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Schwalbenschwanz

von

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Schwalbenschwanz

Titel: Schwalbenschwanz

Autor: Morpho (aka white-shark, ehe mich hier jemand wegen Diebstahl verfolgt)

Beta: LünLün auf der Jagd nach meinen Flüchtigkeitsfehlern. Besten Dank dafür! *knuddl*

Disclaimer:

Die Grundidee gehört Elvenking – Swallowtail (s. weiter unten), alles andere ist meins und ohne meine Erlaubnis weder ganz noch teilweise zu verwenden, reposten, verändern etc.

Teil: 1/1 (One-shot)

Genre: Freie Arbeit/Fantasy/Mystery, Kurzgeschichte

Rating: P16 – vorsichtshalber, aufgrund unappetitlicher Beschreibungen.

Warnungen: nicht für sehr empfindliche Mägen und Leute, die auf kitschige Happy-Ends stehen.

A/N: Es handelt sich um eine Art Songfic im weitesten Sinne. Das Lied an sich kommt weder direkt vor, noch wird es irgendwie erwähnt. Der Songtext hat mir lediglich die Idee eingeflüstert. Daher:

Empfohlene Hintergrundmusik: Elvenking – Swallowtail

Na, wem fällt was auf? ;) Genau. Und wer die Lyrics sucht, wird verstehen, wie Lied und Geschichte zusammenpassen. Mal abgesehen davon, dass die Band sowieso und allgemein höchst empfehlenswert ist.

Es geht übrigens nicht um die Blair Witch. ;) Und nun, viel Spaß.
 


 

Schwalbenschwanz
 

Shem spannte den Bogen, ohne die Augen von dem Reh zu nehmen. Es war weder groß noch fett, aber neben zwei Kaninchen das erste Fleisch, das er seit Tagen in Aussicht hatte. Offensichtlich stimmte etwas nicht mit ihm, sonst stünde es nicht bei helllichtem Tag auf dieser kleinen Lichtung. Völlig ungeschützt und nicht sonderlich aufmerksam.
 

Aus dem Augenwinkel sah er, wie sein Begleiter ihm ein Zeichen gab. Es ist dieser verfluchte Wald, dachte Shem noch, bevor er zielte und den Pfeil fliegen ließ.
 

Zwei Geschosse rasten auf das Reh zu. Shems Pfeil traf es seitlich in die Brust, der zweite jedoch verfehlte sein Ziel und verschwand auf der anderen Seite der Wiese im Wald. Er hörte Inch, den zweiten Jäger, vernehmlich fluchen.
 

„Guter Schuss, Shem“, sagte Niku, der dritte und letzte ihrer Gruppe, bewundernd und klopfte ihm auf die Schulter.
 

Shem nickte knapp. „Es wurde auch langsam Zeit. Kommt, gehen wir.“ Er trat aus der Deckung hervor und näherte sich zügig dem liegenden Wild. Es war tot. Ein gut gezielter Schuss. Nicht üblich, aber möglich. Andere Rehe hätten vielleicht noch eine Weile überlebt.
 

Shem hob die Schultern. Eigentlich konnte es ihm egal sein. Was jetzt zählte, war nur das Fleisch, das sein Dorf so gut gebrauchen konnte nach diesem harten Winter.
 

Inch und Niku traten neben ihn, Gras raschelte unter ihren Füßen, und der würzige Duft zertretener Kräuter stieg auf. Noch war es kühl, das junge Frühlingsgras taufeucht, doch die Sonne in Shems Nacken versprach einen heißen Tag.
 

Inch nahm seinen Dolch und kniete neben dem Reh nieder, interessiert beobachtet vom jungen Niku. Er lernte schnell und würde einen guten Jäger abgeben, trotz seiner erst sechzehn Sommer. Nicht so wie Shem, der zwar ein hervorragender Schütze war, das Zerlegen der Beute jedoch verabscheute.
 

Ein reißendes Geräusch erklang von unten; Haut, die von einem Messer zerteilt wird, gefolgt vom Blutgeruch. Inch begann mit dem ausweiden. Trotz vieler Jahre als Jäger drehte sich Shem der Magen um. Er hasste diesen Teil.
 

