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Liebe macht blind

Die & Kaoru
von

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Unverhofft kommt oft.

"Ich weiß, wer diese Nachricht verschickt hat."

Es ist halb vier. Ich liege wie ein abgewrackter D-Promi weitab der anderen auf der Rückbank unseres Tourbusses, ein lauwarmes, kaum angenipptes, langsam schalwerdendes alkoholfreies Bier in der Hand und betrachte die vorbeiziehende Landschaft hinter der getönten Scheibe.

"Wie?" Bräsig löse ich ein Auge von den sonnigen Hügeln und lasse es an der schwarzen, an den Knien zerrissenen Hose neben mir herunterwandern. Die Beine, die in ihr stecken, gehören Kyo. Mein Chamäleonauge rollt zurück nach oben in sein Gesicht. Wild fallen ihm ein paar blondierte Strähnen in die Stirn. Auf seiner rechten Wange klebt Schokolade.

"Ich hab mal ein bisschen nachgeforscht."

"Häh?" Da ich bis eben noch geistig auf der gleichen Umlaufbahn wie Pluto unterwegs war, fällt es mir schwer, diesem plötzlichen Konversationsversuch auf Anhieb zu folgen.

"Die Nachricht, die heute Morgen auf unser aller Handy eingegangen ist. Ich hab nachgeforscht", wiederholt Kyo ohne eine Miene zu verziehen und lässt sich neben mir auf die Polster sinken.

"Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?"

Erst jetzt sehe ich, dass er seinen Laptop mitgebracht hat. Andächtig platziert er ihn auf seinen Oberschenkeln. "Doch. War gar nicht so schwer. Sieh mal. Ich hab einfach ein bisschen rumgegoogelt und bin dann darauf gestoßen, dass die Telefonnummer, von dem die Nachricht an uns alle versandt wurde, wahrscheinlich von einem Wegwerf-Handy stammt."

Erwartungsvoll nehme ich einen Minischluck. "Und?"

"Wegwerf-Nummern kann nur die Polizei nachverfolgen."

Beinahe spucke ich das Bier wieder zurück in den grünen Flaschenhals. "Und woher weißt du dann, wer die Nachricht verschickt hat?!"

Während ich mich fast an meinem eigenen Sabber verschlucke, zuckt Kyo bloß mit den Achseln. "Ich hab angerufen."

"Und wer war dran?"

"Eine Frau vom Flughafen."

"Was?" Jetzt muss ich mich doch langsam aufrecht hinsetzen.

"Richtig. Was hat die mit uns zu tun? Ich war auch erst verwirrt. Aber soviel ich von ihrem Englisch verstanden habe, hat man das Telefon auf einem Sitz am Flughafen gefunden und es bei ihr abgegeben."

"Und? Jetzt wissen wir doch immer noch nicht, wem dieses Handy gehört." Mit dem Handrücken wische ich einen bitterschmeckenden Speichelfaden von meiner Unterlippe.

Unterdessen beugt sich Kyo zu mir herüber, sich mit der Hand an der oberen Klappe seines Laptops festhaltend, und sieht mich eindringlich an. "Denk noch mal genau nach. Wer ist heute Morgen zum Flughafen gefahren, den wir kennen?"

"Keine Ahnung, Alter." Genervt von dieser Geheimniskrämerei und der Tatsache, dass mir jetzt Hopfentee in den oberen Atemwegen kratzt, zerwuschel ich mein Haar, bis es in alle Richtungen absteht.

"Die. Du hast diese Person sogar gesehen."

"Wann?"

"Vor Kaorus Hotelzimmer?"

"Was? Du meinst...?" So langsam fällt der Groschen. Und mir fast das ganze Gesicht auf den Boden.

"Ja." Geräuschvoll klappt Kyo seinen Laptop zu.

"Aber... Aber warum?"

"Du weißt warum."

"Aber..."

"Wer sonst hat Zugriff auf all unsere Rufnummern und weiß zufälligerweise genau wie Kaoru schreibt UND ist vorhin zum Flughafen gereist, wo sie aus Versehen ihr Handy verloren hat?"

"Aber wieso sollte Kaorus Freundin das getan haben?"

Kyo schnalzt mit der Zunge und verschränkt die Arme vor der Brust. "Ganz einfach: Um dich auszuspielen."

Mir wird schwindelig - und an dem kaum angerührten Bier kann es nicht liegen.

Ich starre Kyos Profil an. Seine Stirn liegt in Falten. Ich folge seinen Handbewegungen, während er spricht. "Sie musste dich ja irgendwie vor Kaorus Zimmer locken, damit du sie auf jeden Fall siehst, wie sie sich möglichst dramatisch und süßlich von ihm verabschiedet und es den Anschein erweckt, als wären sie Hals über Kopf in einander verliebt, obwohl - du erinnerst dich sicherlich noch? - die beiden sich gerade erst heftig über Textnachrichten gezofft haben. Aber damit es nicht zu auffällig ist, dass nur du diese SMS mit der angeblichen Abfahrtszeit erhältst, hat sie sie direkt an alle verschickt und ein Wegwerf-Handy benutzt, so dass es niemand bis zu ihr zurückverfolgen kann. Sonst hätte Kaoru doch sofort gewusst, dass es sich bei der Nummer um ihre handelt. Am Flughafen hat sie es dann einfach irgendwo liegen gelassen, um es loszuwerden."

"Kyo..."

"Ja?"

"Du bist ein Fuchs."

Er schnaubt. "Ich weiß."

Ich stecke die Flasche in den Getränkehalter neben mir und reibe mir in kreisenden Bewegungen mit den Handballen über Augen und Schläfen. "Trotzdem will es immer noch nicht in meinen Schädel rein, wieso sie so weit gehen würde. Sie sieht überhaupt nicht aus wie eine, die sich zu solcher Manipulation herablassen würde."

Sich weit in die Polster zurücklehnend, den Kopf in den Nacken gelegt, erwidert Kyo: "Lass dich nicht von ihrer unschuldigen Ausstrahlung täuschen. Salz sieht auch auf den ersten Blick aus wie Zucker..."

Da sind sie wieder. Kyos Sprichwörter.

"Wenn du dich nicht von ihr austricksen lassen und durch ihre Spielchen bei Kaoru in Ungnade fallen willst", fährt er mit Blick an die Decke fort, "rate ich dir, sie auf gar keinen Fall zu unterschätzen. Auch wenn ich vermute, dass sie dir bloß den Wind aus den Segeln nehmen wollte, halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass sie auch zu anderen Mitteln greifen würde."

"Frauen sind echt gruselig."

"Wem sagst du das", brummelt er leise, die Hand auf seine linke Wange gelegt.

