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Alles wird sich ändern

2. Platz bei Fanfiktion/Originalstory Wettbewerb
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Gespräche mit Jack

Gespräche mit Jack
 

Ich weiß nicht, wie lange ich auf der Bank saß. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Irgendwann fiel mein Blick nach vorne, auf den Schneemann. Auf den unfertigen Schneemann, der seit drei Wochen ohne Hut und Schal in der Kälte stand. Wenn er nicht schon aus Eis bestanden hätte, hätte er wohl fürchterlich gefroren. Und obwohl er dies nicht tat, fühlte ich Mitleid mit ihm. Jedes Mal, wenn ich hier vorbei kam, fiel mein Blick automatisch auf ihn. Es war schrecklich mit anzusehen, dass niemand ihn fertigstellte, dass niemand sich erbarmte, ihn einen Zylinder und Schal zu leihen. Ich schalte mich selbst für dieses Mitleid, doch er war mein Werk und es war meine Schuld, dass er nun völlig nackt im Schnee stand.

Ich stand von der Bank auf und ging auf den Schneemann zu. Er sah wunderschön aus. Seien Haut glänzte in der Sonne und es zeigten sich keine Anzeichen, dass er schmelzen würde. Doch seine Augen sahen traurig aus, was ich ihm nicht verübeln konnte. Seine wichtigsten Sachen fehlten. Am liebsten würde ich ihn trösten.

Ich streckte meine Hand aus. Langsam und zögerlich näherte sich der glänzenden, weißen Haut. Jetzt war sie nicht mal mehr einen Zentimeter entfernt. Jede Sekunde würde ich den kalten Schnee auf meinen Fingern spüren. Nein! Ich zog meine Hand ruckartig zurück, hielt sie mit der anderen Hand fest. Fast so, um zu vermeiden, dass sie noch einmal ein Eigenleben entwickelte. Ich hatte geschworen, nie wieder Schnee zu berühren und ich würde mich auch daran halten. Nicht mal dieser Schneemann, der mir so unendlich Leid tat, würde mich von meinem Versprechen abhalten. Nein, keiner würde mich von meinem Versprechen abhalten.

„Hey, Kätzchen, streunst du mal wieder durch die Gegend?“

Ich drehte mich um und da stand Jack, lässig gegen einen Baum gelehnt. Natürlich hatte er wieder sein unabnehmbares Grinsen aufgesetzt. Er konnte es einfach nicht lassen. Jeden Tag begrüßte er mich mit einen dieser bescheuerten Sprüche. Eigentlich könnte ich froh sein, denn er behandelte mich ganz normal. Okay, eigentlich kannte er mich nicht anders. Er hatte mich nur einen Tag so erlebt und da ist es ihm wahrscheinlich auch gar nicht aufgefallen. Nach einem Tag kennt man die Person ja noch nicht.

Ich seufzte genervt auf. „Was willst du hier?“ Er nervte mich zwar, doch ich musste zugeben, dass ich so für kurze Zeit meine Probleme vergessen konnte. Es war eine angenehme Ablenkung. Deshalb war ich meist froh, ihn zu sehen. Doch ich tat trotzdem genervt, sonst würde er sich noch falsche Hoffnungen machen.

„Eigentlich nichts.“ Er stieß sich vom Stamm des Baumes ab. „Ich war nur gerade in der Gegend, habe dich gesehen und da dachte ich, dass ich mal ‚Hallo‘ sage, so wie es sich für einen Gentleman gehört.“

„Du und ein Gentleman?“ Ich musste mir das Lachen verkneifen. Das war wirklich das Lustigste, was ich je gehört hatte. „Du bist meilenweit davon entfernt, ein Gentleman zu sein. Nicht einmal in deinem früheren oder späteren Leben wirst du einer sein. Das ist ganz und gar gegen deine Natur.“

Er kam langsam auf mich zu. „Woher willst du das denn wissen?“ Seine durchdringenden blauen Augen schienen mich zu durchbohren. „Vielleicht bin ich ja ganz anders, als du denkst, Kätzchen.“

Ich hasste es. Seit ich mich als Cat vorgestellt hatte, nannte er mich immer „Kätzchen“. Es war einfach nicht zum aushalten. „Kitty Cat“, so wie Chris mich manchmal nannte, war ja richtig süß, aber „Kätzchen“ ging mir wirklich auf die Nerven. Fast alles, was Jack tat, zehrte an meinen Nerven. Diesen Typen konnte man einfach nicht ernst nehmen.