„Ich geh deinen Pfeil suchen“, murmelte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er auf den schattigen Waldrand zu, auf die Stelle, an der er das verlorene Geschoss vermutete. Anders als viele aus dem Dorf fürchtete er den Wald nicht. Sicher, es war seltsam hier. Die Bäume standen dicht, und selbst im Winter, wenn das Licht eigentlich ungehindert durch blattloses Geäst fallen könnte, herrschte Zwielicht auf dem Waldboden. Die Tiere benahmen sich sonderbar. Und Menschen verschwanden. Das war das schlimmste für die abergläubischen Dörfler. Leute, die in den Wald gingen und nie wieder gesehen wurden.
 

Zumindest nicht am Stück.
 

Shem glaubte nicht an die Geschichten von einer Hexe, die irgendwo im Wald lebte und arglose Wanderer fraß, womöglich noch solche, die nach ihrer Hütte gesucht hatten. Und doch, selbst er konnte es nicht leugnen: manchmal fand man im Wald, an seltsamen Bäumen, Teile der Vermissten. Eine Hand. Ein Bein. Mit Fäden unbekannter Herkunft an die Äste gebunden und sanft im Wind schwingend. So erzählten es jene, die mit den gefundenen Körperteilen in die Siedlung zurückkehrten.
 

Wilde Tiere oder Räuber klangen für Shem wahrscheinlicher als eine Hexe, wenn auch Räuber, die geschickt die Legenden schürten, damit niemand nach ihnen suchte. Auch hegte er keinen Zweifel daran, dass unter dem Deckmantel der Hexengeschichte bereits Morde geschehen waren, die einfach vertuscht wurden. Alles hatte ganz natürliche Ursachen.
 

Ganz wohl war ihm trotzdem nicht, obwohl der Wald friedlich aussah. Einige Vögel sangen, durch die noch spärliche Belaubung fielen vereinzelt Sonnenstrahlen, die goldene Flecken auf Moos und Frühblüher warfen. Es roch nach Holz, feuchter Erde – und Verwesung. Shem verzog das Gesicht. Sicher hatte ein Fuchs oder gar ein Wolf seine Beute hier in der Nähe versteckt...
 

Etwas blitzte wenige Schritte entfernt auf dem Waldboden, als ein kurzer Lichtstrahl es traf. Der verlorene Pfeil! Den Blick starr auf die Stelle gerichtet, eilte Shem darauf zu. Der Verwesungsgeruch wurde stärker, etwas knackte im Unterholz. Hatte er den heimlichen Jäger vertrieben? Für einen Fuchspelz würde er viel Geld bekommen, doch er nahm keine flüchtende Gestalt wahr. Schade, dachte er und zog den Kopf ein, um nicht an einen tief hängenden Ast zu stoßen. Aus dieser Bewegung heraus griff er den zum Glück unversehrten Pfeil und stand auf.
 

Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
 

Kurz zuckte Shem zusammen, dann lachte er. Das erklärte einiges. Kein Fuchs war im Unterholz gewesen, nein – Niku war ihm nachgeschlichen, um ihm einen Streich zu spielen. Wie leise der Junge sich doch bewegen konnte! Der Jäger beschloss, den Spaß mitzumachen, und blieb wie erstarrt stehen. Aus dem Augenwinkel sah er auf die Hand. Sie war, so weit er das unter dem Blut erkennen konnte, seltsam blass und reglos. Shem lief es kalt den Rücken herunter, und seine Nackenhärchen stellten sich auf.
 

„Niku, bitte. Wasch dir nächstes Mal wenigstens die Hände!“, mahnte er. Es sollte gelassen klingen, doch seine Stimme zitterte, ebenso wie seine Hände. Ansonsten war er starr. Was, bei allen Göttern...?
 

„Shem?“
 

Das Herz des Jägers setzte kurz aus. Das war Nikus Stimme – und sie erklang vor ihm.
 

Das löste die Lähmung, die seinen Körper kurzzeitig befallen hatte. Keuchend fuhr er herum, stieß schmerzhaft gegen einen Stamm und schürfte seinen Arm an der rauen Rinde auf. Der Pfeil entglitt seiner Hand. Dicht an den Stamm gepresst, als könne das Leben unter der rissigen Borke ihn schützen und nähren, starrte er auf das entsetzliche Bild vor ihm.
 