Für eine Weile verfallen wir beide in tiefes Schweigen. Erst als der Bus durch ein Waldstück fährt und ich das Gesagte in meinem Kopf wieder und wieder Revue passieren lassen habe, kommt mir plötzlich ein Gedanke. Ich tippe Kyo, der mit geschlossenen Lidern regungslos neben mir verharrt, auf den Oberarm. "Weißt du, was mir gerade einfällt?"

"Was denn?", fragt er ohne die Augen zu öffnen.

"Toshiyas Schuhe."

"Häh?"

"Du weißt doch, dass er sie Nora zum Putzen aufs Auge gedrückt hat, sie aber nie wiedergesehen hat."

"Weiß ich...?"

"Kann gut sein, dass du heute Morgen noch im Halbschlaf warst... aber an Toshiyas nackte Füße erinnerst du dich doch wohl noch?"

"Ungern."

"Auf jeden Fall hat mir Nora vorhin verklickert, dass sie sie, obwohl sie sauer auf ihn war, doch geputzt und vor seinem Hotelzimmer abgestellt hat. Aber laut Toshiya standen vor seiner Tür keine Schuhe. Glaubst du, Kaorus Freundin könnte sie gestohlen haben, weil sie dachte, es wären meine?"

Ein Auge öffnet sich. Nachdenklich zieht er eine Schnute. "Hmm... Möglich. Wenn sie wusste, wo unsere Hotelzimmer ungefähr lagen. Aber wann soll sie das bewerkstelligt haben?"

Darauf mag mir auch nicht so recht eine Antwort einfallen.

Das Auge schließt sich wieder. "Ich vermute, die hat sich jemand vom Hotelpersonal gemopst."

"Und was, wenn es sich bei all dem doch um einen Stalker handelt?"

"Der uns bloß veräppeln will?"

Ich nicke - auch wenn er das nicht sehen kann.

Kyo lacht trocken. "Tja, wäre nicht das erste und vermutlich auch nicht das letzte Mal."
 


 

~*~*~
 


 

Von der heutigen Busfahrt, die sich mal wieder stundenlang hinzieht, tut mir diesmal ganz besonders der Hintern weh, also laufe ich, während wir über den Asphalt rumpeln, wie Falschgeld im hinteren Teil des Busses auf und ab.

Meinen gemütlichen Gammelplatz auf der Rückbank habe ich längst an Kyo verloren, der sich dort langgemacht hat und nun mit dem Kopf auf der Sitzfläche die Milben beim Hautschuppendinieren belauscht.

Nach wie vor spuken mir seine Worte in den Hirnwindungen herum. Doch egal wie oft ich diese Geschichte durchspiele, ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Kann es wirklich sein, dass Miho - mir läuft es stets wie eiskalte Spinnenbeine den Rücken herunter, wenn ich ihren Namen auch nur denke - so weit gehen würde? Weil sie mich als eine Bedrohung ansieht? Wir kennen uns ja nicht mal. Hab ich überhaupt nur ein Wort mit ihr gewechselt? Wie lange hat das gedauert, alle wichtigen Telefonnummern aus Kaorus Kontakten auf das Wegwerf-Handy zu übertragen? Das alles nur, um mich eifersüchtig zu machen? Nein, um mich in die Schranken zu weisen. Wäre das nicht auch auf natürliche Weise gegangen?

Und wenn die Nachricht doch nichts mit ihr zu tun hat? Manchmal lässt man sein Handy ja eine Zeit lang unbeaufsichtigt irgendwo liegen, vielleicht hat da jemand die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sämtliche Kontakte von einem von uns auf sein eigenes Handy kopiert. Aber wer ist so unterbelichtet keine Passwortsperre auf seinem Handy einzurichten?

"'tschuldigung, darf ich mal vorbei?"

Jäh zerreißt Toshiyas Stimme meine verhedderten Gedankenfäden.

Erst mit seinem Eintreffen bemerke ich, dass ich angewurzelt wie eine von Stürmen gepeitschte Trauerweide mitten im Gang stehe und melodramatisch aus dem Fenster starre.

"Äh... Hm. Sicher...", presse ich hervor und mache anstatt einen Schritt nach hinten, einen Schritt näher zur Fensterscheibe, um ihn an mir vorbeizulassen. Meine Nasenspitze berührt das kühle Glas, während Toshiya sich an mir vorbeischiebt.

Dass er die Schiebetür, die den hinteren Lounge-Bereich von den Schlafkojen trennt, auf und auch wieder zugeschoben hat, hab ich gar nicht mitbekommen.

"Sei froh, dass du nicht vorne bist", sagt er und lehnt sich mit dem unteren Rücken gegen einen Wandschrank links von mir.

Auf meinen fragenden Blick hin fügt er schräg grinsend hinzu: "Kaoru zupft schon die ganze Zeit weichgespülte Melodien auf seiner Gitarre." Seine Oberlippe zuckt nach oben, kurz blitzt der Metalldraht über seinen Zähnen auf, während er eine imaginäre Gitarre zu spielen anfängt und dabei so tut, als wäre er Kaoru. "Was ein Angeber, nicht? Nur weil der über beide Ohren verliebt ist."

Ich gebe ein unschönes Grunzen von mir, lasse meine Stirn gegen die Glasscheibe prallen. Vier mal - jedes Mal ein wenig fester.

"Tja, so ist das wohl. Frag mich, wie sich das anfühlen muss." Was wie ein trockenes Lachen klingen sollte, ähnelt mehr dem Geräusch eines vom Himmel herunterkrachenden Klaviers. Ich spitze meine Ohren, kann von der vermeidlich spielenden Gitarre aber keinen Ton erhaschen. Zu laut sind die auf Hochtouren arbeitende Klimaanlage und das tiefe Brummen des Busmotors.

Toshiya, der meinen beißenden Unterton entweder gekonnt überhört oder vielleicht auch einfach anders interpretiert hat, greift unvermittelt mit seinen Pranken nach meinen Schultern und schüttelt mich durch als wäre ich ein Apfelbaum. Ohne diese Geste zu kommentieren, lässt er mich so plötzlich, wie er mich überfallen hat, wieder los. Ist das eine von diesen sonderbaren westlichen Verhaltensweisen, die er sich von den diversen Bands, mit denen wir rumgereist sind, abgeguckt hat? Sollte mich das jetzt trösten?

Als ich mich zu ihm wende, hängt er bereits am Handy.

"Hier." Er hält mir das Display vor die Nase. "Da will ich nachher hin."

Im Webbrowser ist die Seite eines Designerschuhladens geöffnet, der sich in der gleichen Stadt befindet, in der wir morgen ein Konzert geben werden.

Einige Zeit nachdem wir losgefahren waren, habe ich Toshiya die Sache mit seinen verschollenen Schuhen beigebracht. Auch, dass ich Nora die Pralinen in seinem Namen überreicht habe, habe ich ihm gesagt. Er hat es mit Fassung getragen.

