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Kinderjagd

Kinderjagd
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Kinderjagd

Kinderjagd
 


 

Der Himmel war klar. Es waren nur wenige Wolken zu sehen, allerdings war es nicht gerade still.

Die Vögel zogen ihre Runden und waren gegen die Sonne nur als schwarze Schatten zu erkennen. Sie stießen ihre schrillen Schreie in den Lärm des Nachmittags der Hafenstadt.
 

Die Marktfrau senkte wieder ihren Kopf und grüßte einen Vorbeigehenden flüchtig und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, das teils bereits schlaffe Gemüse grob zusammenzubinden und auf dem Tisch zu platzieren. Dabei strich sie sich die fettigen Haarsträhnen beiläufig immer wieder zurück und versuchte möglichst freundlich auf die Kunden zu wirken.
 

Sie mochte den Markt. Er war voller Trubel und die Marktschreier sorgten mit ihren Vorführungen ihrer Ware für die passende Lautstärke und Unterhaltung.

Marie mochte diese Atmosphäre. Sie hatte einen relativ guten Platz erwischt, die Leute blieben hier lieber stehen als bei den Ständen nur eine Gasse weiter. Für das Armenviertel hatte sie wirklich viel Glück gehabt.
 

Missbilligend und misstrauisch schaute sie nach rechts. In diese Richtung wurde es mit den Häusern schlimmer, die Fassaden hatten schon bessere Tage erlebt. Die Farbe blätterte, sofern eine vorhanden war, und einzelne Putzstückchen rieselten immer wieder auf die Straße hinab.
 

Aus dieser Richtung schien auch der anschwellende Lärm zu kommen. Es hörte sich an, als würde eine ganze Horde etwas rufen, aber es war noch zu weit weg, um irgendetwas zu verstehen.
 

Die scheinbar desinteressierte ließ Marie ihren Blick über den Markt schweifen und erhaschte einige Szenen, die sie dann beim Tratsch mit ihren Freundinnen ausführlich beschreiben würde können.
 

Von der eigenen kleinen Welt abgelenkt bemerkte Marie plötzlich, dass das Stimmengewirr lauter wurde, es wurden schon Hälse gereckt, um vielleicht einen Blick auf einen Aufruhr zu erhaschen.

Tatsächlich sah man die Gasse rechts runter noch etwas entfernt eine kleine Menschenmenge, die versuchte sich ihren Weg durch die überfüllte Gasse zu kämpfen und es war wirklich ein Kampf.

Jetzt verstand man auch, was gerufen wurde: „Ganove! Gauner! Dieb! Strolch!“. Immer wieder dasselbe, wie in einem Sing-Sang, der die wütende Meute noch weiter aufstachelte.
 

Die laufenden Menschen schienen jemanden zu verfolgen und ganz kurz bemerkte Marie auch ein Huschen aus den Augenwinkeln, als sie aber hinsah, war dort nichts zu erkennen. Sie suchte noch ein bisschen auf dem Markt nach einem Flüchtling und wurde fündig.

Am anderen Ende „ihrer“ Gasse, sah sie einen kleinen, schmächtigen Jungen schnell in ein Gässchen verschwinden. Seine Haarfarbe konnte sie nur erraten, sie hatten vor Dreck gestarrt und der Ausblick war zu kurz gewesen.
 

Bei der Ankunft der Verfolger brach ein Chaos aus.
 

„Ganove! Gauner! Dieb! Strolch!“
 

Die Verfolger suchten rund um die Stände und ohne Rücksicht auf die Marktbesucher, was eine missmutige Atmosphäre schaffte.
 

Marie vernahm ein leises Schnaufen: „Ehrliche Leute! Dass ich nicht lache! Hah!“, ein letztes wütendes Schnauben und auch diesmal konnte Marie niemanden wirklich erkennen, so schnell war derjenige davongehuscht. Allerdings konnte die Marktfrau wieder den Jungen ausmachen.
 

Abgelenkt von diesem ganzen Trubel bemerkte Marie ein paar Langfinger nicht und als sie hinsah bemerkte sie auch einige Lücken in ihrem Stand.
 

„Ganove! Gauner! Dieb! Strolch!“
 

Das würde heute Abend Schläge geben. Sie hatte keine Zeit und nicht den Nerv weiter an das wahrscheinlich traurige Schicksal von diesem Jungen zu denken und verteilte Fingerklapse.
 

In einem engen Gässchen mit gutem Blick auf den Markt stand der Junge nach Luft ringend und einem heftig rasendem Herzen gegen eine Hauswand gelehnt.
 

„Ganove! Gauner! Dieb! Strolch!“
 

Aufmerksam studierte er die vorbeigehenden Leute. Ein jeder hatte schon immer erkennen können, woher er kam, deswegen sind ihm die Menschen misstrauisch entgegengetreten und sehr aufmerksam an ihm vorbeigegangen.
 

„Solche Kinder haben doch die längsten Finger!“, „Also ich glaube ja, dass die das vom Heim aus machen müssen. Und wenn sie unnütz werden, erliegen sie plötzlich einer unbekannten Krankheit!“, „Vielleicht sind sie ja eine ganze Organisation?“.
 

Denkt was ihr wollt! Ab heute gehöre ich nicht mehr dazu!
 

Er ballte seine Fäuste vor Wut zusammen. Bei der Erinnerung an die tuschelnden vorbeigehenden Damen, den einfachen Marktweibern, die achtlos solch eine Bemerkung fallen ließen wie ein an einen Faden gebundenes Geldstück um zu locken und zu provozieren. Und um jemandem vorzuführen wie viel einfacher und angenehmer sie es doch hatten.
 

„Ganove! Gauner! Dieb! Strolch!“
 

Es erweckte noch immer den Trotz. Den Widerstand. Er schloss die Augen. Vor sich sah er sich selbst, als einziger wach, während die anderen schliefen. Er konnte aus dem Fenster den Sichelmond sehen.
 

Zusammen waren sie 20 Kinder in diesem Zimmer. Zu zweit mussten sie sich eine dünne Wolldecke teilen und im Winter frieren. Selbst wenn jetzt Sommer war, eine innere Kälte ließ die Kinder immer zittern.
 

„Ich hab es satt! Ab heute bin ich kein Waisenkind mehr!“
 

Die Faust löste sich aus der verkrampften Haltung. Er öffnete die Augen, hob seine Hand zum Gesicht und betrachtete diese.
 

„Jetzt bin ich wenigstens keine Marionette mehr.“, wisperte er und ballte wieder eine Faust. Dann löste er sich von der Hauswand und holte nochmals tief Luft bevor er aus der Gasse trat, seinem Leben entgegen.



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