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Caileen, die Drachenprinzessin

von

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Prolog

Der Krieg hatte die sonst so grüne Ebene in ein Schlachtfeld verwandelt. Bäume standen in Flammen, die Erde war rot vom Blute, ein Abgrund ward in die Erde gerissen und vereinzelt konnte man noch das Stöhnen der Sterbenden und Verletzten hören. Sie hatten den Kampf gewonnen, endlich, doch für einen hohen Preis. Sie hatten viele tapfere Krieger verloren, Männer wie auch Frauen. Das Feuer der Drachen hatte die Landschaft verkohlt, bis sie nicht mehr wieder zu erkennen war, und die Asche den Himmel verdunkelte. Der Geruch des Blutbades lag noch immer in der Luft.

Wankend richtete dich Daeron, der Hauptmann der Smaragdgarde, auf und stützte sich auf sein Schwert. Die Wucht eines Gegners hatte ihm das Bein gebrochen, sodass er nun alle Mühe hatte, sich aufrecht zu halten. Mit einem Pfeil und Fetzen seines Hemdes versuchte er, seine Verletzung provisorisch zu schienen. Die Heiler hatten schlimmere Fälle zu behandeln, seine Ehre verbat es ihm, sich da jetzt wegen einer solchen Lappalie in den Vordergrund zu drängen. Außerdem hatte er noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Der Schmerz pochte und pulsierte in seinem Bein, während er langsam voranhumpelte. Aber er durfte nicht aufgeben, durfte sich nicht ausruhen. Er musste sie finden, ehe es zu spät war. Mit Schrecken malte er sich aus, wie sie, Caileen, die Prinzessin von Dorien, schwer verletzt und vielleicht dem Tode nahe auf dem Schlachtfeld lag und unfähig war, ihm ein Zeichen zu geben. Er würde es sich nie verzeihen, wenn sie seines Versagens wegen starb.

Seine Augen glitten über die Ebene. Er versuchte Caileen ausfindig zu machen, doch er fand sie nirgends. Nicht unter den Gefallenen, nicht bei den Heilern, nicht einmal bei den Drachenreitern war die Prinzessin zu finden. Verzweifelt blieb er stehen. Er schloss die Augen und ließ die letzten Stunden noch einmal an ihm vorüber gleiten. Er hatte Caileen aus den Augen verloren, als er einem Pfeil ausgewichen war, der ihm beinahe das Herz durchbohrt hätte. Dann erinnerte er sich an eine Wolke aus Schwefel, die sie alle eingeschlossen hatte. Als sich das übel riechende Gas endlich wieder gelegt hatte, war er so in den Kampf verwickelt und seine Sinne so benebelt gewesen, dass er völlig außer Stande gewesen war, nach Caileen zu suchen. Doch nun war er wieder bei vollem Bewusstsein, verletzt, aber am Leben und würde erst ruhen, wenn er die Prinzessin gefunden hatte. Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Dort, in dem Abgrund, der Narbe, die das Land davon getragen hatte, flatterte eine Strähne feuerroten Haares. Entgeistert riss der Hauptmann die Augen auf. Das waren Caileens Haare! Mit einem Mal hatte er all seine Schmerzen vergessen und lief ohne zu zögern auf den Abgrund zu. Und tatsächlich, es war Caileen! Ihre goldene Rüstung hatte viele Dellen, ihr smaraktgrüner Umhang war zerschlissen, blutgetränkt und hatte wohl mehr als einmal Feuer gefangen, auf ihrer Stirn zeichnete sich das Rinnsal einer Kopfverletzung ab, aber immerhin war sie am Leben. Mit all ihrer Kraft hielt sie sich an einem allmählich bröckelnden Vorsprung fest. Bald würde er sie nicht mehr halten und mit sich in die Tiefe reißen.

„Prinzessin, nehmt meine Hand!“, Daeron dachte gar nicht erst nach, sondern warf sein Schwert, das ihm als Gehhilfe gedient hatte, bei Seite und ließ sich auf den Boden fallen, um sich vorzubeugen und nach ihrer Hand zu greifen. Doch Caileen zögerte.

„Lass mich zurück, Daeron, es hat keinen Sinn! Du bist zu schwach, um uns beide zu halten!“

„Aber ich lasse Euch nicht zurück!“, antwortete er verzweifelt und versuchte immer noch, Caileens Hand zu ergreifen.

„Ich bitte dich, die anderen brauchen dich dringender. Und selbst, wenn du mich halten könntest, der Vorsprung könnte es nicht; er würde uns beide mit sich reißen. Du kannst nichts mehr für mich tun!“

„Ihr seid die Prinzessin!“, entgegnete er und schaffte es endlich, ihre Finger zu umschließen. „Es ist meine Pflicht, Euch zu retten!“

„Und es ist die Pflicht einer Prinzessin, für ihr Volk zu sterben“, flüsterte Caileen und ließ Daeron los, „Lebe wohl…“

Entsetzt sah der Hauptmann zu, wie Caileen, die Prinzessin von Dorien, die Frau, für die er alles dahin geworfen hätte, die ihm wichtiger war als alles andere auf der Welt, sich fallen ließ und in die Finsternis stürzte. Er konnte es nicht glauben. Wie erstarrt blickte er ihr nach, nicht in der Lage, zu handeln. Dann rief er, rief ihren Namen in der Hoffnung, er läge wegen seiner Verletzungen im Fieber und träume das alles nur. Eine halbe Ewigkeit saß er da und konnte nichts anderes tun, als ihren Namen zu rufen und auf den Vorsprung zu starren, an dem sie eben noch versucht hatte, sich hochzuziehen.

Ankunft in der Stadt

Gähnend erwachte Kazary aus einem unruhigen Schlaf. Erneut hatte sie solch seltsame Träume, Nacht um Nacht, ein und dasselbe, immer wieder, doch wusste sie nie, was es bedeuten sollte. Sie schüttelte den Kopf, um wieder klaren Verstand zu fassen. Es war ein Traum, nichts weiter.

Jemand rief ihren Namen. Mit einem Satz schwang sie sich aus ihrem Bett und ging zum Fenster ihres Zimmers hinüber. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, es versprach ein warmer und sonniger Tag zu werden, geeignet für einen kleinen Ausflug.

„Kazary!“

Wieder hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Eilig zog sie sich an und lief die Treppe des kleinen Hauses hinunter in die Küche um zu sehen, wer sie rief.

„Ihr seid heute aber recht spät auf, geht es Euch auch gut?“, es war Alyssa, die älteste und einzige Tochter des Hauses. Sie lächelte fröhlich.

„Nein, alles in bester Ordnung…“, antwortete Kazary knapp und setzte sich an den rustikalen Holztisch. Alyssa reichte ihr Brot und Käse, welche sie dankend annahm.

Dreißig Jahre lang lebte Kazary nun schon in der kleinen Menschensiedlung am Rande eines Wäldchens fernab der großen Städte. Sie war zwar eine Elfe, wurde aber von den Menschen hier als eine der ihren anerkannt. Wie sollte es auch anders sein, sie waren ihre Familie! Nur schwer konnte sie sich an das erinnern, was gewesen war, bevor sie die Dorfbewohner gefunden hatten. Alles, was sie noch wusste, war, dass Krieg gewütet hatte, dass sie verletzt wurde, dass sie gefallen war, ehe alles schwarz geworden war. Dann hatten sie die Einwohner der Siedlung gefunden und ihre Wunden versorgt. Ein Jahr lang hatte sie im Koma gelegen, ohne auch nur ein Lebenszeichen von sich zu geben. Als sie schließlich erwacht war, hatte sie keine Ahnung mehr, wer sie war, oder woher sie gekommen war. Dafür verfolgte sie ständig der Traum von diesem schrecklichen Krieg. Die Dorfbewohner konnten auch nicht viel Auskunft geben, lediglich an ihrer Kleidung, dem smaraktfarbenem Stoff und dem goldenen Harnisch, erkannte man sie als eine Kriegerin aus der Schlacht mit den Dunkelelfen. Was auch immer damals gewesen war, sie hatte beschlossen, ein neues Leben zu beginnen, und so gab man ihr den Namen Kazary und nahm sie in der Gemeinschaft auf. Seit dem wohnte sie im Hause dieser Familie und hatte Generationen verstreichen sehen. Auch Alyssa kannte sie schon seit ihrer Geburt. Äußerlich sah sie ihren Brüdern ähnlich, hatte kurzes, braunes Haar, Sommersprossen und ein freches Lächeln im Gesicht. Mit der Zeit waren Alyssa und Kazary Freunde geworden und standen sich so nahe wie es Schwestern waren.

Als sie mit dem Essen fertig war, holte die Elfe ihren Köcher und lief hinaus ins Freie. Sonst hatte sie immer Zeit, mit den Leuten zu reden und sich nützlich zu machen, heute jedoch hatte sie eine wichtige Verabredung. Deshalb hielt sie sich nicht lange auf, sondern ging den Feldweg, der durch die Siedlung verlief, entlang in Richtung Wald. Während sie weiter geradeaus ging, glitt ihr Blick zum Himmel. An den ersten Ausläufern des kleinen Waldes machte sie Halt und lehnte sich gegen Stamm einer hohen Eiche. Sie warmen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach fielen, blendeten sie, sodass sie sie Augen zu Schlitzen verengte, um etwas sehen zu können.

Eine ganze Weile tat sich nichts. Die sanfte Brise des Hochlandes, in dem die Siedlung lag, spielte in den Ästen und in ihrem Haar, Vögel sangen das gewohnte Morgenlied und das Lachen der Kinder drang bis zu ihr hin. Ein gewohnter Klang, dem sie immer gerne lauschte. Sonst tat sich aber nichts. Bis schließlich ein Schatten am Himmel aufstieg und die Sonne für einen kurzen Augenblick verdunkelte. Kazary, die eben noch verträumt den Stimmen des nahen Dorfes gelauscht hatte, riss die Augen auf und folgte mit ihrem Blick dem Schatten, der immer näher zu kommen schien. Ihr Herz pochte vor Freude, während sie einige Schritte zurück in die Ebene lief, um besser sehen zu können.

Mit kräftigem Flügelschlagen kam der Schatten auf sie zu, bereits jetzt konnte sie schon seine grünliche Färbung ausmachen. Freudig beobachtete sie, wie ein großes Drachenweibchen vor ihr landete.

„Verzeih mir meine Verspätung!“, hörte Kazary die Stimme des Drachen in ihrem Kopf.

„Es gibt nichts zu verzeihen, Arsinoe!“, entgegnete sie mit einer abtuenden Geste.

Kazary kannte Arsinoe schon sehr lange. Sie war es gewesen, die ihren regungslosen Körper zu den Menschen gebracht hatte, und einer der Gründe, weshalb man sie sehr achtete. Nur wenige Wesen waren auserwählt, den Bund mit einem Drachen einzugehen, für solch eine Ehre und ein so hohes Schicksal musste man geboren sein. Es war überall bekannt, dass alle Drachenreiter des Reiches dem Befehl des Herrschers unterstanden und für die Sicherheit Doriens verantwortlich waren. Sie wurden verehrt und angesehen wie die Helden aus alten Legenden, doch dafür zahlten sie auch einen Preis: Ihre Freiheit. Ein Drachenreiter musste immer bereit sein, sein Leben für sein Volk hinzugeben und seine Heimat zu schützen ohne, dass er an sich selbst dachte.

Ein solches Leben wirkte für Kazary fremd. Vielleicht mochte sie mal eine Drachenreiterin gewesen sein und war in den Krieg ausgezogen, doch nun erinnerte sie sich an nichts mehr. Sie hatte Arsinoe bereits öfter gefragt, ob sie auch vor dem Krieg in diesem Bündnis gestanden hatten, wollte wissen, ob Arsinoe etwas über ihre Vergangenheit wusste und wenn ja, wer sie war und woher sie kam, aber das Drachenweibchen schwieg jedes Mal. Letztendlich hatte die Elfe aufgegeben und ihr Leben einfach so hingenommen, wie es war. Vielleicht hatte sie jetzt ein besseres Leben als früher!

Seufzend schnallte sie sich ihren Köcher mitsamt Bogen um und schwand sich mit einem Satz auf Arsinoes Rücken. Der Drache schlug ein paar Mal kräftig mit denn Flügeln, ehe er sich erhob und gemeinsam mit der Elfe davon flog.

Eingehend betrachtete Kazary die Landschaft unter sich. Der Wald und das Dorf schwanden allmählich, wurden immer kleiner, je höher sie flogen. Sie folgten dem Lauf eines Bachs, der sich vom Gebirge her durch die saftigen wiesen der Hochebene schlängelte.

„Ich habe Lavinia und Silayn bereits ausgemacht, sie warten bei der Narbe auf uns“, erklärte Arsinoes Stimme in den Gedanken der Elfe.

Kazary nickte.

Der Bach unter ihnen verband sich mit anderen Läufen und wurde immer breiter. An einer Stelle ragten Gesteinsnadeln von seinem Grund herauf, eine gefährliche Stromschnelle für Fährmänner und leichtsinnige Leute. Eine Zeit lang harrte der Blick der Elfe auf der spiegelnden Oberfläche des Wassers unter ihnen, dann wandte sie sich dem Schauspiel vor ihnen zu. Das Land wurde ebener, je mehr sie sich dem Gebirge entfernten. Bald ereichten sie ein weitläufiges Tal, das noch von einigen Hügeln umgeben wurde. Hier teilte sich der Fluss. Ein Arm sammelte sich in der Mitte des Tals zu einem See, der andere Arm bahnte sich weiter seinen Weg nach Südosten. Sie folgten ihm noch einige Meilen und wandten sich dann etwas weiter nach Westen.

„Ich kann immer noch kaum glauben, dass der Krieg solch verheerenden Schaden angerichtet hat“, sprach Kazary beiläufig, als sie die Aschefelder überflogen. Hier hatte der Krieg gewütet, vor über dreißig Jahren. Die Wunden, die die große Schlacht in die Landschaft geschlagen hatte, begannen jetzt erst, zu verheilen. Vor zehn Jahren noch lag die gesamte Ebene als totes Land da und die meisten Leute mieden sie. Nun schienen die ersten Gräser zu sprießen und sich wie ein grüner Schleier über die Asche zu legen. Trotzdem bezweifelte Kazary, dass dieses öde Land je wieder so fruchtbar und schön sein würde wie einst. Manche Wunden verheilten nie. Zu diesen Wunden gehörte auch die Narbe, ein tiefer Abgrund, der durch das Wüten der Urgewalten während des Krieges in die Erde gerissen wurde. Jedes Mal, wenn Kazary in seine Nähe kam, wurde sie das seltsame Gefühl nicht los, dass sie hier schon einmal gewesen war, dass sich hier etwas zugetragen hatte, was ihr Herz zu vergessen versuchte.

„Flieg tiefer, Arsinoe!“, rief sie gegen den Wind an, der durch das Schlagen der Flügel verursacht wurde.

In Sturzflug eilte das Drachenweibchen dem Erdboden entgegen, bis sie nur noch wenige Meilen in der Luft waren. Nun eröffneten sich Kazary genauere Einzelheiten. Unter den Grasflecken auf dem trüben grau-braunem Boden fanden sich sogar vereinzelte kleine Wiesenblumen. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung, dass die Aschefelder wieder zu ihrer alten Schönheit gelangten.

Jemand winkte ihnen zu und rief Kazary´ s Namen. Die Augen der Elfe suchten das Feld ab. Schließlich fand sie die rufende. Auf ein knappes Wort hin ließ sich Arsinoe weiter fallen, bis sie schließlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten.

„Da seid ihr ja!“, kam ihnen eine Elfe mit schulterlangem, dunkelblonden Haar und Oliv- farbenen Augen entgegengelaufen, „Silayn und ich warten schon seid einer halben Ewigkeit!“

„Verzeih, Lavinia“, entgegnete Kazary kurz und begrüßte die Elfe herzlich.

Dies war Lavinia, eine Drachenreiterin im Dienste des Königs und eine alte Freundin von Kazary. Sie hatten einander vor etwa zwanzig Jahren kennen gelernt, als Kazary einen Flug über die Hauptstadt von Dorien gewagt hatte. Lavinia selbst war erst nach dem Krieg als vollwertige Reiterin in der Armee aufgenommen worden, sodass sie nicht sagen konnte, ob sie Kazary aus der Zeit vor den Kämpfen mit den Dunkelelfen kannte. Doch Lavinia kannte sich gut aus und setzte alles daran, ihrer Freundin zu helfen.

„Und was wolltest du mir so wichtiges sagen?“, fragte Kazary neugierig.

Lavinia lächelte: „Ich habe gute Neuigkeiten. Heute findet eine große Veranstaltung im Palais des Königs statt, ein Fest. Ich habe mit meinem Hauptmann gesprochen und er würde dich gerne kennen lernen und am Hofe vorstellen. Vielleicht wirst du ja offiziell in der Garde aufgenommen!“

„Interessant…“

Während Kazary wieder zu Arsinoe herüber ging, stieß Lavinia einen lauten Pfiff aus. Wenig später ließ sich ein weiteres Drachenweibchen auf der Ebene nieder. Sie war etwas kleiner als Arsinoe und etwas gräulicher, doch immer noch deutlich als eine der Drachen von Dorien zu erkennen.

„Dann mal auf, meine schöne!“, hielt Lavinia Zwiesprache mit ihrer Blutsschwester.

Kazary hätte gerne gewusst, was die beiden so besprachen, aber die Fähigkeit, in Gedanken zu einander zu sprechen, beschränkte sich nur auf die Bündnisse zwischen Reitern und Drachen. Sie selbst konnte nur mit Arsinoe kommunizieren und jeder andere nur mit seinem Bündnispartner. Deshalb erzählten sich die Reiter oft untereinander, was sie beredeten, oder die Drachen berichteten ihren Partnern, was ihre Artgenossen erzählten. So waren sie alle immer auf ein gutes Verhältnis zueinander angewiesen.

Beide schwangen sich auf die Rücken der Drachen und hoben ab. Sie flogen wieder etwas nach Norden, an dem Tal vorüber, das die rothaarige Elfe heute schon einmal passiert hatte. Dann wandten sie sich weiter nach Osten, tiefer ins Gebirge. Auf ihrem Weg überflogen sie Bergseen und düstere Nadelwälder, in denen der Nebel rauchte. Der schwere Geruch des Harzes stieg Kazary in die Nase. Allmählich wurden die Berge höher. Auf einigen Kuppen war bereits Schnee zu erkennen. In der ferne sahen sie bereits, wie sich das Gebirge wieder abflachte. Bald würde es sich zu einem Ring öffnen und ein Riesiges Tal frei geben, das an der einzigen Stelle, wo die Berge wichen, von einem kristallklaren See begrenzt wurde.

„Schau, Kazary, das erste Tor!“, hörte sie Lavinia gegen den Wind anrufen.

Und tatsächlich, inmitten des Tals erhoben sich steinerne Mauern und ein mehrere Mann hohes Tor. Für einen Augenblick hielten sie Zwiesprachen mit den beiden Drachen und setzten dann zur Landung an. Kaum, dass sie abgesessen hatten, kam ihnen eine Wache entgegen, genau wie die Drachenreiter trug auch er eine grüne und goldene Tracht, wenn sie auch anders geschnitten war und schwerer wirkte.

„Eure Namen!“, forderte er sie auf.

An seiner Stimme und seinem Akzent erkannte Kazary ihn als einen Menschen.

„Lavinia vom Dorf am Kristallsee, im Bund mit Silayn“, stellte ihre Freundin zuerst sich selbst vor und nannte dann ihren Namen, „Und Kazary aus den Hochlanden, im Bunde mit Arsinoe.“

Wie es die Etikette und Tradition vorgaben, legte Kazary ihre Faust auf ihr Herz und verbeugte sich. Der Wachmann nickte und schritt wieder zurück zu seinem Kameraden, um den Befehl zu geben, das Tor zu öffnen. Die beiden Elfen verabschiedeten sich vorerst von ihren Blutsschwestern und betraten die Stadt.

Die Stadt war so anders als das kleine Dorf, in dem Kazary lebte. Etliche Häuser mit mehreren Stockwerken reihten sich an den überfüllten, mit grauen Steinen gepflasterten Straßen auf, Marktplätze tummelten sich an einigen Ecken, Kinder verschiedenster Rassen spielten laut lachend und gelegentlich sah man einen Krieger in gold-grüner Rüstung.

Kazary verstand nicht, wie Lavinia den nie anhaltenden Lärm ertragen konnte. Bereits jetzt musste sie sich die Ohren zuhalten. Aber Lavinia kam vom Kristallsee, dem großen Gewässer, das vor der Stadt lag, und kam schon seid ihrer Kindheit regelmäßig in die Hauptstadt. Sie war es daher schon gewohnt.

Dankbar, dem Getöse zu entkommen, ließ die Elfe zusammen mit ihrer Freundin den ersten Ring der Stadt hinter sich und betrat den inneren Ring der Stadt. Dies war der Sitz der Adligen, der Ritter und des Herrschers. Auch hier eilten die Leute aus dem äußeren Stadtring umher, doch anders als weiter draußen, redeten sie hier leiser und bei weitem gepflogener. Der innere Ring bestand hauptsächlich aus Gärten, sauberen Wegen, Pavillons, weiß verputzten Wohnhäusern und Stallungen. Am hinteren Ende erstreckte sich eine Art Bogengewölbe über den unteren Ring, sodass das Schloss Tirganach, der Sitz des Herrschers, zum Teil ins Gebirge hinein verlief.

Kazary´ s Blick fiel auf eine kleine Patrouille, die auf das innere Stadttor zustrebte. An ihrer Tracht erkannte sie, dass es ebenfalls Drachenreiter sein mussten. Lavinia nickte ihr kurz zu und führte sie sie zu der kleinen Gruppe herüber.

Stramm legte die blonde Elfe die Faust auf ihre Brust und grüßte ihre Kameraden: „Lavinia vom Dorf am Kristallsee, im Bunde mit Silayn, meldet sich zur Bereitschaft.“

„Schön, dass du es noch geschafft hast, Lavinia!“, entgegnete ihr ein Elf mit Fasanenfedern geschmückten Helm; er hatte anscheinend das Kommando über die Truppe.

„Und wie versprochen, habe ich sie mitgebracht, Hauptmann“, erklärte Lavinia, während der Hauptmann seine Reiter vorausschickte.

Dann führte er sie etwas abseits des Weges, um nicht die anderen Passanten zu behindern. Langsam nahm er den Federn verzierten Helm ab. Strähnen dunkelbraunen Haares fielen ihn bis eben auf die Schultern. Ein warmherziges Lächeln lag auf seinen Lippen, obwohl seine Haselnuss braunen Augen von Trauer und Leid sprachen.

Heiter und vergnügt machte Lavinia die beiden miteinander bekannt: „Hauptmann, dies ist Kazary aus den Hochlanden, im Bunde mit Arsinoe. Kazary, dies ist Daeron vom alten Wald, Hauptmann der Smaraktgarde und der ersten Wacht im Bunde mit Falrach.“

„Sehr erfreut, Herr“, Kazary legte, genau wie Lavinia vor ihr, ihre Faust auf die Brust und verneigte sich.

Was der Hauptmann nun jedoch tat, verwunderte die Elfe sehr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an, als sähe er einen Geist. Er öffnete den Mund, so, als wollte er etwas sagen, schloss ihn aber wieder und schwieg, sie weiterhin anstarrend. Nur mit Mühe wandte er sich von ihr ab.

„Wo…wo hast du sie aufgegabelt, Lavinia?“

„Ich habe sie vor einigen Jahren draußen vor der Stadt kennen gelernt, Silayn hat mich zu ihr geführt“, erklärte sie ihm, „Sie lebt bei den Menschen in der Siedlung nördlich der Narbe.“

Daeron nickte und blickte kurz zu Kazary herüber: „Sie sieht ihr zum verwechseln ähnlich.“

„Hauptmann, ich wollte um Erlaubnis bitten, dass Kazary mich auf die Festveranstaltungen begleiten kann, damit sie das städtische Leben besser kennen lernen kann. Sie ist eine der freien Reiter, die noch nicht an den Eid gebunden ist, doch sie ist überaus begabt und könnte uns eine Hilfe sein. Und außerdem…“

Die letzten Worte, nämlich dass Kazary herausfinden wollte, welches ihr altes Leben war, sprach Lavinia aus einem für die Elfe unverständlichem Grund nicht aus.

Der Elf jedoch antwortete nicht, sondern blickte weiterhin unverhohlen die rothaarige Elfe an. Kazary war unwohl zu Mute dabei, so angestarrt zu werden. Vielleicht wäre sie besser nicht auf Lavinias Vorschlag eingegangen, ihren Bund mit Arsinoe öffentlich zu machen und nach dem Fest zu fragen. Doch Lavinia wiederholte bereits: „Hauptmann, habt Ihr gehört? Was sagt Ihr?“

„Ich… äh ja, Erlaubnis erteilt“, redete der Hauptmann wie aus den Gedanken gerissen, „Wir treffen uns dann heute Abend in Gasthaus zur alten Eiche noch vor den Festlichkeiten. Dann können wir ja den genaueren Verlauf bereden. Wenn ihr mich nun entschuldigt, die Pflicht ruft.“

Mit diesen Worten setzte er sich wieder seinen Helm auf und eilte davon. Überrascht sah Kazary ihm nach, bis er hinter dem inneren Stadttor verschwand.

Als sie endlich unter sich waren, wagte sie wieder das Wort zu heben: „Weshalb hat er mich so seltsam angesehen, er wirkte völlig verstört…“

„Seid dem Krieg ist der Hauptmann sehr angeschlagen“, erklärte ihr Lavinia, „Seine Geliebte ist damals umgekommen. Es war ein schwerer Schlag für ihn, von dem er sich immer noch nicht erholt hat.“

„Und was habe ich damit zu tun?“

„Du siehst ihr scheinbar sehr ähnlich“, seufzte sie und schüttelte den Kopf.

Gemeinsam liefen sie die sauber gefegten Straßen der inneren Stadt entlang und erfreuten sich der Aussicht. Eine Weile schwiegen sie, bis Kazary wieder zu fragen begann.

„Wer war sie?“

„Seine Geliebte?“, wunderte sich Lavinia, „wieso interessierst du dich dafür?“

„Du weißt, ich war damals auch im Krieg, vielleicht habe ich sie ja gekannt, war mit ihr befreundet oder sogar mit ihr verwandt… ich habe das Gefühl, dass sich etwas in mir erinnern möchte, es aber noch nicht stark genug ist…“

„Ich glaube kaum, dass du sie gut gekannt haben konntest. Sie war Caileen, die Prinzessin von Dorien und die Schwester des dies zeitigen Herrschers. Normalerweise steckt der Hauptmann vieles weg, doch er verkraftet es nicht, dass er sie nicht hatte retten können.“

„Und wie stand es um die Prinzessin? So, wie er vorhin geschaut hatte, schien sie seine Liebe nicht erwidert zu haben.“

„Sie hat es nie erfahren“, sprach Lavinia betrübt, „Der Hauptmann war schon immer besessen von dem Gedanken, dass das Herrenhaus weit über einem gewöhnlichen Krieger steht. Für ihn wäre es undenkbar gewesen, dass Caileen etwas für ihn empfunden hätte. Er hat es vorgezogen, sie aus der ferne zu bewundern und ihr so gut zu dienen, wie es nur möglich war.“

Kazary lächelte schelmisch: „Höre ich da einen Anflug von Neid?“

„Na ja… vielleicht schon etwas…“, stammelte sie verlegen und lief dabei rot an, „Aber…aber das wärst du auch, wenn du ihn schon von klein auf kanntest!“

„Schon gut!“, versuchte Kazary ihre Freundin zu beruhigen.

Die beiden Elfen beschlossen, dass sie den Hauptmann bis zum Abend hin nicht mehr erwähnen würden, und stattdessen den sonnigen Tag zu genießen. Glücklicherweise wurde Lavinia nicht zum Dienst berufen und konnte sich den Tag frei nehmen. Diese Gelegenheit nutzten sie, um endlich wieder einmal unter ihrem Lieblingsbaum am See zu sitzen und verträumt auf Wasser hinaus zu schauen.

„Nicht mehr lange, und der Herbst wird kommen“, bemerkte Kazary beifällig, während sie ihre Beine anzog und die Arme um die Knie schlang.

Lavinia nickte. Eine Weile lang schwiegen die beiden. Sie wussten beide, was der Herbst für Entscheidungen brachte. Es hatte wieder Kämpfe gegeben, es war nicht unbekannt, dass König Meleander bald mit einem neuen Angriff rechnete, und diesmal würde auch Lavinia an der Front kämpfen müssen, das erste Mal. Auf Kazary wartete jedoch die Erntezeit in ihrem Dorf. Sie würde dann wohl keine Zeit mehr finden, ihre Suche fortzusetzen. Ihre einzige Hoffnung war es, dass der König sie als Drachenreiterin anerkannte, damit sie zumindest während der hellen Hälfte des Jahres in der Stadt verkehren konnte, wie es ihr beliebte.

„Ich weiß nicht warum, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es das Schicksal gut mit uns meint“, seufzte ihre Freundin ohne den Blick von der spiegelglatten Oberfläche des Sees abzuwenden. In ihrem Tonfall lag ein Lachen, doch Kazary wusste, dass Lavinia den Tränen nahe stand. Normalerweise vermochte nichts ihr die Laune zu trüben, war immer voller Energie und Tatendrang, doch nun wirkte sie verändert. Lavinia hatte während des letzten großen Krieges ihre beiden Brüder verloren und fürchtete nun, selbiges zu erleiden.

„Du weißt so gut wie ich, Kazary, dass ein Drachenreiter sich sein Leben nicht aussuchen kann. Der Bund hat mich erwählt, einige Zeit lang durfte ich seine Schönheit genießen und nun muss ich auch die dunklen Seiten in Kauf nehmen.“

„Da magst du wohl Recht haben“, stimmte sie Lavinia zu.

„Vielleicht sehe ich das alles aber auch zu pessimistisch. Schließlich bin ich eine Drachenreiterin, eine der gefeierten und verehrten Hüter unseres Landes, und wenn jemand diese Unholde von Dunkelelfen besiegen kann, dann wir!“

Bei diesen Worten sprang sie auf und stolzierte laut lachend umher. Selbst Kazary musste lächeln. Lavinia war eine talentierte Kriegerin, für sie bestand kein Zweifel daran, dass sie den Angriff unbeschadet überleben würde. Sie jedoch würde in ihrem Dorf bleiben müssen, um ihre Familie zu unterstützen. Vielleicht war es ja auch eine glückliche Fügung des Schicksals, dass ihr weitere Blutbäder erspart bleiben sollten. Vielleicht brauchte sie auch gar nicht vor den König geführt und als Reiterin anerkannt werden. Sie hielt zwar viel von Pflicht und Ehrgefühl, aber bei dem wenigen, an das sie sich noch erinnerte, zog sie es vor, zumindest noch etwas länger die Freiheit mit Arsinoe genießen zu dürfen.