"Jetzt hab ich wenigstens eine Ausrede da reinzugehen." Er zieht das Handy wieder weg und scrollt eine Weile ohne hochzusehen durch die Seite. "Du kommst doch mit, oder?"

Ehe ich antworten kann, sagt er: "Und wenn du nicht mit willst, schlepp ich eben Kyo mit."

"Das will ich sehen." Dieses Mal ist mein Lachen tatsächlich trocken.

"Vielleicht sollte ich auch Nora mitnehmen. Quasi als Strafe, dass sie meine Schuhe unbeaufsichtigt vor meiner Tür ausgesetzt hat."

"Vorhin wolltest du ihr noch was schenken."

"Will ich immer noch. Was Richtiges. Was von mir persönlich kommt, nicht in meinem Namen verschenkt wurde. Vielleicht nehm ich sie mit in den Laden, scheuch sie durch die Gegend und lass sie mir alles nach tragen und kauf ihr am Ende ein schickes Paar Schuhe."

"Du bist wirklich ein herzensguter Mann."

"Danke."

Meine Hand gleitet in meine Hosentasche. Jetzt ist so langsam der Punkt erreicht, an dem ich echt 'ne Zigarette vertragen könnte. Leider ist Rauchen nur vorne im Bus gestattet. "Naja. Ich guck dann mal, wie die Luft vorne so is'." Demonstrativ lasse ich die Glimmstängel in der Schachtel rappeln.

"Yo."

Als ich die Schiebetür hinter mir schließe, sehe ich noch wie Toshiya sich gerade an der Minibar bedient.

Ich durchquere den Gang mit unseren Schlafkojen. Die funzelige Deckenleuchte spendet gerade soviel Licht, um sich nicht der Länge nach auf die Fresse zu legen. Konturenlos fällt mein Schatten auf die Schiebetür vor mir. Bevor ich sie aufziehe, halte ich kurz inne und horche. Die sanften Klänge einer Akustikgitarre dringen durch das Holz. Sonst nichts.

Kaoru hebt nur eine Augenbraue, als ich herein komme. Die linke Seite - die sich gegenüber liegenden Sitzbänke und der Tisch - sind mit Kaorus allgemeinem Klimbim übersät. Als hätte jemand eine Piñata gefüllt mit seinen Habseligkeiten darüber zerschlagen. Ein aufgeklappter Laptop, auf dem der Bildschirmschoner läuft, kreuz und quer liegende Notenblätter, teils blanko, teils bekritzelt, ein unangerührtes Notizbuch, seine Sonnenbrille, eine Ansammlung von Markern und Schreibern, davon einer ohne Kappe, eine Coladose, sein verflixtes Handy, Feuerzeug, Zigaretten und der dazugehörige, reichlich bestückte Aschenbecher.

Wie mein Blick so über die Tischplatte schlittert, fällt er auch unweigerlich auf die achtlos zusammengeknüllte Verpackung eines Schokoriegels. Meines Schokoriegels. Den, den ich Kaoru eingeschnappt im Treppenhaus in die Hand gedrückt habe. Er hat ihn gegessen. Ich weiß auch nicht, was mich daran gerade so empört.

Und sitzend vor all dem: Kaoru und seine dämliche hochgezogene Augenbraue.

Die rechte Seite sieht dagegen um einiges ordentlicher aus. Versteckt hinter einem Taschenbuch und mit Kopfhörern auf den Ohren sitzt Shinya starr wie ein Ölgötze am Fenster und liest. Anders als Kaoru schaut er jedoch kurz auf und nickt mir kaum wahrnehmbar zu, während ich es mir gegenüber von ihm bequem mache.

Ich ertappe mich dabei, wie ich darüber nachdenke, was wohl mit Kaorus ganzem Unrat passieren würde, wenn der Bus nun eine Vollbremsung hinlegen würde. Wir sind zur Zeit nur auf der Landstraße unterwegs, aber mutig ist es allemal.

Ich angele mir einen Aschenbecher, klopfe eine Zigarette aus dem angebrochen Päckchen und zünde sie an. Abwesend, mit dem Blick nach draußen gerichtet, höre ich Kaorus Gitarrenspiel zu. Es klingt sehnsüchtig, aber von Schmalz keine Spur. Toshiya, der alte Übertreiber.

Der Rauch verlässt meine halbgeöffneten Lippen, steigt zur Decke hinauf, wo er sich allmählich verliert und mit der Luft vermischt.

Sollte ich Kaoru von dem Verdacht erzählen, den Kyo und ich hegen? Würde er mir glauben? Würde er es für möglich halten? Ich nage meine Unterlippe an. Aber was, wenn es gar nicht stimmt? Würde ich es mir wieder mit ihm verscherzen? Dass ich seiner Liebsten so etwas vorwerfe.

Asche rieselt in die Glasschale.

Vielleicht sollte ich es für mich behalten, bis ich mir sicher bin. Ihn darauf anzusprechen, könnte genau das sein, was sie geplant hat. Wenn sie uns gegeneinander ausspielen will, wäre es wohl am einfachsten Zwietracht zwischen uns zu säen. Auf wessen Seite würde sich Kaoru wohl eher schlagen? Auf die seiner honigsüßen Freundin, der man doch bereits an der Stubsnasenspitze ansehen kann, dass sie keiner Fliege etwas zu Leide tun könnte oder seinem langjährigen Bandkollegen, der nachweislich bisweilen zu Paranoia und Überreaktion neigt?

Die Klänge verstummen.

Ohne den Kopf zu sehr zu drehen, werfe ich einen verstohlenen Blick zu Kaoru herüber. Er sieht mich an. Ausdruckslos. Es ist mir beinahe unangenehm. Weil mehrere Sekunden vergehen und er einfach nichts sagen will, führe ich meine Hand wie in Zeitlupe zu meinen Lippen und nehme einen langen, kräftigen Zug. Qualm wabert aus meinem Mund. "Was'n?"

"Findest du nicht auch, dass der Klang einer einzelnen Saite so viel mehr ausdrücken kann, als alle Worte zusammen?"

Mir ist, als hätte mir jemand ein Brett vor den Kopf genagelt.

"Ist doch seltsam, oder?" Kaoru legt die Gitarre behutsam beiseite und tätschelt ihren Bauch. "Wenn mir die Worte fehlen, kann ich immer noch meine Gitarre für mich sprechen lassen. Als bestünde zwischen meinem Herzen und meinen Fingern eine direktere Verbindung als zwischen meinem Kopf und meinem Mund."

Ich fasse es nicht. Ich zermarter mir den lieben langen Tag die Scheißrübe und er hat nichts Besseres zu tun, als über seine Klampfe zu sinnieren!

Ich wende meinen Blick ab. "Mag sein."

Ein Stift kratzt ein paar Noten auf Papier.