„Wann hörst du endlich auf mich so zu nennen. Hundertmal habe ich dir schon gesagt, dass ich Cat heiße. Und diese coolen Sprüche mit den Anspielungen auf eine Katze kannst du auch mal sein lassen. Es nervt einfach. Es nervt, Jack. Ich habe genügend andere Probleme, mit denen ich mich zurzeit rumschlage. Da brauche ich nicht auch noch dich. Es ist einfach zu viel.“ Ich ließ mich wieder auf die Bank sinken. Diesmal nicht, weil ich den Moment genießen wollte, sondern weil ich selbst erschreckt darüber war, was ich gesagt hatte und kaum noch stehen konnte. Ich atmete einmal tief durch. Hatte ich gerade gesagt, dass ich Probleme hatte? Ja, das habe ich getan. Dabei hatte ich meinen Freundinnen und meiner Schwester versichert, das es nicht so war. Es war alles in Ordnung, sogar mir hatte ich das eingeredet. Und jetzt stand ich hier vor Jack und schüttete ihn mein Herz aus. Einem Kerl, dem ich nie etwas anvertrauen würde, dem ich nicht einmal traute. Einem Kerl, der das genaue Gegenteil von Chris war. Chris, der mir eben noch gesagt hatte, dass er mich liebte. Und ich saß hier und erzählte von Problemen. Probleme, die mit Chris zu tun hatten? Nein, ich hatte keine Probleme mit Chris. Es lief alles bestens. Höchstwahrscheinlich meinte ich die Tatsache, dass ich mich gerade nicht so gut mit Lucy, Lily und Jenny verstand. Es war schon traurig. Ich hatte es ausgesprochen und wusste nicht einmal genau, was ich damit meinte.

Ich starrte auf meine Füße, als ich Jacks Stimme vernahm: „Es tut mir leid. Ich werde jetzt besser gehen und dich nicht mehr belästigen.“ Er meinte es ehrlich, dass hörte ich in seiner Stimme. Er würde gehen und mich hier mit meinen Gedanken alleine lassen, doch jetzt brauchte ich eine Ablenkung mehr denn je.

„Warte, geh noch nicht.“ Ich streckte meine Hand nach ihm aus und kriegte seinen Arm zu fassen. „Warum bist du so, Jack? Warum bist du immer so unausstehlich? Manchmal gibt es so Momente, wo ich denke, dass du eigentlich ganz anders bist. Warum verstellst du dich?“ Ich suchte Augenkontakt, doch er wich meinen Blick aus. Also hatte ich Recht, er verstellte sich wirklich. Sonst hätte er nicht so reagiert. Nur warum tat er es? Warum wollte er denn bei allen cool ankommen, aber nie wirkliche Freunde haben?

Es herrschte eine lange Zeit vollkommene Stille. Jack bewegte sich keinen Zentimeter. Er überlegte wahrscheinlich, was er jetzt tun würde. Ich befürchtete schon, dass er jetzt einfach gehen würde oder dass er wieder einer seiner Phrasen ablassen würde, als „Weil es so viel einfacher ist. Es tut nicht so weh.“

„Das ... verstehe ich nicht.“ Ich meinte das ehrlich und es interessierte mich auch. Sein trauriger Blick und seine leise Stimme ließ Mitleid in mir aufkeimen. Jack war wohl sehr einsam, nur sah dies nie jemand. Er verstand sich sehr gut darauf, es zu verdecken. Ich hätte es selbst nie im Leben vermutet. Er wirkte so lebenslustig und froh, doch der Schein trog. „Wie kann es denn weh tun, wenn du dich so verhältst, wie du eigentlich bist?“

„Du verstehst das nicht.“ Er schüttelte den Kopf und wollte gehen, doch ich hielt seinen Arm fest. Ich würde ihn nicht gehen lassen, nicht jetzt.

