Purpur
Das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren.
„Diese Tenten ist schon seltsam.“
Unbeabsichtigt bekam Neji mit, dass die Mädchen in seiner Klasse hinter Tentens Rücken tuschelten, und abfällige Bemerkungen machten. Zwar nichts böswilliges, doch es war schon herablassend, selbst für Kinder in diesem Alter. Auch wenn sich die Mädchen dessen vielleicht nicht bewusst war.
Die Jungen zeigten unauffällig mit Fingern auf Tenten und sahen ihr neugierig hinterher.
Es nervte ihn, da er sich eigentlich auf sein neues Team und das damit verbundene Training konzentrieren wollte.
Es war eine Woche vergangen, seitdem die jungen Schüler in ihre Teams eingeteilt wurden.
Obwohl sie nun innerhalb ihres Team täglich trainieren, hatten sie zusätzlich Unterricht in der Klasse, die sie bereits vorher besuchten.
Neji mochte diese Form des Unterrichts nicht. Er liebte die körperliche Herausforderung, wollte nicht die ganze Zeit stillsitzen und einem Erwachsenen zuhören, der wie ein Herrscher vorne an der Tafel stand und ihnen versuchte die Mythen der Welt durch bloße Worte zu erklären.
Für seine zwölf Jahre war Neji recht reif. Er stammte aus gutem Hause und genoss dort eine strenge Erziehung und gute Umgangsformen waren für ihn zur Normalität geworden.
Die anderen in seiner Klasse benahmen sich kindisch, fast lächerlich.
Doch Tenten war in seinen Augen anders.
Trotz ihrer liebenswerten, freundlichen und etwas naiven Art, war sie dennoch im Stande im richtigen Moment ernst bleiben zu können.
Als einziges Mädchen im Team hatte sie es manchmal schwer sich gegen Lee, ihrem Lehrer Gai und Neji selbst durchzusetzen, doch sie bewältigte diese Aufgabe mit Bravour.
Im Grunde wusste Neji nichts über sie, obwohl er sie bereits eine Zeit lang kannte und sie nun auch in einem Team waren, wenn auch erst seit kurzer Zeit. Er wusste bloß, dass sie ein Mädchen aus normalen Verhältnissen war. Nichts Besonders eigentlich.
Aber dennoch weckte sie ein Interesse bei den anderen. Warum genau wusste er nicht, vielleicht sollte er dieser Sache nachgehen.
Neji verwarf diesen Gedanken. Er wollte und konnte sich nicht mit solchen Kleinigkeiten herumschlagen, dafür hatte er keine Zeit und keine Lust.
Wie es der Zufall wollte, spielte ihm das Schicksal die nötigen Antworten auf seine ungeklärten Fragen zu.
Nach dem Unterricht packte er gerade seine Sachen in seine Schultasche - extra langsam, um nicht dem Gedränge an der Ausgangstür zu erliegen - als er wahllos mit anhören musste, wie sich zwei seiner Klassenkameradinnen über Tenten unterhielten.
Neji versuchte sich an die Namen der beiden Mädchen zu erinnern, doch er wusste es schlichtweg nicht.
Die drei waren die letzten im Klassenraum, doch scheinbar bemerkten sie Nejis Anwesenheit nicht einmal, obwohl er direkt hinter ihnen saß.
„Tenten ist sonderbar“, sagte das eine Mädchen und strich sich eine ihrer blonden Haarsträhne aus der Stirn.
„Wieso sagst du so etwas? Du kennst sie doch gar nicht richtig“, verteidigte das andere Mädchen Tenten und fing an ihre Sachen einzupacken.
„Mein Sensei hat mir gesagt, dass mit Tenten etwas nicht stimmt und als ich ihn darauf angesprochen habe, meinte er, dass dies ein Geheimnis sei. Er selbst wusste auch nicht direkt was es war.“
„Das ist wirklich sonderbar“, sagte das braunhaarige Mädchen langsam.
Die Blonde nickte. „Ja, scheinbar weiß niemand, um was es sich handelt.“
„Hast du sie denn darauf angesprochen?“
„Nein, natürlich nicht.“ Sie schien schockiert. „Ich will mich ja nicht in ihr Privatleben drängen.“
Die beiden Mädchen standen auf, nahmen ihre Schultaschen und verließen weiter tuschelnd das Klassenzimmer.
Tenten hatte also ein Geheimnis. Deswegen weckte sie das Interesse der anderen, selbst das der Lehrer. Aber es war kein Wunder, dass Nejis Klassenkameraden Interesse zeigten, in diesem Alter wollte man alles wissen, da war Neji auch keine Ausnahme.
Neji stand ebenfalls auf, nahm seine Tasche und ging Richtung Tür. Er bemerkte eine braune Mappe, die ihr Lehrer scheinbar versehendlich liegen gelassen hatte, nahm sie aber nicht an sich.
Die Tür öffnete sich plötzlich und Tenten trat ein. Neji hatte nicht mit ihr gerechnet und er wusste nicht, wie er mit der Nachricht von gerade eben umgehen sollte. Doch auch sie schien überrascht zu sein, als sie Neji sah.
„Oh, ich dachte, dass keiner mehr hier wäre“, sagte sie und trat näher zu ihm.
„Soll ich dich alleine lassen?“
Er stellte fest, dass ein Zauber um sie herumschwirrte. Er konnte es nicht genau definieren, doch Tenten umgab etwas Geheimnisvolles.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie eigentlich noch nie ein Gespräch ohne Lee oder ihrem Sensei Gai geführt hatten und sie auch noch nie unter sich waren. Und dann schwirrten noch diese unbeantwortet Fragen im Raum.