Am liebsten würde ich jetzt schmollen, aber die Genugtuung gönne ich ihm nicht. Stattdessen rauche ich schweigend meine Zigarette zu Ende und versuche bis zu unserer Ankunft irgendeine Sitzposition einzunehmen, bei der mein Steiß mich nicht umbringt.
 


 

~*~*~
 


 

Möglicherweise bin ich nicht der Allerschlauste. Und auch mein Temperament geht mitunter mit mir durch wie eine Herde aufgeschreckter Gnus. Aber dass mein Herz nicht am rechten Fleck ist, kann man mir wirklich nicht unterstellen. Ganz gleich wie rotzig oder gehässig ich sein kann. Am Ende des Tages lasse ich mich sogar von meinem drömeligen Bandkollegen bequatschen mit ihm durch die hiesigen Schuhgeschäfte zu streifen, damit dieser seine Grashüpferstelzen mal hier, mal dort in allerhand Designergaloschen stecken kann, obwohl ich mich lieber Kopfüber in die Minibar auf meinem Hotelzimmer stürzen möchte.

Letztlich sind es spitzzulaufende gelackte Halbschuhe aus schwarzem Leder, die in ihrer dazugehörigen Schachtel den Weg in eine schicke Henkeltasche finden. Kaum dass wir jedoch den Laden verlassen haben, wandern sie auch schon an Toshiyas Füße und tauschen dort die Plätze mit seinen durchgegasten Stiefeln, die er seit heute Morgen ununterbrochen angehabt haben muss.

Nach einem Gebärdentanz und vielen Sätzen in gebrochenem Englisch ist es mir darüber hinaus noch gelungen in Erfahrung zu bringen, wie wir vom Schuhgeschäft aus am schnellsten zu einer bestimmten Sehenswürdigkeit gelangen können.

Ich stehe in der schmalen Einkaufsgasse und gebe die Daten zur Routenberechnung in Google Maps ein. "Irgendwie erinnert mich das an letztens. Wisst ihr noch? Als ihr mich einfach stehengelassen habt und ohne mich im Tourbus weggefahren seid..."

Doch meine Worte verhallen scheinbar ungehört. Oder werden vom geschäftigen Treiben der kaufwütigen Meute um uns herum verschluckt.

Toshiya lässt die Einkaufstasche baumeln. "Ich kann echt nicht glauben, dass du mitgekommen bist."

"Ich wollte ein Foto machen."

Für einen Moment sehe ich von meinem Handy auf und werfe Kyo einen Seitenblick zu.

"Das muss ja echt ein besonderer Ort sein!", grinst Toshiya breit und streckt sich ausgiebig, die Arme hoch in die Luft gereckt.

Kyo hebt nur ungerührt die Schultern.

"Naja, wie dem auch sei." Die Tasche schlägt Toshiya ein-, zweimal dumpf auf dem Hinterkopf. "Wollen wir auf dem Weg dahin noch was mampfen?"

"McDonald's."

"Schon wieder?"

"Ich will'n scheiß Hamburger, verdammt."

"Kinder", sage ich. "Beruhigt euch."

Das gleißende Licht der sengenden Abendsonne, reflektiert von meinem Handydisplay, verfängt sich in meinen Wimpern und lässt mich für einen Moment beinahe erblinden. Ich schiebe mir die heute Früh gekaufte Sonnenbrille, die während unseres Ladenbesuches in meinem Haar steckte, zurück auf die Nase. Auch nach mehrmaligem aggressiven Blinzeln wollen die unförmigen Sonnenflecken nicht von meiner Netzhaut verschwinden.

"Laut Karte liegt sogar ein McDonald's auf dem Weg, und ich könnt jetzt echt 'nen Burger vertragen."

"Und 'ne Cola mit Eiswürfeln", ächzt Kyo, sich mehr oder weniger verzweifelt mit einem hauchdünnen Pamphlet über örtliche Touristenattraktionen schwüle Luft zu fächernd. Im Gegensatz zu mir hat er seine Sonnenbrille seit wir das Hotel verlassen haben nicht abgesetzt. Die Ärmel seines T-Shirts sind bis zu den Schulterdächern hochgekrempelt.

Es ist ja nicht so, dass wir das Schwitzen nicht gewöhnt wären - schließlich gehört es irgendwie schon zwangsweise zu unserem Beruf dazu - aber in staubtrockener Luft, ohne das leiseste Säuseln eines Windhauchs in der Sommersonne, die uns erbarmungslos auf die Birne knallt, zu stehen, ist trotzdem noch was anderes als adrenalinvollgepumpt, schweißüberströmt im Scheinwerferlicht auf der Bühne herumzuturnen.

Toshiya wischt sich einen langsam herunterrinnenden Schweißtropfen von der Wange. "Und zum Nachttisch 'nen Milkshake..."

"Okay, okay, ist ja schon gut." Ich schultere meine Tasche. "Bevor ihr jetzt noch anfangt Speichelfäden hinter euch herzuziehen, lasst uns lieber die Hufe schwingen."

"Geht klar, Kaoru-san."

"...bitte, was?!" Ich halte in der Bewegung inne, noch ehe ich einen Fuß vor den anderen setzen kann. Hab ich Staub in den Ohren oder fangen meine Bandkollegen jetzt schon an fiebrige Hitzehallus zu kriegen?

"Ich hab gesagt-", setzt Kyo an.

"Ich hab gehört, was du gesagt hast", schneide ich ihm unwirsch das Wort ab.

Unbeeindruckt von meinem scharfen Ton und unablässig weiter fächernd, sieht Kyo an mir vorbei in die Einkaufspassage. "Ihr werdet euch halt in letzter Zeit immer ähnlicher."

"Wie so'n altes Ehepaar", quakt Toshiya dazwischen.

"Nur ohne Ehe."

"Aber mit genauso wenig Sex."

"...ich lass euch Pappnasen gleich hier draußen verkokeln und nehm mir 'n Taxi zurück ins Hotel!"

"Wieso? Wartet da jemand auf dich?" Die Silberarmbänder an Kyos Handgelenk klimpern bei jeder Fächelbewegung wie ein vom Sturm gepeitschtes Windspiel.

"Kaoru auf jeden Fall nicht."

"Okay, das reicht jetzt, Toshiya." Mit einem klatschenden Geräusch trifft Kyos Rückhand züchtigend den nackten Oberarm von Toshiya. "Reiß dich mal zusammen. Der arme Die, Mann."

"Häh? Du hast doch angefangen!"

"Ssscht jetzt. Sonst platzt er noch."

Und in der Tat tue ich das gleich wirklich. "Das ist der Dank dafür, dass ich mit euch einen Schaufensterbummel in diesem Glutofen mache?"

"Schaufensterbummel...", prustet Toshiya hinter vorgehaltener Hand. "So nennt meine Oma das auch immer."

"Ruhe jetzt! Ich bin der Blüte meines Lebens."