Der Baum musste alt sein, uralt und tot. Verborgen vom Laub der umliegenden Pflanzen, war er unsichtbar, bis man direkt vor ihm stand. Dann allerdings war er kaum zu übersehen mit dem unförmigen, schwarzen Stamm, an dessen Seite ein gezacktes Loch wie ein Maul klaffte, und den dürren, leblosen Zweigen, die Knochenfingern gleich in den Himmel ragten. Von diesen Ästen, an dünnen Fäden, hingen ein Fuß, ein halber Brustkorb und ein kompletter Arm. Das Fleisch verweste bereits und sah auf Schulterhöhe aus, als sei es dem vormaligen Besitzer abgerissen worden. Die Leichenteile schwangen im Wind wie makaberer Baumschmuck und verströmten den durchdringenden Gestank, den Shem schon vorhin wahrgenommen hatte.
 

Shems Magen revoltierte und machte sich bereit, den kalten Getreidebrei vom Morgen wieder ans Tageslicht zu befördern. Doch der Jäger konnte keinen Muskel rühren, nicht einmal die Augen abwenden...

„Shem? Wo bist du, verdammt?“ Nikus Ruf klang besorgt. Offenbar war Shem schon länger weg, als er vermutete. Er versuchte zu antworten, brachte aber nur ein unverständliches Krächzen hervor. Seine Kehle war völlig trocken.
 

Näher kommendes Knacken verriet ihm, dass der Junge auch so auf seiner Spur war. Vielleicht hatte auch er das Blitzen des Pfeils gesehen, vielleicht folgte er den geknickten Zweigen oder dem Geruch, vielleicht war die gewählte Richtung auch purer Zufall. Es machte für Shem keinen Unterschied – nie war er so froh gewesen, Niku auftauchen zu sehen.
 

„Da bist du ja!“, rief der Junge und kam hastig näher. „Was...“
 

Auch er erstarrte. „Bei allen Göttern. Inch!“ Angst und Abscheu schwangen in seinem Ruf mit. Er machte einen Schritt auf Shem zu und packte ihn an der Schulter, zog sanft. Dankbar löste der Jäger seine Verbindung mit dem Baum und entfernte sich ein Stück von dem schrecklichen Anblick. Nach weiteren zwei Schritten packte er einen Ast als Halt und übergab sich ins Unterholz.
 

Kurz darauf stieß auch Inch zu ihnen. Er überwand als einziger seinen Ekel und betrachtete die Teile genauer. Vor allem den Arm untersuchte er gründlich; schließlich holte er ein Stück Tuch hervor, spuckte darauf und rieb Schmutz und Blut von einer bestimmten Stelle. Zum Vorschein kam eine kreisrunde Narbe.
 

Inch schüttelte traurig den Kopf. „Hrann. Vor einer Woche ging er los, um Holz zu sammeln. Erinnert ihr euch – wir dachten, er sei statt dessen ins Nachbardorf, zu seiner Großtante...“
 

„Wir müssen ihn mitnehmen“, meinte Niku, wobei er hörbar schluckte. „Für seine Mutter.“
 

„Wohl eher das, was noch von ihm übrig ist.“
 

Inch!
 

„Tut mir Leid. Ich wollte nicht taktlos sein.“ Aus seinem Rucksack holte Inch ein Messer und einen groben Leinsack, der eigentlich für das zerlegte Reh gedacht war. Vorsichtig und darauf bedacht, die Körperteile möglichst unbeschadet in den Beutel fallen zu lassen, durchtrennte er die Fäden. Shem, dem noch immer die Beine zitterten, versuchte mit aller Macht, ihn nicht zu genau zu beobachten und auch das Geräusch zu ignorieren, mit dem das Fleisch aufschlug. Schließlich verknotete Inch den Sack und sah seine Begleiter an. „Wir sollten gehen.“
 

Die schmalen, krummen Zweige knackten und raschelten zustimmend im Wind.
 


 

Im Dorf empfing man sie mit großem Jubel angesichts der Säcke voll schmackhaftem Fleisch. Die gesamte Dorfbevölkerung, auch die Alten und Schwachen, strömte zum Gemeindehaus in der Mitte der Siedlung. Jeder wollte sehen, was die Jäger erlegt hatten.
 

Drei Säcke übergab Inch dem Dorfältesten, der über die Verteilung zu bestimmen hatte. Den vierten übergab er Hranns Mutter und erklärte allen, was sie im Wald gefunden hatten. Danach lastete Stille wie eine Wolldecke über dem Raum. Kinder verschwanden unter den Röcken ihrer Mütter, Erwachsene tauschten ernste Blicke, und die Älteren nickten wissend. Nur das trockene Schluchzen der Mutter, die soeben die Reste ihres Sohnes erhalten hatte, durchbrach die Ruhe.
 