„Dann erklär es mir.“ Ich warf ihm einen flehenden Blick zu. Ich wollte ihm gerne helfen, doch dazu musste er mich erst einmal lassen. „Ich bin gar nicht so dumm wie du denkst.“ Ich schenkte ihm ein Lächeln. Und er lächelte schwach zurück. Ich hätte nie gedacht, dass ihm das Lächeln einmal schwer fallen würde.

Doch er setzte sich neben mich. Er brauchte noch kurze Zeit, bevor er anfing, zu erzählen: „Mein Vater muss durch seine Arbeit oft umziehen. Natürlich nimmt er meine Mutter und mich dann immer mit. Doch es ist schwer, mindestens jedes Jahr in ein neues Haus zu kommen, in eine neue Stadt und in eine neue Schule. Das Schwerste daran ist der Abschied von seinen alten Freunden. Nach dem dritten Mal habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten. Von da an habe ich mir geschworen keine emotionale Bindung mehr zu irgendwem aus der Schule einzugehen. Und es hat auch funktioniert, solange ich mich hinter dieser Maske versteckt habe. Denn so dachte jeder, dass es mir fabelhaft ginge. Und das tut es auch, denn so tut es nicht mehr weh beim Abschied.“

Ich hatte ihn ausreden lassen, weil ich mir vorstellen konnte, wie schwer es ihm fiel, mir davon zu erzählen. Doch sobald er geendet hatte, konnte ich nicht länger an mich halten. Es war doch völliger Schwachsinn, was er da von sich gab. Etwas Blöderes hatte ich wirklich noch nicht gehört. „Spinnst du eigentlich?“ Meine Stimme klang etwas zu scharf, darum versuchte ich ruhiger zu werden. Ich wollte ihn ja nicht vergraulen. „Glaubst du wirklich das, was du sagst? Du legst dir eine Maske auf, damit alle denken, dass es dir gut geht. Ich glaube eher, dass du eine Maske auflegst, um dich zu täuschen. Wenn du nie richtige Freunde hast, kann es dir doch gar nicht gut gehen. Du leidest nur nicht mehr, weil du auch gar nicht mehr glücklich bist. Wenn du an keiner Person hängst, ist es natürlich, dass du sie nicht vermisst. Das heißt aber auch, dass dich ebenso keiner vermisst. Und das finde ich wirklich traurig. Jeder braucht einen Freund. Auch du.“ Ich stupste ihn mit meinem Zeigefinger auf die Brust. Ich wollte wieder eine bisschen Spaß in die Sache bringen. Mir war es hier eindeutig zu ernst geworden. Ich lächelte ihn herzhaft an, in der Hoffnung, dass er mir auch ein Lächeln zeigen würde, ein ehrliches Lächeln.

Doch es kam nicht. Er blieb ernst, sagte auch nichts mehr. Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Vielleicht brauchte er auch einfach nur Zeit, um nachzudenken. Ich war mir nicht sicher. Deshalb stand ich auf und als er immer noch nichts sagte, meinte ich zu ihm: „Ich werde jetzt nach Hause gehen. Ich hoffe, du denkst über meine Worte nach. Ich fände es nämlich wirklich toll, den echten Jack kennen zu lernen.“ Dann ging ich. Nach ein paar Metern schaute ich noch einmal zurück, doch Jack saß immer noch auf der Bank und hatte seinen Blick auf den Boden gerichtet.
 