"Und in der wievielten?"

"Toshiya."

"Wer redet hier jetzt so wie Kaoru, häh? Ich bin nicht mitgekommen, damit ihr mich auf öffentlicher Straße drangsaliert. Nach der gestrigen Nacht hätte ich gerne mal wieder so etwas wie Friede-Freude-Eierkuchen in meinem Leben, wenn das nicht zu viel verlangt ist, weil mir das alles mittlerweile bis hier oben steht und ich echt mal ein paar gute Freunde und aufbauende Worte vertragen könnte! Wäre das vielleicht möglich? Oder muss ich mir von euch jetzt auch noch solchen dummen Sprüche drücken lassen? Wo Kaoru gerade vergessen hat, dass er mich hasst und stattdessen so behandelt als würde er nur auf den richtigen Augenblick warten, um mir den erlösenden Gnadenstoß zu geben."

Stille. Auf meinen Wutausbruch folgt betretenes Schweigen. Eine Traube einheimischer Frauen mittleren Alters in teuren Kleidern, behängt mit Einkaufstaschen, unter einem schattenspendenden Sonnenschirm gedrängt, wirft uns abschätzige Blicke von der Seite zu. Oder vielleicht auch nur mir, weil ich meine Stimme erhoben habe.

Verlegen kratze ich mich am Nacken. "Sorry..." Ich versuche den Blicken meiner Freunde auszuweichen. "Ich weiß auch nicht, woher das gerade alles gekommen ist..."

"Schon gut", höre ich Kyo sagen. "Wollen wir zu McDonald's? Ich geb' einen aus."

Aus dem Augenwinkel sehe ich Toshiya eine angedeutete Verbeugung in Richtung der Damen machen, dabei flackert ein entschuldigendes Lächeln über seine Lippen. Kurz darauf wirft er auch mir einen schuldbewussten Blick zu. Immerhin scheint er zu wissen, dass er zu weit gegangen ist.

"Aber du musst mir versprechen, dir nicht mehr soviel die Rübe über Kaoru zu zerbrechen. Im Gegenzug verspreche wir dir, dich fortan nicht mehr zu foppen." Mit diesen Worten und verzogenem Mund versetzt mir Kyo mit seinem Pamphlet einen schmerzlosen Klaps auf die Stirn, der mir zeitgleich angenehm kühle Luft zu wedelt. Er seufzt. "Naja, vielleicht etwas."

Und weil es darauf nichts mehr zu sagen gibt, setzen wir uns alle in Bewegung, ohne noch ein weiteres Wort darüber verlieren.
 


 

~*~*~
 


 

Das ist ja alles immer viel leichter gesagt als getan. Denk nicht mehr so viel daran, aber das Gehirn ist wie das verschlissene Aufziehwerk einer uralten, blechern vor sich hin dröhnenden Spieluhr, deren nervtötende Melodie, erst einmal begonnen, sich weder verschnellern noch abwürgen lässt. Und so leiert sie unablässig weiter, bis auch der letzte Ton endlich verklungen ist. Nur dreht irgendein Depp in meinem Gehirn immer und immer wieder den Schlüssel um und die Melodie fängt aufs Neue an zu dudeln. Hallt hundertfach von den leeren Kammern meines Oberstübchens wider und bauscht sich dabei zu einer wahren Albtraum-Symphonie aus sich stets überlappenden Klängen auf, als wäre mein Kopf die Spitze eines Glockenturms.

Zu meinem Entsetzen entpuppt sich der Ort, den wir besichtigen wollen, als wahrer Pärchen-Hotspot. Überall tummeln sich glücklich Verliebte. Arm in Arm, Hand in Hand schlendern sie an uns vorbei, einander herzend und dümmlich vor sich hin lächelnd.

Mir wird spontan wieder übel. Der Käse des Cheeseburgers klebt mir noch an den Zähnen und hält sich hartnäckig am Gaumen fest. Bemüht versuche ich ihn mit dem letzten Rest eiskalter Cola wegzuspülen und meinen Mageninhalt damit eindringlich zu warnen gefälligst dort zu bleiben, wo er ist.

Toshiya und ich haben am Rande eines großen Wasserbeckens, welches umsäumt von Bäumen innerhalb einer grünen Parkanlage liegt und in dessen Mitte ein überdimensionaler Springbrunnen prunkt, Platz genommen. Kyos zur Hälfte weggefutterte Pommesschachtel und sein gesüßter Eistee stehen neben mir auf der Steinmauer. Um ein Haar hätte er uns noch in einen Starbucks um die Ecke gescheucht, aber ich habe mich durchgesetzt. Jeder Schritt ist mir bei dieser Bullenhitze mittlerweile zu viel geworden. Insgeheim bereue ich es sogar mich überhaupt so weit vom Hotel entfernt zu haben. Zwar wollte ich mir nach der Busfahrt unbedingt die Beine vertreten, aber nach der mehr oder weniger halbdurchzechten Nacht gestern und dem wilden Ritt auf dem Emotionskarussell, wäre mir eine horizontale Lage, vorzugsweise mit dem Gesicht nach unten, zugegebenermaßen momentan schon lieber.

Hier auf diesem gepflasterten Platz in der prallen Sonne läuft der Schweiß nun unablässig mein Brustbein hinab. Mittlerweile fühlt sich das feuchte T-Shirt an wie eine zweite Haut, die mit meiner eigenen verschmolzen zu sein scheint. Erschöpft werfe ich einen Blick über meine Schulter. Ein kleines Kind mit strohblondem Haar jagt verzweifelt einem Luftballon hinter her, während seine zwei Geschwister mit nackten Füßen wild im Brunnen umherstampfen, sich dabei gegenseitig laut juchzend mit Wasser bespritzen - sehr zum Missfallen ihrer Eltern. Ein Stück dahinter, an einer ruhigeren Stelle, entdecke ich Kyos schmale Gestalt am Beckenrand hocken, die Kamera nach oben Richtung Wasserfontänen gestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt. Sein fokussierter Blick liegt auf etwas, das sich mir nicht erschließen will.

"10.000¥, dass er ins Wasser fällt." Toshiyas Worte gehen nahtlos in ein Schlürfen über. Am Grunde seines Bechers versteckt sich noch etwas vom seinem Milkshake.

Ein Schmunzeln stiehlt sich auf meine Lippen. Während Kyo hinter uns weiter gedankenverloren Fotos knipst, zünde ich mir eine Zigarette an. Es ist die letzte aus dieser Schachtel. Ich zerknülle das Papier und sehe mich nach einem Mülleimer um. Der nächstgelegene liegt mir schräg gegenüber nahe einer von einem Pärchen besetzten Bank. Meine Organe machen einen Satz im meinem Bauchraum. Dass die Leute hier im Westen ihre Zuneigung zu einander immer so öffentlich zur Schau stellen müssen. Sitzen da eng umschlungen, für jeden sichtbar, und turteln sich liebestrunken an... Am liebsten möchte man Nehmt euch ein Zimmer! schreien.