Shem hatte Kopfschmerzen. Normalerweise hätte er sich jetzt zurückgezogen, gewaschen und geschlafen – der verdiente Lohn von vier Tagen Jagd, der am Abend in einem großen Festessen gipfeln würde. Doch immer, wenn er die Augen schloss, sah er die Leichenhand auf seiner Schulter und das Bild des Baumes vor seinem inneren Auge, und die Erinnerung an den Geruch und die knarrenden Äste trug das übrige bei. Er wusste, er konnte nicht schlafen – nicht so erholsam, wie es jetzt nötig wäre.
 

Eine krächzende Stimme schreckte ihn und alle anderen auf. „Ich habe es schon immer gesagt!“ Alle Augen schauten nun auf eine kleine, gebeugte Frau, deren gütiges Gesicht von unzähligen Runzeln und Falten durchzogen war.
 

„Großmutter, bitte“, sagte Shem müde, doch wie zu erwarten hörte sie nicht auf ihn. Shems Großmutter war die älteste Bewohnerin des Dorfes, die älteste Frau, die er kannte, vielleicht sogar die älteste Frau der Welt. Fragte man sie nach ihrem genauen Alter, zwinkerte sie und sagte „So alt wie die Bäume, mein Kind!“ Es hatte nie eine Zeit ohne Großmutter gegeben. Undenkbar, dass sie nicht in der schattigsten Ecke oder, im Winter, nahe beim Feuer saß und den Kindern Geschichten erzählte. In diesen gab es Waldgeister, Feen, sprechende Tiere – und natürlich die Waldhexe. Manchmal glaubte Shem fast, Großmutter hatte die Hexe erfunden, und alle jetzigen Legenden waren aus ihrer Erzählung hervorgegangen.
 

Auch jetzt setzte sie dazu an, diese Geschichte zum besten zu geben. „Ich hab’ ihm noch gesagt, er solle nicht in die Nähe der Hütte gehen! Wie oft hab’ ich es ihm gesagt, und euch anderen auch! Aber ihr denkt ja, das seien Hirngespinste einer alten Frau.“ Sie warf allen böse Blicke zu, und einige Dörfler sahen schuldbewusst weg.
 

„Wir alle kennen die Geschichte“, mahnte Inch sanft.
 

„Und sie kümmert euch offensichtlich nicht“, erwiderte Großmutter trocken. „Sonst würden keine Leute aus dem Dorf verschwinden, und sonst würdet ihr all die Narren warnen, die kommen und die Hexe fangen wollen.“
 

Shem rieb seine Schläfen. „Es gibt keine Hexe, Großmutter, und das weißt du.“
 

Sie grinste zahnlos, aber ohne jeden Humor. „Deiner Meinung nach haben sich die Leute also selbst zerrissen und an den Baum gehängt.“
 

Hranns Mutter heulte laut auf und floh aus dem Gemeindehaus, gefolgt von zwei ihrer Schwestern. Großmutter erntete strafende und missbilligende Blicke, die sie erstaunlich wenig kümmerten. Ihr Blick war fest auf Shem gerichtet, und die kleinen Augen glänzten lauernd.
 

„Nein, natürlich nicht.“ In Shems Ohren klang seine eigene Stimme unglaublich müde. „Aber eine Hexe, ich bitte dich. Für mich sieht es eher nach wilden Tieren aus.“
 

„Wilde Tiere.“ Die alte Frau schnaubte. „Etwas mehr Vorsicht würde dir gut tun, Enkelchen, sonst bist du der nächste. Halt dich besser fern von der Hütte! Tief im Wald steht sie, verfallen und von Efeu überwuchert... Dorthin lockt die Hexe ihre Opfer, Männer und Frauen, von deren Lebenskraft sie sich nährt.“
 

Die Kinder hingen gebannt an ihren Lippen und schauderten; doch es war ein eher angenehmes Gruseln, hier, inmitten all der Leute und am helllichten Tag. Shem hingegen schüttelte kraftlos den Kopf. Statt einer Erwiderung stand er auf, das Schaben seines Stuhles auf dem Holzboden unnatürlich laut, und trat hinaus in die grelle Frühlingssonne. Er fühlte Großmutters Blick auf sich ruhen, bis der die Tür schloss, und selbst danach hätte er schwören können, dass ihre alten, klugen Augen ihn verfolgten.
 