„Nein, ich soll ohnehin bloß etwas holen. Unser Lehrer hat mich gebeten eine Mappe für ihn zu holen, da er sie vergessen hat.“
Tenten nahm die braune Mappe, die auf dem Lehrerpult lag und las das Etikett auf der Vorderseite.
„Das ist sie.“
Sie wollte schon wieder gehen, als Neji sie plötzlich am Arm festhielt. Nicht feste, aber bestimmt.
„Warte“, sagte er und ließ sie sofort wieder los. „Darf ich dich etwas fragen?“
Er musste sie einfach direkt darauf ansprechen. Es hatte keinen Sinn weiter herumzurätseln welche Heimlichkeiten Tenten verbarg.
„Natürlich“, sage das Mädchen und lächelte. „Worum geht es?“
„Ich habe gehört, dass du ein Geheimnis hast.“ Er kam sich etwas dämlich vor, im Grunde ging es ihn ja auch nichts an.
„Ja, ist doch etwas ganz Normales. Du hast doch sicher auch deine.“
Natürlich pflegte er auch Geheimnisse und würde diese um keinen Preis der Welt preisgeben. Dafür war er viel zu stolz. Eigentlich hatte er gar nicht das Recht sie danach zu fragen, doch wenn ihr Geheimnis so viel Aufsehen erregte, musste es sicher etwas Schlimmes sein und er wollte nicht, dass sie damit alleine leben musste. Neji schluckte schwer. „Warum erzählst du es niemanden?“
„Dann wäre es doch kein Geheimnis mehr“, sagte sie und lachte leise.
„Magst du vielleicht darüber reden?“
„Neji, du tust gerade so, als würde ich unter meinem Geheimnis leiden. Ich posaune es bloß nicht in die Welt hinaus.“ Sie hielt kurz inne und senkte verlegen den Blick. „Aber wenn du möchtest, kann ich es gerne mit dir teilen.“
„Würdest du es mir denn sagen?“
„Willst du es denn wissen?“, stellte sie eine Gegenfrage und sah wieder zu ihm rauf.
„Ja.“
„Dann erzähle ich es dir auch.“
Er war sichtlich irritiert. „Warum erzählst du es mir. Ich dachte, dass es geheim wäre und du es niemand sagst.“
„Bisher hat mich noch niemand darauf angesprochen.“ Sie lächelte unbeschwert, doch von einer Sekunde auf die andere wurde ihr Gesicht ernster und mit ruhiger Stimme begann sie Neji Stück für Stück ihr wohlbehütetes Geheimnis zu offenbaren…
---
Nun war es also raus. Tenten hatte ihm die ganze Wahrheit über sich erzählt, mit jeder Fassette ihres Lebens.
Nachdem er ihr Geheimnis kannte, war er sich nicht sicher, ob er darüber lachen oder ernsthaft schockiert sein sollte.
Vielleicht war es auch angebrachter traurig oder irritiert zu sein. Er wusste nicht, wie man mit so etwas normaler Weise richtig umging, wenn man selbst davon betroffen war.
Er versuchte es zu verdrängen.
Er fühlte sich elendig, da er soweit in Tentens Privatsphäre gerückt war.
Doch eigentlich durfte er sich keinen Vorwurf machen, immerhin hat sie es ihm freiwillig erzählt.
Nachdem ich sie gefragt hatte, rief er sich ins Gedächtnis zurück.
Als er den Grund für ihre Heimlichkeit wusste, sah er sie in einem völlig neuen Licht. Sie war quasi ein neuer Mensch für ihn geworden. Nicht das dies schlecht war, ganz im Gegenteil eigentlich.
Sie war nicht mehr so ein großes Mysterium für ihn und durch die Offenbarung waren sie sich ein Stück näher gekommen. Vielleicht waren sie sogar Freunde geworden, er wusste es nicht sicher, immerhin hatte er in seinem Leben nie ernsthaft Freundschaften gepflegt.
Aber eigentlich wollte er das Geheimnis nur noch vergessen, denn es war nicht für seine Ohren bestimmt und deswegen ging es ihn auch gar nichts an.
Manchmal war es besser das Geheimnis von seinem Gegenüber nicht zu kennen, denn jedes Mal wenn das Thema zufällig in einer Unterhaltung fiel, legte sich ein unangenehmes Schweigen zwischen die beiden.
Der Zauber der sich Anfangs um Tenten gelegt hatte, verflog für ihn recht schnell, da sie nicht mehr ein unbeschriebenes Blatt für ihn war. Doch für andere war der Zauber noch vorhanden.
Im Grunde, war Neji froh, dass er bislang der einzige war, der ihr Geheimnis kannte, denn nun verband ihn etwas mit Tenten.
Die anderen waren zu feige um sie direkt zu fragen und er selbst ebenfalls schwieg. Er hatte nicht das Recht es weiterzuerzählen und er wollte sie nicht bloßstellen, das war das letzte was er tun wollte, immerhin waren die beiden nun Freunde.
Er bekam mit, dass die anderen aus seiner Klasse noch Wochen später versuchten das Geheimnis seiner Teamkameradin zu erraten, allerdings hat dies bis jetzt noch niemand geschafft, nicht mal im Entferntesten.
Wären die Menschen nur etwas sorgfältiger, hätten sie auch ohne Hilfe erahnen können, welche Heimlichkeiten Tenten mit sich trug, denn es war nicht so, dass Tenten es versteckte, sie posaunte es bloß nicht in die Welt hinaus.
Doch leider haben die Menschen jeden Sinn für Aufmerksamkeit verloren.
Oder zählst du zu den bedachtsamen Menschen und hast du das Geheimnis bereits längst schon erraten?
