ich nickte nur. So seltsam es auch klingen mochte, ich verstand es. Und jetzt endlich verstand ich auch, warum Du jedes Risiko eingegangen bist. Ich hatte immer das Gefühl, dass Du versuchtest, zwei Leben gleichzeitig zu leben oder wenigstens jeden einzelnen Tag vollständig auszukosten. Jetzt endlich hatte ich die Erklärung dafür.
 

Am Tag nach Deiner Beerdigung ging ich gleich morgens auf den Friedhof, nachdem ich vorher in dem kleinen Blumenladen alle Vergissmeinnicht aufgekauft hatte, die ich finden konnte. Dein Grab war inzwischen mit frischer Erde bedeckt, aber weder Blumen noch Kränze schmückten es. Und genau das wollte ich ändern. Immerhin waren Vergissmeinnicht Deine Lieblingsblumen gewesen. Du hattest sie in einer kleinen Ecke auf dem Spielplatz gepflanzt, Dich immer darum gekümmert und Dich über jede einzelne Blüte gefreut wie ein kleines Kind. Irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass Du, wo auch immer Du jetzt sein mochtest, Dich auch über die Blumen auf Deinem Grab freuen würdest.
 

Das alles liegt inzwischen zehn Jahre zurück. Ich habe nach dem Abitur alle meine Pläne über den Haufen geworfen und mich statt eines Germanistikstudiums für Medizin entschieden. Du würdest sicher lachen, wenn Du das wüsstest, aber tatsächlich habe ich diese Entscheidung nur Deinetwegen getroffen. Inzwischen bin ich auf dem besten Wege, Kardiologe zu werden. Ja, ich spezialisiere mich auf Herzkrankheiten. Für Dich kann ich zwar nichts mehr tun, aber vielleicht kann ich so wenigstens verhindern, dass andere Menschen so wie Du daran sterben müssen, dass ihr Herz nicht richtig arbeitet. Und auch wenn ich inzwischen viel zu tun habe, so verbringe ich doch trotzdem noch regelmäßig Zeit auf dem Friedhof, bei Deinem Vater oder auf unserem Spielplatz.
 

Deine Vergissmeinnicht, die Du gepflanzt hast, habe ich inzwischen eingezäunt, denn mittlerweile haben viele Eltern keine Angst mehr, ihre Kinder hier spielen zu lassen. Die Schaukel wurde nach Deinem Unfall erneuert und die Kinder, die heute hier spielen, wissen nichts von dem, was hier vor zehn Jahren passiert ist. Sie wissen nur, dass der Mensch, den ich auf dieser Welt am meisten geliebt habe, diese Blumen gepflanzt hat. Jedes Jahr, wenn die ersten Knospen aufgehen, sitzen Dein Vater und ich auf unserer Bank, sehen den Kindern zu und denken an Dich. Wir brauchen keine Worte, um uns zu verständigen. Und manchmal, wenn eins der Kinder über den kleinen Zaun auf die Vergissmeinnicht blickt, habe ich beinahe das Gefühl, wieder Dein Lachen zu hören.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2010-06-13T17:45:03+00:00 13.06.2010 19:45
Wunderschön und total traurig... mehr kann ich da grad echt nicht zu sagen.
LG
TA
Von:  Inan
2009-12-23T11:16:05+00:00 23.12.2009 12:16
Das ist so schön und so romatisch und so traurig und so schön! <3
In der OS gings ja eher weniger um die Tatsache,
dass die Beiden zusammen sind, sondern eher darum, dass ein wertvoller Mensch gestorben ist,
hab ich jedenfalls irgendwie das gefühl...
Ich fands ausserdem richtig toll, dass Svens und Flos Eltern so hinter den beiden gestanden haben, das ist ja oft nicht so
Mega-tolle OS^^
Von: abgemeldet
2008-11-27T09:49:04+00:00 27.11.2008 10:49
wahhh is das schöööön.. ich mag den sven gaz dolle.. nur schade dass es so kommen musste... *schnief* nja ich habe ja ein fable für Nicht-Hapyy-Ends!! XDD haste fein gemacht
Von:  Noa-Willow
2008-08-05T19:57:56+00:00 05.08.2008 21:57
Du hast es wirklich vollbracht mich weinen zu lassen und das ist schon eine große Leistung. Ein tollte traurige und dramatische Geschichte. Sie kommt gleich zu meinen Favoriten.
Von:  Schwarzfeder
2008-08-05T18:50:33+00:00 05.08.2008 20:50
Wow...eine FF von dir und ich bin -ausnahmsweise- die erste?
*Augen wieder einsammel*
Okay...!
*tief durchatme*
*mich dann aus dem Taschentuch berg hervorwühl*
Es ist...
Scheiß verdammt die beste Folter überhaupt!
So schön geschrieben so schön BEschrieben und die ganze Zeit denkt man sich 'Ich will nicht heulen ich will das lesen' oder neinneinneinneinnein...das darf nicht sein nicht passieren nicht so!
Es ist einfach schön...schön traurig schön mitreißend...
Ich bin emotional immer noch so durcheinander das mir einfach die Worte fehlen!
Ich hoffe du verstehst trotz des Kuddelmuddels was ich versuche dir zu sagen ^x^°
Nja jedenfalls sage ich jetzt nichts mehr sonst entkräfte ich komplett die Wirkund und alles!
*noch mal tief Luft hol*
D A N K E!
LG
-kameo-


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