 

Der Jäger versuchte zu schlafen, doch wie er erwartet hatte, konnte er kein Auge zumachen. In seinem Kopf schlugen kleine Männchen Eisenknüppel gegen seinen Schädel, und sobald er die Augen schloss, tauchten die Bilder wieder auf. Zudem war es drückend warm in seiner kleinen Hütte. Shem wälzte sich von einer Seite auf die andere, bis sein Hemd wie eine zweite Haut an ihm klebte. Es roch nach Holz, Leder und auf seltsame Weise nach Wärme.
 

Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Langsam, mit Rücksicht auf seine Kopfschmerzen, stand er auf, nahm ein Bündel frische Kleider und seine Wasserflasche und verließ die Hütte. Es gab einen Bach ganz in der Nähe, an dem er ein gründliches Bad nehmen wollte. Das Wasser würde eiskalt sein, aber das war ihm nur recht. Er wollte alles abwaschen, das er heute erlebt hatte. Und frische Luft würde ihm ohnehin gut tun.
 

Shem hielt nur grob auf den Bach zu. Es gab mehrere Badestellen, und welche er nutzte, war völlig gleich. Er kannte die Wege hier gut, und seine Füße trugen ihn automatisch zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch. Der würzige Duft von Bärlauch stieg ihm in die Nase, und er atmete tief durch. Vogelgesang, summende Insekten und Blätterrauschen bildeten mit der angenehmen Kühle des Waldes eine beruhigende Umgebung. Erst nach einiger Zeit bemerkte er, dass er einen Weg gewählt hatte, auf dem er mit Sicherheit keinem einzigen seltsamen Baum begegnen würde. Diese Gewissheit beruhigte ihn ungemein.
 

Entweder war er heute langsamer als sonst, oder der Bach war doch weiter entfernt, als er vermutet hatte, jedenfalls war es schon Nachmittag, als er endlich am Ufer ankam. Er legte die verschwitzte Kleidung ab und trank einen Schluck, ehe er in das natürliche Felsbecken glitt, das vom Bach gespeist wurde. Die späte Sonne glitzerte auf den Wellen, die von seinem Körper aus die Wasseroberfläche kräuselten.
 

Das Wasser war wirklich beißend kalt. Der Jäger keuchte und biss die Zähne zusammen. Trotz der Gänsehaut wusch er sich gründlich und tauchte den Kopf kurz unter Wasser. Die Kälte vertrieb kurzzeitig alle Gedanken...
 

Zitternd kroch er auf einen nahen Felsen, noch warm von den Strahlen, und trocknete in der Sonne. Die Hitze empfand er nun als angenehm, streichelnd, entspannend... Shem merkte, wie müde er war, und beschloss, doch etwas zu dösen... Nur kurz ausruhen...
 

Er erwachte, als die Sonne die letzten Strahlen über die Baumkronen schickte. Fröstelnd stand er auf und zog die frischen Kleider an. Seine Kopfschmerzen waren fast verschwunden, doch er fühlte sich wie gerädert nach dem kurzen Schlaf. Er hatte wohl auch ungünstig auf einem Stein gelegen, denn eine Stelle an seinem Rücken schmerzte.

Unruhig warf er einen Blick auf den Sonnenstand. Er musste sich beeilen, oder er würde es nicht vor Einbruch der Nacht zurück ins Dorf schaffen. Entschlossen sammelte er seine herumliegenden Kleider auf, rückte den Dolch zurecht und begann den Heimweg.
 

Dann hörte er die Musik.
 

Zuerst war sie so leise, dass er meinte, es sei allein seine Einbildung. Er blieb stehen, lauschte, und über dem aufgeregten Klopfen seines Herzens und dem rauschenden Blut in seinen Ohren hörte er es. Nie zuvor hatte er etwas so schönes vernommen. Das Lied war traurig und doch kraftvoll, gesungen von einem Chor heller Frauenstimmen und so voller Sehnsucht, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Unwillkürlich machte er kehrt, sprang über den Fluss, auf dem Weg zur Quelle dieser übermenschlichen Musik.
 