Geheime Pfade

Als am Abend endlich die Sonne unterging, schlichen die beiden Elfen durch die allmählich ruhigeren Straßen es äußeren Stadtrings. In der Hoffnung, dass keiner großartig Notiz von ihnen nehmen würde, hatte Lavinia zuvor noch ein Paar alter brauner Umhänge besorgt, durch die sie wie zwei gewöhnliche Elfenweiber aussahen, die noch verspäteten Geschäften nachgingen.

„Was soll dieses Verkleidungsspiel, Lavinia?“, flüsterte Kazary, nachdem sie einen Trupp von Wachen umgangen hatten und nun wieder alleine waren.

„Das wirst du noch früh genug sehen, komm!“

Wie zwei dunkle Schatten huschten sie durch die Gassen, versteckten sich gelegentlich hinter einer Häuserwand oder wichen einigen Leuten aus, bis Lavinia schließlich Halt machte.

„Da wären wir“, sie deutete auf ein herunter gekommenes Holzschild, das einen knorrigen Eichenbaum zeigte, „Das Gasthaus zur alten Eiche, der geheime Treffpunkt der Smaraktgarde.“

Gemeinsam betraten sie das Wirtshaus und fanden sich in einen von Kerzen und Laternen erhellten Raum wieder. Zu ihrer linken waren Tische und Bänke aufgereiht, an denen einige Zwerge, Elfen, Menschen, Alven und andere zweifelhaftere Gestalten saßen und entweder Pfeife rauchten oder das hiesige Bier tranken. Zu ihrer rechten war ein langer hölzerner Tresen. Ein etwas grimmig dreinschauender Mann mit leichtem Bart und Augenklappe hatte soeben seine Arbeit niedergelegt und sah sie nun unverhohlen an. Zielstrebig ging Lavinia auf ihn zu. Ganz so, als hätte er die Elfe bereits erwartet, beugte sich der Mann über den Tresen und musterte sie.

„Gebt mir bitte den Schlüssel, Arvig, den für ‚das Zimmer’“, bat sie ihn leise und holte ein Schriftstück aus ihrer Tasche hervor. Mit Staunen betrachtete Kazary das verschnörkelte Siegel eines stilisierten Drachen, der sich um eine Schwertklinge wand. Der seltsame Wirt, den Lavinia Arvig rief, schien jedoch das Symbol zu kennen und nickte verschwörerisch und reichte ihr einen alten, rostigen Schlüssel.

„Ihr seid bisher die ersten, ich werde den anderen Bescheid sagen, dass Ihr da seid, wenn sie kommen.“

„Danke, Arvig.“

Eilig folgte Kazary ihrer Freundin an dem Tresen und den Tischreihen vorbei, einen kleinen Gang entlang zu einem der hinteren Zimmer. An jeder der Türen war eine Nummer angebracht. Während sie immer weiter gingen, begann Kazary, die Nummern mitzuzählen.

Sie gingen eine morsche Holztreppe hinunter, in eine Art Kellerraum. Auch hier befanden sich Kammern mit Zimmernummern. Vor der Tür mit der Zahl 38 blieb Lavinia stehen.

„Was du hinter dieser Tür findest, musst du für dich behalten“, beteuerte sie Kazary, „Dieser Ort ist streng geheim!“

Die rothaarige Elfe nickte kurz, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Dann führte Lavinia den schweren Schlüssel in das ebenso alte wie rostige Schloss. Ein leises Klicken ertönte und knarrend schwang die Tür auf. Was Kazary jedoch darin fand, wirkte alles andere als geheim. Es war ein einfaches Zimmer mit einem schlichten Bett, einem kleinen Schränkchen und in der Mitte mit einem Holztisch, um den zwei wackelige Stühle standen. Durch das sperrliche Licht eines einzelnen Kerzenleuchters erkannte die Elfe einen verblichenen Teppich auf dem Holzboden. Einige letzte Züge des ursprünglichen Musters konnte sie aber noch erkennen. Genau wie das Pergament, das Lavinia eben noch dem Wirt vorgelegt hatte, musste sich auch auf dem Teppich einst das Bildnis eines Drachens um einer Schwertklinge befunden haben.

„Hilf mir, ihn aufzurollen!“, forderte sie ihre Freundin auf.

Schweigend kniete die Elfe nieder, um ihrer Gefährtin behilflich zu sein. Der Staub, der aus dem schweren Teppich aufstieg, wirbelte in dicken Schwaden in der Luft. Er schlich sich in ihren Hals ein und ließ sie mehrere Male laut husten. Gemeinsam rollten sie ihn bis zur Hälfe auf, bis ein verrostetes Scharnier aus dem Boden ragte, von dem Kazary glaubte, es handelte sich um eine Falltür. Lavinia bestätigte ihre Vermutung, denn tatsächlich war dieser Raum hier nur eine günstige Tarnung. Vorsichtig holte sie den Kerzenleuchter von dem Tisch herbei. Dann glitten die schlanken Finger der blonden Elfe über das Holz und suchte nach einer Möglichkeit, die Falltür zu öffnen. Ihre Suche blieb nicht erfolglos, denn schon bald hob sich knarzend ein Stück des Bodens und gab einen Abstieg frei. Leise wies sie Kazary an, die schmale Leiter hinab zu steigen und ihr das Licht abzunehmen, damit sie selbst eine verschlüsselte Nachricht für ‚die anderen’, wie sie sie nannte, hinterlassen konnte, um dann selbst hinab zu steigen. Die Sprossen unter Kazary´ s Füßen ächzten Laut und sie befürchtete, dass sie ihr Gewicht nicht halten würden. Doch im Gegenteil, nach nur kurzer Zeit kam sie völlig unversehrt am Boden an. Wenige Augenblicke später stand auch Lavinia neben ihr.

„Hier entlang!“

Zielstrebig wurde Kazary von ihrer Freundin durch einen langen, unterirdischen Gang geführt. Durch das schwache Licht der Kerzen, sie Sie empor hielt, konnte sie erkennen, dass sich von dem Ort, an dem sie hinabgeklettert waren, tausende von Wegen und Gängen verzweigten und gelegentlich eine schwere Eichentür den weiteren Weg versperrte. Dies war ohne Zweifel ein geheimes Tunnelsystem! Nicht viele schienen davon zu wissen, denn sie trafen während ihres ganzen Weges trafen sie auf keine einzige Seele. Plötzlich hörte Kazary Stimmen. Sie schienen aus einem Raum hinter einer der Türen zu kommen. Mit ihrem ausgeprägten Hörsinn erkannte sie eine Frau und zwei Männer. Auch Lavinia schien von den Stimmen Notiz genommen zu haben und steuerte direkt auf die Tür zu.

„Ich weiß, ich weiß, wir können keine Männer entbehren, aber dennoch sollten wir einige Wachposten auch verkleidet in die Menge schicken.“

„Aber das können wir uns nicht leisten. Wir haben den ausdrücklichen Befehl, alle Eingänge zu bewachen und die Stadt von außen her zu sichern.“

„Nicht ganz, Eorl, der König wünscht nur, dass wir dafür sorgen, dass es während der Feierlichkeiten zu keinerlei Zwischenfällen kommt. Dazu sollen wir zusätzliche Wachen vor der Stadt, in den umliegenden Bergen und an den Eingängen zum Palast postieren. Es ist aber in keinster Weise davon die Rede, dass wir alle unsere Reiter damit beauftragen. Einige von uns wurden sogar als Gäste vom König persönlich geladen. Ich halte Shalawyns Vorschlag daher für ausgezeichnet. Es würde uns nichts bringen, wenn wir Tirganach vor Eindringlingen sichern, sich aber der Feind in den eigenen Reihen verbirgt.“

„Ja, Hauptmann…“

Laut öffnete sich die Tür und Lavinia und Kazary traten ein. Eindringlich schaute sich Kazary um. Um einen großen runden Tisch hatten sich die drei, die sie soeben noch hatte diskutieren hören, aufgestellt und beugten sich über eine übergroße Karte. Sie alle trugen dieselbe grün-goldene Tracht. Einen von ihnen erkannte die Elfe als den Hauptmann, den sie am Vormittag bereits kennen gelernt hatte. Zu seiner Linken stand ein Mann mit kurzem hellblonden Haar und leichtem Bart. Dies musste Eorl sein. Er schien ein Mensch zu sein, genau wie Arvig, jedoch um einige Sommer jünger. Die Frau zu Daerons Rechten, die er Shalawyn genannte hatte, stemmte trotzig und bestimmt die Hände in die Hüften und fixierte die Karte vor ihr. Mit dem zum Zopf geflochtenem und als Kranz hochgesteckten Haar und den langen spitzen Ohren wirkte sie wie eine Elfe, doch als sie den Blick von der Karte abwandte und Kazary anschaute, blickte sie in ein Paar hinterhältig violetter Augen. Für sie stand fest, diese Shalawyn trug Dunkelelfenblut in sich.

Die wenigen Augenblicke, in denen angespanntes Schweigen herrschte, kamen der Elfe wie eine Ewigkeit vor, bis schließlich Daeron wieder das Wort ergriff: „Es freut mich, dass ihr gekommen seid!“

„Wollten wir uns nicht eigentlich hier im Gasthaus treffen?“, fragte Lavinia sowohl verwundert als auch etwas gereizt, „Ich habe mir schon Sorgen gemacht, als Arvig erzählte, dass noch keiner von euch da sei!“

„Verzeih mir, Lavinia, aber ich wurde aufgehalten und musste den Weg über die Bruthalle im oberen Stadtring nutzen.“

Die Blonde wollte soeben zum Sprechen ansetzen, da fiel ihr Shalawyn ins Wort: „ Genug der Entschuldigungen, Hauptmann, sagt uns doch lieber, wer diese Fremde ist!“

„Mein Name ist Kazary!“, entgegnete die Elfe, der es gar nicht gefiel, wie Shalawyn mit dem Finger auf die wies und sie misstrauisch anschaute, „Ich komme aus den Hochlanden und bin im Bunde mit Arsinoe.“

„Soso… eine Freie, nehme ich an…“

„Ist schon in Ordnung, Shalawyn, du kannst ihr vertrauen. Sie ist eine Freundin von Lavinia und soll uns unterstützen“, versuchte der Hauptmann etweilige Vorurteile aus dem Weg zu räumen.

„Die anderen sollten auch jeden Augenblick kommen“, mischte sich Eorl ein, „Vielleicht sollten wir uns dann einmal alle vorstellen, vielleicht werden Thea und Diamid noch andere Jungreiter mitbringen.“

Die anderen willigten ein und Lavinia und Kazary nahmen neben dem Menschenmann Platz. Die ganze Zeit über wurde Kazary das Gefühl nicht los, dass Shalawyn sie beobachtete. Ob sie sich vielleicht in ihrer Vergangenheit einmal begegnet waren? Lavinia hingegen ließ sich von Shalawyns grimmigen Gemüt nicht beirren, sondern plauderte vergnügt mit Eorl und dem Hauptmann.

Es dauerte nicht lange, da trafen auch schon die anderen ein. Nacheinander betraten zwei Menschen, ein Elf, ein Halbelf und eine Halbdryade den geheimen Raum. Mit ernsten Mienen versammelten sie sich um den Tisch. Einige von ihnen sahen Kazary verwundert und mit großen Augen an. Als sie endlich alle Platz genommen hatten, begann der Hauptmann eine Rede: „Ich danke euch allen für euer Kommen, die groben Pläne für heute Nacht, denke ich, sollten allen bekannt sein, doch sollten wir noch einmal alles ausführlich für unsere neue Verbündete durchgehen.“

Bei diesen Worten erhob sich der Elf mit den langen, hellbraunen Haaren.

„Jawhel von den singenden Grotten, im Bunde mit Conn“, stellte er sich vor und verneigte sich mit der rechten Hand über dem Herzen.

„Thea aus Tirganach, im Bunde mit Oonach, Lehrerin an der Brutstätte der Drachen in Tirganach, und mein Zwillingsbruder Diamid, im Bunde mit Saffron“. Sprach die junge Menschenfrau, während sie und ihr Bruder es Jawhel gleich taten. Es war erstaunlich, wie sehr sie sich mit den kurzen rot-blonden Haaren und den mitternachtsblauen Augen ähnelten.

Auch Shalawyn verneigte sich, wenn auch weniger respektvoll: „Shalawyn, Tochter des Fürsten von Mor Duin, im Bunde mit Tehr.“

„Und ich bin Eorl“, stellte sich der Mann neben Daeron vor, „Ich komme aus der Stadt Harlon, im Bunde mit Gwire.“

„Mein Name ist Kalenth vom Sturmfelsen; ich fliege im Bunde mit Lyenn“, sprach der grau-grünäugige Halbelf mit einem freundlichen Lächeln.

Zuletzt erhob sich die Halbdryade von ihrem Stuhl und verneigte sich elegant nach der Art der Drachenreiter: „Es freut mich, Euch kennen zu lernen. Ich bin Merrit, die Gesandte des Dryadenstammes der Rosengärten von Westdorien, im Bunde mit Zabin“, dann wandte sie sich an den Hauptmann, „Sie sieht ihr wirklich ähnlich, Daeron, ich hoffe, Ihr lasst Euch nicht davon beirren.“

Etwas verlegen und vielleicht auch überrascht von Merrits schlagfertiger Mahnung räusperte sich der Hauptmann nur, um zu zeigen, dass er über dieser Bemerkung stand, und find dann unverzüglich an zu erzählen: „Wir ihr alle wisst, ist der Krieg mit den Dunkelelfen von Xu noch lange nicht vorüber. Der Sieg an der Narbe vor über dreißig Jahren war nur der Sieg einer einzelnen Schlacht, nicht der des ganzen Krieges. Und der Feind hatte nun genug Zeit, seine Streitkräfte wieder aufzubauen. Aber nicht nur das, wir haben den Verdacht, dass sich ein Verräter in unseren Landen aufhält, der aus irgendwelchen selbstsüchtigen Gründen im Pakt mit dem Herren von Xu steht. König Meleander teilt diesen Verdacht und befürchtet, der Verräter könnte den heutigen Abend nutzen, um ihn zu töten. Dies gilt es zu verhindern. Dafür werden wir einige unserer Reiter an diesen Posten hier, wie ich es bereits in der Karte eingezeichnet habe, aufstellen. Drei von euch werden jedoch mit mir im Schloss bleiben und verkleidet an den Festlichkeiten teilnehmen. Lavinia, Kazary, Shalawyn, es wäre freundlich, wenn ihr diese Aufgabe übernehmen würdet. Thea und Diamid, ihr beide besetzt bitte zusammen mit den Jungreitern die Grenzberge der Stadt und das Stadttor, Jawhel bewacht das innere Tor und Merrit und Kalenth behalten das Schlossportal im Auge. Alle Posten müssen noch vor Mitternacht besetzt sein.“

Die anderen nickten und machten sich zügig auf dem Weg. Nur Kazary, Lavinia und Shalawyn blieben zusammen mit Daeron in dem Geheimraum.

„Ihr solltet euch umziehen, ich warte dann im Schloss auf euch“, verabschiedete er sich und ließ die drei Frauen allein zurück.

Unverzüglich begannen Shalawyn und Lavinia, ihre Kleider auszuziehen und neue wallende Roben aus gleißenden Stoffen von Seide, Samt und Satin anzulegen. Behutsam, aber mit viel Geschick fuhren sie sich gegenseitig durch die Haare, flochten sie, steckten sie hoch und kämmten sie zu recht, dass sie nicht mehr wieder zuerkennen waren. Aus einer Tasche holte Shalawyn einige Phiolen mit Parfüm hervor und begann, sich Arme und Hals damit einzureiben. Lavinia tat es ihr gleich. Bald schon lag der Duft von Lavendel, Rosen, Sandelholz, Aprikosen wildem Honig schwer in der Luft. Mit großem Interesse verfolgte Kazary die Verwandlung der beiden Reiterinnen in Edeldamen. Sie selbst jedoch hatte sich noch nicht umgezogen.

„Was hast du, Kazary?“, fragte Lavinia verwundert, als ihr auffiel, dass ihre Freundin nur schweigend dasaß.

Shalawyn lächelte kokett: „Wahrscheinlich hat sie nicht mal ein Kleid!“

Und so war es auch. Kazary besaß weder Festkleider noch Schmuck. Ihre Beste Garderobe bestand aus den kostbaren Harnischen und kurzen Röcken, die sie getragen hatte, als man ihren bewusstlosen Körper gefunden hatte. Doch sonst besaß sie nichts, was für einen solchen Anlass angemessen wäre, schließlich lebte sie in einem einfachen Dorf, wo mehr Wert auf die praktischen Aspekte der Kleidung gelegt wurde, als auf die ästhetischen.

Doch was sollten sie jetzt machen? So, in schlichten und leichten Gewändern, die eher einer Reisenden zuzumuten wären, konnte sie nicht im Schloss auftauchen.

„Was glaubst du, Shalawyn, sollen wir die Kiste holen?“, wandte Lavinia nachdenklich an ihre Gefährtin.

„Eigentlich hat er Hauptmann uns verboten, auch nur einen Blick auf sie zu werfen, aber in einem Notfall wie diesem…“

„Gut, ich hole sie!“

Damit hastete Lavinia aus dem Raum und tauchte wenige Augenblicke später mit einer kleinen Truhe in den Armen wieder auf.

„Woher wusstest du, wo Daeron sie versteckt?“, fragte Shalawyn sichtlich überrascht.

„Wenn man den Hauptmann schon so lange kennt wie ich“, lachte die Elfe im hellen Ton, „Ist es ein leichtes, zu sagen, wie er handeln würde!“

„Mit anderen Worten, du hast ihn bespitzelt?“, skeptisch hob die Frau eine Augenbraue.

Lavinia grinste breit: „So und nicht anders!“

Dann öffnete sie den Eisenbeschlagenen Deckel der Truhe und holte ein gleißendes Kleid aus vielen Lagen durchsichtigen weißen, lindgrünen und blassgelben Stoffen hervor. Kazary staunte über die feine Arbeit.

„Dieses Kleid gehörte einst der Prinzessin Caileen. Der Hauptmann erhielt es nach ihrem Tod als Geschenk und Trost von König Meleander. Leg es doch einmal an!“

Unsicher, ob sie dieses Kleid wirklich tragen sollte, gehorchte Kazary ihrer Freundin und legte ihre eigenen Kleider ab.

Der Maskenball

Es war kurz vor Mitternacht, als Kazary zusammen mit Shalawyn und Lavinia das Schloss betrat. Um durch ihr etwas spätes Erscheinen nicht aufzufallen, hatte Shalawyn die Wachen zum Ballsaal das Schlosses tatkräftig getadelt, weil sie, die Tochter des Fürsten Shindar von Mor Duin, wichtige Besorgungen im Namen des Königs zu erledigen gehabt habe, und demnach nicht hatte rechtzeitig kommen können und es unerhört sei, dass man ihr nun keinen Einlass hatte verschaffen wollen, damit Lavinia und Kazary heimlich durch einen der geheimen Pfade hinter einem Wandteppich schleichen und sich zur Festgemeinde gesellen konnten. Nun versuchten die beiden ihre Gefährtin durch die Menge zu erspähen.

„Verzeiht uns, Herrin, wir sind nur einfache Wächter und wollten nur die Befehle unseres Königs befolgen. Wir wollten Euch nicht beleidigen“, hörten sie einen der Wachen reden, während sich die über mannshohe Flügeltür zum Saal öffnete und Shalawyn mit strengem, gebieterischem Blick eintrat. Ihre Aufmachung bot einen faszinierenden, zugleich aber auch zwiespältigen Anblick. Passend zu ihren schaurigen Augen hatte sie ein weit ausgeschnittenes Kleid aus schwerem tief violette- blauem Samt mit langer Schleppe und schwarzen Onyx-Schmuck gewählt. Ihre tiefschwarzen Haare trug sie heute offen, jedoch hatte Lavinia viele kleine Zöpfe hinein geflochten, damit sie weniger verschlossen wirkte. Doch mit dem schweren Duft von Lavendel und Sandelholz war der Kontrast zum Rest der Gesellschaft vollkommen. Doch so würde Kazary weniger ins Blickfeld fallen und ungestört ihrer Aufgabe nachgehen.

„Wir sollten uns aufteilen“, flüsterte Lavinia über ihre Schulter.

Ihre Freundin hatte ein vielfach gerafftes Gewand aus sonnengelben und orangen Stoffen gewählt und sich passend dazu verschiedene Sommerblumen ins Haar gesteckt. Genau wie Shalawyn hatte auch sie eine Menge von Parfüm aufgelegt, doch wirkte der Duft von Flieder, Aprikosen und wilden Rosen um einiges heiterer.

Kazary nickte und wandte sich einer Gruppe Nymphen zu, die laut kichernd Blumen verstreuten. Lavinia hingegen begann, mit einigen Männern zu schäkern. Dabei ließen sie die anderen Gäste nie aus den Augen. Eigentlich hatte sie sich die Aufgaben der Drachenreiter während der Feierlichkeiten etwas anders vorgestellt. Die Traditionellen Tuniken, Prachtharnische und Waffenrock wären ihr in den Sinn gekommen, damit alle wussten, dass die Geselligkeiten überwacht wurden, aber letztendlich fand sie, das diese Maskerade ihr doch zum Vorteil war, da sie zumal weniger aus der Menge heraus stach und daher ihrer Aufgabe besser und unbeobachtet nachgehen konnte, und zum anderen, da sie ja noch nicht in der Gilde aufgenommen war und auch kein Recht hatte, die grüne Tunika der Drachenreiter zu tragen. Und letztendlich waren die vielen neuen Gesichter überaus interessant.

Als der Mond seinen Höhepunkt fand, wurden die Lichter gedämpft, sodass es an eine Dämmerung erinnerte. Genau wie die anderen Gäste legte auch Kazary ihre Maske an, um ihr Gesicht weitgehend zu verhüllen. Nun war das Fest offiziell eröffnet. Vom anderen Ende des Saales her erklang Musik. Wahrscheinlich waren es die Nymphen aus dem Dorf an den tausend Wasserfällen, nur sie vermochten solchen Zauber mit ihren Stimmen zu weben.

Allmählich verstummte das Gelächter und die Anwesenden fanden sich in Paaren zusammen, um zu tanzen. Erst sah es aus, wie ein wildes Durcheinander, aber schnell wurde der Elfe die Ordnung in diesem seltsamen Tanz bewusst und schon bald hatte sie den Überblick über die Menge wieder gewonnen. Jemand berührte ihre Schulter. Für einen Augenblick erschrak sie, so sehr war sie auf das Geschehen fixiert. Sie blickte auf und sah in das Gesicht eines Elfen. Er trug eine rostrote Samtrobe und hatte sein langes schwarzes Haar im Nacken zu einem Zopf gebunden. Genau wie alle anderen verbarg auch er sein Antlitz mit einer Maske. Schweigend folgte sie ihm und nahm ihren Platz in den Reihen der Tanzenden ein. Etwas ungeschickt folgte sie den Schritten des Elfen und war überaus erleichtert, dass er führte. Das gab ihr die Möglichkeit, gelegentlich einen Blick auf die anderen zu werfen, ob nicht vielleicht etwas Verdächtiges an ihnen war. Doch sie fand nichts, das auch nur ansatzweise bedrohlich wirkte. Konzentriert drehte sie sich unter dem Arm ihres Tanzpartners hindurch. Der Mann lächelte sie unter seiner Maske an.

„Ich habe Euch noch nie hier gesehen.“

„Wie solltet Ihr auch“, versuchte Kazary sich herauszureden, „Ich komme von weit her und schätze das ruhige Leben fernab des höfischen Zwanges.“

„Und dennoch seid Ihr hier?“, lachte er vergnügt.

„Nun… ich wurde eingeladen, und es wäre unhöflich gewesen, dieser Einladung nicht nachzukommen.“

„Da habt Ihr wohl Recht.“

Jemand unterbrach ihr Gespräch und bat darum, mit der Elfe tanzen zu dürfen. Der Mann mit den schwarzen Haaren verneigte sich und ließ Kazary los. Der Elfe fiel auf, dass ihr neuer Tanzpartner ebenso wenig an den Festlichkeiten interessiert war wie sie. Genau wie sie wirkte er konzentriert und nachdenklich. Gelegentlich wanderte sein Blick durch die Menge.

„Der König wünscht dich zu sehen, Kazary“, erkannte sie die Stimme des Hauptmanns, der leise zu ihr flüsterte, „Ich habe ihm von dir erzählt, und er schien sehr interessiert.“

Verwundert sah Kazary ihn an: „Woher wusstet Ihr, dass ich es bin?“

„Es ist das Kleid, Lavinia hat mir erzählt, dass du das Kleid trägst.“

Obwohl der Großteil seines Gesichtes von einer Maske verdeckt wurde, war ihm deutlich seine Verlegenheit anzusehen. Kazary fühlte sogar, wie seine Augen ihr Kleid fixierten, als wäre es eine Qual für ihn zu sehen, wie jemand nach so vielen Jahren dieses Gewand wieder trug. Im Grunde fühlte sie sich selbst etwas schäbig. Hätte nicht die Notwendigkeit bestanden, so hätte sie nie in Betracht gezogen, diese Stoffe anzulegen. Wäre sie an der Stelle des Hauptmanns gewesen, so wäre es ihr sicher auch unangenehm gewesen.

Unauffällig versuchten die beiden sich aus der Menge der Tanzenden zu befreien, um sich einen Weg zum Ende des Saals zu bahnen. Gemeinsam steuerten sie auf eine Erhöhung zu, die von vielen halbdurchsichtigen Stoffvorhängen verhüllt wurde. Hinter den Lagen edlen Gazestoffes waren schemenhafte Gestalten zu erkennen; eine, sitzend auf einem Sesselthron, und mehrere, wesentlich kleinere, die davor niederzuknien schienen. Ehrfürchtig traten die beiden näher.

„…also wären die Verhandlungen damit abgeschlossen. Es tut gut, noch einige Verbündete auf seiner Seite zu wissen.“

Kaum, dass sie die Gazevorhänge beiseite geschoben hatten und sich auf die Erhöhung begeben hatten, machten sich die gedrungenen Schemen, die sich als Zwerge herausstellten, durch eine Seitentür neben dem Thron davon.

Mit freundlicher Stimme begrüßte sie Meleander, während die Kazary und Daeron niederknieten.

„Dies ist die Frau, mein Herr, von der ich Euch erzählt habe“, erklärte Daeron dem König.

Dieser blickte Kazary neugierig an und bat sie schließlich, zu ihm heranzutreten. Die Elfe gehorchte und kniete neben dem majestätischen Thron aus dunklem Ebenholz und blauem Samt nieder, sodass sie auf einer Höhe mit dem Herrscher war.

Zu ihrer Verwunderung stellte Kazary fest, das Meleander die Selben grünen Augen, dasselbe flammenrote Haar wie sie hatte, und nur wenig größer war als sie selbst.

Für den Bruchteil einer Sekunde ruhte des Königs Blick auf der Elfe und musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Schließlich wandte er sich wieder an Daeron, der sich inzwischen erhoben hatte und zur Linken seines Herrn getreten war.

„Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend, Ihr habt nicht übertrieben, Hauptmann… es ist, als wäre sie nie gestorben. Woher kommt sie?“

„Lavinia, eine meiner besten Reiterinnen, hat sie in einem Dorf in den Hochlanden, nahe der Narbe, gefunden.“, antwortete Daeron ruhig.

Die Augen des Königs wanderten wieder zu der Elfe.

„Sag, mein Kind, was hat dich in das Menschendorf geführt? Es ist recht ungewöhnlich, dass sich in den kleinen und abgelegenen Dörfern mehr als ein Volk ansiedelt.“

„Ich weiß nicht, mein Herr, die Bewohner haben mich gefunden, als ich ohnmächtig war…“, setzte sie an, doch Daeron unterbrach sie, „Sie hat ihr Gedächtnis verloren und weiß weder, wer sie war, woher sie kam, noch wodurch sie ihre Erinnerungen verloren hat. Den Namen Kazary erhielt sie von den Menschen, bei denen sie lebt.“

„Soso… nun, vielleicht können wir dir ja helfen, meine liebe. Wenn du möchtest, kannst du jederzeit die Bibliothek der Stadt aufsuchen. Es gibt dort eine Menge Aufzeichnungen aus den Schattenkriegen. Mögen sie dir Aufschluss geben!“

„Ich danke Euch, mein Herr“, sprach Kazary mit einer tiefen Verneigung.

Sie war überaus froh, dass sie nun einen Weg gefunden hatte, sich unter Umständen wieder zu erinnern.

Auf Wunsch des Königs blieben sie und nahmen auf extra für sie herbeigebrachten Stühlen Platz. Sogleich verfielen die beiden Elfenmänner ins Gespräch. Mit leicht gedämpfter Stimme berichtete König Meleander, dass Thorwis, der Herr von Windholme, dem großen Zwergenreich in den Grauen Bergen, bereit sei, mit Dorien zu verhandeln und das Land der grünen Drachen im Kampf gegen die Dunkelelfen zu unterstützen. Der Hauptmann sah darin eine neue Hoffnung, dem Jahrhunderte langen Krieg endlich ein Ende zu setzen. Während der Schlacht auf den Aschefeldern waren sie auf sich allein gestellt gewesen. Es war ein Wunder gewesen, dass sie die grausamen Nekromanten und Assasinen von Xu hatten zurück schlagen können. Dafür hatten sie aber auch mit vielen Leben bezahlen müssen. Ein zweites Mal durften sie nicht auf so ein Glück hoffen. Die Unterstützung der Zwerge von Windholme kam ihnen da nur gelegen, auch wenn sie mehr aus eigenen Interessen, als aus Zuneigung und Freundschaft angeboten wurde. Meleander hatte soeben von einem Boten aus der Zwergenstadt erfahren, dass die Dunkelelfen ihre Siedlungen verwüsteten und ihre Mienen plünderten, um mit den Rohstoffen Waffen und Rüstungen zu fertigen, die dem Reich Dorien den endgültigen Gnadenstoß verpassen sollten.