Auch wenn das Äußerliche genau so war, wie an seinem ersten Tag, wusste ich sofort, als er in der Tür stand, dass er sich verändert hatte. Denn er sah mich an und lächelte mir zu. Und dieses Lächeln war ansteckend und nicht nervend, wie die Tausenden davor, mit denen ich jeden Morgen begrüßt wurde.

Er kam auf mich zu und setzte sich. „Hallo, Jack. Wie geht es dir?“ Es war eigentlich eine dumme Frage, denn ich sah ihm an, dass es ihm bestens ging. Doch diese Floskel war bei einer Begrüßung nunmal Pflicht.

„Hey, Cat. Mir geht es richtig gut.“ Er nahm meine Hand, woraufhin ich ihn etwas verdutzt ansah. „Ich ... ich wollte dir-“

„Mr. Newsome, lassen sie das Geflirte in meinem Unterricht. Es gibt nur Eines, was ihre Augen fixieren sollten und das ist die Tafel und nicht Miss Hagan.“ Mochte Jack auch noch so gut in Mathe sein, Mr. Henderson konnte ihn trotzdem nicht ausstehen. Bisher hatte ich ihn auch ganz gut verstehen können. Zum Glück wurde bei diesem Satz keiner der Schüler aufmerksam, denn eigentlich begrüßte Mr. Henderson Jack jeden Morgen so. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich Jack nicht leiden konnte. Er konnte nie die Augen von mir lassen und war ständig mir mir am Flirten gewesen. Ich war so froh, dass das Alles nur zu dieser Arschloch-Nummer gehört hat.

„Es tut mir leid“, entschuldigte Jack sich aufrichtig. „Das wird bestimmt nicht wieder vorkommen.“

Den darauffolgenden Blick von Mr. Henderson werde ich nie in meinem Leben wieder vergessen. Er wirkte – was wäre wohl das beste Wort? Ach ja – baff. Auch meine anderen Mitschülern blieb die Veränderung von ihm in keinem Fall verborgen. Alle finden lauthals an zu lachen. Als ich zu Jenny schaute, sah ich ihren triumphierenden Blick. Spätestens morgen wusste die ganze Schülerschaft von Mr. Hendersons Ausrutscher. Man musste dazu sagen, dass Mr. Henderson ein Mensch war, der es hasste, wenn nicht alles nach Plan lief und etwas Unvorhergesehenes passierte. Besonders konnte er es nicht leiden, wenn er selbst seine Fassung dabei verlor. Bisher war es nur einmal passiert – leider vor meiner Schulzeit, denn dieser Blick war einfach nur köstlich anzusehen.

Leider ging es so schnell, wie es auch gekommen war. Seine Gesichtszüge normalisierten sich wieder und er strich seinen Anzug glatt. „Das ist schön zu hören, Mr. Newsome. Ich kann nur hoffen, dass sie sich wirklich an ihr Versprechen halten werden.“ Dann wandte er sich wieder der ganzen Klasse zu. „Und ihr beruhigt euch auch mal langsam, denn jetzt widmen wir uns wieder der wunderbaren Mathematik.“

Die ganze Klasse verstummte abrupt. Sie wusste, dass Mr. Henderson kein Lehrer war, mit dem man sich anlegte. Auch ich traute mich nicht, noch eine weiteres Wort zu sagen. Deshalb nahm ich ein kleines Zettelchen, schrieb darauf: „Wir treffen uns heute nach der Schule. Am gleichen Ort wie gestern.“ und schob ihn vorsichtig zu Jack. Er las ihn sich durch und nickte mir zu.
 

Ich ließ mir extra viel Zeit, damit Jack nicht auf die Idee kam, dass ich mich auf das Treffen freuen würde. Doch genau das tat ich. Aufgeregt fummelte ich an meinen Händen herum. Schrecklich, diese Angewohnheit. Schließlich war ich an der Bank angekommen ... und Jack war noch nicht da. Toll, da war ich umsonst so langsam gegangen. Ob Jack wohl ein chronischer Zu-spät-Kommer war? Naja, auch egal.