Kurzentschlossen stopfe ich die leere Zigarettenpackung einfach wieder zurück in meine Hosentasche.

Ob Kaoru sowas gestern auch mit seiner Freundin gemacht hat? Als sie erschöpft, in wohliger Trägheit, in seinen Armen lag. Ob er ihr auch immerzu tief in die Augen geblickt hat, als wären ihre Pupillen der nachtschwarze Himmel, der sich sternenbedeckt und unergründlich unendlich vor ihm erstreckt? Hat er sich darin verloren? Ist er haltlos darin versunken? Bis ein inniger Kuss den Bann zwischen ihnen zerbrochen hat.

Ein Kuss.

Ich muss wieder daran denken, wie er mich geküsst hat. Es ist kaum 24 Stunden her und doch verblasst die Erinnerung daran bereits. Wie sich ein warmer Atemhauch an einer kalten Scheibe auflöst.

Meine Lungen füllen sich mit Rauch. Ob er uns mit einander verglichen hat? Miho und mich. Ob er an sie gedacht hat, als er mich geküsst hat? Ob er an mich gedacht hat, als er sie geküsst hat?

Und überhaupt: Was hat er sich eigentlich dabei gedacht, uns beide in der selben Nacht zu küssen? Ist er etwa so einer? Ein elendiger Fremdküsser. Mit Sicherheit ist er ihr gegenüber genauso ein Geheimniskrämer wie mir. Eher gibt der sich doch die Kugel, als ihr zu gestehen, dass er mit seinem Gitarristenkumpel geknutscht hat. Zweimal sogar. Und sie dann mit demselben Mund nur wenige Minuten darauf immer und immer wieder ebenfalls geküsst hat. Gewissermaßen könnte man sogar behaupten, dass Miho und ich uns auf diese Weise ebenfalls indirekt...

Jetzt wird mir wirklich speiübel.

Bevor mir der große Brocken an der Spitze meiner Kippe noch auf die Hose plumpst, asche ich lieber hastig neben mir ab.

Mal ehrlich, Kaorus ersten Kuss, den im Aufzug, kann ich ja irgendwo sogar noch nachvollziehen. Vielleicht hat er wirklich gedacht, wir könnten in die Tiefe und zu Tode stürzen. Wer weiß schon, was tatsächlich in der Birne von diesem Groschenromancasanova vor sich geht. Vielleicht wollte er auch nur mal sehen, wie das so ist. Einen anderen Mann zu küssen. Mich zu küssen. Aber den zweiten Kuss? Mit dem er mich im Hotelgang ohne Vorwarnung überrumpelt hat, um mir wortwörtlich über den Mund zu fahren und mich damit zum Schweigen zu bringen. Was hatte der zu bedeuten?

Toshiyas harter Ellenbogen bohrt sich zwischen meine Rippen und reißt mich jählings aus meinen Gedanken, die mal wieder drauf und dran sind sich ins Abstruse abseilen zu wollen.

"Was?", zische ich schmerzverzehrt, die Zigarette zwischen meine Lippen klemmend, um einen letzten kräftigen Zug von ihr zu nehmen, ehe ich sie ausdrücke.

"Fans auf drei Uhr."

"Fans auf was, bitte?!"

"Drei Uhr."

Ich will mich umgucken, doch es ist bereits zu spät. Durch die getönten Gläser meiner Sonnenbrille sehe ich eine Gruppe junger Frauen geradewegs auf uns zu staksen. Zwischen ihnen ein einziger Typ, dessen Alter ich beim besten Willen nicht schätzen kann. Vielleicht ist er Anfang zwanzig, vielleicht auch schon Ende dreißig. Einer von diesen Kerlen halt. Viel Zeit, um mir auch noch über diesen Schwachfug das Hirn zu Brei zu zerdenken, bleibt mir allerdings nicht mehr, denn da stehen sie auch schon zu fünft vor uns und strahlen uns an.

Die am jüngsten wirkende Frau zwirbelt nervös am Saum ihres Rockes herum, wohingegen sich zwei der mutigeren in den Vordergrund gedrängelt haben und Toshiya und mich direkt konfrontieren. Für Unbeteiligte muss das Geschehen um uns herum ein bisschen so aussehen, als hätten uns diese Leute hier eingekesselt, um uns ordentlich eins auf die Fresse zu hauen. Aber sie fragen nur nach Autogrammen und Fotos.

Konzentriert versuche ich dem aufgeregten Geblubber der Damen zu folgen. Gar nicht so einfach, wenn einem die Birne von der Sonne kross und braun gebraten wird und man in seinem eigenen Saft langsam vor sich hin schmort. Ihr Englisch ist akzentfrei, aber ihre Worte überschlagen sich nahezu vor Freude darüber uns ausgerechnet an diesem Ort über den Weg gelaufen zu sein. Ich kann ihnen kaum folgen. Meinen Namen auf einen unserer Merchartikel zu schreiben, schaffe ich hingegen gerade noch so.

Wir machen Fotos und ich setze mein schönstes Lächeln auf, erinnere mich aber im gleichen Moment wieder daran, dass mir möglicherweise immer noch was vom Cheeseburger zwischen den Zähnen hängt und schraube meine Strahlkraft vorsichtshalber ein, zwei Stufen zurück.

Während Toshiya wohlwollend lächelnd seine Unterschrift auf eine Umhängetasche krakelt und sich dabei mit dem Typen unterhält, werfe ich einen verstohlenen Blick zurück zu der Stelle, wo Kyo vorhin seine Fotos geschossen hat. Ich bin nicht mal sonderlich erstaunt, ihn nirgends entdecken zu können.

Ein paar Schnappschüsse, Signaturen und geschüttelte Hände später schlendern die Fünf überglücklich wieder davon. Niemandem scheint aufgefallen zu sein, dass neben Toshiya und mir nicht zwei, sondern drei Getränke stehen. Jetzt will ich aber wirklich nicht länger hier bleiben. Womöglich laufen wir sonst noch Gefahr, dass die Fans uns einen weiteren Besuch abstatten oder gar mit neuen Leuten zurückkehren. Wie Wespen, wenn's irgendwo was abzuschnappen gibt.

Ich sammel meine Sachen ein, schnappe mir Kyos Eistee und zögere noch bei seinen angefressenen Pommes.

"Das war nicht so unangenehm wie befürchtet", höre ich Toshiya neben mir seufzen und gleichzeitig mit seinen ineinander verhakten Fingerknöcheln knacken. Auch er klaubt nun seinen Müll und seine Einkäufe zusammen.

"Zum Glück." Schwungvoll schultere ich meine Tasche. "Lass uns Kyo suchen und dann 'nen Abflug von hier machen. Hat sich natürlich mal wieder schön verdrückt, der Herr."