Besorgt rutsche Daeron auf seinem Stuhl herum, während er den Worten des Königs lauschte. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nun, wie sollten sie einer weiteren Angriffswelle wie der vor über dreißig Jahren erneut standhalten? Er hoffte nur, dass die Verstärkung der Zwerge ausreichen würde.

Verwundert stellte er fest, dass Kazary sie die ganze Zeit über beobachtet hatte. Ihr Blick war dem der Prinzessin so ähnlich, ihre ganze Art, ihr Schweigen, ihr Tonfall, wenn sie sprach, alles, als wäre Caileen in der Tat nie gestorben. Und sagte sie nicht, dass sie im Bunde mit dem Drachen Arsinoe sei? Arsinoe, so lautete ebenfalls der Name von Caileens Gefährtin! Aber was bildete er sich ein, der Name Arsinoe kam häufig unter den Drachen vor, und dass sie seiner Prinzessin so ähnelte mochte ebenso nur Zufall sein.

Neben ihm erhob sich König Meleander von seinem Thron und wandte sich an die junge Elfe. Mit einem freundlichen Lächeln forderte er sie zum Tanz auf.

„Herr, denkt Ihr nicht, dass es zu gefährlich sei?“, versuchte Daeron den König zurück zu halten, „Uns ist zu Ohren gekommen, dass man einen Attentat auf Euch vor hat.“

„Und deshalb soll ich mich ängstlich wie ein kleines Kind verstecken? Ihr solltet Euch schämen, Hauptmann, mich derartig belehren zu wollen!“, tadelte Meleander den Hauptmann mit beruhigender Geste.

Dagegen wollte Daeron nichts mehr einwenden und ließ die beiden mit unwohlem Gefühl gehen.

Mit der goldbronzenen Maske vor dem Gesicht unterschied sich Meleander nur geringfügig von den anderen Gästen und so schenkte ihnen auch niemand große Aufmerksamkeit, als er und Kazary sich unters Volk mischten. Behutsam legte er einen Arm an ihre Taille und fasste ihre Hand. Es missfiel ihm ein wenig, dass die Elfe ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das Geschehen um sie herum richtete.

„Was beunruhigt dich?“, fragte er, bemüht, freundlich zu klingen.

Die Elfe schüttelte den Kopf: „Ich dachte nur, ich hätte was gesehen.“

Forschend wanderten Kazary´ s Augen noch einmal durch die Menge. Nun war der Schatten verschwunden. Ihr Misstrauen blieb dennoch bestehen. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich wieder zu beruhigen und sich dem König zuzuwenden.

„Wieso wollt Ihr mir helfen, mein Herr? Welchen Nutzen habt davon, wenn ich mich erinnere?“

„Weil ich sehe, dass du etwas besonderes bist. Etwas an dir erinnert mich an jemanden, der mir einmal sehr nahe stand. Außerdem hat der Hauptmann Daeron nur gut von dir gesprochen, und ich vertraue seinem Urteil“, gab er lachend zur Antwort.

Kazary nickte und schwieg. Es war zwar nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte, aber zumindest wusste sie nun, dass der König ihr Vorhaben guthieß. Jetzt war sie nicht mehr allein in diesem Meer aus Unwissen und Vergessen, sondern hatte einige Freunde gefunden, die ihr helfen wollten.

Plötzlich überkam sie wieder das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Vorsichtig wandte sie sich zu allen Seiten um. Irgendwo in den Reihen der umstehenden und tanzenden musste wieder dieser Schatten sein.

„Gebt Acht, mein Herr, der Feind ist unter uns!“, flüsterte sie leise und verengte ihre Augen zu Schlitzen. Eindringlich fixierte sie die Stelle, wo sie glaubte, den ungeladenen Gast zu sehen. Unauffällig führte sie den König etwas fort, damit er nicht verletzt werden konnte, falls der Fremde ein Attentäter war. Meleander jedoch wirkte nicht im Geringsten beunruhigt, sondern sprach: „Wäre es nicht sicherer, wenn ich mich weiterhin in der Menge aufhalte? Deine übereifrige Fürsorge würde mich nur als Herrscher verraten.“

In diesem Punkt hatte der König Recht, und so widersprach Kazary auch nicht, während sie sich wieder den Reihen der Tanzenden anschlossen.

„Gebt aber bitte Acht, Herr, denn ich fürchte, unser Feind kennt sein Ziel genau“, bat sie jedoch eindringlich im leisen Flüsterton.

Während sie versuchten, so wenig wie möglich aufzufallen, führte die Elfe Zwiegespräch mit Arsinoe: „Der Feind ist bereits unter uns, sorg dafür, dass die anderen davon erfahren und Wachen sich an allen Türen und Toren des oberen Stadtringes postieren. Sollte ein Angriff erfolgen, wird der Täter wohl den direkten Weg aus der Stadt heraus nehmen.“

„Ich werde den anderen Meldung geben!“, hörte sie die Stimme des Drachenweibchens in ihrem Kopf, ehe sie die Verbindung unterbrach und ihre Aufmerksamkeit dem Geschehen um sie herum schenkte.

Etwas stimmte hier nicht, stellte sie zu ihrer Sorge fest. Nun hatte sie bereits zum zweiten Mal den Schatten aus den Augen verloren. Ihr Blick suchte nach ihren Gefährtinnen, auch Lavinias Gesicht verriet ihr, dass ihr die Sache nicht geheuer war, Shalawyn aber war nirgends zu finden. Dann wandte sie sich zu Daeron um, der immer noch wachsam auf seinem Stuhl neben dem Thron saß. Inzwischen musste ihre Nachricht auch ihn erreicht haben.

Die Musik verklang mit einem Schlag und ein erschrockenes Raunen ging durch die Menge. Auch Kazary und Meleander hielten inne. Für einen Augenblick dachte die Elfe bereits, es sei nur die Empörung der Gäste gewesen, da die Musiker vielleicht die Melodie wechseln wollten, doch im nächsten wurde sie schon eines bessern belehrt. Eine Gestalt im schwarzen Kapuzenumhang hatte sich bis zu ihnen vorgearbeitet und ging mit bedrohlichen Schritten auf sie zu. In seiner Rechten sah sie einen geschärften Dolch aufblitzen. Mit ihrem stetig schneller schlagenden Herzen wurden auch die Schritte des schwarz gekleideten immer schneller. Dann geschah es. Die Gestalt lief auf Meleander zu und wollte ihm die Klinge in den Hals stechen. Wie aus einer Erstarrung erwacht stellte sich die Elfe vor den König und fing die erhobene Hand des Fremden ab. Panisch stolperte die Gestalt zurück und wandte sich zum fortlaufen um, aber Kazary dachte nicht daran, ihn einfach fliehen zu lassen, sondern hastete ihm mit weiten Schritten hinterher. Wegen des langen Kleides und den engen Tanzschuhen fiel es ihr schwer, mit ihm Schritt zu halten. Mit gerafften Röcken folgte sie ihm aus dem Saal hinaus auf die endlos langen Gänge des Schlosses. In der Ferne sah sie eine große Tür, durch die der Fliehende entkommen würde, wenn sie sich jetzt nicht beeilte. So gut es ging beschleunigte sie ihren Lauf. Die Tür kam immer näher und Kazary hoffte inständig, dass die Wachen die Botschaft erhalten hatten.

Endlich, als sie schon glaubte, ihre Verfolgung aufgeben zu müssen, hörte sie Stimmen vom andern Ende des Ganges. Eine von ihnen war der Elfe vertraut, es war Shalawyn, die in ihrem gebieterischen Tonfall den Befehl gab, alle Ausgänge zu sichern. Die Gestalt im Kapuzenmantel wollte sich umwenden und einen Seitenweg nehmen, doch nun war es für ihn zu spät: Mit einem weiten Satz stürzte sich Kazary auf ihn und drückte ihn zu Boden, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Zur selben Zeit kam ihr Shalawyn mit einigen Wachen entgegen.

„In Ordnung, wir haben ihn!“, rief sie den Männern zu, welche Kazary auf halfen und den Flüchtling festhielten.

Mit finstrem Blick beobachtete die Elfe die Gestalt im schwarzen Mantel. Sie wunderte sich, dass er oder sie keine weiteren Anstalten machte, sich zu wehren oder erneut zu fliehen.

„Ich danke dir, Shalawyn“, wandte sie sich der Dunkelelfe zu, „Einen Moment länger noch, und er wäre mir entwischt.“

„Danke nicht mir, sondern den Drachen. Ich habe eine Botschaft von Tehr erhalten, dass Arsinoe von dir den Auftrag bekommen hätte, alle zu warnen. Andernfalls wären wir wohl nie gekommen.“

Herrischen Schrittes ging Shalawyn zusammen mit Kazary zu den Wachen herüber, um den Flüchtigen zu befragen. Dieser hing schlaff und mit gesenktem Haupt in dem Griff der Wachen und Murmelte etwas in einer seltsamen Sprache.

„Rede, du Sohn eines Schlammgeistes! Was wolltest du?!“

Die Gestalt antwortete nicht.

„Ich verlange, dass du antwortest!“, rief Shalawyn noch einmal, während Kazary dafür sorgte, dass man ihm den Dolch abnahm.

Wutentbrannt packte die Schwarzhaarige den Fremden und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Darunter kam ein aschfahles Gesicht zum Vorschein. Der Kopf War ihm kahl rasiert worden und sein gesamtes Antlitz mit seltsamen schwarzen Runen bemalt worden. Aber das unheimlichste an ihm waren seine Augen. Sie waren gelb, gelb und geformt wie die einer Katze. In ihnen lag dasselbe bedrohliche Leuchten wie in Shalawyns Augen. Er musste genau wie sie Dunkelelfenblut in sich tragen.

Er lachte: „Ihr habt so gut wie verloren, euer Ende ist nah!“

„Wovon redest du?“, wollte Kazary wissen, doch der Dunkelelf sah sie und Shalawyn nur hämisch an.

„Ihr habt euer Verderben in eure eigenen Reihen gelassen, ihr Narren!“

Die Runen auf seinem Gesicht begannen aufzuglühen wie heiße Kohlen, dann erstarrte er in der Bewegung, bis er schließlich zu Staub zerfiel.

Überrascht wichen die Wachen zurück. Eine stumme Frage lag in ihren Mienen und auch Kazary war die Sache skurril. Nur Shalawyn schien wenig beeindruckt.

„So etwas hätte ich mir denken können!“, rief sie grimmig, „Ich hätte wissen müssen, dass diese Ausgeburten von Xu einen Magier auf Meleander ansetzen würden…“

„Mach dir nichts daraus. Dem König ist nichts geschehen, das ist die Hauptsache“, entgegnete Kazary.

Doch Shalawyn schüttelte den Kopf: „Du verstehst das nicht. Dunkelelfenmagier sind weitaus gerissener, als sie manchmal aussehen mögen. Sie umgeben sich mit einem Zauber, der sie tötet, sobald sie Gefahr laufen, dass man sie überwältigt. Doch nicht nur das; ehe sie aus der Welt scheiden, fährt ihr Geist in einen andern Körper und ergreift Besitz von diesem. So bleibt das Wissen, das sie in ihren blutigen Aufträgen gesammelt haben immer erhalten.“

„Du musst es ja wissen“, erwiderte Kazary, der es immer noch nicht geheuer war, dass eine Frau, die zur Hälfte Dunkelelfe war, sich ihnen anschloss.

Schritte hallten durch die Gänge und unterbrachen die Worte der beiden Frauen. Aus jener Richtung, in welcher der Festsaal lag, kam ihnen eine Gruppe Krieger entgegengelaufen, geführt von Lavinia und dem Hauptmann. Als sie die anderen erreicht hatten, wandte sich Lavinia besorgt ihren beiden Freundinnen zu, während Daeron eher damit beschäftigt war, herauszufinden, wie der Dunkelelf hatte eindringen können.

Letztlich gab er den Befehl, die Wachen im Schloss zu verdoppeln und niemanden ohne Kontrolle in die Nähe des Throns zu lassen und dafür zu sorgen, dass die Festlichkeiten weiter gehen konnten. Seiner Meinung war es das Beste, wenn die Anwesenden glaubten, dass alles unter Kontrolle sei.

Ein Herbsttag

Seit dem Vorfall im Schloss waren bereits mehrere Monde vergangen. So viel hatte sich seit dem zugetragen. Kazary kam es dennoch vor, als wäre es alles erst gestern geschehen.

Sie war in die Gemeinde der Drachenreiter aufgenommen worden und mit allen Privilegien und Pflichten vertraut gemacht worden. Man hatte ihr die Aufgabe übertragen, ihr Dorf zu beschützen und Nachforschungen als Kundschafterin zu betreiben. Meist war sie tagelang gemeinsam mit Arsinoe unterwegs gewesen, um die Lage an den Grenzen zu überblicken und dann Bericht zu erstatten. Die wenige freie Zeit, die ihr da noch geblieben war, hatte sie genutzt, um in der großen Bibliothek Informationen über die Schattenkriege zu erhalten, in welchen sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Doch nichts von dem, was sie fand, brachte sie auch nur einen Schritt weiter. Manchmal war sie dem Verzweifeln nahe gewesen, doch jedes Mal, wenn sie glaubte, ihre Suche wäre hoffnungslos, fand sie ein neues Licht im Dunkeln, einen neuen Stern am dunklen Himmelszelt. Unter der Gilde der Drachenreiter hatte sie viele Freunde gefunden, die sie nach allen Kräften unterstützten; sogar mit Shalawyn verstand sie sich mittlerweile prächtig! Sie hatte erfahren, dass das Haus, welchem Shalawyn entstammte, schon seit jeher in einem neutralem Verhältnis von Elfen und Dunkelelfen stand, und dass vor einigen Jahrhunderten sich einige der Dunkelelfen gegen den Herrn von Xu gewandt hatten, und nun im Bündnis mit Fürst Shindar standen. So war die große Stadt Mor Duin entstanden.

Einmal hatten sie gemeinsam die großen Türme der Stadt überflogen, welche in ihrem Stil zwar denen von Xu nachempfunden waren, aber aus hellem und freundlichem Marmor, anstelle von düstrem Obsidian errichtet worden waren. Ob es auch in den anderen Fürstentümern und Hoheitsgebieten je so aussehen würde, wenn der Krieg vorbei war? Ob es jemals Frieden zwischen Dorien und Xu geben würde?

Kopf schüttelnd wandte sich die Elfe wieder ihrer Arbeit zu. Es war Herbst und das Laub des Wäldchens nahe ihrem Dorf war nun golden gelb und rötlich geworden. Die Natur hatte ihnen ein fruchtbares Jahr beschert, und alle waren eifrig mit der Ernte beschäftigt. Bei Kazary wurde da keine Ausnahme gemacht. Sie war eine Bewohnerin der Siedlung und ein Mitglied der kleinen Gemeinde und musste –und wollte- genau wie alle anderen ihren Teil der Arbeit leisten. Seit Tagen war sie nun damit beschäftigt, ihre Familie zu unterstützen, und es wunderte sie, dass sie noch nicht zu einem neuen Dienst für Meleander gerufen worden war. Manchmal hatte sie das Gefühl, von ihren neuen Freunden vergessen worden zu sein. Oder war sie diejenige, die vergaß? Mittlerweile war sie es so sehr gewöhnt, zwei Leben zu führen, dass es ihr wie ein seltsamer Traum vorkam, in dem nur das eine, das alte existierte.

„Was habt Ihr?“, holte Alyssa, die gerade dabei war, Schlehen und andere Beeren zu pflücken, sie aus ihren Gedanken zurück.

„Ach, nichts…“, log die Elfe und wandte sich ebenfalls wieder ihrer Arbeit zu.

Genau wie Alyssa hielt auch sie einen Eimer in der Hand und sammelte eifrig Beeren. Eigentlich war die Zeit der sonnigen Früchte ja bereits um, doch ein glücklicher Zufall hatte dafür gesorgt, dass dieser Herbst angenehm warm war, sodass sich jetzt noch eine letzte Gelegenheit bot, Mutter Erdes Gaben zu empfangen.

„Was machen eigentlich die Jungen?“, wollte Kazary wissen.

Ihre Augen suchten die Ebene nach Melvyn, Lomion, Jonah und Timander, Alyssas jüngeren Brüdern, ab. Sie wussten genau, dass sie nicht zu weit vom Dorf fortlaufen sollten. Aber wie immer waren die vier taub, wenn es um Verbote oder Regeln ging. Mit einem Seufzer stellte sie ihren Eimer ab und ging ein wenig umher, um sich zu vergewissern, dass sie keine Dummheiten anstellten. Alyssa folgte ihr. Gemeinsam gingen sie den gewundenen Feldweg entlang, der zurück zum Herzen der Menschensiedlung führte. Sie vermuteten, dass die Jungen sich wieder in der alten Eiche versteckten, einem dicken und knorrigen Baum, der vom Wetter hohl geworden war, sodass ein ausgewachsener Mann darin Platz fand, und welcher immer der liebste Spielplatz der Brüder gewesen war. Die Eiche selbst stand direkt am Wegesrand. So spendete sie im Sommer den Vorübergehenden sanften Schatten und hieß einem bei Regen willkommen, sich in ihrer Höhlung ein trockenes Plätzchen zu suchen. Da es hier in den Hochebenen nur wenige Bäume gab, bis auf die vereinzelten kleinen Misch- und Nadelwälder, zog die Eiche sofort seine Blicke auf sich.

Als die beiden Frauen jedoch ankamen, mussten sie zu ihrer Enttäuschung feststellen, dass die Jungen nicht da waren.

„Haben sie denn nicht erzählt, wo sie hin wollten?“, fragte Kazary nachdenklich.

Alyssa schüttelte den Kopf: „Nein…“

Gemächlichen Schrittes gingen sie nach Hause, in der Hoffnung, die Jungen dort anzutreffen.

Nach etwa der Hälfte des Weges fragte Alyssa: „Werdet Ihr uns verlassen? Wenn der Winter vorüber ist?“

Überrascht wandte sich die Elfe nach ihrer Freundin um. Die Frage kam so unerwartet, dass sie nicht wusste, wie sie antworten sollte. Wenn sie es recht überlegte, wusste sie es selbst nicht. Der Befehl des Königs lautete zwar, dass sie hier bleiben solle, um das Dorf zu schützen, solange die Kämpfe kein Ende gefunden hatten, doch könnte er sie jederzeit einberufen und an die Front schicken. So wie Lavinia… nur dass sie schon den ganzen Sommer über gewusst hatte, dass sie würde kämpfen müssen. Vor dem Blutvergießen selbst hatte Kazary keine Angst, schließlich hatte sie den größten Krieg in der Geschichte Doriens miterlebt, was ihr Sorgen bereitete, war, dass sie vielleicht für die falsche Sache kämpfte. Die Fehde zwischen den Beiden Reichen Dorien und Xu währte nun schon so lange, dass keiner mehr recht wusste, was der Grund für all den Hass war.

Anscheinend konnte man ihrem Gesichtsausdruck genau entnehmen, was sie dachte und fühlte, denn Alyssa sah sie besorgt an.

„Ich kann nicht genau sagen, was nach dem Winter kommen wird“, gab die Elfe letztlich zu, „Ich weiß nur, dass ich hier eingeschlossen bin, sollte der König mich nicht vor dem ersten Schnee zu sich rufen. Und mit Arsinoe fliegen kann ich dann wahrscheinlich nur noch selten. Die Hochebenen sind normalerweise zu kalt und die Drachen meiden sie, sofern es nicht dringend notwenig ist.“

„Ich verstehe…“, murmelte ihre Freundin und wandte das Gesicht ab.

Den Rest des Weges herrschte getrübtes Schweigen. Keine der beiden Frauen wagte auszusprechen, was eben in ihren Köpfen vor sich ging, wenn sie auch dasselbe dachten.

Sie erreichten die Holzhütte und traten in den großen Raum, in dem die Familie an langen Abenden zusammen saß, um ihre Erfahrungen miteinander zu teilen und die Feste des Jahreszyklus zelebrierten. Eilig durchschritten sie die Halle und betraten die Küche, wo sie die beiden Eimer mit den Beeren auf den schweren Holztisch stellten.

Von der Treppe her hörten sie laute Schritte und Rufe.

„Kazary, Alyssa! Da seid Ihr ja!“

„Schaut, was wir erlegt haben!“

„Das haben wir ganz alleine gemacht!“

Im heillosen Durcheinander kamen Alyssas Brüder die Treppe herunter gestürzt. Einer von ihnen hielt ein Paar Kaninchen in den Händen und schwenkte sie stolz durch die Luft. Als sie jedoch Alyssas erzürntes Gesicht sahen, hielten sie schlagartig in ihrem Lauf an, sodass sie ungeschickt übereinander fielen.

„Wie oft habe ich euch Lausbuben bereits gesagt, dass ihr nicht immer fortlaufen sollt! Wo habt ihr euch denn nun schon wieder ´rum getrieben?“

„Lomion hat uns zum Jagen mitgenommen!“, antwortete Melvyn, ein kleiner Junge von 7 Sommern mit wilder brauner Mähne und frechem Grinsen. Hektisch deutete er auf seinen älteren Bruder.

Alyssas Blick wanderte zu Lomion herüber. Mit seinen 14 Jahren war er der älteste der Brüder, weshalb sie gerade von ihm zumindest einen Funken Vernunft und Anstand erwartet hätte.

Dieser zuckte jedoch nur unbeteiligt mit den Schultern.

„Sei doch froh, Schwester, dass ich dafür gesorgt habe, dass sie dich nicht bei der Arbeit belästigen. Sonst wäret ihr heute Abend noch nicht mit dem Sammeln fertig geworden.“

Bei diesen Worten deutete er zu den beiden randvoll mit Beeren und Wildfrüchten gefüllten Eimern.

„Sieht so aus, als hätte Lomion ausnahmsweise Recht“, sprach die Elfe beruhigend, „Und wenn wir die Sache von der positiven Seite betrachten, habe ich mir sogar die Arbeit sparen können, jagen zu müssen.“

Kopfschüttelnd seufzte Alyssa. Im Grunde wusste sie, dass ihr Bruder es nur gut gemeint hatte, aber dennoch änderte es nichts an der Tatsache, dass sie sich große Sorgen um die vier gemacht hatte. Nach einem Augenblick der Überlegung entschied sie, die Sache für heute auf sich beruhen zu lassen und sich stattdessen anderen Dingen zuzuwenden.

Es war Marbon, die Zeit der zweiten Tag- und Nachtgleiche und sie erwarteten Gäste, um mit diesen die reiche Ernte zu feiern. Dies würde die letzte Gelegenheit sein, seine Verwandten aus ferneren Dörfern und Städten um sich zu scharen, ehe die verregneten Tage begannen.

Kazary genoss diese letzten Augenblicke der leuchtenden Farben und noch warmen Sonnenstrahlen, denn sie wusste, dass sie nun den ganzen kommenden Winter über hier in diesem Dorf in den Hochlanden eingeschlossen sein würde. Arsinoe würde sicher wie all die Jahre zuvor sich einen Ruheort jenseits der Berge suchen oder sich zu ihren Artgenossen gesellen und der tiefe Schnee würde es bestimmt unmöglich machen, den langen Weg bis zum nächsten Dorf zu Fuß zurückzulegen. Mittlerweile war es für die Elfe undenkbar geworden, auf ihr neu gewonnenes Leben zu verzichten. Seit sie damals mit Lavinia in der Hauptstadt gewesen war, hatte etwas eine Flamme in ihr entfacht, die sich nicht mehr löschen ließ und ihr immer mehr das seltsame Gefühl gab, in diese Welt der Krieger und Helden, der Edlen und vor allem der der Drachenreiter gehören zu wollen. Manchmal glaubte sie, einige Gesichter wieder zuerkennen wie durch einen Schleier, doch wenn sie genauer hinsah, waren sie ihr wieder fremd. Aber was war mit ihrer Familie, mit den Menschen, die sie so großzügig aufgenommen hatten? War sie es ihnen nicht schuldig, ihnen zu helfen und bei ihnen zu bleiben, so lange sie sie duldeten? Wäre sie denn nicht eine Verräterin, wenn sie die Leute hier zurückließ, um ein Leben, das vergangen war, wieder von vorne zu beginnen? Vielleicht war es ja besser so, dass sie sich nicht erinnerte, wer mochte schon wissen, was sie einst getan haben könnte. Vielleicht war es ja auch besser so, dass der Winter sie hier gefangen halten wird. Und vielleicht war es ein Fehler gewesen, je die Tür zu ihrer Vergangenheit geöffnet zu haben und sie sollte alles vergessen und sich dem hier und jetzt zuwenden…

Gegen Abend waren alle Vorkehrungen getroffen worden, sodass die Freunde und Verwandten nun ohne weiteres eintreffen konnten. Kazary nahm die freudige Stimmung jedoch nur schleierhaft war. Zumeist saß sie nur auf der hölzernen Bank und betrachtete das Geschehen in dem großen Wohnraum um sie herum. Sogar die etlichen Bitten der vier Jungen und der anderen Kinder, die sich eingefunden hatten, mit ihnen zu spielen und ihnen von ihren Ausflügen und Abenteuern zu erzählen lehnte sie höflich, wenn auch entschieden, ab. Einer der Verwandten hielt eine Rede auf das fruchtbare Jahr, doch sie hörte kaum zu. Selbst das Essen, das man ihr auftrug, rührte sie kaum an. Die trüben Gedanken des Tages hatten ihr den Appetit und die gute Stimmung geraubt.

Später am Abend sah sie schweigend zu, wie Alyssa auf einer Panflöte zu spielen begann, während die anderen zu der Musik tanzten. Nach einer Weile jedoch kam Landal, Alyssas Vater und das Oberhaupt der Familie, zu ihr herüber und nahm neben ihr Platz.

„Du bist so still heute, fühlst du dich nicht wohl?“

„Ich…ich weiß nicht…“, murmelte die Elfe zur Antwort.

„Sag, was beschäftigt dich? Es ist wegen ‚ihnen’, habe ich Recht?“

Kazary nickte nur. Sie wollte nicht gerne darüber reden, doch Landal kannte sie einfach zu gut, als dass er sie mit ihren Gedanken alleine ließ.

„Weißt du noch, wie wir dich damals fanden, vor über dreißig Jahren? Ich war damals ein kleiner Junge, der nichts von dem Leben außerhalb unseres Dorfes wusste. Elfen kannte ich nur von den Erzählungen meiner Verwandten, die gelegentlich zur Elfensiedlung im alten Wald reisten, um Handel mit ihnen zu treiben. Sie erzählten mal, die Elfen seien wunderschöne Wesen, von unendlicher Weisheit und unsterblich, ein anderes Mal hörte ich sie sagen, Elfen seien wegen ihrer Macht eitel und kaltherzig und sie seien es, die den Krieg zu verschulden hätten, denn die Dunkelelfen und die Elfen des Lichtes sein vom gleichen Schlag. Dann bist du aufgetaucht. Ich war verwundert, als ich dich sah. Nie konnte jemand, der so verletzlich aussah kaltherzig sein! In all den Jahren bist du mir eine teure Freundin und Schwester geworden, und ich bin froh, dass meine Kinder ebenso von dir denken. Doch ich wusste seit langem, dass es dich eines Tages fortziehen würde. Man kann ein Geschöpf wie dich nicht gefangen halten. Und du hattest die Kleidung der königlichen Armee, du musstest also früher oder später auf deine Artgenossen stoßen und in deine Welt zurückkehren…“

„Das weiß ich, aber du und deine Familie, ihr habt mich all die Jahre so großzügig aufgenommen und meine Wunden geheilt“, unterbrach Kazary ihn, „Ich fühle mich wie eine Verräterin, wenn ich euch für etwas verlasse, das in ein Leben gehört, welches nicht mehr das selbe ist.“

„Du hast schon so viel getan, womit du deine Dankbarkeit hättest zeigen können. Und es ist nicht falsch, wenn du dich nach deiner Vergangenheit sehnst. Schließlich gehörst du sowohl zu uns, als auch in dein altes Leben, welches das auch immer sein mochte. Warte den Winter erst einmal ab, denn solange der Schnee liegt, wirst du ohne hin nichts unternehmen können, außer zu überlegen und deine Entscheidung in aller Ruhe zu treffen. Und wer weiß, vielleicht musst du dich ja gar nicht entscheiden!“

Mit einer Geste der Ermutigung erhob er sich und schloss sich wieder der Gruppe Tanzender an.

Vielleicht hatte Landal ja wirklich Recht, überlegte Kazary. Sie gehörte sowohl zu den Menschen hier, als auch zu den Drachenreitern. Eine übereilte Entscheidung wäre das Schlimmste, was sie machen könnte. Und da sie während des kommenden Winters ohne hin nicht mit Arsinoe reisen könnte, würde sie sich sie Sache in aller Ruhe überlegen können.

Vielleicht gab es ja tatsächlich eine Möglichkeit, teil an beiden Welten zu haben.

Endlich wieder erheitert begann sie, sich zu ihren Freunden zu gesellen.

Prinzessin Caileen

Der Winter kam und ging. Schnee fiel, verwandelte die Hochebenen, und schmolz bald wieder. Yule, die zwölf Raunächte und auch Imbolc waren vorüber gezogen, wie sie es jedes Jahr taten. Das Schmelzwasser aus den Bergen hatte sich seinen Weg durch die Ebenen hinab in die Täler gebahnt und bildete kleine Flüsse, an welchen sie mit Krügen schöpften und ihr Vieh tränkten. Die Welt erwachte aus ihrem Winterschlaf und Kazary kam es vor, als wäre die Zeit, die sie bei den Drachenreitern verbracht hatte, nur ein aufregender Traum gewesen. Wie es nun weitergehen würde, wusste sie immer noch nicht so recht. Wahrscheinlich würde Arsinoe in wenigen Tagen wieder zurück kehren und mit ihr auf Erkundungsflüge über das Dorf gehen, so wie sie es jeden Frühling taten, wenn es in den Hochebenen wieder warm genug war. Vielleicht würden sie die Leute aus Tirganach sogar vergessen haben und sich nicht darum scheren, was sie tat. So würde sie zumindest keine Entscheidung fällen müssen. Im Geheimen aber fiel es ihr ebenso schwer, ihr neu gewonnenes Leben loszulassen.