Ich wollte mich gerade hinsetzten, als „Ist das eigentlich dein Lieblingsplatz?“ Das Überraschen hatte Jack wohl nicht verlernt. Das musste ich ihm unbedingt noch austreiben.

Ich drehte mich zu ihm um. „Kann schon sein.“ Daraufhin folgte eine unangenehme Stille. Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Und Jack schien es auch nicht zu wissen. Wenn er keinen coolen Spruch hatte, war er wohl ziemlich wortkarg.

„Sollen ... sollen wir uns nicht setzten?“ Er zeigte auf die Bank. Da ich nicht nur sinnlos herumstehen wollte, nickte ich. Ich näherte mich der Bank und wollte mich setzten. „Warte!“ Ich zuckte mal wieder zusammen. Jack hingegen zog seine Jacke aus. Was kam denn jetzt? „Die Bank ist nass.“ Er breitete seine Jacke darauf aus. „So, sonst erkältest du dich noch.“

Jack war ja richtig zuvorkommend. Ich hatte wirklich aus ihm einen Gentleman erschaffen. Im Geiste klopfte ich mir selber auf die Schulter. „Dankeschön.“ Wie klang denn meine Stimme? Sie zitterte vor Aufregung. Aber warum? Jack war doch nur ein Freund. Ja, er war ein Freund. Kaum zu glauben. Vorgestern konnte ich ihn noch nicht leiden und jetzt war er mir sehr sympathisch. Das lag wohl daran, dass er plötzlich so nett war. Fast so nett wie Chris. Natürlich reichte er an Chris trotzdem nicht heran. Keiner war besser als Chris.

„Ich wollte mich bei dir bedanken, Cat“, sagte Jack irgendwann in die Stille hinein. „Du hattest vollkommen Recht, mit dem, was du gesagt hast. Ich kann gar nicht glücklich sein, wenn ich keine Freunde habe. Ich mache mich nur selbst unglücklich damit. Ich hatte es nie wahrhaben wollen, weil es mir doch so viel besser ging. Zumindest hatte ich mir das eingeredet. Mir ging es gut, das hatte ich mir immer wieder gesagt. Und irgendwann war diese Rolle für mich selbstverständlich. Aber jetzt werde ich wieder der Jack sein, der ich früher einmal war und der Freunde hatte.“ An dieser Stelle hörte er abrupt auf. Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass er noch etwas sagen wollte, doch er gab keinen einzigen Ton mehr von sich. Konnte es sein, dass er einfach nicht den Mut fand, das zu sagen, was er noch sagen wollte?

Ich nahm es ihm dann ab: „Wollen wir nicht Freunde sein, Jack?“

Er strahlte förmlich und es tat gut, ihn so glücklich zu sehen. Jack war ein wunderbarer Junge und ich hatte keine Bedenken, dass er noch mehr Freunde finden würde.

Als ich bemerkte, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt hatte, wandte ich meinen Blick ab und dieser fiel ausgerechnet auf Henry. Ich seufzte wohl laut, denn Jack fragte mich, was los sei. Immer noch schaute ich auf den Schneemann.

„Keiner stellt ihn fertig“, sagte ich ganz leise, doch Jack schien es trotzdem gehört zu haben.

„Und wieso machst du es nicht? Schließlich ist es doch deiner. Zumindest habe ich dich am ersten Tag dabei gesehen, wie du ihn gebaut hast.“ Er sah mich fragend an, fast schon fordernd. Plötzlich wusste ich, wie Jack sich wohl gestern gefühlt haben musste. Unsicherheit, ob man den anderen vertrauen konnte.

„Ich kann es nicht“, kam es so leise wie ein Hauchen von mir.

„Wieso nicht?“ Jack stand auf und blickte auf mich herab.