Um ihn herum wurden die Bäume größer, dunkler, die Stämme mit Moos bewachsen und das Unterholz dichter. Leichter Modergeruch stieg von toten Stümpfen in die kalte Luft. Spinnweben hingen wie Vorhänge zwischen den Ästen, und längst war jeder Vogel verstummt. Shem nahm all das nur am Rande wahr. Der schmale Pfad, bedeckt mit fauligem Laub vom letzten Jahr, schien von innen zu leuchten; Äste und Gestrüpp wichen einladend zur Seite, um seinen Weg zu erleichtern, und mit jedem Schritt wurde die Musik lauter, klarer, wundervoller. Shem rannte, konnte es nicht abwarten, er wollte, musste diesen Chor von nahem hören...
 

Plötzlich lag die Lichtung vor ihm. Umgeben von alten Bäumen, an deren unteren Ästen Lampen hingen, rundlich, etwa so groß wie Köpfe. Doch keine von ihnen brannte. Alles Licht kam vom Vollmond, der das Haus in der Mitte der Lichtung mystisch beleuchtete. Dieses Haus zog ihn magisch an. Als er näher kam, erkannte er eine Frau mit goldblondem Haar, die auf einer Bank im Garten saß – und sang. Shem meinte, nie ein schöneres Wesen gesehen zu haben. Ihr Gesang zog auch andere Gäste an: unzählige Schmetterlinge, die farbenfrohen Gauklern gleich um sie herumschwirrten. Er kannte lange nicht alle mit Namen, doch einige hatte er schon gesehen. Ein Tagpfauenauge und ein Admiral flogen zu ihm, umschwirrten ihn, lockten ihn zu der Frau. Ihr Kleid war aus unzähligen Schmetterlingsflügeln zusammengesetzt, ihre Augen golden wie die vielen Ringe an ihren Nasenflügeln. Sie erblickte Shem und beendete ihr Lied.
 

„Guten Abend, Wanderer.“ Ihre Stimme war wie Samt.
 

Shem schluckte. „Guten Abend, schöne Frau. Mein Name ist Shem.“
 

„Ich weiß.“ Ihre Zähne schimmerten weiß und ebenmäßig im Mondlicht; ein Trauermantel ließ sich auf ihrer Wange nieder, als sei dies selbstverständlich. „Dein Besuch ehrt mich, Shem. Ich bin Schwalbenschwanz.“
 

„Ich habe Euch singen gehört...“ Die Erinnerung an die Melodie wühlte Shem so sehr auf, dass seine Stimme versagte.
 

„Und es hat dir gefallen? Das freut mich. Ich singe gern für andere.“ Die Ringe in ihrer Nase klirrten leise, als sie aufstand und auf ihn zutrat. Der Schmetterling saß noch immer auf ihrer Wange und schlug nur sacht mit den Flügeln, um nicht herunterzufallen.
 

Schwalbenschwanz legte dem Jäger die Hände auf die Schultern. „Magst du dieses Haus?“, fragte sie. Da war etwas neben dem Gold in ihren Augen, das Shem an Schwefel erinnerte. Es faszinierte ihn, und er bekam nur ein Nicken zustande. Jedes seiner Worte klang so ungeschickt und schlecht gewählt neben ihrer Singstimme.
 

Sie lächelte wieder. „Bleib doch ein wenig, Shem. Du gefällst mir, ich würde gern für dich singen. Möchtest du das?“
 

Großmutters Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Halt dich besser fern von der Hütte! Tief im Wald steht sie, verfallen und von Efeu überwuchert... Dorthin lockt die Hexe ihre Opfer, Männer und Frauen, von deren Lebenskraft sie sich nährt. Diese Hütte war nicht verfallen. Kein Efeu. Schmetterlinge kamen gern hierher. Und so viele! Er sah einem Kleinen Fuchs nach, der Kreise um den Kopf der Frau zog. Schwalbenschwanz sah auch nicht aus wie eine Hexe. Sie war makellos und jung und freundlich, und sie sang gern.
 

Sonst bist du der nächste... Er blickte tief in die goldenen Augen, und Großmutter verschwand aus seinem Kopf, ebenso wie das Dorf und alle Bilder des Tages.
 

„Ich würde gern bei dir bleiben, Schwalbenschwanz. Länger bleiben...“
 

„Für immer bleiben?“, hakte sie mit blitzenden Augen nach.
 