Doch auch in der Hauptstadt hatte das Leben seinen Lauf genommen. Hier war der Winter weniger hart wie in den Hochlanden, und trotzdem freuten sich die Einwohner auf die sonnigeren Tage des neuen Jahres, denn sie hatten einen Sieg zu feiern. Während der kalten Jahreszeit hatte es wieder Kämpfe gegeben, diesmal hatten die Dunkelelfen eine kleine Stadt nahe der Grenze zwischen Dorien und Xu angegriffen. Die Häuser waren geplündert und in Brand gesetzt worden. Der Gilde der Drachenreiter war nichts anderes übrig geblieben, als die Stadt zu evakuieren, ehe sie den Kampf aufnehmen konnten. Dennoch waren nur wenige Bürger verletzt worden und sie hatten die Streiter der Dunkelelfen zumindest fürs erste vertrieben. Mit lautem Jubel und großer Freude wurden die Krieger in ihren Heimatdörfern empfangen.

„Mein König, der Hauptmann ist zurückgekehrt.“

König Meleander Stand auf einem Balkon der vielen Türme des Schlosses und war tief in Gedanken versunken. So konnte es nicht ewig weitergehen. Sie konnten den Dunkelelfen wohl kaum ewig standhalten, aber was sollte er tun?

„Mein Herr…“, wiederholte die Dienerin, die vorsichtig zu ihm herangetreten war.

Überrascht, dass man ihn so urplötzlich aus den Gedanken gerissen hatte, wandte sich Meleander nach dem Mädchen um.

„Hat er also seinen Auftrag erfüllt?“

„Ja, Herr, dem scheint so.“

„Nun, dann lass ihn kommen, mein Kind“, erwiderte er, worauf die Dienerin verschwand, nur um wenig später mit einem standfesten und entschlossen und zugleich etwas überfordert wirkenden Daeron zurückzukehren.

Dieser verneigte sich tief und sprach: „Ich habe getan, was Ihr mir aufgetragen habt, mein König, die Flüchtlinge wurden an sichere Orte gebracht, Wachen wurden an allen Grenzstädten und –Dörfern postiert und Nachricht an alle Drachenreiter geschickt, deren Drachen sich während des Winters fern ihrer Bundsbrüder aufhalten mussten.“

„Ich danke Euch, und es wundert mich zutiefst, wie Ihr es schafft, Eure Aufträge immer eher ausgeführt zu haben und früher zurück zu sein, als man erwartet!“, lächelte der König erleichtert über diese Nachricht. Doch war da immer noch eine Sache, die ihm Sorgen bereitete. Er konnte es sich nicht erklären, doch etwas im tiefsten Inneren seines Herzens sagte ihm, dass seit jener Schlacht vor über dreißig Jahren ein Netz aus Intrigen gesponnen wurde, dem er sich wohl nicht mehr entziehen können würde.

„Findet Ihr die Ähnlichkeit nicht auch überraschend, Hauptmann?“

Daeron stutze: „Bitte, welche Ähnlichkeit, mein König?“

„Die zwischen dieser Elfe, Kazary, und meiner Schwester. Glaubt ihr, es wäre möglich, dass es nur eine Intrige ist, um mich zu schwächen?“, erklärte Meleander mit abwesenden Blick.

„Nein, mein Herr, das glaube ich wohl kaum“, der Hauptmann schüttelte den Kopf, während er näher zu dem König trat, „Sie ist eine Freundin von Lavinia vom Kristallsee, die ich schon seit meiner Kindheit kenne. Ich setze großes Vertrauen in Lavinia und ich weiß, sie würde nie eine Verräterin in die Stadt bringen. Außerdem habe ich Kazary kennen gelernt, sie ist eine gutherzige und mutige Frau, nur etwas verwirrt, weil sie so viele Fragen hat, weil sie sich gerne erinnern würde, doch keinen Anhaltspunkt auf ihr Vergangenheit findet.“

Meleander seufzte. Ständig sah er das Bild von Caileen, seiner Schwester vor sich, wie sie trotz langer, wallender Kleider, etwas knabenhaft durch die Säle und Gänge des Schlosses lief und den Wachen im strengen Ton Anweisungen gab, nur um im nächsten Augenblick wieder eine diskrete, höfliche, etwas verlegene junge Frau zu sein. Dann sah er diese Kazary, wie sie in eben demselben Kleid durch das Schloss rannte, um den Attentäter aufzuhalten. Es war, als wäre seine Schwester wieder auferstanden.

„Mein Herr?“

Meleander schreckte aus seinen Gedanken auf.

„ Ich möchte, dass alles daran gesetzt wird, herauszufinden, wer diese Frau ist. Und sorgt bitte dafür, dass sie in die Stadt kommt!“

„Wie ihr wünscht!“, entgegnete der Hauptmann, verneigte sich erneut und verschwand dann in den zahllosen Gängen des Palastes.

Mit raschen Schritten eilte er eine der vielen Treppen hinab, froh darüber, nur wenigen Bediensteten zu begegnen. So konnte er eine ihm wohl bekannte Abkürzung nehmen. Als er in den Nordbereich des Palastes gelangte, wandte er sich einem stillen Seitenflügel zu und begann, die Türen zu seiner Linken, welche er passierte, abzuzählen. Bei der vierten Tür hielt er inne und betrat den sich dahinter befindlichen Raum. Es war nur eine kleine Studienkammer, elegant, und dennoch sparsam möbliert, mit einem kleinen Teppich auf dem Holzboden, einem Schreibpult, einigen Kerzenleuchtern, einem beinahe leeren Bücherregal und einem Schränkchen für Tintenfässer, Papier und Schreibfedern. An den Wänden befand sich nur ein einziges Gemälde; ein idyllischer Garten mit Marmorstatuetten und einem Weiher, auf dem die Seerosen blühten. Vorsichtig griff Daeron hinter den silbernen Rahmen. Ein leises Klicken ertönte und dann schwang das Kunstwerk zur Seite. Ein kleiner Pfad, von Fackellicht erhellt, führte dahinter in die Tiefe. Daeron übertrat die Schwelle des Geheimganges und verschloss diesen wieder sorgfältig hinter sich. Laut hallten seine Schritte wider, während er dem Tunnelgang weiter folgte, bis er schließlich auf eine Weggabelung stieß. Hier wandte er sich nach rechts. Bald schon begangen sich zu seinen Seiten Türen in den kalten Steinwänden zu erheben, dieselben schwere Türen, die es immer waren. Hinter einigen konnte er sogar Stimmen hören, Stimmen all jener, die denselben Pfad eingeschlagen hatten, wie er, die Stimmen der Drachenreiter. Doch er hatte keine Zeit, sich lange hier aufzuhalten, er musste weiter gehen. Sein Weg führte ihn einige Steinstufen hinauf zu einer weitläufigen, runden Halle, von der aus endlos viele Gänge abzweigten. Einige andere Drachenreiter kreuzten seinen Weg und grüßten ihn mit der üblichen Geste. Unter ihnen erkannte er Kalenth, der gemeinsam mit seiner Lyenn während des Winters von den kalten Sturmfelsen in die wärmeren Gebiete nahe dem Fluss Cerin gezogen war, und erst vor kurzem wieder zurückgekehrt war.

„Seid gegrüßt Hauptmann!“, verneigte sich der Halbelf höflich und setzte an zum Weitergehen.

„Wartet einen Augenblick!“, bat Daeron diesen, „Ich hätte einen Auftrag an Euch, bitte macht Euch mit Lyenn in die Hochebenen auf und sucht nach Kazary und, sofern sie aus ihrem Winterhorst zurückgekehrt ist, auch nach Arsinoe. König Meleander wünscht sie unbedingt zu sprechen!“

Kalenth nickte: „Unverzüglich, ich werde mich sofort auf den Weg machen“, und eilte mit raschen Schritten den Gang zurück, von dem er gekommen war.

Inzwischen bog Daeron in einem der vielen Gängen zu seiner Linken ab. Hätte er die oberirdischen Pfade genommen, würde er wohl noch eine Ewigkeit brauchen, um die Bibliothek, in welcher auch alle Aufzeichnungen über die letzten Kriege aufbewahrt wurden, zu erreichen, weshalb er froh war, dass sie dieses geheime Tunnelsystem unter der Stadt angelegt hatten, von dem nur die Drachenreiter wussten. So konnte er schnell zu der kleinen Leiter gelangen, die hinauf zu einer losen Steinplatte in dem ordentlichen Straßen des obersten Stadtringes führte, und den Hauptmann, nachdem er hinaufgeklettert war und die Steinplatte wieder an ihren rechten Platz geschoben hatte, in eine friedliche Seitengasse nahe der Bibliothek führte. Vor dem großen Eingangsportal waren zwei Wachen postiert, ein Mensch und eine Halbelfe, wie Daeron auf dem ersten Blick erkennen konnte. Seit dem Vorfall auf dem Maskenball waren viele Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Mit knappen Worten trug der Hauptmann sein Anliegen vor und die beiden ließen ihn passieren.
 

Unterdessen war Kalenth durch die Falltür in dem hintersten Zimmer von Arvigs Wirtshaus gestiegen. Während er an dem Tresen vorbei zur Tür hastete, grüßte er Arvig noch kurz, ehe er die Straßen des äußeren Stadtringes betrat. Dort herrschte wie immer reges Treiben, doch seit die Flüchtlinge eingetroffen waren, wirkte die Stadt noch voller und unüberschaubarer als sonst. Oft stieß er mit den Leuten zusammen, verlor die Orientierung oder man versperrte ihm den Weg. Schließlich schaffte er es dann doch irgendwie, das große Stadttor zu erreichen.

„Öffnet das Tor, im Auftrag des Hauptmanns der ersten Wacht!“, rief er den Wächtern entgegen, die sich sofort an die Arbeit machten. Eilig durchschritt er das Tor und wandte sich in Gedanken an Lyenn: „Wir brauchen deine Hilfe, Schwester, du findest mich vor der Stadt!“

Eine Weile lief er die Strecke zwischen dem Kristallsee und den Stadtmauern auf und ab, sah dabei ständig zum Himmel, bis er das Drachenweibchen ausfindig machen konnte. Geschickt landete sie vor seinen Füßen. Lyenn war etwas kleiner als die meisten Drachen in Dorien, doch gerade deshalb war sie überaus wendig. Ihr Schuppenpanzer ging etwas ins grün-gelbliche. Fragend legte sie den Kopf schief.

„Was gibt es denn so wichtiges?“

„Hauptmann Daeron verlangt, dass wir Kazary aus den Hochlanden nach Tirganach bringen“, erklärte er, „Wir haben Arsinoe doch im Winter am Fluss Cerin gesehen, auch sie hatte dort den Winter verbracht… erinnerst du dich noch, welchen Weg sie genommen hat?“

„Ja, und wenn ich mich nicht irre, sollte bereits wieder bei Kazary sein…“, antwortete das junge Drachenweibchen und legte sich dann nieder, damit Kalenth aufsteigen konnte.

„Dann auf!“, rief dieser, als er Platz genommen hatte.

Gemeinsam erhoben sie sich in die Lüfte. Je mehr sie an Höhe gewannen, desto kühler wurde der Frühlingswind, der sie umspielte. Bald schon erschien Kalenth die Landschaft unter ihm wie geschrumpft. Gemeinsam wandten sie sich Richtung Norden, dorthin, wo die Berge nahe den Aschefeldern lagen. Kalenth kannte dieses Gebiet nicht sonderlich gut, denn die Kriege gegen die Dunkelelfen bei der Narbe lagen noch vor seiner Geburt, auch versuchte er das alte Schlachtfeld, wenn möglich, zu vermeiden. Es bereitete ihm Unbehagen. Daher wunderte es ihn, dass Kazary, die, wie alle vermuteten, ebenfalls gegen die Dunkelelfen gekämpft hatte, in einem Dorf lebte, welches der Narbe so nahe war. Doch nach all dem, was Arsinoe Lyenn, und diese ihm berichtet hatte, war diese Elfe nur noch halb so wunderlich. In Wahrheit tat sie ihm sogar Leid.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Sie befanden sich nun hoch oben in den Lüften, unter ihnen die Hochebenen und das Almland. Und mitten in dieser Landschaft fand sich ein kleines Bergwäldchen. Aber da war noch etwas. In Gedanken bat er Lyenn, tiefer zu fliegen, um zu sehen, was da war. Als Halbelf waren seine Augen zwar besser als die der Menschen, aber dennoch nicht so weitsichtig und scharf wie die der vollblütigen Elfen.

Während das Drachenweibchen allmählich dem Erdboden entgegenkam, klärte sich sein Blick. Unter ihm befand sich ein Dorf, oder besser eine Siedlung, deren Bewohner, allesamt Menschen, wie es ihm schien, sich zusammenscharten und in die Höhe deuteten. Wahrscheinlich hatten sie ihn ebenfalls bemerkt.

„Dies müsste das Dorf sein…“, hörte Kalenth Lyenns Stimme in seinem Kopf, während sie landeten.

Sofort kam ihm ein Schwall von Leuten entgegen, um zu hören, was er, ein Drachenreiter, an einem solch entlegenen Ort suchte. Darunter waren auch ein paar Jungen, die wild durch die Menge tobten. Es waren vier, höchstwahrscheinlich Brüder, stellte Kalenth nachdenklich fest. Der älteste von ihnen bemühte sich verzweifelt, die anderen beisammen zu halten, wobei sein jüngster Bruder etwas schüchtern an seiner Seite stehend Lyenn bestaunte. Die beiden anderen trieben ihr Unwesen und machten sogar vor Lyenn keinen halt, deren Rücken sie zu erklimmen versuchten. Kalenth biss sich auf die Unterlippe. Normalerweise mochte seine geliebte Lyenn es überhaupt nicht leiden, wenn Fremde vollkommen respektlos und unbeholfen mit ihr umsprangen, doch diese Jungen schienen zu wissen, was sie taten. Geschickt stiegen sie einer nach den anderen auf das leicht gebeugte Knie ihres Hinterlaufs und schwangen sich dann auf ihren Rücken. Zu seiner allergrößten Verwunderung ließ Lyenn sogar alles schweigend über sich ergehen.

„Verzeiht, mein Herr!“, entschuldigte sich der älteste der Brüder völlig außer Atem für die beiden.

Ein Lächeln glitt über Kalenths Gesicht. Ein Blick zu Lyenn verriet ihm, dass sie sich gut mit den beiden verstand.

„Schon gut, Junge“, antwortete er, wieder an den ältesten gewandt, wobei er die rechte Hand auf die Brust legte und sich zum Gruß verneigte, „Mein Name ist Kalenth vom Sturmfelsen, im Bunde mit Lyenn!“

Der Junge verneigte sich ebenfalls tief: „Dann sucht Ihr gewiss nach Kazary!? Kommt, ich führe Euch zu ihr!“

Kurz und bestimmt pfiff er seinen Brüdern zu, die sich unverzüglich zu ihm gesellten. Ehe er sich den vieren anschloss, wandte sich Kalenth noch einmal kurz an Lyenn, strich ihr über den schönen Schuppenpanzer und bat sie, hier zu warten. Der Älteste, der sich ihm übrigens als Lomion, Sohn des Landal, vorgestellt hatte, führte ihn durch das gesamte Dorf, vorbei an Häusern, kleinen Gärten, vorbei an einem großen knorrigen Baum, den einige Kinder zum Spielen nutzten, bis zu dem kleinem Gebirgswald, der gerade erst zu Knospen begonnen hatte. Unter den Bäumen erkannte er zwei Frauen. Eine von ihnen mit recht kurzem braunem Haar und sandfarbenem Kleid, die andere, die er ohne überlegen zu müssen als Kazary erkannte, in kurzer grüner Tracht und langem zu dem üblichen Zopf geflochtenen roten Haar.

Freudig lief er den beiden entgegen.

„Kalenth… du… hier?“, fragte Kazary verwundert, nachdem sie sich, ebenso wie Kalenth vor ihr, ihre Schwerthand auf ihr Herz gelegt und sich verneigt hatte.

Ernst sah er sie an: „Hauptmann Daeron schickt mich mit einem Auftrag von König Meleander… ich weiß zwar nicht, warum, aber es muss sich um etwas Wichtiges handeln, so eilig, wie Daeron es hatte, dass dich jemand erreicht.“

„Was könnte es schon so wichtiges geben, das der König nicht alleine lösen kann!“, mischte die braunhaarige sich in das Gespräch ein, „Etliche Jahre ist eine seiner kostbaren Garde verschwunden, doch niemand hat sich auf die Suche nach ihr gemacht, oder sich um ihr Befinden geschert. Und nun? Nun glaubt ihr, das Recht zu haben, über ihr Leben zu entscheiden!?“

Verwundert über diese Schlagfertigkeit sah er sie an. Ihr braunes Haar war willkürlich knapp über den Schultern abgesäbelt worden, im Farbton war es dem der vier Jungen, die ihn hierher geführt hatten, sehr ähnlich. Vielleicht gab es eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen ihnen. In ihren ebenso braunen Augen lag etwas Stechendes und ihr Sommersprossen geziertes Gesicht, das wohl oft lachte, nahm nun, da er sie so anstarrte und schwieg, eine Art hämischen, frechen Grinsens an.

Sein Blick fiel auf ihre Kleider. Sie trug eine etwas fadenscheinige weiße Schürze über ihrem Kleid, die Ärmel hatte sie bis zu den Schultern hoch gerollt. Nun fiel ihm auf, dass sie einen Dolch, oder besser gesagt ein Jagdmesser in den Händen hielt.

„Du musst Alyssa entschuldigen, Kalenth, sie ist nicht sonderlich gut auf den Adel zu sprechen. Und außerdem, weiß ich nicht, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn ich hier bleiben würde“, sprach Kazary, ehe ihm auch nur eine Antwort auf Alyssas Vorwurf eingefallen war.

„Was?“, fragte er überrascht.

„Du hast mich schon richtig verstanden… ich weiß nicht, ob ich überhaupt zurück zu euch möchte…“

„Aber, Kazary…!?“

Kalenth wollte nicht glauben, was er da hörte. Er sollte den ganzen Weg geflogen sein, nur um zu erfahren, dass sie nicht wieder zu den Drachenreitern zurückkehren wollte? Wieso nur? Als er sie und Arsinoe kennen gelernt hatte, schien sie doch noch so versessen darauf gewesen zu sein, zu erfahren, wer sie in ihrer Vergangenheit gewesen war, und mehr über ihre Gilde zu lernen. Sie alle hatten diese fremde Elfe sofort ins Herz geschlossen. War sie denn nicht glücklich bei ihnen gewesen? Konnte es sein, dass sie etwas über sich und ihre Vergangenheit herausgefunden hatte, das sie davon abhielt, zu ihnen zurück zu kehren? Wie um alles in der Welt sollte er das nur Lavinia verständlich machen?

Er seufzte: „Willst du denn nicht zumindest wissen, was König Meleander so wichtiges zu sagen hat? Und wenn du dich dafür entschieden hast, in diesem Dorf zu bleiben, solltest du dich zumindest von allen, ganz besonders von Lavinia, verabschieden.“

Als er Lavinias Namen erwähnte, wandte die Elfe das Gesicht schuldbewusst zur Seite. Kalenth wusste, wie nahe sich die beiden standen, und erhoffte sich gerade deshalb, dass Kazary zur Vernunft kommen würde. Dennoch zögerte sie.
 

„Das kann doch nicht wahr sein!“, murrte Daeron leise, während er ein Buch nach dem anderen durchforstete.

Er saß schon seit einigen Stunden hier. Vergebens, denn nirgends konnte er eine Antwort auf seine Fragen finden. Mittlerweile hatte er sich bis in die entlegensten Abteilungen der Bibliothek vorgearbeitet und nahm nun einige Aufzeichnungen von den Kriegsjahren zur Hand.

„Gefallene, Verwundete und Verschollene der ehrenhaften Gilde…“, murmelte er den Titel eines Berichtes vor sich hin, „ Sivella aus Harlon und Lyra, beide gefallen. Elijah aus Süddorien verstorben, das Drachenweibchen Inae verwundet. Annuniel aus Tirganach und Rohan, beide lange bewusstlos… nein… auch nichts…“

Enttäuscht legte er die Liste beiseite, als er wieder einmal las, dass Caileen entweder verschollen war oder für tot erklärt wurde und dass ihr Drache kurz darauf ebenfalls verschwunden war. Alles lief auf das Gleiche hinaus. Wollte sich denn keiner an sie erinnern? Caileen hatte doch alles für diese Leute gegeben, hatte sich immer für die Armen und Schwachen eingesetzt, immer darauf bestanden, dass sie, als Tochter des Herrschers und Schwester des Thronerben, von ihren Reichtum abzugeben hätte… wieso nur wollte man sich einfach nicht an sie erinnern? Alle hatten sie doch bewundert und verehrt! Vielleicht aber war gerade das der Grund, weshalb alle versuchten, die Prinzessin aus ihrem Gedächtnis zu streichen, die Erinnerung war einfach zu schmerzhaft…

So in Gedanken und Erinnerungen verloren ging er noch einmal alle Schriftstücke durch. Schließlich erregte ein kleines, in dunkles Leder gebundenes, ziemlich zerfleddert wirkendes Buch seine Aufmerksamkeit. Vorsichtig schlug er die ersten Seiten auf. Wie die anderen Schriftstücke handelte auch dieses hier von dem großen Krieg gegen die Dunkelelfen, aber eines war anders. Das Buch, das er in den Händen hielt war, so stellte er nach einigen Zeilen fest, ein Augenzeugenbericht über die Ereignisse während und nach den Schlachten. Die Verfasserin schien eine gewisse Elodris zu sein.

„Elodris…“, wiederholte der Hauptmann.

Es gab eine Elodris hier in Tirganach. Sie war Heilerin und Zauberin gewesen und hatte sich während des Krieges um die Verwundeten gekümmert. Damals hatte sie den Oberbefehl über die Heiler, die die Kämpfenden auf das Schlachtfeld begleitet hatten. Angeblich habe sie der Königin sehr nahe gestanden und sei zu tiefst bestürzt gewesen, als man erfahren hatte, dass diese, nachdem König Meleborn, ihr Gemahl und Vater von Meleander und Caileen, in der ersten Schlacht gefallen war, den Gifttod aus Trauer um den Verlust ihres Mannes gewählt hatte.

Behutsam schlug er die nächsten Seiten auf und las darin: „Die Krieger hatten sich auf den Weg zurück gemacht, doch wir blieben auf dem Schlachtfeld. Trauer erfüllte mein Herz bei dem Anblick, der sich einem bot. Die gesamte Ebene, einst fruchtbar und grün, war verkohlt, schwarz, verbrannt. Die Zauber der Bannweber hatten die Erde gespalten, sodass ein Abgrund sich im Boden auftat.

Gemeinsam mit einigen Novizinnen schlugen wir unsere Zelte auf, denn unser Handwerk mochte einige Nächte in Anspruch nehmen. Dann begannen wir, die Lebenden von den Verwundeten zu unterscheiden und während einige die Leichen begruben, machte ich mich mit meinen Vertrauten daran, Blutungen zu Stillen und Verbrennungen zu kühlen.

Als der Abend dämmerte, legten wir eine Rast ein, denn auch unsere Kräfte schwanden nach Stunden harter Arbeit. Zu jener Zeit hielt ich Nachtwache. Ich kann immer noch kaum glauben, dass es unseren Leuten gelungen war, die Dunkelelfen aus dem Norden unseres Reiches zu vertreiben. Hätten unsere Ahnen uns doch nicht mit diesem Schicksal gestraft!

Bereits schliefen alle, sowohl die Heiler, als auch unsere Patienten, denen wir Tränke für Erholung und Ruhe verabreicht hatten, da erblickten meine Augen einen Schatten über dem Abgrund. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich einen Drachen. Während der Kämpfe hatte ich so viele Drachen gesehen, dass sie mich nicht mehr verwundern sollten, doch dieser tat es. Langsam näherte ich mich so dem Abgrund, um zu sehen, was dort vor sich ging. Ein seltsames Gefühl überkam mich, als ich das edle Wesen vor mir sah. Mit Gesten versuchte das Weibchen mir etwas mitzuteilen, und anfangs fiel es mir auch schwer, ihr Handeln zu deuten, doch letztlich verstand ich: Etwas musste auf dem Grunde des Erdrisses sein, das für sie von großer Wichtigkeit war. Ich fragte, was dort denn läge, doch sie sah mich nur verwirrt an. Schließlich besorgte ich mir ein Seil von unserem Lagerplatz und stieg die Klippen hinab. Dort fand ich, nachdem ich eine Weile des Kletterns auf mich genommen hatte, reglos auf einem Vorsprung liegend eine Elfe. Es bedurfte keinen Seher, um zu wissen, dass es sich bei dieser Frau um die Reiterin des Weibchens handelte. Wieder über Tage ward es mir auch möglich, das Gesicht der Reiterin zu erkennen. Ein Schock durchfuhr mich, da mir klar wurde, dass ich Caileen vor mir hatte. Seid Meleborns Tod hatte ich die nicht mehr gesehen. Zu meiner Erleichterung war sie lediglich bewusstlos. Hier aber konnte sie nicht bleiben. So gab ich Arsinoe, denn dies war der Name von Caileens Gefährtin, mit Gesten zu verstehen, dass sie das Mädchen fort bringen müsse. Und sie verstand. Ehe Arsinoe jedoch die Prinzessin in Sicherheit vor dem, was ihr am liebsten erspart bliebe, bringen konnte, gab ich ihr eine Phiole mit einem Trank, den sie beide zu ihrem eigenen Schutze und zu dem aller anderen trinken mussten. Dann sah ich sie durch die Nacht dahin gleiten, während ich ins Lager zurückkehrte. Ich sagte meinen Kameraden nichts.“

Der Hauptmann ließ das Notizbuch dumpf zuklappen. Er brauchte nicht weiter zu lesen, um zu ahnen, was für ein Trank das gewesen sein mochte, den Elodris den beiden eingeflößt hatte. So hatten sich des Königs Ahnungen als richtig erwiesen. Caileen und Kazary… spätestens bei dem Namen Arsinoe hätte es ihm doch klar gewesen sein müssen!

Inzwischen hatte ihn ein Feuer gepackt, das er nicht bändigen konnte. Nun, wo er eine Antwort auf alle Fragen hatte, nun, da er sie gefunden hatte, war ihm, als hätte er eine Erleuchtung gehabt. Ohne weiter zu überlegen meldete er bei einem der Bibliothekare, dass er dieses Buch für einige Tage entleihen würde, beauftragte einen Boten damit, es zum König zu bringen, damit auch er wisse, was er selbst soeben erfahren hatte, und machte sich dann selbst auf. Trotz all der Antworten, die er erhalten hatte, tat sich ihm eine neue, eine letzte Frage auf: Warum hatte Elodris das getan? Er selbst hatte sich keinen Grund nennen können, weshalb Elodris hätte versuchen sollen, die Prinzessin zu beseitigen, doch genau aus diesem Anlass hatte er noch etwas zu erledigen.

Voller Tatendrang verließ er die Bibliothek und machte dich auf die Suche nach den Häusern der Heilung. So kurz nach den Kämpfen fand er dort große Geschäftigkeit und Unruhen vor, sodass er glaubte, keiner würde Notiz von ihm nehmen. Da kam ein junges Mädchen auf ihn zu. Sie trug die schlichte weiße Tracht der Heilernovizen.

„Kann ich Euch behilflich sein, mein Herr?“

„Ja…“, fuhr Daeron herum, der das Menschenmädchen unter all den Leuten zuerst nicht bemerkt hatte, „Ich suche Elodris, die Heilerin.“

Das Mädchen zögerte für einen Augenblick.

„Meisterin Elodris empfängt nur selten Besuch, doch vielleicht können wir Schwester Aedale fragen, ob sich nicht etwas ausrichten ließe, schließlich ist sie der Meisterin engste Vertraute.“

Geschickt drängte sich die Novizin durch die Menge und hieß den Hauptmann mit einer freundlichen Bestimmtheit an, ihm zu folgen. Diesem kam die ganze Sache noch seltsamer vor, als sie es ohnehin bereits war. Welchen Grund könnte eine Heilerin der hohen Schule haben, sich der Welt zu verbergen? Die verschiedensten Gedanken über Elodris mögliche Gründe kamen ihm auf, während er von der Novizin geführt das Innere der Häuser der Heilung betrat.

Diese Anlage war in einem viereckigen Ring im inneren Stadtkreis errichtet. Von einem inneren Rundgang, der über Terrassen mit einem schönen lichten Innenhof verbunden war, führten Zahllose Türen zu den Räumen der Patienten. An einem Ende jedoch war dieser Bereich verbreitert worden und man hatte eine zweite Etage errichtet. Dies waren die Gemächer und Studienzimmer der Schwestern und Brüder, die stets in unmittelbarer Nähe der zu behandelnden sein wollten. Das Mädchen geleitete ihn die Treppe zu den oberen Zimmern hinauf und bat ihn, kurz auf ihn zu warten, ehe sie durch eine der Türen schritt.

Wenige Augenblicke später kehrte sie mit einer weiteren Heilerin wieder.

„… ja, Schwester, das weiß ich wohl, aber es schien mir, als habe er außerordentlich wichtige Gründe…“

„Da bin ich ja gespannt, welch wichtige Gründe das sind, Gwynneth!“, entgegnete die Frau gegenüber dem Kind, während sie das Zimmer verließen und zu Daeron auf den Gang traten.

Der Hauptmann betrachtete die streng wirkende Heilerin. Genau wie die Novizin Gwynneth trug auch Aedale ein schlichtes Kleid aus weißem Stoff, zusätzlich trug sie jedoch, wie alle ausgebildeten Heilerinnen eine weiße Kopfbedeckung, die mit goldenen Schnüren auf ihrem Haupt befestigt war, sodass ihre Haare komplett von dem Stoff verhüllt wurden. Hinter ihrem harten Blick schien sie ein freundliches Wesen zu verbergen.

„Ah, Euch hat man hier schon lange nicht mehr gesehen!“, sprach die Frau etwas verwundert, als sie Daeron erkannte, „Dann kann es sich in der Tat nur um wichtige Angelegenheiten handeln, Hauptmann.“

„ In der Tat“, erwiderte der Elf, „Ich habe wichtige Dinge mit der Frau Elodris zu bereden…“

„Es tut mir Leid, aber wie euch die kleine Gwynneth hier Euch sicher bereits gesagt haben wird, möchte Meisterin Elodris sich niemandem zeigen…“

„Bitte, Schwester“, unterbrach er Aedale, „Wenn es der Meisterin nicht gut geht, verstehe ich das wohl, aber zum Einen ist es ihre ehrwürdige Pflicht, allzeit sich den Hilfe suchenden zuzuwenden, und zum Anderen geht es hier um Prinzessin Caileen, ich habe nämlich…“

„Prinzessin Caileen?!“, rief die Heilkundige entsetzt.