„Chris ... er-“ Ich hielt mir den Mund zu. Jetzt hätte ich doch beinahe Jack alles erzählt. Dabei hatte ich Lucy und meinen Freundinnen nicht mal davon berichtet. Aber ich konnte Jack doch trauen, oder? Vielleicht könnte er mir sogar helfen. Ich versuchte es, so wie er mir gestern sein Geheimnis anvertraut hatte, so würde ich es jetzt auch tun. „Er will nicht, dass ich mit Schnee spiele. Er findet das zu kindisch. Ihm zu Liebe habe ich damit aufgehört. Und so ist es auch besser.“

„Deshalb hast du dich also so verändert.“ Er drehte sich von mir weg und schaute ihn die Ferne. „Und ich dachte schon, dass ich mich in dir geirrt hätte.“

„Was? Wieso geändert?“ Er hatte es also doch bemerkt. Bei diesen neuen Jack war das kaum verwunderlich. Er hatte wegen seinem Image nur nichts sagen dürfen.

„Ich habe dich gesehen, als du den Schneemann gebaut hast. Ich habe dir zugeschaut. Und da war dieses Strahlen, was dich umgeben hat. Du warst glücklich. Nur weil du diesen Schnee zu einem Etwas geformt hattest. Ich habe direkt gesehen, dass du ein sehr lebenlustiger Mensch bist. Doch am nächsten Tag war dieses Strahlen verschwunden. Du warst vollkommen verändert. Du hast kaum noch gelacht, zumindest nicht richtig-“

„Nein, das stimmt nicht. Mir geht es gut. Alle wollen mir einreden, dass ich nicht mehr fröhlich bin, doch das weiß ich selber doch am besten. Mir geht es prima.“ Meine Stimme wurde immer lauter. „Ich habe doch Chris, was will ich mehr?“

„Wieso verlangt Chris so etwas von dir?“ Jacks Stimme war so ruhig. Ich war fast am durchdrehen und er schaute mich nur ganz normal an. Wie konnte er denn so ruhig bleiben?

„Ich weiß es nicht“, gab ich zu. Es störte mich ungemein, dass Jack genau die Frage gestellt hatte, die ich mich auch immer gefragt habe.

„Es ist ein bisschen seltsam, findest du nicht?“, hakte er weiter darauf herum.

„Ja, kann schon sein. Aber ich wollte ihn nicht verlieren. Ich liebe ihn, weißt du?“ Ich schaute Jack an. Er schien nicht mehr so ruhig zu sein, wie noch eben. Ich konnte seinen Blick nicht ganz deuten. „Und Chris liebt mich auch. Das hat er mir gesagt. Er liebt mich, verstehst du? Ich darf ihn nicht enttäuschen. Ich will ihn nicht verlieren.“ Ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief.

„Er liebt dich?“ Jacks Stimme wurde lauter. Er schien wütend zu sein. Aber warum? „Wenn er dich wirklich lieben würde, würde er nicht so etwas von dir verlangen. Er würde nicht zulassen, dass dir etwas Wichtiges genommen wird.“

Was? Wie konnte Jack behaupten, dass Chris mich nicht liebte? Er kannte uns beide doch kaum. Er hatte keine Ahnung von unserer Beziehung. Ich sah ihn an und ich wusste, dass ich den ganzen Hass, den ich plötzlich verspürte, ihm entgegenwarf. Ich war wütend. Wütend, dass er sowas überhaupt nur sagen konnte. Was wollte Jack eigentlich von mir?

„Was willst du?“, schrie ich ihm entgegen. Er sollte mir einfach nur eine Antwort geben. Sagen, warum er so etwas von sich gab. Mir erklären, was er eigentlich wollte.