Toshiya kratzt sich an der Wange. "Weit kann er ja nicht sein."

Unschlüssig sehen wir uns um, versuchen irgendwo zwischen all den hochgewachsenen Ausländern unseren verschollenen Sänger zu erspähen.

"Vielleicht auf der anderen Seite des Springbrunnes?" Auf Toshiyas Vermutung hin setzen wir uns in Bewegung, vorbei an den gefühlsduseligen Pärchen, der Familie mit den tollwütigen Kindern und so einigen Touristen, die wir teils weitläufig umgehen müssen, um nicht unfreiwillig in soeben gemachte Erinnerungsfotos hereinzuplatzen. Doch selbst nachdem wir den Brunnen einmal komplett umrundet haben, fehlt nach wie vor jede Spur von Kyo.

"Tja... Ab morgen dann doch Instrumentalband?" Ich stopfe unseren Abfall in einen Eimer.

"Das bringst du Kaoru dann aber bei."

"Warum ausgerechnet ich?"

"Auf dich ist er doch eh immer wütend, das macht den Kohl dann auch nicht mehr fett."

"Kaoru ist nicht immer wütend auf mich."

Toshiya zuckt nur lässig mit den Schultern und grinst schief.

Mir wird das langsam zu bunt. Ich schwitze, mir ist übel, muss mir hier wieder dumme Sprüche reinziehen, Kyo hat uns im Stich gelassen, und höchstwahrscheinlich ist das Foto von mir und dem Käse zwischen meinen Zähnen mittlerweile schon im Internet viral gegangen.

Ohne noch lange zu fackeln, suche ich Kyos Nummer aus meiner ellenlangen Kontaktliste heraus und klebe mir das Handy ans Gesicht. "Ich rufe ihn jetzt an."

Das monotone Tuten des Freitons im Ohr blinzele ich der Sonne entgegen. Der Himmel beginnt sich allmählich gelb zu färben.

Es klingelt nicht lange und Kyos Stimme meldet sich am anderen Ende. "Hhh?"

"Alter, wo zum Henker steckst du?"

"...in Sicherheit."

"Und wo ist das?", blaffe ich ihn durchs Telefon an.

Was folgt ist Stille, doch im Hintergrund höre ich deutlich das leise Plätschern von Musik, ein Gewirr aus Stimmen und etwas, das verdächtig wie ein Klirren von Küchenutensilien klingt.

"Bist du... im Starbucks, Alter?!"

Toshiya glotzt mich an.

"Ich wollt 'n Kaffee, Mann."

"Und ich schlepp dir auch noch deinen Fraß hinterher..."

"Warte kurz."

Ich höre eine Frauenstimme, Rascheln und Knarzen, dann wieder Kyo. "Mhm, thank you."

Hinter meiner Sonnenbrille machen meine Augäpfel eine 360 Grad Drehung.

"Ich komm zurück. Sind sie weg?"

"Du hast dich echt verpisst."

"Was glaubst du denn?"

"Wir stehen an diesem Tor, wo wir vorhin durchgegangen sind."

"Ich weiß Bescheid."

Ich lege auf, ohne mich zu verabschieden.

Neben mir verpasst Toshiya gerade einem Schotterstein einen schlappen Kick mit der Innenseite seines neuen Schuhs. "Also doch keine Instrumentalband."

Bis zu Kyos Rückkehr vertreiben wir uns die Zeit damit am Handy zu hängen. Während ich bei Google Maps unsere Route zurück zum Hotel heraussuche, scrollt er abwesend durch Instagram.

Erst als mir Kyo fünf Minuten später eine braune Papiertüte unter die Nase hält, sehe ich von meinem Display auf.

"Ich hab Brownies mitgebracht."

Ich nehme die Tüte und sehe hinein. Ein herrlich schokoladiger Geruch steigt aus ihr empor. "Danke... Toshiya hat deinen Eistee."

Das Getränk wechselt zu seinem rechtmäßigen Besitzer, und sobald Toshiya wieder eine Hand frei hat, nutzt er diese auch gleich um unverzüglich in die Brownietüte hineinzugrabbeln. "Ich weiß gar nicht, was du immer hast", schmatzt er, den Mund voller Gebäck. "Nicht alle Fans hier drüben sind Hyänen."

Anstatt zu antworten, lässt Kyo die Aussage einfach unkommentiert im Raum stehen und schreitet an uns vorbei. "Gehen wir? Ich bin müde."

"Und dann holst du dir einen Kaffee?" Mir wäre Bier jetzt lieber, aber Alkohol hat derzeit Hausverbot im Club der Magensäfte. Zumindest für heute Abend.

"Einen Kaffee holt man sich um wach zu werden", sagt Kyo trocken, während wir die Straßenseite wechseln.

"Oder um die ganze Nacht kein Auge zu zu drücken."

Von Kyo, der jetzt mit zwei Getränken bewaffnet ist, kommt nur ein Achselzucken zurück. "Mein Biorhythmus ist sowieso im Arsch."

Wir schlängeln uns durch die aufgeheizten Gassen der Shoppingmeile zurück zu unserem Hotel. Anders als auf dem Hinweg schlendern wir nun nicht mehr. Jeder von uns scheint es kaum erwarten zu können, sich auf seinem Zimmer endlich alle Klamotten vom Leib zu reißen, unter die Dusche zu springen und sich im kühlen Nass die Sonnenstrahlen von der Haut zu spülen. Somit sind unsere Schritte jetzt länger und vor allem auch zügiger.

Irgendwie scheinen wir uns gemeinschaftlich nonverbal auf allgemeines Schweigen geeinigt zu haben, denn zwischen uns ist es, bis auf gelegentliche Richtungsangaben und kurzangebundene Bemerkungen, ziemlich ruhig geworden.

Kaum noch einen Katzensprung von unserem Hotel entfernt, fällt mir wieder ein, wie ich vorhin meine allerletzte Kippe feuerbestattet habe. Entweder schnorre ich mich jetzt wieder bei jemand anderem durch oder besorge mir selber welche, damit ich zumindest die Nacht überstehe. Direkt um die Ecke ist ein Kiosk, ein Abstecher dorthin würde höchstens ein paar Minuten dauern. Außerdem schmecken mir meine eigens ausgesuchten Zigaretten immer noch am besten. Ich seufze.

"Geht schon mal vor. Ich geh noch mal schnell in den Laden hier."

Kyo nickt knapp, den Kaffeebecher an die Lippen gesetzt, und tigert an mir vorbei. "Nacht", sagt er, obwohl es draußen noch taghell ist.

"Verlauf dich nicht", flötet Toshiya mir mit baumelnder Einkaufstüte zu, die Hand zum Abschied gehoben. Beide laufen sie unbeirrt weiter in Richtung Hotel.