Sie benötigte einen Augenblick, ehe sie sich wieder gefasst hatte. Ein wenig zittrig und mit immer noch leicht erblasstem Gesicht nestelte sie an den Ärmeln ihres Gewandes herum. Schließlich gelang es ihr, zu antworten: „Ich… nun ja…das ist… in der Tat ein dringender…Umstand…ich… bitte folgt mir Hauptmann! Und du, Gwynneth… du nimmst die Schriften aus meinem Zimmer und… und bringst sie hinunter zu Bruder Namin… er… er soll nach diesen Rezepturen einige Medikamente herstellen…“

„Ja, Schwester!“, nahm eine nicht weniger verwirrt dreinschauende Gwynneth den Auftrag entgegen und hastete davon.

Derweil geleitete Aedale den Hauptmann weiter den Gang entlang.

Daeron wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass die Heilkundige ihm etwas zu verschweigen versuchte. Was wusste sie nur?

„Ich… werde mit Meisterin Elodris sprechen… und sehen… was ich für Euch tun kann, Hauptmann“, erklärte Aedale, als sie vor einer der Türen, die ebenso unscheinbar wie all die anderen da lag, Halt machte.

Ohne erst die Antwort des Hauptmanns abzuwarten, klopfte sie leise an der Tür und trat dann ein, schloss sie jedoch gleich wieder hinter sich, sodass Daeron nicht mitbekam, was sich dahinter abspielte.

Einige Minuten verstrichen, in denen auf dem Gang absolute Stille herrschte, selbst die Klänge von drunten in Hofe schienen erloschen zu sein. Daeron strengte sich an, zu lauschen, was die Heilerin mit ihrer Meisterin besprach, musste jedoch feststellen, dass auch aus dem Gemach der Elodris kein Laut erklang. Gerade schien die drückende Stille unerträglich zu werden, als Aedale leise durch die Tür erschien und den Hauptmann ansprach: „Ich… habe der Meisterin den Grund Eures Besuches und Euer Anliegen vorgetragen…wenn sie Euer Wort hat, dass ihr Schweigen bewahren könnt, so wäre sie bereit, mit Euch über die Umstände zu reden…“

„ In Ordnung, ich werde über das, was hier zu Worte kommt, schweigen“, willigte Daeron nach einem kurzen zögern ein und wurde dann von Aedale in das Zimmer geführt.

Dort fand er eine Gestalt vor, die auf einem Stuhl am Fenster des Raumes saß und gedankenverloren durch die Vorhänge nach draußen spähte. Aedale bot ihm einen Stuhl gegenüber der Gestalt an und nahm dann selbst in einer dunklen Ecke des Raumes Platz.

„Wieso glaubt Ihr, ich habe mit dem Tod der Prinzessin zu tun?“, sprach die Frau ihm gegenüber nun an ihn gewandt, in ihrer tiefen sinnlichen Stimme lagen Trauer und Tadel.

Dank der wenigen Lichtstrahlen, die durch das Fenster fielen, konnte er trotz des sonst eher düstren Raumes einen Blick auf die Meisterin erhaschen. Elodris trug, wie alle anderen auch, ein schlichtes weißes Kleid und die Kopfbedeckung der ausgebildeten Heilerinnen. Zusätzlich jedoch hatte sie ein Obergewand aus dunkelgrünem, beinahe schwarzem Stoff angelegt und vor Nase und Mund ein weißes Tuch als Schleier gebunden, sodass alles, was man von ihrem Gesicht erkennen konnte, ihr Augen waren. Doch das genügte, um den Hauptmann vor Überraschung aufschrecken zu lassen. Die Augen der Heilkundigen waren von einem seltsamen, leuchtenden Dunkelblau und ihre Pupillen waren lange, schmale Schlitze wie die einer Katze. Ganz im Gegensatz dazu war die Haut der Frau schneeweiß. Damit, dass die oberste Heilerin von Tirganach ein Halbblut war hatte er nicht gerechnet. Die Heilkunst war eine der Fertigkeiten, zu denen nur die wenigsten Dunkelelfen im Stande waren. Das hatte Shalawyn ihm sogar bestätigt, denn Valema, ihre jüngere Schwester, war seit langem die erste ihrer Familie, die ein Talent für die hohe Schule er Heilung besaß.

„Ich habe Eure Aufzeichnungen gefunden, die von damals aus dem großen Krieg…“, setzte der Hauptmann an, nachdem er sich wieder gefasst hatte, und begann, der Meisterin ausführlich zu erzählen, wie er an ihre Schriften gelangt war.

„Es tut mir Leid… aber was ich tat, war nur zu aller Wohle…“, murmelte Elodris, als Daeron schließlich geendet hatte, und sah Schuldbewusst zu Boden.

„Aber wieso?“, wollte er wissen.

Die Heilkundige wandte sich von ihm ab. Wie zuvor, als er das Zimmer betreten hatte, blickte sie traurig aus dem Fenster. Was mochte nur in ihren Gedanken vor sich gehen? Diese Elodris erschien dem Hauptmann so schleierhaft wie zu jenem Zeitpunkt, da er ihr Buch gelesen hatte. Was wollte sie nur verbergen?

„Um sie zu schützen“, sprach die Elfe, das Gesicht immer noch abgewandt.

„Wie meint ihr das?“

„Die Herren von Xu werden nicht eher von Dorien ablassen, als dass das Könighaus vernichtet ist. Die Prinzessin musste fort, in Sicherheit vor all den Intrigen und Morden, damit sie nicht auch Opfer des Racheaktes werden konnte.“

„Also ist es wahr… ‚sie’ ist es…“, für einen Augenblick verharrte Daeron in Gedanken, dann fuhr er fort, „Ihr habt der Prinzessin ein Mittel gegeben, dass ihre Erinnerung trübt, zumindest habe ich es so in Euren Schriften gelesen. Wäre es möglich, jemanden von diesem Vergessen zu heilen?“

Die Heilerin blickte ihn verwundert in die Augen.

„Ich verstehe nicht recht…“

„Wenn dass, was Ihr hier schildert, Meisterin, wahr ist, dann wird Caileen bald schon in der Stadt eintreffen. Ich habe einen Kameraden auf Bitten König Meleanders geschickt, eine Elfe zu holen, die an eben diesem Vergessen leidet.“

Angst leuchtete in Elodris´ seltsamen Katzenaugen auf, als Daeron so sprach. Voller Entsetzen öffnete sie leicht den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn aber im selben Moment wieder. Ein Wechselspiel der Gefühle war ihr anzusehen.
 

Lange noch beobachtete Alyssa, wie die Drachen am Himmel davonflogen. Anfangs waren sie noch größer, klarer, dann wurden sie immer kleiner, ihre Konturen wurden verwischt, bis sie schließlich ihren Augen entglitten. Noch immer hielt sie das Jagdmesser in den Händen, dass Kazary ihr zuvor gegeben hatte, um ihr zu zeigen, wie sie sich verteidigen konnte, falls sie jemals in eine Situation geraten sollte, in der es notwendig war.

Für einen Augenblick sogar hatte sie daran gedacht, das Messer durch das Herz dieses Mannes zu bohren, der gekommen war, um ihre Freundin zu holen. Sie wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund war sie wütend geworden, wollte nicht, dass Kazary fort ging, wollte nicht, dass ihr diese Leute zu nahe kamen. Vielleicht, weil sie Angst hatte, die Elfe würde nie wieder kehren? Sie kannten einander doch so lange… welchen Grund sollte Kazary haben, sie und ihre Familie für immer zu verlassen? Bei diesem Gedanken schämte sie sich dafür, dass sie an ihrer Freundschaft gezweifelt hatte. Selbst wenn, dann wäre es allein Kazarys Entscheidung, aber so, wie sie Alyssa angesehen hatte, als sie schließlich mit diesem Kalenth davon geflogen war, musste es ihr schwer gefallen sein…

Aber was konnte sie tun? Das Leben musste ja weiter gehen. Und vielleicht würde sie sich ja nicht für immer von ihrer Freundin verabschieden müssen, vielleicht konnte sie sie ja sogar in der Hauptstadt besuchen, vielleicht konnte sie Händlerin werden und im Sommer in der Stadt leben oder umherziehen und im Winter bei ihrer Familie bleiben, so könnte sie etwas von beidem haben!

Sie lächelte bei dem Gedanken an all die Möglichkeiten, die sie hatte. Sie wollte ja nicht ewig nur daheim sitzen und auf ihre Brüder aufpassen, sondern Abenteuer erleben und die Welt sehen!

Vielleicht brachten all die Veränderungen etwas Gutes mit sich…
 

Mit Schreck geweiteten Augen erfuhr Meleander zuerst durch den Boten und dann durch eine verzweifelte Elodris, gefolgt von einem nicht weniger verfassungslosen Daeron, welche beide den ganzen Weg von den Häusern der Heilung zum Thronsaal im Schloss gelaufen waren und nun etwas außer Atem wirkten, was ein jeder soeben erfahren hatte.

„Wenn all das stimmt“, sagte er zum Hauptmann gewandt, „Dann müsst Ihr mit Eurer Vermutung die ganze Zeit über Recht gehabt haben. Doch eins ist mir immer noch unklar: Warum meine Schwester? Bin ich denn nicht der rechtmäßige König? Sollten sie nicht eher versuchen, mich zu töten?“

„Vielleicht um Euch zu schwächen, mein König?“, antwortete Daeron, da Elodris nur schweigend und schuldbewusst auf ihre Füße sah, Ihr seid in der Tat der König Doriens, doch alle, wahrlich alle haben Caileen geliebt! Sie war immer das Herz unseres Reiches…“

„Und so wollen sie uns alle treffen, indem sie uns das Herz herausreißen“, bestätigte er, als er verstand, was Daeron meinte.

Eine Runde des Schweigens trat ein, in der ein jeder in dem Saal völlig in Gedanken versunken zu sein schien. Für Meleander war das alles zu viel auf einmal. All die Jahre hatte er geglaubt, seine Schwester wäre tot, und nun sollte sie es nicht mehr sein? Dazu sollte sie noch geradewegs hierher, auf dem Weg nach Tirganach sein? Was würde er ihr sagen, wie würde sie reagieren? Oder wäre es vielleicht besser, wenn er Elodris´ Rat befolgen und ihr nichts sagen würde? Wie würde ein weiser König in dieser Lage entscheiden?

Eine Weile schritt er den Saal auf und ab und überlegte, was zu tun sei. Als er aber zu keinem Entschluss gelangen konnte, sank er auf dem Thron nieder und stützte die Stirn auf die Hand.

„Mein Herr!“, wandte sich die Heilerin an ihn, die an seinen Thron herangetreten war, um sich zu vergewissern, dass ihr König bei Gesundheit war.

Meleander jedoch schüttelte den Kopf: „Es mag Euch zwar nicht gefallen, Elodris, und vielleicht ist es nicht weise, so zu handeln, doch wenn Eure Worte der Wahrheit entsprechen, dann hat sie ein Recht darauf, zu erfahren, wer sie ist. Ich kenne meine Schwester gut; gut genug um zu wissen, dass sie nicht wollen würde, dass man ihr die Wahrheit vorenthielte, und dass sie stark genug wäre, sich dem zu stellen, was ihr bevorstünde…“

Eine Weile lang sah er den Hauptmann an, der genau zu wissen schien, was Meleander meinte.

„Ihr habt sie kennen gelernt, mein König“, gab dieser zur Antwort, „Es ist, als hätte sie sich in all der Zeit nicht im Geringsten verändert. Und dennoch…“

„Ist sie, trotz all der Vertrautheit, eine Fremde“, beendete Meleander den Satz.

Für einen kurzen Augenblick sahen sich die beiden Elfenmänner ernst und schweigend an, bis Daeron schließlich, wie von einem stummen Befehl gelenkt, sich gegenüber dem König verneigte und den Thronsaal verließ. Verwirrt stürmte er in Richtung Stadttor. Wieder und wieder kam ihm ein und dasselbe Bild vor Augen, jener Moment, da er geglaubt hatte, zu sterben. All die Jahre lang hatte er versucht es zu verdrängen, doch nun sah er sie wieder, Caileen, wie sie sich vergeblich bemühte, an dem Abgrund zu halten. Auch jetzt noch ließ ihm ein Schauer bei dem Gedanken daran, dass sie seine Hilfe abgelehnt und freiwillig den Tod gewählt hatte, über den Rücken. Jener Tag, ihr Todestag, war auch der Tod seines Herzens gewesen. Er hatte damals gewusst, dass sie nichts weiter für ihn empfand, als wie für einen guten Freund aus Kindertagen, doch hatte er sich, als sie ihn zu ihrem engsten Vertrauten ernannt hatte, geschworen, sein ganzes Leben ihren Wohlergehen zu widmen, und auch nach ihrem Tod hatte er keiner Verbindung mit einer Frau, sei sie noch so schön, zugestimmt. Doch was empfand er nun für sie? Nun, da ihm allmählich klar wurde, was während des vergangenen Jahres geschehen war, nun, da er begriff, dass er es zwar mit Caileen, die er aufrichtig geliebt hatte, und dennoch mit einer Fremden, einer vollkommen anderen Frau zu tun hatte, wusste er nicht mehr, was er noch für sie empfand. Auf der einen Seite wollte sein Herz aus seiner Brust springen vor Freude, sie endlich wieder gefunden zu haben, zugleich aber hatte er sie als eine andere Elfe kennen gelernt, die er zwar wertschätzte und mochte, aber nicht die Frau war, an die er sein Herz verloren hatte.
 

Schweigend ließen sie und Arsinoe sich neben Kalenth und Lyenn nahe dem See vor der Stadt nieder. Kazary verstand nicht, was all das sollte. Kalenth hatte so ungeheuer ernst gewirkt, als er sie gebeten hatte, mit nach Tirganach zu kommen. Was mochte sich wohl während des Winters zugetragen haben? Forschend schaute sie sich um. Dieser Ort hier wirkte voller als sonst, viele Leute mussten hierher gezogen sein. Aber wieso?

Immer mehr bekam sie das Gefühl, aus diesem Leben ausgeschlossen zu sein, nicht hierhin zu gehören. Vielleicht war es wirklich die bessere Entscheidung, im Dorf bei ihrer Familie zu bleiben, so schwer es ihr auch fiel.

Unter ernsten Blicken führte Kalenth die Elfe zum äußeren Stadttor. Aus der Ferne konnten die beiden dort eine Gestalt erblicken, die eindeutig keiner der Torwächter war. Anscheinend wurden sie bereits erwartet.

„Danke, Kalenth, das du sie so schnell zu uns gebracht hast!“, sprach der Hauptmann Kazarys Geleiter an, ohne sich, wie er es sonst tat, nach der Art ihrer Gilde zu verneigen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich derselbe Ernst ab, den sie auch bereits auf dem des Halbelfen festgestellt hatte.

Dieser jedoch legte die zur Faust geschlossene Schwerthand auf die Brust, neigte leicht das Haupt, dass ihm das Haar ins Gesicht fiel, und kehrte mit einem „Stets zu Diensten“ zu Lyenn zurück.

Eine Weile beobachteten Kazary und Daeron die beiden, bis sie am Horizont verschwanden, dann wandte sich der Hauptmann an die Elfe: „Bitte folgt mir, König Meleander möchte Euch sehen!“

Überrascht über Daerons Förmlichkeit, die er sich normalerweise in ihrer und Lavinias Gegenwart abzugewöhnen versuchte, nun aber unweigerlich und ernsthafter denn je zu Tage kam, folgte sie ihm in Richtung innerer Stadtring, warf jedoch noch einen kurzen, verwirrten Blick zu Arsinoe zurück, die ebenfalls wunderlich das geschehen betrachtete, und sprach in Gedanken zu ihr: „Weißt du denn nicht, was hier vor sich geht?“

„Leider nein…ich wünschte, ich würde… aber das alles ist mir ebenso ein Rätsel, wie es dir eines ist“, erhielt sie zur Antwort.

„Nun gut“, erwiderte sie und wandte sich wieder zum Gehen um, „Warte bitte hier auf mich! Ich will sehen, was ich erfahren kann.“

Mit gezielten Schritten führte Daeron sie durch die Straßen auf dem direkten Weg durch das innere Tor und in den zweiten Stadtkreis, wobei ihr auffiel, dass er des Öfteren den Mund öffnete, als wollte er etwas sagen, ihn dann aber wieder schloss, sie für einen Augenblick mitleidig und etwas traurig ansah, ehe er dann wieder die ernste Miene auflegte und weiterging. Kazary hätte ihn zu gerne gefragt, was er denn habe, doch hielt sie es vorerst für besser, ihn nicht anzusprechen. Wer wusste, wie er reagieren würde?

Mit einem weitläufigen Schwung öffnete man ihren die Tore ins Schloss und geräuschvoll klangen ihre Stiefel auf dem Boden wider, während sie sich ihren Weg in den Thronsaal suchten. Zu Kazarys Verwunderung fanden sie diesen vollkommen leer vor, bis auf eine mit weißen Stoffen verschleierte Frau, die abwesend und in sich gekehrt an einem Ende des Raumes saß und kaum von ihnen Notiz zu nehmen schien. Daeron jedoch führte sie geradewegs an ihr vorbei, hinter den Vorhang zu der Tür neben König Meleanders Thron, die der Elfe schon damals bei dem Ball aufgefallen war, als die Zwerge sie nutzen. Nun aber konnte sie ihre Verwirrtheit und ihren Unmut nicht länger verbergen und sprach den Hauptmann direkt an: „So sagt mir doch endlich, was hier vor sich geht! Was soll ich hier, wer ist diese Frau, und wo ist König Meleander?“

„König Meleander erwartet Euch hinter dieser Tür… was Eure anderen Fragen anbelangt… ich wünschte, ich könnte sie euch beantworten, aber ich habe versprochen, Eurem Bruder den Vorrang zu überlassen und Euch die Verhältnisse zu erklären… vielleicht werdet Ihr ja dann von selbst verstehen…“, gab er zur Antwort, wobei er die Hände hob, als wollte er sie an der Schulter berühren, jedoch ließ er sie sofort wieder sinken, trat etwas zurück und schaute sie mit einem Blick an, den die Elfe nicht zu deuten vermochte. So widersprüchig in seinen Gebarden hatte sie den Hauptmann noch nie erlebt. Auch wusste sie nicht, was er mit „Bruder“ meinte, sie hatte doch keine Brüder, zumindest soweit sie es wusste. Dennoch folgte sie seiner Aufforderung und trat durch die verborgene Tür, durch die sie einst die Zwerge gehen gesehen hatte. Mit einem leisen Knarren schloss Daeron sie hinter der Elfe. Anscheinend sollte sie von hier an alleine weitergehen.

Vor ihr lag ein Treppengang aus weißem Kalkstein, der sich stetig nach oben wand. Eine Reihe silberner Laternen erhellte den Weg. Ohne weiter zu überlegen, was sie am anderen Ende des Ganges erwarten würde, setzte sie einen Fuß auf die Stufen. Der Kalkstein fühlte sich weich und staubig unter ihren Stiefeln an. Dann setzte sie den anderen Fuß auf die nächste Stufe und arbeitete sich so langsam, aber zielstrebig den Weg hinauf. Als sie schon glaubte, die Treppen würden gar kein Ende mehr nehmen, fand sie sich auf einem kleinen Absatz wieder, der von einem blassblauen Vorhand umgeben war. Vorsichtig schob die Elfe diesen zur Seite. Dahinter lag ein weitläufiger Balkon, ebenfalls in weiß gehalten, etliche Meter über dem Erdboden.

Jemand sprach sie an: „Komm bitte näher!“

König Meleander stand mit auf die Brüstung gelehnten Armen da und schaute in die Ferne. Wie ihr geheißen, gesellte sich Kazary zu ihm. Sie verbeugte sich tief, ehe sie ihn fragend ansah.

„Was wünscht Ihr mein König, was habe ich mir zu schulden kommen lassen, dass man mich hierher führt, als wäre ich eine Mörderin oder Verräterin?“

„Wer bist du?“, wandte sich der König an sie und blickte sie mit denselben grünen Augen an, wie es die ihren selbst waren. Die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen ihr und Meleander verblüfften sie jedes Mal aufs Neue.

„Ich weiß nicht, was Ihr mein, Herr“, entgegnete sie und schüttelte den Kopf, „Ich bin eine Elfe, mein Name ist Kazary, ich stehe hier… mehr weiß ich selbst nicht…“

„Bist du denn nie auf die Idee gekommen, dass du nicht die bist, für die du dich hältst?“

Kazary war verwirrt; was wollte alle nur von ihr?

„Mein Herr, ich verstehe nicht…“

„Erinnerst du dich denn wirklich nicht?“, sprach Meleander leise, wobei sich seine Augen mit Trauer füllten, „Nicht an Mutter, nicht an Vater, nicht an mich, an rein gar nichts? Ich bitte dich, schaue tief in dich hinein, lausche deinem Herzen, und dann sag mir, wer du bist!“

Immer noch von des Königs Worten durcheinander gebracht und auch mit zwiespältigen Gefühlen tat sie, worum er sie bat, schloss ihre Augen und horchte in sich hinein. Wer war sie?
 

Betrübt wandte sich Daeron von der geheimen Tür ab. Er konnte Kazarys Reaktion nur zu gut verstehen, sicher würde er sich in ihrer Situation nicht anders verhalten. Trotzdem machte ihn der Gedanke daran, dass sie sich, nun da er sie endlich wieder gefunden hatte, an nichts mehr zu erinnern schien, traurig. Dieser elendige Zwiespalt… all diese Perphidität und Ironie kamen ihm vor wie ein schlechter Witz an einem Morgen nach zu viel Alkohol.

„Die Prinzessin steht Euch nahe“, bemerkte die Heilerin von ihrem Sitzplatz am ende des Saales herüber.

Daeron lächelte gequält: „Ist das denn so offensichtlich?“

Elodris nickte verständnisvoll und führ fort: „Und wie ist es mit Kazary? Wie steht es um sie?“

Ernst und nachdenklich verschränkte er die Arme vor der Brust. Er wusste nicht, was sie all das anging, doch auf irgendeine seltsame Art machte sie einen unglaublich weisen und erfahrenen Eindruck auf ihn. Sie gab einem das Gefühl, dass man ihr, trotz ihrer heimtückischen Katzenaugen, vertrauen konnte. Vielleicht lag es daran, dass sie stets so wirkte, als habe sie selbst schon die unerträglichsten Trauer und Leiden erlebt, als habe man ihr alles genommen, dass ihr einst im Leben lieb war.

„Ich weiß es nicht…“, antwortete er letztendlich.

„Vielleicht solltet Ihr lernen, die als Eins zu sehen, nicht als die beiden verschiedenen Frauen, als die Ihr sie kenne gelernt habt. Es mag sein, dass sie nie die sein wird, die sie einst war.“

„Ich habe Euch doch gefragt, Meisterin, welches Heilmittel es gegen das Vergessen gäbe. Ihr habt auf diese Frage geschwiegen, weshalb? Weil ihr glaubt, dass Caileen nimmer zurückkehren wird, dass es sie nicht mehr gibt, sondern nur noch Kazary?“

„Nein, nicht deshalb, auch wenn diese Vermutung nahe liegt und vielleicht sogar wahr ist“, entgegnete die Heilerin plötzlich tot ernst, „Nein, ich habe geschwiegen, weil der Schlüssel in ihr selbst liegt, in ihr und dem Drachenweibchen. Sie können ihre Erinnerungen nur in sich selbst finden, denn kein Zaubertrank vermag zu enthüllen, was ohnehin schon in einem selbst ist.“
 

Langsam begann sie zu erzählen: „Ich heiße Kazary, dies ist der Name, den man mir gab, als man mich vor über dreißig Jahren fand. Ich lebe in den Hochlanden, in einer Siedlung der Menschen jenseits der Narbe. Seit jenem tag, da ich aus einer Ohnmacht, in der ich gefangen war, erwachte, steht mir das Drachenweibchen Arsinoe zur Seite, und vor etwa zwanzig Jahren lernte ich die Elfe Lavinia kennen, welche eine junge Drachenreiterin in Euren Diensten war. Durch ihre Bemühungen und ihre Bitten wurde mir die Ehre gewährt, mich dieser edlen Gilde anzuschließen. Was danach geschah, wisst Ihr ja selbst…“

Unverwandt blickte Meleander die Elfe an. Er schien eine ganz bestimmte Antwort erwartet zu haben, und so, wie es Kazary nun erschien, war es nicht diese, die sie ihm gegeben hatte.

„Und was war davor… vor all dem, was du erzählt hast… deine Kindheit, dein Geburtsort, oder vielleicht sogar deine Eltern?“

Kazary schüttelte den Kopf: „Da gibt es nichts, an das ich mich zu erinnern vermag. Mein Gedächtnis reicht nicht weiter zurück als bis zu jenem Tag, da ich aus dem Koma erwachte. Was weiter zurück liegt erscheint mir nur als unendliche Schwärze. Deshalb habe ich angefangen, die Menschen, bei denen ich lebe, als meine Familie anzusehen. Dennoch habe ich manchmal das Verlangen, herauszufinden, wer oder was ich bin. Das war auch letztendlich der Grund, weshalb ich mich auf die Drachenreiter einließ. Doch mittlerweile glaube ich, es war ein dummer Fehler. Es wird schon seinen Grund und seine Richtigkeit haben, wenn ich mich nicht erinnern darf.“

„Es ist so, wie Daeron sagte“, entgegnete der König mit einem melancholischen Lächeln, „Äußerlich bist du noch die selbe, doch in deinem Herzen bist du eine Fremde. Es muss so sein, denn früher hättest du nicht so gesprochen.“

„Mein Herr, ich verstehe nicht!“, sprach Kazary diesmal etwas lauter vor Verwirrung.

Das Gefühl, dass alle hier etwas über sie wussten, was man ihr verschweigen wollte, nahm immer mehr zu. Was war hier nur los? Alles, was sie wollte, war doch nur in Frieden leben, bei ihren Freunden, ihrer Familie, so wie es war, bevor sie dieses Leben hier in den Städten entdeckt hatte! Sie hatte doch nichts verbrochen, oder doch?

Behutsam nahm Meleander sie bei der Hand und führte sie fort von dem Balkon in das weitläufige Gemach, das sich dahinter befand. Vor einem mannshohen Gemälde machte er Halt.

„Vielleicht ist dir das eine Hilfe!“

Nachdenklich betrachtete Kazary das Bild. Da war eine Familie zu sehen, Mutter, Vater und zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter. Sie alle schienen sich recht ähnlich, bis auf die Frau, die die Mutter zu sein schien. Anders als ihr Mann mit seinem rotbraunem und ihre Kinder mit dem feuerroten Haar war ihres schwarz wie die Nacht. Auch ihre Augen waren von seltsamer Natur, waren sie von einem dunklen Blau mit Pupillen wie die einer Katze. Das einzige, was sie vererbt hatte, war ihre blasse Haut, denn trotz der leichten Sommersprossen um den Nasen der Kinder war ihre Haut um einiges heller als die ihres Vaters, ganz besonders die des Mädchen. Ihr Blick fiel nun auf die Geschwister. Der ältere, der Bruder, schien seinem Vater an Körpergröße und Statur nahe zu kommen, doch sah man deutlich in seinen Augen, dass er noch ein junger Mann war. Sein Gesicht sprach von Güte und Zufriedenheit. Ein Blick zum König verriet ihr, dass dieser Elfenprinz der junge Meleander war. Etwas aber stimmte nicht an dem Bild, fand sie, auch wenn es noch so viel Schönheit ausstrahlte. Es lag an dem Mädchen neben Meleander. Sie war knapp einen Kopf kleiner als ihr Bruder, gewiss war sie zwar kein Kind mehr, aber eine erwachsene Frau war sie auch noch nicht. Ihr flammendes Haar war kunstvoll geflochten und mit den eher knabenhaften Kleidern, wie sie ein Prinz tragen würde, machte sie einen selbstbewussten und starken Eindruck. Sie lächelte etwas, doch war da etwas in ihren Augen, dass nicht zur Gesamtheit des Bildes passen wollte. Ihre Augen waren tiefgründig, ganz so, als wäre sie in einem Traum gefangen, als wünschte sie sich, woanders zu sein und nicht in ihrer Rolle sein zu wollen, und zugleich waren sie eine grüne Flamme des Tatendrangs. Auf eine seltsame Art und Weise kam ihr diese Elfe vertraut vor.

„Wer ist sie?“, wandte sie sich fragend zum König um.

„Das ist Caileen, meine Schwester“, antwortete dieser mit einem nostalgischen Lächeln, „Sie starb damals bei dem großen Krieg gegen die Dunkelelfen. Sie stürzte in den Abgrund, den der Krieg in die Landschaft geschlagen hatte…“

Dunkel dämmerte es ihr. Das, wovon Meleander soeben sprach, kam ihr bekannt vor, sie glaubte, so etwas schon einmal erlebt zu haben, aber wo nur?

Dann fiel es ihr plötzlich ein. Es war alles so, wie in ihrem Traum, dem Traum, den sie Nacht für Nacht hatte, seit sie aus der Dunkelheit erwacht war. Die junge Frau, das Schlachtfeld, der Abgrund… alles war wie in ihrem Traum.

„… Wir haben ihr damals gesagt, dass es zu gefährlich für sie sei, doch sie wollte nicht hören. So war es immer gewesen. Caileen hatte es als ihre Pflicht als Prinzessin angesehen, für ihr Volk zu kämpfen, wie all die tapferen Soldaten kämpften. ‚Der Ruf hat mich ereilt, Bruder, ich wurde zur Drachenreiterin geboren, und deshalb muss ich auch meinem Schicksal ins Gesicht blicken!’ sagte sie mir damals, ehe sie sich mit Arsinoe aufmachte und in den Krieg zog.“

„A-Arsinoe…“, wiederholte Kazary ungläubig.

War das möglich? Hatte sie sich nicht etwa verhört? Hatte König Meleander wirklich soeben gesagt, Arsinoe sei Prinzessin Caileens Gefährtin im Bund der Drachenreiter gewesen? Aber, wie konnte das sein? Sie war doch im Bunde mit Arsinoe! Konnte es sein, dass es sich um ein anderes Drachenweibchen, jedoch mit demselben Namen, handelte, oder war es sogar möglich, dass sie sich nach dem Tode ihrer einstigen Schwester eine neue gesucht hat?

„Ich…Ich… besteht denn nicht die Möglichkeit, mein Herr, dass jemand, sei es Reiter oder Drache, nach dem Tod seines Partners einen neuen Bund schließen kann?“, fragte sie leise.