Shems Blick schweifte durch den Garten – über weiße Blumen, die einen betörenden Duft verströmten, und Tautropfen, in denen sich Mondlicht fing. Er fühlte weiches Gras und kalte Luft. Dies musste der Himmel auf Erden sein. Er lächelte breit und sah erneut Schwalbenschwanz an. „Ich möchte ein Schmetterling werden.“
 


 

Die Morgensonne fand das kleine Häuschen im Wald wie jeden Morgen leblos, verfallen und von Efeu bewachsen auf der Lichtung. Leichter Rauchgeruch, vermischt mit dem Duft gebratenen Fleisches lag noch in der Luft, und tiefer im Wald sang ein Vogel sein einsames Lied. Plötzlich wurden die Ranken von innen zur Seite geschoben. Es glitzerte, als Licht auf unzählige Ringe fiel. Die Frau schritt über das taufeuchte Gras, einen Sack in der einen und einen in Lappen gewickelten Gegenstand in der anderen Hand. Auf ihrem verfilzten, strohblonden Haar saß ein prächtiger Schwalbenschwanz, der aussah wie frisch geschlüpft. Andere Schmetterlinge folgten dem seltsamen Paar bis zum Waldrand, taumelnd wie bunte Blätter im Wind.
 

Sie entfernte die Lumpen und betrachtete den Kopf. Ein schöner Kopf. Dichtes Haar, feine Gesichtszüge, schön geformte Lippen. Eine wirkliche Zierde für ihren Garten. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Leckerbissen. Sie kicherte; ihr Lächeln entblößte schadhafte Zähne. Vorsichtig erschuf sie einen Faden aus dem Nichts, ein Faden, mit dem sich normalerweise Raupen verpuppten. Sorgsam hängte sie den Kopf an den Ast einer alten Eiche, so, dass er in Richtung der Hütte blickte. Wie all die anderen. Er passte wirklich gut hierher. Dann stopfte sie die blutigen Tücher in den großen Sack und machte sich auf den Weg in den Wald. Ihren Wald.
 

Zeit, noch einige andere Bäume zu verzieren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (10)

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Von: abgemeldet
2010-07-26T00:35:17+00:00 26.07.2010 02:35
Das ist wunderschön ! Ich mein die Wortwahl, der Verlauf der Geschichte , die Idee Einfach wunderschön
Von:  Pumpkin_Queen
2010-07-11T17:48:02+00:00 11.07.2010 19:48
Ich finde das du die Gefühle und alles andere richtig gut beschrieben hast!
Jedoch gab es zwischendurch Sätze, wo man erst bei mehrmaligem Lesen den Sinn begriffen hatte.

Mach weiter so!
LG DeathAngel_
Von:  Adisa
2010-06-01T17:13:45+00:00 01.06.2010 19:13
Uiuiui, gruselig! >.< Besonders mit Elvenking als HG-Musik.
Lustigerweise habe ich während der letzten zwei Seiten Christinas "Fighter" gehört, in dessen Clip ja auch tausende von Schmetterlingen vorkommen.
Was mir besonders gefällt ist, dass du die Umgebung so beschrieben hast, dass ich mich sofort in den Wald versetzen konnte, ohne aber abzuschweifen. Außerdem hast du die Jagdszene nicht schöner beschrieben als sie ist.
Von:  Momotaro
2010-05-22T09:32:23+00:00 22.05.2010 11:32
Bin einer Meinung mit abgemeldetem User, ich konnt auch nicht aufhörn, als ich mal begonnen hatt. Was sehr untypisch ist für mich! Oo
Ich liebe böse Frauen im Wald, und dass keins der Mysterien gelöst wird, wie sie die Sinne täuscht, ob wirklich sie die Hexe ist oder obs der Schwalbenschwanz war u.s.w., find ich auch toll. Die Geschichte lässt viel Raum für eigene Theorien und Fantasien. Sowas ist schön. =3
Von: abgemeldet
2010-05-18T22:18:19+00:00 19.05.2010 00:18
Es ist wunderschön~ Besonders die Schmetteringe.. Es ist spät, erinnere mich daran und ich schreibe dir einen "echten" Kommentar :)

Von:  Hrafna
2010-05-02T08:49:56+00:00 02.05.2010 10:49
Hui, was für ein Gruselmärchen!
Die Idee mit der Hexe im Wald ist zwar nicht neu, aber du hast die Geschichte sehr erfrischend erzählt, vor allem der Anfang mit der Jagd und dem grausigen Fund hat mir überaus gut gefallen.
Toll finde ich auch die Beschreibung der Großmutter und sie selber!

