Prolog
“If you begin a journey of revenge, start by digging two graves: one for your enemy and one for yourself“
- Chinese proverb
'Thomas P. Browntool' war auf dem halb verrosteten Messingschild neben den Splittern einer ehemals wohl recht teuren Eichentür des Apartments 5b eingraviert worden. Eine der Schrauben lag irgendwo zwischen Rattendreck, Holz- und Gemäuerresten vergraben, die anderen schienen sich nur mehr mit Mühe halten zu können.
Wasserflecken und Schimmel zogen sich wie ein feines Muster die kaum mehr verputzen, grau-braunen Wände hinauf und hinunter, nur aufgehalten durch den vielen Stahl, der im Bau der Gebäude jenes Zeitalters benutzt worden war. Doch selbst Stahl hatte nicht auf Ewig dem wiederstehen können, was kommen hatte müssen. Gebogen und aus der Form gebracht durch die extreme Hitze des Tages und die nicht minder extreme Kälte der Nacht, rostend, im Krieg zertrümmert, eingerissen, verdreht und eingedellt.
Schon lange gab es nichts mehr, das noch von Bestand war.
Im Staub gut zuerkennen waren Fußabdrücke, recht groß, aber profillos. Das leicht bläuliche Licht eines Bildschirms flackerte kaum mehr erkennbar durch den eingestürzten Türrahmen auf den Gang hinaus. Von einer Sekunde auf die nächste erlosch selbst dieses Zeichen von Zivilisation, von Leben ...
Was blieb war das Nichts, die Angst, die die ganze Welt in ihrem eisigen Griff hielt.
Der ehemalige Besitzer des Apartments 5b war am Leben – noch -, doch wie jeder andere hatte auch er seine wenigen, verbliebenen Habseligkeiten gepackt und war in den Untergrund gegangen.
So anpassungsfähig der menschliche Körper auch war, nach dem Zusammenbruch der Ozonschicht und der zeitweise totalen Verdunkelung der Sonne durch Explosionsrückstände, Staub und Gase war das Leben an der Oberfläche nicht mehr zu ertragen ...
Temperaturen von tagsüber bis zu 50 Grad Celsius, nachts nur knappe -5 Grad. Nichts, dass man nicht mit ein paar technischen Spielereien hätte beheben können, aber...
Freiwillig wollte sowieso niemand an die Oberfläche. Da war nichts, was es wert wäre, bloß die Angst, eventuell auf einen Wachtrupp oder ein paar Späher von IHNEN zu treffen.
Statt dessen versuchten die überlebenden 3% der einst ach so überlegen geglaubten Rasse Homo Sapiens, sich zu organisieren.
Man hatte angefangen, sich durchzunummerieren, jedes Neugeborene bekam eine neunstellige Ziffer auf den Unterarm und die Alten mussten wohl oder übel auch durch eine solche Prozedur. Nicht, dass es sonderlich viele Neugeborene gab, die Giftgase in der Luft und die allgemeine Lebenssituation hatten 2/3 der weiblichen Bevölkerung unfruchtbar werden lassen. Auf der anderen Seite, wer hätte es verantworten können, ein Kind in eine solche Welt zu stoßen? Eine Welt, in der die Sonne am Horizont die Größe eines bläulich grünen Gymnastikballes hatte?
Thomas Peter Browntool – Kennnummer 000876099 - schüttelte leicht den Kopf und drehte sich weg. Er hatte diese Gedanken schon zu oft durch gewälzt, sich Vorwürfe gemacht, nur um sich im nächsten Atemzug einzugestehen, dass es nicht seine Schuld gewesen sein konnte.
SIE hatten sie erwischt...
Niemand konnte IHNEN entkommen.
„Hörst du mir eigentlich zu?“ Cloudes Stimme riss ihn zurück in die nicht wesentlich bessere Realität. „Tut mir Leid, ich... hab etwa nach der Erwähnung des Kabelbrandes den Faden verloren...“ Knochige, bleiche Hände fuhren durch strähniges, halblanges braunes Haar.
Cloud Noir – Kennnummer 005879115 - sah seinen Freund nur traurig an. Der geborene Franzose war vor etwa dreieinhalb Jahren nach London gekommen, zusammen mit vier weiteren seiner Sippschaft, die im Pariser Metro-Netz untergekommen gewesen war.
SIE hatten das ‚Nest’ gefunden und sie abgeschlachtet wie die Tiere... Doch Cloud war ein freundlicher, einfühlsamer und vor allem belesener alter Mann und hatte so in der Sippschaft in London einen neuen Platz als Lehrer gefunden.
„Sie konnten die Leitung reparieren. Nichts ging verloren, wir haben die Daten aus Athen und Rom erhalten. Bisweilen haben wir also... 16 Sippschaften in Europa zu verzeichnen. Jeweils mit etwa... 100 bis 200 Personen. Ana hat mir versprochen, in Moskau nach den Asia-Daten zu fragen... Du hörst doch schon wieder nicht zu, Thomas!“
Ertappt mochte sich eine feine Röte auf den ausgemergelten Wangen des an sich jungen Computertechnikers ausbreiten, er schob ungelenk die verbeulte Brille auf seiner Nase hoch. „Das Netzwerkprojekt ist dein Baby... Ich weiß nicht, was passiert ist, aber es beunruhigt mich, zu sehen, wie du alles schleifen lässt. Es war deine Idee, die Stromleitungen anzuzapfen, es war deine Idee, die alten Münztelefone auszuprobieren!" (eine Technologie die so veraltet ist, dass SIE niemals daran denken würden, diese Art der Kommunikation abzuhören)
„Du weißt, dass ich das nur für dich mache!“, nuschelte Thomas leise, kratze sich erneut am Hinterkopf. „Aber... Cloud, ich denke nicht, dass wir ihn finden werden“
Der alte Mann seufzte leise, ließ sich zurück auf die Flaschenkiste sinken, die er sich zu Beginn des Gesprächs aus der hinteren Ecke des ehemaligen Lagerraumes herangezogen hatte. „Ich werde nicht aufgeben... Er war nicht unter den Leichen, irgendwo muss er doch sein“
Mitgefühl wallte im Herzen des Engländers auf, nur kurz ehe es von seinem eigenen Schmerz geschluckt wurde. Sie alle hatten Familie verloren... Die einen mehr, die anderen weniger.