Doch Meleander schüttelte kaum merklich den Kopf: „Ich fürchte nicht. Soweit es mir durch meine Schwester und den Hauptmann Daeron bekannt ist, ist ein solcher Bund einmalig und ist er einmal zerbrochen, so gibt es keinen Weg zurück.“

„Aber dann…!“

Entsetzt und überrascht zugleich wich die Elfe einen Schritt zurück. Nun endlich war ihr klar geworden, was Meleander die ganze Zeit über versuchte zu erklären.

„Ja, Kazary, oder soll ich lieber sagen ‚Caileen’, du bist die Prinzessin von Dorien, die Tochter von Meleborn und Nephele, meine Schwester.“

Hilflos blickte Kazary umher. Jetzt, da die Tatsachen so offen auf der Hand lagen, war es unmöglich zu leugnen, es ging nicht anders, es musste einfach so sein, wie Meleander erzählt hatte. Aber warum ausgerechnet jetzt?

„Was hast du?“, fragte Meleander besorgt, als er den Gesichtsausdruck der Elfe bemerkte.

Kazary schüttelte den Kopf und wandte sich beschämt zur Seite: „Es tu mir Leid, aber… ich… wieso… erzählt Ihr mir all das?“

„Weil es dein Recht ist zu wissen, wer du bist, und weil du mich einmal darum gebeten hast, dich auf die Suche nach deiner Vergangenheit zu machen.“

„Aber ich kann nicht! Ich gehöre nicht hierher! Mein Zuhause ist in den Hochlanden, bei den Menschen! Damals, als ich hierher kam, war ich naiv und verwirrt, aber jetzt bin ich mir dessen sicher…“

„Elodris hat vorhergesagt, dass du so reagieren würdest“, sprach der König und legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter, „Deshalb wollte ich, dass du zuerst davon erfährst. Mein Volk, unser Volk, das Volk von Dorien, hält ihre geliebte Prinzessin Caileen immer noch für tot. Es steht dir also frei, dich zu entscheiden, wo dein Platz ist. Egal wie du dich auch entscheidest, ich werde es akzeptieren. Wenn du wünschst, wieder zu den Menschen zurückzukehren, so werde ich dich ziehen lassen und ich werde tun, als ob du immer noch tot wärest. Solltest du jedoch hier bleiben wollen, so werden wir alle dich mit Freuden hier aufnehmen.“

Kazary überlegte. War es denn nicht das gewesen, was sie sich gewünscht hatte? Zu erfahren, wer sie war? Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie nicht in dieses Leben gehörte. Aber, wenn sie wirklich die Prinzessin war, hatte sie denn nicht die Pflicht, ihren Platz in der Welt einzunehmen?

„Es wird seinen Grund haben, dass man mir meine Erinnerungen genommen hat“, erklärte sie schließlich, „Ich bin nun Kazary und nicht mehr Caileen.“

Erinnerung

Wie in Trance hastete Kazary die Treppen hinunter durch die geheime Tür und merkte nicht, wie sie beinahe Daeron über den Haufen rannte.

„Was habt Ihr?“, versuchte der Hauptmann sie zu beruhigen, doch Kazary brachte kein Wort heraus. Immer wieder gingen ihr Meleanders Worte durch den Kopf. Sie wünschte, sie hätte all das nie erfahren müssen. Sie hatte mit allem gerechnet, aber dass sie ausgerechnet die für tot erklärte Prinzessin sein musste…

Vorsichtig geleiteten Daeron und die seltsame Heilerin die Elfe nach draußen, wo sie sich auf einer Bank niederließen. Die Sonne schien warm und angenehm, der milde Wind brachte den Duft der Frühlingsblumen, der Himmel war in strahlendes Blau gekleidet, doch für all das hatte die sonst so naturverbundene Kazary kein Auge.

Elodris war die erste, die das Wort erhob: „Es tut mir Leid, dass es alles so kommen musste, aber es ließ sich nicht vermeiden… das Wohl und das Überleben des Hauses von Dorien erschien mir damals als wichtiger.“

„Und wie soll es nun weitergehen? Wir können doch nicht einfach so tun, als hätte sich nichts geändert!“, fragte Daeron, dem es ungewohnt leicht fiel, der Prinzessin eine Hand zum Trost auf die Schulter zu legen. Eine Weile sahen sie schweigend durch die Straßen und Gärten des inneren Stadtringes, auf der Suche nach einer Antwort. Es dauerte einige Augenblicke, bis Kazary endlich, wenn auch etwas gedankenverloren und mit den Worten ringend, sagte: „Ich weiß, ihr alle setzt nun große Erwartungen in mich und ich möchte euch auch nicht enttäuschen, aber bevor ich von Kalenth hierher geholt wurde, hatte ich eine Entscheidung getroffen. Zwar lässt sich mein Bund mit Arsinoe nicht leugnen, aber dennoch gehöre ich in die Berge zu den Menschen… meiner Familie. Ich hatte gehofft, ich könnte während der warmen Jahreshälfte meinen Dienst als Drachenreiterin erfüllen und im Winter zu meinem Dorf in den Hochlanden zurückkehren…“

„Das verstehe ich wohl“, erwiderte Daeron, „Aber wir müssen an Eure Sicherheit denken. Wenn wir wissen, wer Ihr wirklich seid, dann liegt es nahe, dass der Feind es schon lange weiß. Einen Anschlag haben sie bereits auf Meleander versucht, wer kann schon sagen, ob Ihr nicht die nächste sein werdet?“

Elodris nickte zustimmend: „Der Hauptmann hat Recht, mein Kind, nun, da sich alles klärt, sollte Eure Sicherheit oberste Priorität haben. Vielleicht sollten wir den Mantel des Schweigens über die Angelegenheit halten, abgesehen von einem kleinen Kreis von Auserwählten. Ich denke, wenn wir die Smaraktgarde einzig darüber aufklären, sollte nichts schief laufen, und wenn es mir gestattet ist, würde ich mich euch gerne in diesem Krieg anschließen. Ich weiß, ich habe zwar keinen Bund mit einem Drachen geschlossen, aber ihr werdet eine erfahrene Heilerin benötigen und außerdem ist das alles hier ohnehin meine Schuld…“

Erschrocken sahen Daeron und Kazary die Frau an. Die Smaraktgarde war ein geheimer Bund unter den Drachenreiter und nur sie konnten um ihn wissen. Selbst unter den Drachenreitern selbst wussten nur wenige, wer genau diesem Bund angehörte und wer nicht, denn alles, was in der Smaraktgarde besprochen wurde, war streng vertraulich. Durch dass, was sie taten, konnten Kriege verhindert werden, ehe sie ausbrachen. Aus diesem Grund wurde auch das Tunnelsystem unter Tirganach gebaut, das mittlerweile für alle Drachenreiter zugänglich aber geheim zuhalten war. Wie aber konnte eine Heilerin, und sei sie auch einst eine Vertraute der Königin Nephele gewesen, darum wissen?

„Ich bin zwar nur eine Heilerin, aber ich bin nicht blind“, erklärte Elodris, als sie die verdutzten Gesichter der beiden Krieger erblickte, „Ich möchte wieder gut machen, was ich damals angerichtet habe.“

Und da keiner einen Einwand gehen diese Worte hervorbrachte, verneigte sich der Hauptmann gegenüber den Frauen und ließ sie alleine, um, wie beschlossen, die Eingeweihten der Smaraktgarde von den neuesten Umständen zu unterrichten. Als er außer Sichtweite war, erhob sich Elodris von der steinernen Bank und wandte sich Kazary zu.

„Nun, mein Kind“, sprach sie, „Gewiss habt Ihr viele Fragen.“

So war es tatsächlich. Nun, da sich Kazary von ihrem Schrecken und ihrer Schockiertheit erholte, begannen eine Reihe Fragen auf ihrer Zunge zu brennen, doch wusste sie nicht, wie sie anfangen sollte.

„Ich… Ihr…Was… Ich meine… Wer war Caileen… wer war ich?“

„Caileen war die jüngere Schwester des Prinzen Meleander. Die Leute haben sie sehr geliebt. Sie hat sich immer für ihr Volk eingesetzt, besonders für jene, die selbst nicht die Kraft dazu hatten. Sie war der Hoffnungsstern unseres Reiches“, erklärte Elodris.

Doch Kazary schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte sich an nichts von dem, was die Heilerin ihr schilderte, erinnern. Es kam ihr so vor, als wäre die Frau, von der sie hörte, eine vollkommen fremde, und nicht sie selbst. Einerseits war sie nun froh, endlich zu wissen, was damals vorgefallen war, doch andererseits fürchtete sie sich immer noch davor, dass man zu hohe Erwartungen in sie setzte. Dreißig Jahre waren vergangen und sie war jemand anderes geworden. Die Caileen, die sie einst gewesen sein mochte, gab es nicht mehr und würde es nie wieder geben.

„Ihr ward nicht nur eine Drachenreiterin, sondern wurdet auch in der hohen Schule der Magie unterrichtet“, fuhr Elodris fort, der der Zwiespalt in Kazarys Augen aufgefallen war. „Schon als Kind ward ihr eine begnadete Kämpfernatur gewesen. Stets waren die Knaben eure Spielgefährten, mit denen ihr die großen Schlachten vergangener Tage nachstelltet. Und als ihr langsam zu einer jungen Frau heranwuchset, packte euch die Sehnsucht nach der Ferne und nach Krieg und Abenteuer umso mehr. König Meleborn und Königin Nephele, meine Herrin, konnten Eure Leidenschaft nicht verstehen. Und als ihr dann euren Bund zu Arsinoe geschlossen hattet, wurde es nicht leichter für die beiden. Die Ausbildung zur Drachenreiterin hattet ihr so schnell absolviert wie kaum einer vor Euch. Es verging kaum eine Schlacht, in der Ihr nicht an vorderster Front gekämpft habt, kein Tag, da Ihr nicht den Umgang mit Euren Waffen übtet oder mit Arsinoe durch die Lande zogt. Es war, als wäre der Kampf, wenn auch ohne Ziel, der einzige Sinn Eures Lebens, und dennoch hattet ihr stets ein offenes Ohr für das Volk, habt Euch für die Schwachen und Wehrlosen eingesetzt und vielen Verzagenden Hoffnung geschenkt. Viele damals hatten in Euch den besseren Herrscher gesehen als in Meleander, der als der Ältere der rechtmäßige Erbe war, doch Ihr schient kein Interesse an dem Thron zu haben. Ich verstehe immer noch nicht, warum, aber Leben für den Kampf, noch ungewiss, an welcher Front, schien Eure Bestimmung zu sein.“

Nachdenklich fuhren Kazarys Augen auf ihre Hände. Was sie da hörte, mochte so gar nicht zu ihr passen. Hatte sie sich wirklich so sehr verändert?

Fragend schaute sie wieder auf und wandte sich an die Heilerin: „Mir scheint, als wäre Caileen wirklich gestorben…“

„Aber nein!“, erklärte Elodris und ergriff ihre Hände, die sich in das Gewand der Elfe verkrallt hatten, um nicht die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren, „Im Gegenteil! Caileen lebt immer noch, doch ihr seid gewachsen, seelisch. Caileen ist nun eine reifere Frau geworden, die nun nicht nur die Bestimmung in der Kriegskunst, sondern auch das ganze Ausmaß des Krieges kennen gelernt hat. Ihr seid dadurch besonnener und weiser geworden und habt gelernt, einen unnötigen Krieg zu vermeiden. Aber im Grunde sehe ich noch immer das kämpferische Herz der Drachenreiterin von damals in Euch.“

Die Worte der Heilkundigen nahmen Kazary einen Teil der unsäglichen Last, die sie auf sich spürte. Sie hatte das Gefühl, dass zumindest sie ein Stück weit nachvollziehen konnte, wie sie sich jetzt fühlte. Und in all dem Unbehagen, das sie verfolgte, glaubte sie nun, etwas neuen Mut wieder gefunden zu haben.

„Es kommt mir immer noch so unwirklich vor…“, sprach sie mit einem melancholischen Lächeln.

„Ihr werdet schon sehen“, munterte Elodris sie auf, „Nehmt die Erinnerung, die wir an Euch haben, in euch auf und studiert sie, bald wird sie nicht nur das Leben einer Fremden sein, sondern in Eure eigene Erinnerung hinüber fließen. Ihr müsst Euch nur selbst die Geduld dazulassen!“

Die Elfe bedankte sich für diesen Rat und zog sich erst einmal zurück. Nach all den Aufregungen brauchte sie nun einige ruhige Minuten für sich, um ihre Gedanken wieder zu ordnen. So verließ sie den inneren Stadtring und schlenderte durch die Straßen. Viele Leute, hauptsächlich Elfen und Menschen, aber auch vereinzelt ein paar Zwerge aus Windholme und hier und da mal eine Nymphe aus Merrits Gefolgschaft begegneten ihr und grüßten sie sowohl freundlich als auch respektvoll. Dennoch schien all diese warmherzigen Gesichter nur eine Maske zu sein. Unter der Menge erkannte sie viele Flüchtlinge. Der Krieg hatte viele Wunden hinterlassen. Lange konnte das so nicht weitergehen! Wie viele sollten noch ihr Leben lassen, wie viele Dörfer und Städte sollten noch zerstört, wie viele Familien noch zerrissen werden, und das alles für einen Krieg, dessen Sinn niemand kannte?!

Wehmut überkam die Elfe bei dem Gedanken, was alles vor sich ging. Elodris hatte behauptet, die sei einst eine begabte und leidenschaftliche Kriegerin gewesen, doch immer noch schien ihr die Erinnerung an ihr früheres Leben wie das einer völlig anderen Elfe. Caileen war jung, mutig, voller Ideale und fest entschlossen, für ihr Volk - und vielleicht auch für eigenes Selbstwertgefühl – zu kämpfen. Doch wer war sie? Wie stand es um Kazary?

Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie sie jetzt auch noch den äußeren Stadtring verließ und beinahe gegen Arsinoes Vorderlauf stieß. Das Drachenweibchen hatte tatsächlich die ganze Zeit über auf sie gewartet.

„Wie geht es dir?“

„Ich weiß es nicht…“, entgegnete die Elfe und ließ sich im Ufergras unter dem Baum nieder, wo sie normalerweise immer mit Lavinia saß, wenn die beiden traurig waren oder aber nachdenken mussten. Sie schlang die Arme um ihre Beine und stützte den Kopf auf die Knie auf, sodass sie die sanften Kräusel auf der Wasseroberfläche des Kristallsees beobachten konnte. Eine Weile saß sie schweigend so da, dann brannte ihr eine Frage auf der Zunge: „Erinnerst du dich, Arsinoe? Weißt du, wer ich war, was geschehen ist…die winzigste Kleinigkeit, irgendetwas?“

„Mir ist, als läge dichter Nebel auf meiner Erinnerung, der nur an einigen wenigen Stellen zu schwinden scheint… alles ist trübe, aber das eine oder andere kommt mir wieder in den Sinn.“

„Ich habe alles erfahren… und dennoch habe ich das Gefühl, als wäre zwischen mir und meiner Erinnerung ein unüberwindbarer Abgrund“, beschrieb die Elfe, was in ihr vorging, „Wie war es eigentlich, als ich damals aus meiner Ohnmacht erwacht bin? Wir haben nie darüber gesprochen, dabei hätte es doch das erste sein können, wonach ich hätte fragen sollen! Wie hast du dich gefühlt, als ich erwacht bin, und warum bist du bei mir geblieben, obwohl unser beider Gedächtnis erloschen war, und praktisch kein Bund uns mehr an einander kettete?“

„Es ist schwer zu erklären“, gab Arsinoe zu und legte sich am Ufer nieder, sodass ihre Gefährtin sich ihrem smaraktgrünen Schuppenpanzer lehnen konnte, „Ich wusste nur noch, dass ich aus irgendeinem Grund bleiben musste, dass es jemanden gab, dem ich zur Seite stehen musste. Ich wusste nicht genau, weshalb, aber genau aus diesem Anlass bin ich geblieben. Und als ich dich sah, glaubte ich mich in meine Vergangenheit zurück versetzt. Ich wusste kaum noch, wer ich war, kannte nur noch meinen Namen und jene Dinge, die meist von Geburt an oder zumindest über die Generationen hinweg Teil eines jeden Drachenherzens und Gedächtnisses waren. Aber du… du gabst mir das Gefühl, das Tor zu etwas öffnen zu können, dass sich in mir erinnern wollte, aber noch zu schwach war. Ich habe deine Stimme gehört und wusste, dass mein Platz an deiner Seite sein musste.“

„Auch ich habe deine Stimme gehört“

„Vielleicht hat man unserem Bund eine zweite Chance gegeben.“

Nachdenklich strich die Elfe über Arsinoes ledrigen Körper. Deutlich spürte sie den Herzschlag, der gleiche Rhythmus, den ihr Herz schlug.

„Ich denke, wir sollten mit der Vergangenheit abschließen. Wir haben eine weitere Chance bekommen, haben ein neues Leben begonnen und sind nicht mehr, wer wir einst waren. Vielleicht waren wir einmal hoch angesehen, aber ich zumindest möchte dieses neue Leben führen…“

Arsinoe legte ihren gehörnten Kopf schief: „Das wird wohl das Beste sein, für alle!“
 

Später am Tag machte sich Kazary auf zum geheimen Treffpunkt der Smaraktgarde. Nahe einem kleinen Marktplatz fand sie eine lose Steinplatte, unter der eine Treppe in die Düsternis führte. Mittlerweile kannte die Elfe die verborgenen Gänge so gut wie auswendig und auch waren ihr die meisten der unterirdischen Kammern und Besprechungsräume vertraut geworden. Sie kam an einer großen Tunnelkreuzung vorbei, von der sie wusste, dass die rechte Abzweigung hinauf zu Arvigs Wirtshaus führte. Von eben dort liefen ihr eine Reihe von Drachenreitern entgegen. Die meisten von ihnen hatten wohl getrunken, einige trugen sogar noch einen Krug bei sich. Anscheinend hatten sie zu feiern. Auf Kazarys Frage hin, worauf sie tranken, erfuhr sie, dass sie eben erst aus einer Schlacht bei den Halbelfendorf Eressa zurückgekehrt waren, und dass es ihnen gelungen sei, das Dorf zu halten. Ein erster Sieg nach all den Verlusten und Flüchtlingen. Die Elfe beglückwünschte sie zu diesem Erfolg und ging dann weiter. Sie fragte sich, was der Hauptmann den anderen wohl erzählt haben mochte und wie sie auf sie reagieren würden. Doch kaum, dass sie vor der schweren Holztür stand, hinter der sich der Ratsraum der Smaraktgarde befand, und eine Hand auf den Griff gelegt hatte, verließ sie wieder der Mut und Zweifel kamen wieder auf. In Gedanken rief sie sich zur Vernunft. Noch einmal atmete sie tief durch, drückte dann den Türgriff hinunter und trat ein.

Mit einem Schlag wurde es still in dem Raum. Wie gebannt starrten alle auf die junge Frau. Niemand wagte es, das Wort zu erheben. Schließlich war es Kazary selbst, die das Schweigen brach.

„Ich denke, Daeron hat euch sicher schon alles erzählt…“, setzte sie beinahe im Flüsterton an, doch Jawhel unterbrach sie und machte Anstalten, vor ihr nieder zu knien.

„Prinzessin, wie sehr mich eure Unversehrtheit freut! Nach all den Jahren ist es mir eine Ehre, wieder mit Euch ausziehen zu dürfen!“

„Auf mit Euch Krieger, und lasst das arme Ding zumindest ausreden!“

Erst jetzt fiel Kazary auf, dass auch Elodris sich unter den Versammelten befand. In all den weiten weißen Gewändern und dem Schleier, der das Haar und beinahe auch das gesamte Gesicht, bis auf die Augen verbarg, hob sich die Heilerin ziemlich von den übrigen versammelten ab, die alle eher praktischere, jedoch nicht minder schöne Kleider trugen. Mit Ausnahme vielleicht von Shalawyn. Selbst jetzt, wo sie nicht öffentlich im Dienst des Königs unterwegs war, hatte sie ihre übliche Montur in den Farben der Stadt Mor Duin angelegt. Die übrigen begnügten sich mit privaten Kleidern. Die grünen Tuniken zogen sie nur zu öffentlichen Anlässen an.

Erneut versuchte Kazary, sich ihren Mitstreitern zu erklären: „Ich weiß, ihr erwartet jetzt sicher alle irgendwelche Heldentaten oder atemberaubenden Entscheidungen von mir, so wie ich es früher vielleicht einmal getan haben mochte. Aber ich bin jemand anderes. Ich bin Kazary, und nicht mehr Caileen, und als diese möchte ich auch gesehen werden. Deshalb habe ich auch eine Entscheidung getroffen.“

„Und die lautet?“, wollte jemand wissen.

„ Da ich unweigerlich eine Drachenreiterin bin und meine Pflichten nicht vernachlässigen kann, werde ich während der warmen Hälfte des Jahres hier in Tirganach bleiben, die andere Hälfte werde ich in meinem Dorf in den Hochlanden verbringen. Dann wird dort meine Hilfe benötigt.“

„Einverstanden!“, polterte Lavinia los und stützte die Hände in die Hüften, „Aber nur, wenn ich endlich mal die Leute kennen lernen darf, mit denen du lebst!“

Kazary hatte ihre Freundin seit jenem Tag im Herbst, wo Lavinia an die Front gerufen worden war, nicht mehr gesehen. Charakterlich hatte sie sich kaum verändert, nur eine Narbe auf ihrer Wange, die noch nicht vollständig verheilt war, und das noch wilder als sonst wirkende Haar erinnerten sie daran, wie viel Zeit schon verstrichen war.

Kalenth lachte auf: „Glaub mir, Lavinia, mit denen würdest du dich prächtig verstehen! Nimm Silayn mit und alle kleinen Jungen liegen dir zu Füßen, doch die Frauen werden dir an die Kehle gehen!“

Auch Kazary musste lächeln. Bislang hatte sie immer versucht, ihre Aufgabe als Drachenreiterin und ihr Leben im Dorf getrennt zu halten, um ihre Familie und Freunde dort nicht zu gefährden. Aber wenn sie es recht überlegte, hatte Kalenth, der bereits Alyssa und ihren Brüdern begegnet war, als er die Elfe hatte nach Tirganach begleiten sollen, recht: Lavinia und Alyssa waren sich in der Tat manchmal ziemlich ähnlich, und die vier Lausbuben wären von der chaotischen Elfe und ihrem Drachen sicher nur begeistert.

„Nun aber zurück zum eigentlichen Thema!“, bemühte sich Daeron, ernst zu klingen, aber auch ihm fiel es schwer, sich ein Lächeln zu unterdrücken, „Der Grund, weshalb ich euch zusammengerufen habe, ist nicht nur, euch zu berichten, dass Prinzessin Caileen am Leben ist, sondern auch, um darüber zu diskutieren, wie wir nun weiter vorgehen sollen. Wenn wir wissen, dass Caileen noch lebt, dann ist auch davon auszugehen, dass Xu ebenfalls darüber benachrichtigt wurde. Wir wissen zwar nicht warum, aber sie scheinen es auf Caileen...ich meine Kazary abgesehen zu haben, ebenso, wie sie den Tod des Königs wollen. Wenn es also darum geht, das Königshaus auszurotten, dann müssen wir uns überlegen, was zu machen ist.“

Nachdenkliches Schweigen machte die Runde. Jeder schien sich mit dem Problem intensiv auseinander zu setzen. Letztendlich übernahm Merrit das Wort: „ Es wird schwer werden, sowohl den König, als auch Kazary zu schützen, insbesondere, da nun so viele Schlachten vor uns liegen. Meine Leute jedoch könnten einen Bann um Tirganach weben, dass zumindest die Hauptstadt vorerst geschützt ist. Vielleicht sollten wir zusätzlich die Wachen an den Stadttoren und den Eingängen zum Schloss verstärken. Einfacheres Fußvolk sollte dafür gut sein.“

„Diamid und ich haben auch noch fünfzehn junge Drachenreiter, die mit in den Krieg ziehen könnten. Sie sind noch etwas unerfahren, aber ihr Talent ist bemerkenswert!“, erklärte Thea.

„Danke, Thea!“, sprach der Hauptmann, „Wir können jeden Mann und jede Frau gebrauchen! Inzwischen werde ich mit den Generälen reden. Aber… was machen wir mit Euch, Kazary…?“

„Ich komme schon zurecht, solange niemand ein Wort über meine Vergangenheit verliert, glaube ich kaum, dass sich einer für mich interessieren würde.“

„Dennoch, mir gefällt es nicht, was hier vor sich geht. Bitte seid sehr vorsichtig!“

Kazary nickte. Auch ihr missfiel es, dass der Krieg solch einen Verlauf nahm, vor allem, da niemand den Grund und die Ursache für den Hass zwischen Elfen und Dunkelelfen kannte.

Zum ersten Mal, seid die Elfe den Raum betreten hatte, wagte es Elodris, zu sprechen: „Ich würde mich gerne um Kazarys Ausbildung kümmern. Die Prinzessin war einst eine begabte Zauberschülerin und ich denke, dass wir ihre Sicherheit durch einige Schutzzauber erheblich stärken könnten.“

„Ich danke Euch, Elodris!“, gewährte Daeron ihre Bitte.

Einige Zeit verbrachten sie noch damit, über die Kriegsfronten, die verlorenen Gebiete und ihre Kampfstärke zu diskutieren, ehe der Hauptmann sie mit ihren vereinbarten Aufgaben entließ. Kazary verließ die Kammer gemeinsam mit Elodris und Lavinia.

„Ich freue mich ja so für dich, dass du endlich weißt, wer du bist!“, lächelte Lavinia ihrer Freundin zu. Diese aber versuchte deutlich zu machen, dass sie immer noch dieselbe sei und dass sie nicht vorhabe, ihr altes Leben weiterzuführen. Für Lavinia war das unverständlich. Vor dem großen Krieg hatte sie die Prinzessin ein oder zwei Male gesehen, auch ihre Brüder hatten ihr viel von Caileen erzählt. Damals war sie Schülerin in den Brutstätten gewesen und hatte noch nicht den Bund mit einem Drachen geschlossen. Von den Taten der Prinzessin, die sich einen Dreck um ihren hohen Rang scherte und genau wie alle anderen auch in den Krieg zog, nicht ihrer Familie zum Trotz, nein, um ihr Volk zu schützen, damit allen, die selbst nicht in der Lage waren, zu kämpfen, Sicherheit zu geben und Frieden zu schenken, war sie beeindruckt gewesen. Wie konnte man solch ein Leben nicht haben wollen?

Plötzlich machte Kazary halt. Sie wandte sich nach jemandem um.

„Wartet, bitte!“, sprach sie den beiden Frauen noch kurz zu, und trat dann auch schon an die Person heran, die sie eben erklickt hatte. Lavinia erkannte, dass es Jawhel war.

„Was gibt es, Herrin?“, fragte er verwundert.

Kazary seufzte: „Wieso nennst du mich ‚Herrin’? Was hatte das vorhin zu bedeuten?“

„Erinnert Ihr Euch denn nicht?“

„Woran? Ich habe keine Erinnerung mehr an das, was einst war…“

Für einen Augenblick sah Jawhel sie verwundert an, als glaubte er, sie treibe einen schlechten Scherz mit ihm. Dann aber verstand er, dass Kazary sich wirklich an nichts mehr erinnern konnte und begann zu erzählen: „Während jenes Krieges vor über dreißig Jahren habe ich als Drachenreiter und Späher in jener Abteilung gedient, die Euch unterstellt war. Mein Vater war der Botschafter der Singenden Grotten, daher bin ich Euch schon vorher oft am Hofe begegnet.“

Kopfschüttelnd erklärte die Elfe erneut, dass sie sich nicht erinnern könnte und dass er sie nicht mehr behandeln solle, als wäre sie die Prinzessin, worauf hin Jawhel überrascht fragte: „Aber wieso? Ihr habt so viel für Dorien getan, habt so lange nach eurer Vergangenheit gesucht, warum wollt Ihr das alles so plötzlich aufgeben? „

„Weil ich das gefunden habe, was Caileen gesucht hat!“, erklärte sie beschwichtigend, „Als Caileen hatte ich das Leben am Hofe gehasst und ich wollte eine Kriegerin sein und ein normales Mädchen, dass allen helfen und von Nützen sein kann, keine Prinzessin, die Tag und Nacht bedient wird, nur um dann irgendeinen daher gelaufenen Adligen zu heiraten und als Königin jeden Tag mit Angst und Bangen zu warten, dass ihr Ehegatte unversehrt aus der Schlacht zurückkehrt.“

„Ja, so habe ich Euch kennen gelernt: Als Frau, die ihr Schicksal selbst bestimmt“, bestätigte Jawhel.

„Ich glaube, dass man mir einfach noch eine Chance gegeben hat, eben das Leben zu führen, das ich haben wollte, indem ich mein Gedächtnis verloren habe. Fern des höfischen Lebens habe ich eine Familie gefunden, die mich wirklich braucht. Ich kann nun endlich mein Leben nach meinem Belieben gestalten und habe nun endlich meinen Frieden gefunden. Dadurch habe ich eins gelernt: Caileen zog in den Krieg, weil sie es als Abenteuer sah, ihr Volk zu verteidigen und weil sie Freude daran fand, ein normales Kriegerdasein zu fristen. Kazary hingegen kämpft, weil es notwendig ist, um jene zu beschützen, die ihr wichtig sind, und um dafür zu sorgen, dass nicht noch mehr Kriege geführt werden müssen, als es ohnehin schon auf der Welt gibt. Ich bin charakterlich eine vollkommen andere Frau geworden.“

„Ich…verstehe“, erwiderte der Elf und sah etwas betrübt zu Boden.

Für ihn war es immer noch kaum zu glauben, dass die einst so kriegerische Caileen jetzt den Krieg nur noch als Notwendigkeit empfand, auch wenn sie jetzt Kazary hieß.

„Es tut mir Leid, wenn ich eurer aller Erwartungen nicht erfülle“, entschuldigte sie sich, ehe sie sich wieder Elodris und Lavinia anschloss. Auf dem Weg fragte sie sich, wie sie im Stande war, solche Worte zu formulieren. Ihr war, als hätte Caileen selbst durch sie gesprochen. Hatte Elodris etwas Recht? War Kazary nur eine geistig gewachsene Caileen, reifer und erfahrener, aber sonst immer noch dieselbe Elfe? Oder begannen gar, die die Gedanken und Empfindungen Caileens mit den ihrigen zu verschwimmen?