Als der Jäger dann zum Baden geht, wird es mir ein wenig zu vorhersehbar - natürlich gerät er in die Fänge der Hexe und fällt ihr zum Opfer.
Dafür ist die Atmosphäre der "Verführung" schön und bildhaft gelungen (ich mag Schmetterlinge!), obwohl nur eine Illusion, wie sich kurz darauf hinausstellt.
Die Hexe an sich ist etwas flach geraten, aber so sit das in Märchen und Platz für ihren Charakter / ihre Motive gibt es hier nicht.

Dein Schreibstil liest sich flüssig und angenehm, Rechtschreibung ist 1A.

Glückwunsch zum YUAL!
Von: abgemeldet
2010-05-01T21:54:29+00:00 01.05.2010 23:54
Fand ich sehr gut.
Ich mag solche düsteren Märchen/Geschichten sehr gerne und du hast da einen echten Nerv getroffen ^^
Ich hatte die Bilder richtig vor Augen, war echt klasse!
Von:  LittleMy
2009-11-25T20:32:39+00:00 25.11.2009 21:32
Wirklich... interessant ö.ö
Auch wenn man sich gleich denken konnte, dass die Frau die Hexe ist, finde ich, hast du das sehr gut geschrieben. Zumahl man am Anfang nicht wusste, wie das ganze geschieht! (ich hatte ja sehr stark die alte Großmutter im Verdacht)
Ich mag deinen Schreibstil, ich finde die Worte sind gut gewählt ;)
Etwas mehr von dem Zweispalt wäre sicher gut gewesen, da muss ich Hoffnungsschimmer (?) zustimmen, aber auch ohne fand ich es sehr gelungen.
Man konnte sich sehr gut in diesen Wald hineinversetzen, deswegen finde ich, genügte es an Beschreibungen. Da muss man nämlich immer aufpassen ;D Jeder hat es anders gern, ich finde du hast da ein gutes Mittelding gefunden ^^
Von:  Hatshepsut
2009-01-07T20:13:20+00:00 07.01.2009 21:13
Diese Geschichte ist echt nichts für einen schwachen Magen. Aber mir hat sie sehr gut gefallen XD
Vor allem die ganzen ekligen Details *lach*, das kommt mir alles etwas zu gut recherchiert... ò.o Was machst du in deiner Freizeit? XD
Nein, Scherz, aber die Story ist wirklich gut. Ich hatte echt Spaß zu lesen.
Nur eine Formulierung fand ich etwas komisch gewählt.

Die Kinder versteckten sich unter den Röcken ihrer Mütter.

Ich glaube, dass war etwas anders gemeint. ^^
Ansonsten, Hut ab *auf die Favoritenliste pack*!
Von: abgemeldet
2008-10-30T14:45:55+00:00 30.10.2008 15:45
Nicht schlecht ...
Normalerweise bekommt mich das Mexx-Format ja nicht dazu, besonders viel zu lesen, aber einmal angefangen, konnte ich bei deiner Geschichte nicht mehr aufhören. Das Ende kam durch deinen Spoiler am Anfang leider nicht mehr überraschend. Man sollte zu seiner Geschichte stehen. Und wenn jetzt jemand meint, ein Happy End hätte ihm besser gefallen - solange dir das Ende zusagt und er keine logischen Gründe nennen kann, ist doch alles im Reinen und nur Geschmackssache. :)
Und so eklig fand ich die Beschreibungen eigentlich nicht und dabei bin ich schon der Typ, der recht schnell wegen so etwas eine Gänsehaut bekommt. Falls das dein Wunsch war, so hättest du z.B. dieses "Auseinandernehmen" genauer beschreiben sollen, bis ins letzte eklige Detail >_<. Nichtsdestotrotz eine schöne Geschichte, man spürt förmlich den Wald, das milchige Licht, das von oben auf einen herabfällt. Ich konnte mir alles sehr gut vorstellen. Am Ende hättest du den inneren Zwiespalt der Hauptperson (ich kann mir leider keine Namen merken, tut mir leid) noch etwas stärker zum Ausdruck bringen können, aber ansonsten ...
Du hast übrigens einen tollen Schreibstil. Irgendso ein Mittelding zwischen Handlung und Beschreibungen, wobei an der ein oder anderen Stelle vllt ein paar Beschreibungen mehr, das ganze noch etwas abrunden dürften ;).

Liebe Grüße,
Hoffnungsschimmer. ;D [KG]


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