„Ich will, dass du glücklich bist!“, kam es genauso laut zurück. „Ich kann es nicht ertragen, dich so unglücklich zu sehen. Du darfst nicht so werden wie ich. Unglücklich, um glücklich zu sein. Das tut im Nachhinein nur noch mehr weh.“

„Du hast doch keine Ahnung.“ Ich sprang auf und lief. Ich lief davon. Ich konnte ihm einfach nicht länger in die Augen blicken. Es lag nur Mitleid darin und das ertrug ich nicht. Genausowenig wie seine Worte. Ich wollte es einfach nicht mehr hören. Nicht auch noch von ihm.
 

Es fing an zu schneien. Meine Schritte wurden endlich langsamer, bis ich schließlich stehen blieb. Ich schaute in den Himmel hinauf. Die Flocken segelten zur Erde. Ein paar landeten auf meinem Gesicht, vermischten sich mit meinen Tränen, die einfach nicht aufhören wollten, aus meinen Augen zu fließen. Vermisste ich den Schnee wirklich so sehr? War ich unglücklich gewesen, ohne es zu bemerken?

Aber ich liebte Chris und ich wollte ihn nicht enttäuschen, wollte ihn nicht verletzten. Wenn er es so wollte, konnte ich damit leben. Oder nicht? Jack hatte doch keine Ahnung. Er wusste nicht, wie weh es tat, jemanden zu verlieren. Doch er wusste es. Er hatte es mir doch gestern erzählt. Dieses Gefühl war der Grund gewesen, warum er sich verändert hatte. Und genau deshalb hatte ich mich auch verändert. Wurde ich wirklich so wie Jack? War der Schnee eine Art Freund für mich, den ich nun auch verloren hatte?

Doch wer war für mich wichtiger? Chris oder der Schnee? Ich schaute noch einmal hinauf in den Himmel, betrachtete die hinunterfallenden weißen Flocken und musste zugeben, dass ich es nicht wusste. Gestern hätte ich noch laut „Chris“ geschrien, doch heute war ich mir nicht sicher. Jack hatte mich mit seinen Vortrag richtig verwirrt, denn es klang sehr logisch, was er gesagt hatte. Warum tat Chris überhaupt so etwas? Alle anderen hatten bemerkt, dass ich mich verändert hatte und störten sich daran, nur Chris schien es nichts auszumachen. Er nahm mich so wie ich war, obwohl ich nicht mehr die Alte war.

Vielleicht liebte er nur die neue Cat und die alte Cat war nur eine gute Freundin für ihn gewesen. Und vielleicht wollte ich aber wieder die alte Cat sein, die glücklich gelacht hat, wenn es angefangen hat zu schneien. Ich zog mir meinen Handschuh aus und fing ein paar Flocken darin. Sie waren kalt, doch in meinen Körper kam eine Wärme auf, die ich sehr vermisst hatte. Ja, ich wollte wieder die Cat werden, die wie ein kleines Kind den Schnee kaum erwarten kann. Die jeden damit auf die Nerven fällt und einfach nur glücklich ist, weil es draußen eine weiße Landschaft geworden ist. Aber alleine würde ich das nicht schaffen.

Ich drehte sofort um und lief zurück zur Bank. Doch Jack war schon weg. Wer könnte ihm das verübeln. Ich hatte ihn angeschrien, obwohl er das gar nicht verdient hatte. Er wollte mir nur helfen und ich hatte ihn verjagt. Das geschah mir Recht. Doch ich wollte mich trotzdem immer noch verändern.

Ich rannte wieder los und hielt erst an, als ich zu Hause war. Ein kurzes „Ich bin zurück“ zu meiner Mutter und da war ich auch schon die Treppe hoch. Langsam ging ich auf die Tür zu, klopfte vorsichtig an und machte die Tür auf. Wir hatten seit einer Woche nicht miteinander geredet und ich hatte ein bisschen Angst, wie sie reagieren würde. Erst sah sie mich ziemlich wütend an, doch dann änderte sich ihr Blick. Sie lächelte. Bemerkte sie etwa, dass ich wieder anders war?

„Lucy, ich brauche deine Hilfe.“



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