War es ihre gemeinsame Erinnerung?

In der Schlacht

Von Hoch oben in den Lüften beobachtete Kazary das Geschehen am Boden. Ihr Heer fasste gewiss einige Hundert Männer und Frauen, aber ob es wohl ausreichte? Man konnte nie wissen, was die Herren von Xu als nächste Teufelei planten.

Späher hatten berichtet, dass die Dunkelelfen ein weiteres Dorf eingenommen hatten und wieder einen Angriff auf Dorien planten. Ohne Verzögerung hatte Meleander zur Heerschau gerufen und so viele Krieger wie möglich nach Bresna geschickt, dem Objekt der Begierde von Xu. Kazary konnte es nicht glauben, dass die Dunkelelfen ausgerechnet Bresna als nächstes Eroberungsziel vorsahen. Es war eine friedliche, idyllische Stadt im Osten von Dorien, die hauptsächlich von Menschen und Halbelfen bewohnt wurde. Was mochte sie Xu schon nützen! Lange hatte die Elfe darüber nachgedacht, hatte sich erkundigt, ob die Stadt vielleicht geheime Schätze barg, aber nichts dergleichen. Als sie Daeron gefragt hatte, hatte dieser nur erwidert, dass es symbolisch gemeint sein müsste. Die Dunklen vernichten die Idylle, eine Botschaft an alle Einwohner Doriens. Vielleicht mochte das so sein, aber etwas stimmte hier nicht. Dessen war sie sich sicher.

Auch Arsinoe hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache, die gesamte Geschichte hatte ihr von Anfang an nicht gefallen. Allein schon die Tatsache, dass niemand wusste, weshalb Elfen und Dunkelelfen diese Blutfehde hielten…

„Sie kommen!“, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf.

Zustimmend erwiderte die Drachin: „Dann auf ich den Kampf!“

Gemeinsam mit den anderen Drachenreitern erhoben sich auch Kazary und Arsinoe höher in die Lüfte, schließlich fächerten sie sich auf, um eine möglichst große Fläche absichern zu können. Die Elfe und ihre Gefährtin bezogen Stellung an der rechten Flanke. Es ließ nicht mehr lange auf sich warten, bis sich ihnen in nicht all zu weiter Ferne, Reihe um Reihe von Gestalten mit Schwarzen Haaren, violetten, katzenhaften Augen und entweder grauer oder dunkelbrauner Haut näherte. Sie alle trugen Schwarz, sei es der Stoff ihrer Roben, oder aber die Ruß gefärbten Brustpanzer und Beinschienen. Weder Arsinoe noch Kazary hatte, seitdem ihr Erinnerungsvermögen zunahm, einen reinen Dunkelelf gesehen. Doch jetzt, da sie ihnen wieder gegenüberstanden, schienen die Bilder von einst wieder in ihnen aufzuleben. Ohne es zu wollen, hatten sie wieder das Leid und das Grauen vor Augen, das von den Dunklen ausging.

Über all das hinweg tönte des Hauptmanns Stimme, die unermüdlich neue Befehle erteilte. Kazary fragte sich, wie er wohl damit fertig wurde, so viel Schreckliches zu erleben und immer wieder mit zu erleben, wie all jene, die ihm von Bedeutung waren, dahingerafft wurden. War es die Hoffnung auf eine bessere Welt, die ihn die Bereitwilligung verlieh, all das Morden auszuharren, war es nur das Ausführen eines Befehls in untertänigster Treue gegenüber seinem König? Vielleicht war es auch etwas anderes. Die Elfe erinnerte sich, wie Lavinia ihr bei ihrem ersten Treffen mit Daeron erzählt hatte, wie er seine Geliebte im Krieg verloren hatte, und dass er seit dem kaum noch mehr als ein an der Hoffnung verzweifelnder, halber Elf gewesen war. War es möglich gewesen, dass er den Tod im Kampf gesucht hatte? Mittlerweile wusste Kazary ja, dass sie jene Geliebte gewesen war, ehe alle Verbindungen zu ihren einstigen Leben gerissen waren, doch nun, da sie lebte, verstand sie nicht, welchen Grund es noch für Daeron gab, weiterhin zu kämpfen.

Das Geräusch von sich bewegenden Rüstungen und Waffen unterbrach ihre Gedanken. Daeron hatte den Befehl gegeben, dass die vorderste Reihe ihre Lanzen und Hellebarden senken sollte. Und die Dunkelelfen antworteten. Mit Schrecken sah Kazary, wie einige unter ihnen, die, im Gegensatz du den meisten feindlichen Kriegern, lediglich eine lange schwarze Robe und einen ebenso schwarzen Kapuzenumhang trugen und mit Schädel geschmückten Schlagstäben gerüstet, eine Art düsteren Singsang einstimmten, fast klang es schon wie eine Rezitation, während der Rest der feindlichen Truppen unbeeindruckt durch sich ihnen entgegenreckenden Waffen weiter in beinahe schon Furcht einflößend disziplinierten Reihen auf sie zumarschierte. Welcher Dämon sie wohl zu solch einer selbstmörderischen Strenge ritt? Kazary´ s Entsetzen nahm noch mehr zu, als sich plötzlich eine Art dunkler Nebel auftat, unter dem einige der Lanzenträger ohne Widerstand zusammenbrachen.

„Was ist das für eine Teufelei…?“

„Schwarze Magie“, erklärte Arsinoe, „Die Dunklen sind Meister der Flüche und Nekromantie.“

Schlagartig hatte Kazary das Bild des Attentäters vor Augen, der auf dem Fest des letzten Jahres den König zu ermorden versucht hatte. Elfen und Dunkelelfen, überlegte sie, waren wie Tag und Nacht, zwei Pole, zwei Seiten derselben Medaille, da war es nur logisch, dass, wenn die Hochelfen ihre Magie im Einklang mit der Natur woben, die Dunkelelfen sich mit ihren Zaubern wider alles Natürliche richteten. Trotzdem schienen ihre Banngesänge nicht auszureichen, denn bald schon beobachtete Kazary, wie die Reihen verfeindeter Krieger aufeinander prallten. Es hatte also begonnen. Sie hoffte nur, die Einwohner Bresna´ s hatten, wie angeordnet, sich aufgemacht, die Stadt zu verlassen und waren wohlbehalten auf dem Weg nach Tirganach, wo sich mittlerweile etliche und abermals etliche Flüchtlinge tummelten.

Der Klang eines Schlachthorns hieß die Elfe, gemeinsam mit Arsinoe nach vorne zu preschen. Zusammen mit Lavinia und zwei anderen Drachenreitern, die sie nur flüchtig kannte, ließen sie sich im Sturzflug auf das Geschehen unter ihnen herab. Aus den Augenwinkeln beobachtete Kazary noch, wie Daeron sich nahe der Stadtmauern auf Falrach hielt, um die Ereignisse im Blickfeld zu haben. Dann eilten sie und ihre Gefährtin dem Erdboden entgegen. Wind peitschte ihr ins Gesicht und riss an ihren Haare und Kleidern, doch der Elfe machte es nichts aus. Immer und immer wieder stoben Flammen um sie herum, die die Körper der Feinde verbrannten, und unzählige Male stießen sie und Arsinoe herab, um ihren Kameraden am Boden zu Hilfe zu eilen, indem das Drachenweibchen einen Dunkelelf mit ihren Klauen und Zähnen packte und hinfort warf. Bald schon hatten sie einen Großteil der feindlichen Reihen aufgebrochen. Da entdeckte die Elfe am Boden eine zusammengekauerte Gestalt. Als sie nahe genug waren, erkante sie einen Menschenkrieger, der sich über etwas beugte. Im raschen Landeflug ließen sich die Reiterin und das Drachenweibchen nieder und mit wenigen Sätzen war die Elfe auch schon zu dem Krieger geeilt.

„Was gibt es, Mann?“

„Schnell, sie braucht Arznei!“, rief ihr der Mann mit verzweifelter Stimm entgegen.

Vor ihnen lag eine Frau mit zerschmettertem Harnisch, eine tiefe Wunde klaffte in ihrer Brust. Den Blicken des Kriegers nach erkannte Kazary, dass er diese Frau einst geliebt hatte.

„Wir werden euch beide in Sicherheit bringen!“, entgegnete sie, während sie sich umsah.

Überall um sie herum hatten sich nun auch die anderen Drachenreiter niedergelassen, um die schwer verwundeten vom Schlachtfeld zu bringen. Der Krieg war noch nicht vorbei, doch war es erst einmal wichtiger, jene zu retten, für die es noch Rettung gab. Vorsichtig und darauf bedacht, der Frau nicht noch mehr zu schaden, hob Kazary sie hoch und trug sie auf Arsinoes Rücken. Dann hieß sie dem Mann, sich hinter ihr nieder zu lassen.

„Bring sie zu Elodris, sie sollte an der Südseite der Stadt ein Lager errichtet haben“, erklärte sie, während die Drachin sich erhob. Kazary selbst dachte aber nicht daran, untätig zuzusehen. Die anderen Drachenreiter begleiteten die Verwundeten, doch für war es noch nicht zu Ende. Unverfroren zog sie ihr Schwert aus der Scheide und schritt ihren Feinden entgegen. Viele der noch auf dem Schlachtfeld verbliebenen Kämpfer taten es ihr gleich. Auch wenn die Schlacht so gut wie gewonnen war, durften sie es nicht riskieren, dass sich die Dunklen noch einmal formierten. Vielleicht war es ja grausam, so zu denken und zu handeln, doch es war die einzige noch bestehende Möglichkeit, wenn sie das fortbestehen von ganz Dorien sichern wollten. Sie durften keine Gnade im Kampf zeigen, so wie es die Dunkelelfen selbst taten.

Ein seltsames Gefühl kam in ihr hoch, während ihre Klinge einen Gegner nach dem anderen durchbohrte und niederstreckte. Sie wusste es nicht recht zu beschreiben, doch es hatte etwas Vertrautes an sich, das ihr die Nackenhaare sträubte und ihr Blut in Wallung brachte. Sie tötete nur ungern und auch nur dann, wenn es notwendig war, aber an diesem Tag fiel es ihr ungemein leicht. Auch das Kribbeln, das durch ihre Finger fuhr und das Gefühl der Trance, nichts mehr empfinden als den monotonen Klingetanz, das Spritzen und Fließen von Blut…all das war so einfach und gewohnt wie noch nie zuvor, und wenn sie nicht wüsste, das es nicht ihr Art war, so hätte sie letztendlich gedacht, dass sie Gefallen daran gefunden hätte.
 

„Sieg! Sieg!“

Erschöpft stützte sich die Elfe auf ihr Schwert und lauschte den freudigen Rufen ihrer Mitstreiter. Wahrlich, sie hatten das feindliche Heer vernichtet. Die Elfe war froh, dass es nun vorüber war und die Stadt sicher war, aber ebenso überkam sie das seltsame Gefühl, dass ihnen dieser Sieg einfach zu leicht in die Hände gefallen war. Schließlich schob sie ihre Waffe zurück in die Scheide und machte sich grübelnd auf die Suche nach dem Lazarett. Unterwegs traf sie auf etliche Krieger, einige verwundet, andere unversehrt, doch alle jubelten sie über diesen Erfolg. Zumindest war dieser leichte Sieg gut für ihre Gemüter und ihr Selbstvertrauen.

Endlich erreichte sie das Lazarett und Elodris´ Lager an der Südmauer der Stadt, wo Arsinoe und, zu ihrer Verwunderung, auch Silayn bereits auf sie warteten. Viele Leute hatten sich hier versammelt, um sich von Elodris und den anderen Heilern versorgen zu lassen. Im Vorübergehen erkannte Kazary auch den Krieger und seine Geliebte, dem es schob besser zu ergehen schien. Plötzlich taumelte jemand auf sie zu, ein kokettes Lächeln reckte sich ihr entgegen.

„Lavinia?“

Ihre Freundin trug einen Verband um den Kopf und hielt sich auf einer Krücke. Scheinbar war sie eben erst behandelt worden. Auch ihre Kleidung, ein Kettenharnisch und eine grüne Tunika, waren zerschlissen und blutgetränkt. Trotz allem lächelte sie. So wie es aussah, hatte die Nachricht vom Kriegsausgang wohl schon das Lazarett erreicht.

„Du siehst angeschlagen aus“, bemerkte die Elfe und lächelte zurück, „Was hast du wieder angestellt?“

„Ein Missgeschick, nichts von Bedeutung“, wehrte Lavinia ab.

Einen Augenblick verweilten sie noch bei dem Lager, um sich die verschiedenen Berichte anzuhören, die die Versammelten zum Besten gaben, und machten sich dann auf, um Hauptmann Daeron zu suchen. Diesen fanden sie schließlich gemeinsam Falrach auf dem Schlachtfeld, wo sie, wie viele andere auch, die Leichen beseitigten.

„Hauptmann, ein glorreicher Ausgang heute!“, grüßten ihn die Frauen und salutierten nach Art der Drachenreiter.

„Heute vielleicht…aber was ist morgen?“, entgegnete Daeron und es klang, als spräche er mehr zu sich selbst, „Wir haben sie Schlacht gewonnen, nicht aber den Krieg. Wir dürfen nicht zu überheblich werden.“

Dem hatten Kazary und Lavinia nichts entgegen zu setzen. Sich weiterhin unterhaltend halfen sie beide, Kazary mit ganzem Einsatz, Lavinia so gut es mit den Krücken ging, dem Elf bei der Arbeit. Erst jetzt fiel der Rothaarigen auch auf, dass sie zwei Haufen hatten: Einer für ihre eigenen Gefallenen und einer für die der Dunklen. Seltsamerweise empfand Kazary Mitleid für die letzteren. Schließlich mussten auch sie Familien und Freunde gehabt haben, auch wenn sie eher zwielichtige Personen waren.

Auch Lavinia schien dies nicht unbehelligt geblieben zu sein, und wandte sich fragend an ihre Kameraden: „Hieß es nicht einmal, die Dunkelelfen und wir Elfen des Lichts seien verwandt?“

„Das war einmal“, erwiderte Daeron kopfschüttelnd, „Vor vielen vielen Jahren…jetzt sind wir aber nichts weiter, als zwei entfremdete Häuser.“

Nachdenklich blickte die Blonde zu den beiden Leichenbergen. Wenn die Elfen von Dorien und Xu einst blutsverwandt waren, weshalb mussten sie dann gegen einander kämpfen? War ein solcher Krieg nicht sinnlos? Aber dann wären ihre Brüder auch sinnlos gefallen.

Erst jetzt bemerkte sie, dass Kazary stehen geblieben war und ihr zur Aufmunterung eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Die Elfe konnte gut nachvollziehen, wie ihre Freundin sich fühlen musste, denn auch, wenn ihr vergangenes Leben ihr noch recht fremd schien, hatte es sie trotzdem getroffen, erfahren zu müssen, dass Vater und Mutter durch Krieg und Trauer dahingeschieden waren.

„Du denkst an Valerias und Livon?“, erriet sie Lavinias Gedanken mit dem Versuch eines Lächelns, „Keine Sorge, sie haben ihr Leben gelassen, um unser Land zu schützen, als die Grenzen angegriffen wurden. So sinnlos all das Blutvergießen hier auch aussehen mag, so haben deine Brüder doch für eine gute Sache gefochten.“

Einen Augenblick hielt sie inne und sprach erst weiter, als sie schon einige Schritte weitergegangen waren, um ihrem Hauptmann zur Hand zu gehen, der beider Frauen Hilfe benötigte, um den Leichnam eines Reiters und seines Pferdes fortzuschaffen.

„Die Pfade des Krieges sind manchmal unergründlich.“

Siegesfeier

Nach getaner Arbeit kehrten die Drei zum Lazarett zurück, um mit Elodris über die Lage zu sprechen. Nachdem diese ihnen Auskunft über die Zahl der Toten und Verletzten und Art der Verletzungen erteilt hatte, entschied Hauptmann Daeron, das Lager soweit wie möglich abzubauen und nur die wenigen Zelte stehen zu lassen, die nötig waren, um die Schwerverletzten zu versorgen. Die Sonne warf schon lange Abendschatten und die Soldaten waren erschöpft, müde, aber auch frohen Mutes dank dieses so lang verwährten Sieges. So schickte Daeron die, die nicht zu müde und kraftlos waren, in die Stadt, um hinter Bresnas Mauern zusammen mit den Bewohnern und in den Wirtshäusern zu feiern.

„Lasst die tapferen Männer und Frauen diesen Augenblick auskosten!“, antwortete er denjenigen, die ihn skeptisch anschauten, „Sie haben es sich verdient und morgen werden wir erholt nach Tirganach zurückkehren.“

Lavinia hatte sich dies natürlich nicht zweimal sagen lassen, und kaum, dass sie Silayn zu den anderen Drachen und ihren Reitern bei der Südmauer gebracht hatte, sah man sie schon von einer unglaublichen Menge von Mitstreitern umgeben ihr Schwert dem Himmel entgegen recken und rufen: „Auf nun, Kameraden, erobern wir die Wirtshäuser! Holen wir uns nun den rechten Lohn für unsere Arbeit!“

Lachend und singend machte sich die Horde auf den Weg ins Innere der Stadt und ließ einen staunenden Daeron und eine nicht weniger verwunderte Kazary zurück. Erst als Lavinia außer Sichtweite war, konnte Kazary sich nicht mehr zurückhalten und begann, kopfschüttelnd zu lächeln.

„Was hast du?“, fragte Daeron die Elfe, wobei er den Kopf schief legte.

„Erstaunlich…“, murmelte sie weiterhin mit einem Lächeln vor sich hin, wandte sich dann aber direkt an den Elf, „War sie eigentlich immer schon so?“

„Lavinia?“, entgegnete der Hauptmann, „Nun…zumindest habe ich sie selten in anderer Stimmung erlebt.“

„Es stimmt also, was sie mir erzählt hat? Ihr kennt einander schon lange?“, fragte die Elfe neugierig.

Daeron nickte: „Oh ja…“, und begann zu erzählen, wie er Lavinia kennen gelernt hatte.

Damals, als er noch ein Knabe gewesen war hatte er gemeinsam mit Valerias und Livon, Lavinias älteren Brüdern, seine Ausbildung als Drachenreiter gemacht und sich mit den beiden angefreundet. Auch etwa Zeitgleich hatten sie ihren Bund zu den Drachen gefunden und hatten oft zusammen an den Grenzen gekämpft. So hatte er auch Lavinia kennen gelernt, die zu der Zeit, da er und die beiden Brüder schon erwachsen waren, noch ein junges Mädchen war, das stets ihren Brüdern nachgeeifert hatte und unbedingt in die königliche Armee wollte. Nach einigen weiteren Jahren war Daeron mit einer neuen, weiteren Aufgabe als Heerführer und Hauptmann der königlichen Leibwache, beschäftigt worden, während Valerias Lehrmeister in den Bruthallen wurde und Livon von einem Krieg in den nächsten zog.

„Die beiden waren fast schon eine Legende geworden, und Lavinia war so stolz, als auch sie endlich auf der Akademie aufgenommen wurde“, erklärte Daeron in Gedanken versunken, „Aber die ärmste hatte es überaus schwer…“

Denn als bekannt wurde, dass Valerias´ und Livons Schwester ebenfalls den Weg einer Drachenreiterin einschlagen wollte, waren unnatürlich hohe Erwartungen an die junge Elfe gestellt worden, denen nachzukommen fast unmöglich gewesen war. Zudem schien Lavinia das herausragende Talent ihrer Brüder zu fehlen. Dennoch hatte die Elfe nicht aufgegeben und, als bekannt gegeben worden war, dass beide neben der Prinzessin in den Krieg gezogen und erfolgreich zurückgekehrt waren, mit breiten Lächeln erklärt, dass sie eines ihre beiden Brüder in jeder Disziplin eines Drachenreiters übertreffen würde und nicht nur das! Sie hatte sich sogar geschworen, eines Tages der Prinzessin als engste Vertraute und Waffenschwester im Krieg zur Seite zu stehen. Doch damals war sie noch weit von ihren Ziel entfernt gewesen, und obwohl sie schon in dem rechten Alter gewesen war und ihre grundlegendsten Ausbildungen absolviert hatte, immer noch keinen Bund zu einem Drachen gefunden. Dann hatte sie auch noch erfahren müssen, dass die Prinzessin und ihr Brüder in der Schlacht bei den Aschefeldern gefallen waren.

„Es war ein ungeheurer Schlag für sie gewesen“, sprach Daeron betrübt, angesichts der Erinnerung, „Ich habe ihr damals persönlich die Nachricht übermittelt, doch die hat mich weinend geschlagen und einen Lügner genannt, weil sie nicht glauben konnte, das sowohl Caileen, also du, als auch Livon, Valerias und dessen Drache Thora umgekommen waren.“

Kazary nickte verständnisvoll, während sie einem Knappen Anweisungen gab, welche der Drachen noch zu füttern waren. Es tat ihr unendlich leid, dass ihre Freundin so etwas Schlimmes durchlebt hatte, zugleich aber war sie auch zutiefst beeindruckt von der Stärke, die Lavinia besaß. Vielleicht lag es daran, dass sie selbst ähnliches durchgemacht hatte.

„Ihr sagtet, Hauptmann, Valerias Drache sei umgekommen…“, setzte sie nachdenklich an, als wäre ihr etwas eingefallen, „Aber was ist aus Livons Drache geworden?“

Aus den Augenwinkeln erkannte sie, wie Daeron es nun war, der verschwörerisch lächelte, während er sprach: „SIE hat einen neuen Bund gefunden…Es war vielleicht einige Tage nach der Nachricht über Valerias´ und Livons Tod, als das Drachenweibchen wieder vor den Toren der Stadt auftauchte. Sie war schwer verwundet und hatte ihre letzten Kräfte gebraucht, um nach Tirganach zu gelangen. Lavinia kannte sie natürlich und pflegte sie gesund. Oft hat man sie deshalb mit Zwiespalt betrachtet. ‚Eine junge Frau, die nicht in der Lage war, den Bund zu einen Drachen zu finden’ sagten die einen, während die anderen sie bewunderten, weil sie sich trotz all ihres Leids um den Drachen ihres toten Bruders kümmerte. Und letztendlich hatte Lavinia doch noch ihren Bund gefunden.“

Kazary´s Augen weiteten sich und sie begriff: „Silayn?“

„Ja, so ist es. Bis zu dem Zeitpunkt verhielt es sich mit Lavinias Laufbahn sehr schleichend, aber von dem Augenblick an, wo sie Silayn gesund pflegte, machte sie so rasante Fortschritte, wie es bisher noch kein Drachenreiter je getan hat.“

„Aber... was wurde aus ihrem Traum?“, entgegnete Kazary.

Daeron zögerte nicht mit der Antwort: „Ihr Wunsch, ihre Brüder an Ruhm zu übertreffen, scheint jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen zu sein, auch wenn ihr zweites Ziel vorerst unmöglich wirkte. Aber…so wie es nun aussieht, scheint auch dieser sich zu erfüllen.“

Wie urplötzlich zur Erleuchtung gekommen blieb Kazary stehen. Im ersten Augenblick fühlte sie sich betrogen und glaubte, Lavinia sei nur mit ihr befreundet, um ihren Schwur einzuhalten. Im Grunde war das aber Unsinn. Alle bis auf Elodris hatten sie für tot gehalten, wie hätte Lavinia da anders denken können? Zudem war Lavinia viel zu direkt und ehrlich, um eine Freundschaft auszunutzen. Vielleicht war es aber auch Schicksal, dass ein einst unbegabtes Elfenmädchen die Waffenschwester der einstigen Prinzessin werden sollte.
 

Es dauerte noch eine Weile, bis sie Arsinoe und Falrach das Blut und den Ruß von den Schuppenpanzern geschrubbt und einen weiteren Knappen mit einem Karren voller Fleischstücke herbeigerufen hatten, ehe sie sich von ihren Gefährten verabschiedeten und beschlossen, sich ebenfalls in die Stadt zu begeben, um dafür zu sorgen, dass ihre Leute, und allen voran Lavinia, die eine für Elfen ungewöhnliche Leidenschaft für Feste und Feiern hatte, nichts Dummes anstellten oder zu viel tranken.

Ganz Bresna war mit Kopfstein gepflastert und die zahlreichen Fachwerkhäuser durch kleine Ziergärtchen geschmückt. Genau in der Mitte der Stadt befand sich ein großer gepflasterter Platz, auf dem ein einzelner reich verzierter Brunnen stand. Gewöhnlich würden auf diesem Platz Reden gehalten, Märkte aufgebaut, Zeremonien gefeiert. Es brauchte nicht lange, um Lavinia und ihre Gefolgschaft zu finden, denn obwohl es allmählich dämmerte, war noch immer gut zu erkennen, wie alle Leute sich zu einem Haus begaben: „Das Gasthaus zum Silbernen Stern“.

Der Silberne Stern war das einzige Wirtshaus in Bresna und gerade deshalb ein beliebter Treffpunkt der Arbeitsscheuen und Alltagsüberdrüssigen. Bereits von Außen konnten Kazary und Daeron das Gesinge und Gelächter der Feiernden hören. Schatten zeichneten sich gegen das warme Licht in den Fenstern ab. Ein Schwall von Klängen und eine Flut von Licht umgaben die beiden Elfen, als man ihnen die Tür zum Wirtshaus öffnete. Zum Dank nickend traten sie ein und fanden ihre Kameraden von einer jubelnden Menge umzingelt vor; Krieger und Einwohner feierten gemeinsam den Sieg und die Rettung der Stadt.

„Kommt, Freunde, kommt! Hier sind noch Plätze für euch frei!“

Aus der Runde der Feiernden erhob sich Lavinia etwas taumelnd und trat ihnen entgegen. Sie sah etwas erschöpft aus, lächelte dennoch fröhlich. Noch ehe Daeron und Kazary die Gelegenheit hatten, zu antworten, hatte Lavinia sie schon an den Handgelenken gefasst und zu den anderen hinüber gezogen. Dann wandte sie sich wieder an die Umstehenden, verbeugte sich übertrieben während sie sprach: „Und wenn ich euch, verehrten Leuten, vorstellen darf: Meine Waffenschwester und Freundin Kazary und der hochgeschätzte Hauptmann Daeron!“

Beifall tobte, auch wenn die beiden Neuankömmlinge nicht wussten, was sie hätten sagen sollen. Bald schon setzte sich Lavinia zu ihren Freunden und als sie etwas ungestört waren, schüttelte Daeron nachdenklich den Kopf.

„Du solltest achtsamer sein, Lavinia“, erklärte er ruhig, wenn auch besorgt, „Du beginnst allmählich unsere Tugenden und Pflichten als Drachenreiter zu vergessen. Du solltest lernen, wieder etwas diskreter zu werden.“

„Hast du nicht selbst gesagt, wir sollten feiern?“, entgegnete Lavinia lächelnd.

Daeron sah sie streng an: „Gegen eine Siegesfeier habe ich nichts, es ist nur… du übertreibst es. Außerdem fängst du an, aus dem Nähkästchen zu plaudern.“

In dem Versuch, einen wohlmöglichen Konflikt zu verhindern, unterbrach Kazary die beiden und sprach beschwichtigend: „Ich bitte Euch, Hauptmann, wir haben so viele Niederlagen erlitten, nun lasst sie zumindest diesen Sieg genießen. Und wie es scheint, macht Lavinias Stimmung den Kriegern Mut und Hoffnung.“

„Dennoch finde ich es nicht gut“, erklärte er etwas nachsichtiger.

Wenn man in die Reihen der Drachenreiter aufgenommen wurde, legte man für gewöhnlich einen Eid ab, einen Schwur, der mit dem eigenen Blut besiegelt wurde. So war ein Reiter an die Tugenden seines Ordens gebunden. Tapferkeit, Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Respekt, Loyalität und allen voran Pflichtbewusstsein und Gehorsam. Diese Tugenden mochten hart erklingen und in Notzeiten konnten sie es auch sein, aber da jeder Drachenreiter, selbst er, der Hauptmann, an diese Tugenden gebunden war, konnten sie alle in Frieden Leben. Zu Caileens Zeiten noch, sogar auf ihren eigenen Vorschlag hin, hatte er den bis dahin jeden Tag an der Front stehenden Reitern die Möglichkeit eines Urlaubs zu geben und dafür gesorgt, dass sie, wenn ihre Drachen ein Winterquartier aufsuchen mussten, nicht als Fußvolk rekrutiert wurden. Caileen hatte dies als Gerechtigkeit und Respekt gegenüber den untergeordneten empfunden und zudem resultierte das in größerer Loyalität und Gehorsam. Lavinia hingegen schien es mit dem Pflichtbewusstsein und der Bescheidenheit nicht mehr so ernst zu nehmen. Aber das war nicht der wahre Grund, weshalb Daeron sich um sie sorgte. In Wirklichkeit glaubte er, dass sie sich so übermäßig den Feiern und der guten Laune hingab, um zu vergessen und zu verdrängen, wie sehr sie immer noch unter dem Tod ihrer Brüder litt. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als hätte sie ihre Traue überwunden und zum Andenken an ihre Brüder sich noch mehr bemüht ihnen nachzueifern, doch jetzt sah es so aus, als würde sie ihre Vergangenheit einholen.

In eben diesem Augenblick, da Daeron dies dachte, sah Kazary ihn an und erriet in seinen Augen, was in ihm vorging, hatte er doch eben erst mit ihr darüber gesprochen.

Als sie sich sicher war, dass niemandem ihr Fehlen auffallen oder stören würde, nahm sie ihre Freundin beim Ärmel und zog sie mit nach draußen vor das Wirtshaus, wo es bereits Nacht war. Ganz zu Lavinias Verwirrung machte sie erst vor dem alten Brunnen Halt und sprach auch erst, nachdem sie sich auf der Steinkante niedergelassen hatte.