Sowie ich die Schwelle der automatischen Schiebetüren überschreite und den Kiosk betrete, überkommt mich schlagartig Schüttelfrost. Der Ladenbesitzer muss die Klimaanlage den ganzen Tag über auf volle Pulle laufen gehabt haben. Hier drinnen herrschen Temperaturen wie am Nordpol. Selbst im Kühlregal, aus dem ich mir eine Flasche Wasser mopse, ist es wärmer. Der Verkäufer an der Kasse beobachtet mich aus dem Augenwinkel mit hochgezogenener Augenbraue, als ich mich vor Kälte kurz schütteln muss. Ich stelle mein Wasser auf den Tresen, erkläre ihm welche Zigaretten ich gerne hätte und krame mein Portemonnaie hervor. Über den Fernseher in der Ecke flimmert gerade eine Sportübertragung.

Mit meinen Einkäufen, Gänsepelle und auf der Haut zu Eis erstarrten Schweißtropfen verlasse ich den Laden wieder. Hinaus in die schwüle Hitze des Sommerabends.

Seltsamerweise fühle ich mich hier draußen auch nicht viel wohler. Wenn ich aber daran denke, dass ich gleich noch mehrere Stockwerke hoch laufen muss, motiviert mich das zugegebenermaßen trotzdem nicht sonderlich endlich auf mein Zimmer zu kommen.

Ich schraube meine Flasche auf und nehme einen Schluck im Gehen. Ob das Wasser überhaupt in meinem Magen ankommt? Fühlt sich eher so an, als würden meine Poren es auf direktem Wege wieder nach draußen spucken. Ich verstaue die Flasche in meiner Tasche.

Am anderen Ende der Straße kommt das Gebäude zum Vorschein, in dem wir heute nächtigen werden. Es ist ein mehrstöckiger modern anmutender Kasten, dessen eine Seite verglast und die andere weiß gemauert ist. Hinter der verglasten Front befinden sich das Hotelrestaurant und lichtdurchflutete Tagungsräume. Hinter jedem rechteckigen Fenster im schneeweißen Stein liegt ein Zimmer. In einigen von ihnen brennt bereits schwaches Licht, im Restaurant hingegen ist man direkt zu Festtagsbeleuchtung übergegangen. Stromsparen sieht anders aus.

Mein Blick fällt auf das Fenster, von dem ich glaube, dass es zu Kaorus Zimmer gehört. Unmöglich zu sagen, ob er sich gerade darin aufhält. Vielleicht ist er ebenfalls ausgegangen, vielleicht sitzt er auch mit dem Laptop auf dem Schoß auf seinem Bett. Oder zupft an seiner Gitarre rum. Spielt vielleicht wieder solche, wie Toshiya sie nannte, weichgespülte Melodien. Mit diesem nichtssagenden Ausdruck auf dem Gesicht. So wie im Bus heute.

In mir regt sich ein Gefühl des Unmuts. Aus der Gewohnheit heraus, nicht, weil ich tatsächlich einen Grund dazu hätte Unmut zu verspüren. Beinahe wünschte ich, Kaoru würde heraus kommen und mir einen Grund dazu geben mich über ihn zu ärgern. Aber ich komme dem Hotel immer näher und natürlich ist weit und breit kein Kaoru zu sehen.

Die einzige Person im unmittelbaren Umkreis ist eine junge Frau, die vor den Doppeltüren des Eingangs auf jemanden zu warten scheint. Hinter dem üppig blühenden Busch auf dem Vorplatz hätte ich sie um ein Haar übersehen, doch das Weiß ihrer luftigen Rüschenbluse strahlt in diesem Licht nur allzu verräterisch.

Sie muss gehört haben wie sich meine Schritte ihr langsam nähern, denn auf einmal wendet sie sich zu mir um. Schwarzes Haar umrahmt ihr herzförmiges Gesicht. Zwei riesengroße Onyxe starren mich entsetzt daraus an, als hätte sich soeben die lodernde Hölle zwischen uns aufgetan. Mein träges Gehirn braucht eine Sekunde um zu schalten.

"Miho...?"

Ihr erster Instinkt ist Flucht. Hastig, verschreckt, wirbelt sie wieder herum, versucht sich verzweifelt hinter ihrer seidigen Haarpracht zu verstecken, als hätte ich sie nicht längst schon erkannt, und versucht sich an mir vorbei zu schlängeln. Doch ich bin schneller, bekomme ihr schmales Handgelenk zu fassen und halte sie fest.

"Miho", setze ich an.

Ihre zarte Stimme fällt mir sogleich ins Wort. "Bitte lassen Sie mich los."

Von mir selbst und meinem eisernen Griff erschrocken, lasse ich sie so plötzlich wie ich sie gepackt habe wieder los.

Sie sieht mich nicht an, läuft aber auch nicht mehr vor mir davon.

In mir beginnt sich ein Sturm zusammenzubrauen.

"Was machst du hier?"

Statt mir zu antworten, graben sich ihre Finger nur tiefer in ihre Handtasche.

"Ich verstehe nicht... Solltest du nicht im Flieger nach Hause sitzen?"

"Bitte lassen Sie meinen Freund..." Ihre Stimme ist so leise, dass ich sie kaum verstehen kann.

"Was?"

"Bitte lassen Sie meinen Freund in Ruhe!" Die Tasche fest umklammert, verbeugt sie sich so tief und schwungvoll vor mir, dass ich erst befürchte, sie würde vor mir zu Boden stürzen. Mein Körper ist wie zu Bernstein erstarrt, will sich nicht rühren, kann sich nicht erlauben noch einmal nach ihr zu greifen und so kann ich nur tatenlos zusehen, wie sie an mir vorbei schwirrt wie ein aufgeschreckter Schmetterling.

An einer Straßenecke verschwindet ihre zierliche Gestalt zwischen den wuchtigen Körpern anderen Passanten. Eine Weile lang sehe ihr nach, in der Hoffnung sie würde es sich anders überlegen und zurückkehren. Aber sie taucht nicht mehr auf. Als sich die Hoteltüren öffnen und das Gebäude ein laut gackerndes, Arm in Arm gehendes Pärchen hinter mir ausspuckt, reißt mein Blick endlich ab.

Doch in meiner Magenkuhle wogt nach wie vor eine aufgewühlte See. Ich betrachte meine Handfläche. An ihr kann ich sie noch immer fühlen. Ihre Haut. So zart und weich, fast wie Wachs. War sie wirklich hier?

Und was um aller Welt hat sie hier verloren?
 


 


 


 


 

____________

To be (or not to be) continued.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  motti
2022-08-04T09:36:13+00:00 04.08.2022 11:36
Gute Fragen die da Die stellt. Vielleicht schwankt die Sphynx namens Kaoru ja doch. Wobei das keinem gegenüber fair ist.


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