„Weißt du, wie es mir damals ging…?“

Lavinia, die nicht verstand, worauf Kazary hinaus wollte, antwortete verwundert: „Wieso denn…ist etwas geschehen?“

Doch Kazary ging nichtweiter auf ihre Freundin ein, sondern begann weiter zu erzählen: „Es war wie ein Schock, wie ein böser Traum, aus dem man nicht erwachen kann. All die Jahre, die ich nun schon bei den Menschen in den Hochlanden lebe, hatte ich immer das Gefühl, nicht vollkommen zu sein, dass mir irgendetwas fehle…aber ich wusste nie, was. Daher blieb, selbst nachdem ich mit meinem Leben im reinen war und ich gelernt hatte, zufrieden zu sein mit diesem neuen, die Ungewissheit, was davor war. Umso schlimmer war es für mich, als König Meleander mir die Wahrheit erzählte. Im ersten Augenblick dachte ich, er wollte mit mir Scherzen, im nächsten Augenblick hatte ich Angst. Angst um meine Freunde, Angst um meine Menschenfamilie, Angst um Dorien, aber am meisten Angst hatte ich davor, was geschehen würde, wenn es bekannt wurde, dass ich die Prinzessin bin. Ich wehrte mich mit aller Kraft gegen die Wahrheit, doch es nutzte nichts, denn tief in meinem Herzen wusste ich immer, dass es so war.“

„Warum erzählst du so etwas?“

„Weil ich nicht möchte, dass du eine ähnliche Dummheit begehst“, gab die Elfe zu Antwort, nach dem sie einige Male tief durchgeatmet hatte, „Daeron erzählte mir von deinen Brüdern. Ich erinnere mich kaum an sie, doch beschrieb Daeron sie mir als zwei der größten Drachenreiter, die je gelebt haben.“

Mit einem Schlag wurde Lavinia´ s Blick trübe. Langsam, als wäre ihr Wille gebrochen, ließ sie sich neben ihrer Freundin auf der steinernen Brunnenkante nieder und starrte den Boden zu ihren Füßen an.

„Das waren sie…“, murmelte sie kaum verständlich.

Doch Kazary, die schon seit langem wusste, wie schwer Lavinia solche Familienthemen fielen, legte ihr vorsichtig eine Hand zum Trost auf die Schulter.

„Ich weiß, es muss hart für dich sein“, sprach sie sanft und verständnisvoll, „All diese Verpflichtungen, all voreiligen Erwartungen. Ein Mädchen, von dem erwartet wird, dass sie in allen ihren Brüdern nachstrebt und gleich kommt, und nun eine Frau, die nach dem Tod ihrer Brüder ihr Ansehen aufrechterhalten und sich und ihre Stärke immer wieder beweisen muss. Zu viele indirekte Verpflichtungen, denen man aus tausenden und abertausenden von Gründen nachzukommen hat. Ich weiß das nur zu genau.“

Und als Kazary bemerkte, dass Lavinia ihr weder antwortete noch sie ansah, fuhr sie fort: „Du trägst eine Maske, du lügst den anderen etwas vor… gibst vor, immer stark, immer mutig, immer guter Dinge zu sein, doch das bist du nicht. Diejenigen, die du nahe genug an dich heran gelassen hast, sehen es dir an, wie sehr du dich damit quälst. Lege deine Maske ab, Lavinia, denn niemand kann immer stark und furchtlos sein. Du bist nicht länger dazu verpflichten, deinen Brüdern nachzueifern. Valerias und Livon hatten ihre zeit gehabt, nun ist es die Zeit Lavinias der Drachenreiterin, die anders ist, als ihre Brüder es waren, und doch genauso viel erreicht hat. Es liegt an dir, deinen Weg zu wählen und zu entscheiden, wer du sein willst.“

Damit erhob sich Kazary, ging langsam zu dem Wirtshaus zurück und überließ Lavinia ihren Gedanken.

Lange noch saß die Elfe da und betrachtete die Sterne. Vieles ging ihr durch den Kopf, allem voran die Ereignisse kurz vor und nach dem Tod ihrer Brüder. Vielleicht hatte Kazary Recht, vielleicht hatte sie sich wirklich nur selbst etwas vorgemacht. Aber ihr ganzes Leben konnte doch nicht aus einer Lüge bestanden haben! Jedoch konnte sie kaum leugnen, dass sie damals viel dafür gegeben hätte, das Talent von Valerias und Livon zu besitzen. Sie erinnerte sich, wie stolz sie gewesen war, ihre Schwester zu sein, als die beiden in der Gilde aufgenommen worden waren, und wie stolz sie auf sich selbst gewesen war, als sie selbst als Lehrling nach Tirganach geschickt worden war. Auch erinnerte sie sich noch schmerzlich, dass aller Leute Blick auf ihr gelastet hatte, jeder kannte ihre Brüder, und dementsprechend hoch waren auch die Erwartungen an sie gewesen. Und umso größer war aller Enttäuschung gewesen, als sich das Talent der beiden nicht in ihrer Schwester widerspiegelte.

Sie hatte Valerias und Livon nie gehasst, im Gegenteil, sie hatte sie sehr geliebt, sie hatten sich immer gut um sie gekümmert und schließlich waren sie ihre älteren Brüder gewesen, auch wenn sie ihretwegen so viel hatte erdulden müssen. Gehasst hatte sie alle anderen, alle, die nicht in der Lage gewesen waren, zu verstehen, dass sie nicht so war, wie ihre Brüder es gewesen waren, und weil sie nicht hatte sie selbst sein können, sondern stets sich hatte selbst quälen müssen, um das Leben zu führen, das ihre Brüder ihr vorgelebt hatten. Nie hätte sie gedacht, dass sie heute hier stehen würde. Für einen Augenblick war Lavinia zum Lachen zu Mute. Sie fand es gerade zu perfide, wie das Schicksal mit ihr spielte. Ihren Schwur, eines Tages gemeinsam mit der größten aller Drachenreitern, mit Caileen, in den Kampf zu ziehen und so ihren Brüdern ebenbürtig zu werden, zu beweisen, dass sie, auch wenn sie nicht so begabt war, viel zu erreichen vermochte, hatte sie schon damals, als der Tod der Prinzessin bekannt gegeben worden war, aufgegeben. Es kam ihr wie ein böser Scherz vor, dass ausgerechnet Kazary, ihre beste Freundin, eben diese sein musste. Aber vielleicht war es ja gar nicht so unselbstverständlich, wie sie dachte. Genau wie jeder andere in Dorien wusste auch Lavinia, dass Kazary als Kind und junges Mädchen lange dafür gekämpft hatte, um ihren Traum erfüllen zu können und das sie sich allen alten Traditionen widersetzt hatte. Vielleicht war es ja dieser steinige Weg, der die beiden Elfen einander so nahe brachte.

Seufzend erhob sie sich von der Brunnenkante und begab sich langsam fort von dem Platz, in Richtung Stadttor, wobei ihre Krücke leise auf dem Boden widerhallte. Vieles in ihrem Leben ergab nun einen neuen Sinn für sie und sie konnte endlich im Reinen mit sich selbst und dem Tod ihrer Brüder sein, aber da war noch etwas, eine einzige Angelegenheit, der sie auf den Grund gehen wollte.

Lavinia war froh, dass die nächtlichen Straßen in Bresna ruhig lagen, sodass sie nur vereinzelt auf einige Einwohner traf, die sie aber nicht weiter behelligten. Die kühle Luft tat ihr gut und schaffte klare Gedanken. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie schon lange nicht mehr solch eine Ruhe verspürt hatte und nun konnte sie auch verstehen, weshalb Kazary, nachdem sie die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren hatte, sich von ihnen allen distanziert hatte. Die Zeit, die sie gebraucht hatte, um sich zu ordnen, hatte ihre Freundin verändert und ihren Charakter daran wachsen lassen. Aber für sie, Lavinia, gab es noch eine Kleinigkeit zu erledigen, jene Frage zu stellen, die sie ihr ganzes Leben lang, seit dem Tode ihrer Brüder, innerlich zerfressen hatte.

Bald schon hatte sie die Stadt verlassen und schritt umgeben vom Dunkel der Nacht um die Mauern herum, auf der Suche nach Silayn. In ihren Gedanken kamen immer wieder die gleichen Worte auf: „Hast du mich nur aus Mitleid für den Bund erwählt… Du, deren Platz an der Seite meines Bruders war?“

Die Initiative

Eilends mühte sich Alyssa ab, das unwegsame Gelände zu durchqueren, in welchem das Hochland endete. Dornengestrüpp hatte ihr Haut und Kleider zerrissen und ihre Füße in den Stiefeln taten weh. In ihrem Gürtel trug sie noch immer den Dolch, den die Elfe ihr gegeben hatte. Sonst hatte sie nicht viel bei sich: Nadel und Faden in ihren Taschen, ein zweites, sauberes Hemd und einen Rock in ihrem Reisegepäck sowie etwas Brot, ein oder zwei der ersten Äpfel des Jahres und einen Wasserschlauch. Ihr Aufbruch war so plötzlich gekommen, dass sie ihn nicht besser hatte vorbereiten können.

Seit Kazary ihr Dorf verlassen hatte, hatte die junge Frau nicht mehr von ihr gehört. Es waren Monde gekommen und gegangen, aus dem Frühling war Hochsommer geworden, doch ihre Freundin hatte sie seit jeher nicht mehr gesehen. Anfangs hatte sie sich Vorwürfe gemacht. Hatte Kazary das Dorf verlasen, weil sie ihren Kameraden so angeherrscht hatte? Hatte sie ihre Gunst als Freundin verloren? Oder hatten sie Kazary gar gefangen genommen und nun war es Alyssas Schuld, dass ihre Freundin im Elend lebte, weil sie nicht in der Lage gewesen war, die Elfe von dem Drachenreiter mit dem langen braunen Haar zu bewahren?

Ihr Vater hatte sie jeden Tag aufs Neue beschwichtigt, sie hoffen gemacht, dass die Elfe zurückkommen würde, dass sie nur Geduld haben müsste. Doch mit jedem Tag, den Alyssa gewartet hatte, war ihre Hoffnung geschwunden. Ihre Geduld schien ihr umsonst, vergeblich, ihr war klar geworden, dass Kazary nicht zurückkehren würde.

„Ich fürchte, sie steckt in Schwierigkeiten“, hatte sie ihrem Vater ihre Sorgen geschildert.

„Du sorgst dich unnötig, Tochter“, hatte dieser nur erklärt, „Kazary ist mutig und stark, sie wird schon nicht so töricht sein, sich Probleme einzuheimsen, die sie nicht zu lösen vermag. Nein… ich denke vielmehr, dass ihre Zeit gekommen ist, uns zu verlassen. Ich hatte mich schon gefragt, wann es endlich so weit sein würde…“

Alyssa hatten die Worte ihres Vaters entsetzt. Nicht nur, dass er ihrer besten Freundin zugetraut hatte, sie einfach so zu verlassen, sondern auch, das er nichts hatte unternehmen wollen, um herauszufinden, weshalb sie nicht zurückkehrte.

Mit den Worten „Sie gehört doch zu unserer Familie! Sie würde nie einfach so verschwinden, ohne uns eine Nachricht zu schicken!“ war sie in ihren Schlafraum gestürzt und hatte ihre Sachen gepackt. Im Schutze der Nacht war sie dann aufgebrochen. Für war eines klar: Kazary musste etwas zugestoßen sein.

Erschöpft machte Alyssa Halt. Drei Tage nun schon streifte sie durch das Land, und auch, wenn sie das Hochland bereits verlassen hatte, schien die Hauptstadt Tirganach, von der sie wusste, dass Kazary dort ihre Dienste als Drachenreiterin zu erfüllen hatte, nicht näher zu rücken. Tirganach, die Stadt zwischen den Felsen! Wie lange hatte sie schon davon geträumt, sie einmal zu sehen! Doch nun, da sie die Stadt unter solchen Umständen sehen sollte, war ihr unwohl zumute. Aber es blieb ihr keine andere Wahl. Wenn sie herausfinden wollte, was ihrer Freundin zugestoßen war, musste sie diese Hürde auf sich nehmen. Seufzend wandte sich die junge Frau südwärts und ging weiter.

Eine Zeit lang wanderte Alyssa so durch die Wildnis, versunken in ihren Gedanken, dass sie nicht merkte, wie sie an eine Straße kam. Verwundert schreckte sie aus ihren Gedanken auf, als ihr Füße nicht mehr weichen irdenen Boden oder Grad berührten, sondern auf einen befestigten Weg traten. Ihr blick wandte sich dem Himmel entgegen. Die Sonne hatte ihren Zenit schon weit überschritten und die Schatten begannen langsam, sich in die Länge zu ziehen. Wie weit sie wohl gegangen war? Der Gebirgsring, der die Hauptstadt einschloss, verweilte immer noch fern am Horizont. War sie also doch nicht so weit gekommen, wie sie sich erhofft hatte? Sie kannte die Gegenden jenseits ihres Dorfes schlecht und konnte nicht sagen, wie weit die nächste Straße auf der anderen Seite der Narbe entfernt lag. Diese Straße mochte vielleicht ein oder zwei, oder gar unendlich viele Wegstunden fern der Narbe sein!

Unmut machte sich in Alyssa breit. So würde sie Tirganach nie erreichen.
 

„Wo warst du gestern Nacht, wir haben auf dich gewartet?“, sprach Daeron verwundert an Lavinia gewandt. Die Elfe lächelte fröhlich, wie so oft, doch etwas hatte sich in ihrem Gesichtsausdruck verändert. Sie wirkte, als wäre ihr ein Fels von Herzen gefallen.

„Wieso, was sollte denn sein?“, gab Lavinia kokett zur Antwort und warf dann einen verschwörerischen Blick zu Kazary.

Sie hatten die Heimreise erst am späten Vormittag angetreten. Es hatte lange gedauert, alle Krieger in der Stadt ausfindig zu machen. Viele von ihnen, vor allen die Menschenkrieger hatten in den Wirtshäusern mehr getrunken, als es ihnen gut getan hätte, und waren in übelster Laune, als man kam, um sie zu wecken. Nun jedoch bildeten sie einen langen Zug aus Fußsoldaten, Reitern, Schützen und Drachenkämpfern. Suchend ging Daerons Blick in die Höhe. Dort am Himmel hielten sich Falrach, Arsinoe, Silayn und die anderen Drachen auf. Einige Reiter hatten sich gemeinsam mit ihren Gefährten in die Lüfte erhoben. Er selbst und Kazary aber hatten sich entschieden, am Boden bei Lavinia zu bleiben, die trotz ihres gebrochenen Beines zu Fuß gehen wollte. Der Hauptmann war erleichtert zu sehen, wie schnell sich die Elfe nur innerhalb einer Nacht erholt hatte. Die Kopfverletzung hatte sich als nur halb so schlimm erwiesen, wie er gedacht hatte, als er sie noch während des Gefechts zu Elodris gebracht hatte. Die Blutung hatte schon längst aufgehört und es würde wohl kaum eine Narbe zurück bleiben. Auch ihrem Bein schien es etwas besser zu gehen. Manchmal fragte Daeron sich, woran das wohl lag: Daran, dass Elfen generell ihre Wunden schneller auskurierten als Menschen, oder aber, dass Lavinia ein nahezu unverschämtes Glück hatte?

Suchend ging Daerons Blick zum Himmel. Wolken kamen auf. Bald schon würden die ersten Regengüsse über dieser Region fallen und damit den Beginn des Herbstes ankündigen. Er mochte die Gegenden nahe der Südwestgrenze Doriens nicht. Das Wetter war zu wankelmütig, die Sommer zu heiß, die Winter zu kalt. Seine Heimat lag in den Wäldern westlich Tirganachs. Dort war die Luft stets klar und angenehm kühl. Das dichte Blätterdach hielt den meisten Schnee auf und verbannte das grelle Licht der Sonne. Es war das Gebiet der Jäger und Waldläufer, denen er früher so oft Gesellschaft geleistet hatte. Doch seit er der Gilde der Drachenreiter angehörte, hatte er seine alte Heimat nur selten gesehen. Manchmal fragte er sich, ob es das wirklich wert gewesen war.

„Tirganach über den Wolken, keine zwei Tagesmärsche mehr!“, rief eine tiefe, durchdringende Stimme in seinem Kopf. Unverzüglich wandte der Hauptmann den Blick nach Nordosten. Die Wolken verhüllten den Gebirgsring, der die Hauptstadt Doriens wie eine schützende Mauer umgab, doch von oben musste man die Stadt sehr gut sehen können.

„Wir werden bis Sonnenuntergang weitergehen und in der Nacht eine Rast einlegen.“, gab Daeron dem Drachen in Gedanken zu verstehen, „Mit der Dämmerung werden wir unseren Weg fortsetzen. Halte dich in der Nähe, Falrach!“

Er fühlte, wie sein Gefährte sich wieder aus seinen Gedanken zurückzog. Auch er wurde aus dem Bewusstsein des Drachen zurückgedrängt. Auch, wenn er Falrach schon so lange kennte, war ihm in diesem Augenblick, in dem die Verbindung ihrer beider Gedanken zerriss, etwas unwohl. Es war jedes Mal so, als würde ihn tatsächlich ein Teil seines eigenen Geistes verlassen. Er Schüttelte den Kopf, um dieses Gefühl loszuwerden und machte sich dann auf die Suche nach den einzelnen Kommandanten, um ihnen die Befehle für die weitere Reise zu erläutern.
 

Neugierig betrachtete Alyssa die kleinen Dörfer und Höfe zu ihrer Linken. Vom Baustil ähnelten die vielen Fachwerkhäuser sehr denen ihrer Heimat, doch waren diese hier viel sorgfältiger und feinfühliger errichtet worden. An vielen Türrahmen und Stützbalken erkannte sie filigrane Schnörkel- und Blumenmuster, die man ins Holz geschnitten hatte.

„Du scheinst mir noch nicht sehr häufig elfische Kunst gesehen zu haben.“

Fragend blickte Alyssa den Alten an. Ein freundliches Lächeln lag auf seinem Gesicht. Am frühen Morgen war sie ihm auf der Straße begegnet. Er hatte ihr erzählt, dass sein Weg ihn durch die Siedlungen um Tirganach herum führte und er sie gerne ein Stück mitnehmen würde. Sie hatte den alten Mann mit dem grau-weißen Bart und seiner stets ausgelassenen Art vom ersten Augenblick an gemocht. Es erstaunte sie, dass immer noch jeden Tag, wie er erklärt hatte, mit seinem Ochsenkarren durch die Dörfer zog, um Lebensmittel und Stoffe einzutauschen.

„Wo du herkommst, scheinen Elfen wohl eher die Seltenheit zu sein, nicht?“

Alyssa nickte: „Das Hochland wird fast ausschließlich von Menschen bewohnt.“

„Aber da frage ich mich doch“, lächelte der Alte warmherzig, während er auf den Dolch in Alyssas Gürten zeigte, „Woher du dieses Kleinod hast? Selbst unter den Elfen können sich nur wenige solch reich verzierte Waffen leisten.“

Gedankenverloren betrachtete sie die Klinge. Kazary soll sie schon bei sich getragen haben, als man sie ohnmächtig aufgelesen hatte, und dennoch war das Metal spiegelglatt und glänzend, als wäre sie eben erst gefertigt worden. Sie hoffte inständig, die Elfe in Tirganach zu finden.

Ein freundliches Lachen rief sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Fragend sah sie den Alten an, der ihr daraufhin eine Hand auf die Schulter legte.

„Ich sehe schon… du brauchst mir nicht zu antworten, aber sei vorsichtig, wenn du dich mit dem Elfenvolk abgibst! Nicht alle von ihnen sind gleichermaßen großherzig, wie sie wunderschön sind.“

„Da kennt ihr Kazary nicht…“, gab Alyssa im Flüsterton zur Antwort, „Mein ganzes Dorf… wir alle haben sie in unser Herz geschlossen. Sie ist Teil unserer Familie.“

Der Mann reagierte nicht darauf, stattdessen setzte er einen ernsten Gesichtausdruck auf und trieb seine Ochsen weiter an. Seine letzten Worte hatten Alyssa verwundert. ‚ Nicht alle von ihnen sind gleichermaßen großherzig, wie sie wunderschön sind.’ Was mochte er wohl damit gemeint haben?

Die Siedlungen schwanden allmählich und wichen einem Netz aus etlichen Straßen. Aus allen Richtungen kamen ihnen Leute entgegen, einige mit Kutschen und Karren, andere zu Fuß oder Pferd. Sie wusste, dass es unhöflich erscheinen mochte, doch konnte sie nicht umhin, die Vorüberziehenden anzustarren, denn noch nie hatte Alyssa eine solche Vielfalt an Rassen gesehen. So oft hatte Kazary ihr von den anderen Völkern Doriens berichtet, wie sie aussahen, wie sie lebten. Als junges Mädchen hatte sie ihren Erzählungen gerne gelauscht und war jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie schnell die Elfe sich in das Leben der Außenwelt eingewöhnte, wo sie doch ihr Gedächtnis verloren hatte. Damals hatte sie gehofft, Kazary würde sie eines Tages mitnehmen auf ihre Reisen, damit sie all die Dinge sehen konnte, von denen sie berichtet hatte. Dass ihr Wunsch auf diese Weise in Erfüllung gehen sollte, kam ihr fast schon wie ein übler Scherz vor.

Das Klappern der Räder auf der Straße wurde leiser, so als würde der Boden selbst den Klang verschlucken. Ein Blick hinab verriet Alyssa, dass die Wege jetzt in Gräsern und weichen, weißen Sand verschwammen. Hatten sie etwa ein Gewässer erreicht? Suchend richtete sich die junge Frau von der hölzernen Sitzbank auf. Vor ihr erstreckte sich ein Dorf mit vielen Türmen aus hellem Kalkstein. Straßen aus Stein oder befestigter Erde, wie sie sie bisher gesehen hatte, gab es keine. Alle Gebäude waren von demselben dünnen Grasschleier auf weißen Sandboden umgeben, auf dem sie jetzt dahinfuhren. Allein einige Reihen aus Muscheln, Wasserschnecken und Kieselsteinen markierten die zu befahrenden Wege. Zwischen den Türmen erblickte sie die glitzernde Oberfläche eines gewaltigen Sees und dahinter einen Ring aus kalten grauen Bergen.

„Dir scheint dieser Ort hier zu gefallen“, hörte sie den alten neben sich reden.

Alyssa nickte und wies mit der Hand auf das Gewässer.

„Der See dort, wie heißt er?“

„Nun…die Leute in dieser Gegend nennen ihn den Kristallsee, denn es heißt, als das Reich Dorien gegründet wurde, soll der erste König viele Juwelen auf den Grund des Sees geschickt haben.“

„Warum?“, fragte Alyssa.

„Man sagt sich, Wassernymphen haben einst dies Gestade bewohnt. Und als die Elfen ihr erstes Reich errichteten, haben sich die Nymphen ihnen angeschlossen und ihrem König Treue und Dienste bis in alle Ewigkeit geschworen. Als Gegenleistung und Dank für dieses Bündnis soll er ihnen die Juwelen zum Geschenk gemacht haben.“

„Was er wohl den ersten Menschen gegeben haben mag, die in diese Lange kamen…?“

„Das weiß wohl keiner“, gab der Alte seufzend zur Antwort, „Außer vielleicht das Königshaus selbst…Ah, sieh mal einer!“

Ruckartig kam der Karren zum Stehen und brachte Alyssa, die immer noch stand, ins Wanken. Sie fragte sich, was der Mann wohl gesehen haben mochte, kam aber nicht mehr dazu, ihm die Frage zu stellen, da ihnen schon eine Gruppe von Leuten entgegen kam. An ihren langen, spitz zulaufenden Ohren und scheinbar alles sehenden Augen erkannte sie, dass es sich um Elfen handeln musste.

„Ereon, mein Freund, wo ward Ihr?“, kam ihnen ein Elf mit weißblondem Haar und langer blauer Robe entgegen und breitete die Arme aus, „War Haben Euch bereits vor Zwei Tagen erwartet.“

„Bitt verzeiht, Orlander!“, entgegnete der alte Mann und stieg schwerfällig von dem Karren, „Ich wurde aufgehalten.“

„Und wie mir scheint kommt Ihr nicht ohne Begleitung.“

Der Elf, der offensichtlich eine hohe Machtposition genoss, hob prüfend eine Augenbraue, sein Lächeln aber verriet Alyssa, dass er dem Alten nicht böse war.

„Kommt, meine Freunde, kommt! Seid für heute meine Gäste und zeigt mir, was ihr an Waren mitgebracht habt!“

Ereon nickte zustimmend, woraufhin die Elfen aus dem Gefolge des Blaugewandeten begannen, den Karren abzuladen und die Ochsen abzuspannen. Während dessen führte Orlander den Alten und die junge Frau zu einem nahe gelegenen, weitläufigen Haus. Wie alle anderen hier war es aus weißem Gestein erbaut, jedoch war der Turm mit dem Kuppeldach, der das Zentrum des Gebäudes bildete, von vielen Säulen und Gewölben umgeben, die dem ganzen den Anschein eines Wellenmusters verliehen. In die Decken der einzelnen Gewölbe waren verschlungene Muster geschnitten worden, sodass das Licht durch sie hindurch schien. Auch die Säulen wurden nicht etwas von Türen begrenzt, sondern von beinahe durchsichtigen, weißen Vorhängen, die mit dem Wind tanzten. Alyssa erinnerte sich, viele solcher Wohnstätten in diesem Dorf gesehen zu haben, doch diese hier war das weitaus imposanteste.

„Bitte sehr, nehmt Platz!“, forderte Orlander die beiden auf, sich an einem langen, schmalen Tisch unter einem dieser Wellenkuppeln niederzulassen, „Und nun erzählt, Ereon, was habt Ihr dieses Mal von Euren Reisen zu berichten? Was geht draußen in der Welt vor sich?“

Lange und ausführlich schilderte der Alte, wie er einige Zeit lang in einem ruhigen Dörfchen nahe der Straße in Richtung Westen verbracht hatte, um feine Töpferarbeiten gegen Nahrungsmittel einzutauschen, die es in anderen Gebieten Doriens nur selten gab. An vielen Ortschaften war er vorbeigekommen und hatte die Leute stets mit jenen Dingen ausgestattet, die sie am dringendsten benötigten. Viele altbekannte Gesichter hatte er wieder gesehen und viele Freundschaften geschlossen und schließlich berichtete er auch, wie er auf Alyssa gestoßen war. Interessiert wanderte Orlanders Blick immer wieder zu der jungen Frau.

Als Ereon seine Erzählung geendet hatte, nickte der Elf mit der Andeutung eines Lächelns und wandte sich dann an Alyssa, „Wie kommt es, dass Ihr Euch auf eine so beschwerliche Reise fern Eurer Heimat begebt?“

Erschrocken blickte Alyssa auf. Auch wenn sie sie bereits alle gehört hatte, war sie so sehr in die Erzählungen des alten Mannes vertief gewesen, dass sie nicht damit gerechnet hatte, direkt angesprochen zu werden.

„Ich…Ich bin auf der Suche nach jemanden…“, setzte sie an, „Eine Elfe… eine Drachenreiterin.“

Orlander antwortete nur zögerlich: „Dann solltet Ihr am besten auf direktem Wege nach Tirganach weiterreisen… Aber macht Euch besser keine zu große Hoffnung.“

„Wieso?“

„Es gab wieder Schlachten an den Grenzen unseres geliebten Reiches. Es beunruhigt mich, dass die Heerführer noch keine Botenvögel oder gar einige Reiter vorausgeschickt haben, wie sie es sonst zu tun pflegen…Vielleicht müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen…“

Alyssa schwieg. Sie wusste, was Orlander damit sagen wollte. Kazary hatte ihr von den Kriegen erzählt, die Dorien mit einem Reich führte, das sich Xu nannte. Sie wusste, dass ihre Freundin ein gefährliches Leben führte, doch mochte sie nicht daran denken, geschweige denn auszusprechen, dass der Elfe etwas zugestoßen sein könnte.

„Ich bitte Euch, nehmt dem Kind nicht alle Hoffnung!“, bemühte sich Ereon zum Optimismus. Der Elf nickte nur schweigend, als hätte er dem allen nichts mehr hinzuzufügen, sein Blick aber verriet, dass er sich zutiefst sorgte. Alyssa aber wollte nicht vom Krieg sprechen und versuchte das Thema zu wechseln.

„Wie gelange ich denn von hier aus nach Tirganach?“

Beide sahen sie verblüfft an.

„Ihr seid wahrhaftig nicht von hier…“, entgegnete Orlander kopfschüttelnd, „Stadt und Schloss Tirganach, beide, liegen sie auf der anderen Seite des Sees!“

Auf der anderen Seite? Alyssa glaubte sich verhört zu haben. Auf der anderen Seite des Sees erhoben sich Felsen und Berge, wo sollte da noch Platz für eine Stadt, geschweige denn für einen ganzen Palast sein? Ungläubig wandte sie den Kopf in die Richtung, in der sich die grauweißen Felswände erstrecken, und verstand plötzlich. Zuvor war ihr ja bereits aufgefallen, dass die Berge auf sonderbare Weise einen Ring bildeten. Lag die Stadt etwa dort verborgen und geschützt?

„Gibt es eine Möglichkeiten, den See zu umrunden oder zu überfahren?“

„Wir haben eine Straße aufgeschüttet, die den Kristallsee der Breite nach überbrückt“, erklärten die beiden Männer, „Aber Ihr solltet Euch beeilen. Jetzt, wo wieder Krieg herrscht, darf keiner mehr die Straße bei Nacht passieren.“

„Dann darf ich nicht länger warten!“

Alyssa hatte sich bereits erhoben und wollte zum Gehen ansetzen, als Orlander sie am Handgelenk fasste. Eine sorgenvolle Strenge lag in seinem Gesicht.

„Tirganach ist groß und Ihr seid hier fremd. Ihr solltet gut auf Euch Acht geben und Euch am besten nicht mit den Wachen anlegen. Wenn ihr könnt, so sucht als erstes im inneren Stadtring. Dort sind die Quartiere und Bruthallen der Drachenreiter. Sollte man Euch unangenehme Fragen stellen, so holt dies hervor!“, erklärte er eindringlich und reichte der jungen Frau eine Kette mit einem aufwändig gearbeiteten Silberanhänger, in dem ein tiefblauer Saphir ruhte. Ehrfürchtig ließ Alyssa das Band über ihren Kopf gleiten und verbarg das Siegel unter ihren Kleidern. Sie bedankte sich noch einmal bei den beiden Männern für all die Hilfe, die sie ihr hatten zukommen lassen, und machte sich dann auf den Weg.

Die Sonne warf bereits lange Schatten, als sie durch das Dorf lief. Nun, da ihr Ziel so nahe war, konnte sie es kaum noch erwarten. So lange schon war sie in der Fremde umhergeirrt, zu lange, doch nun rückte der Ort, nach dem sie suchte, immer näher. Allmählich verfiel sie in einen unbeholfenen Laufschritt, der von dem weichen Sand des Seeufers verschluckt wurde, und kam erst wieder zum Stehen, als sich ihr ein gewaltiger Blick auftat. Der Kristallsee! Noch keuchend wanderten ihre Augen über die spiegelglatte Oberfläche. So gewaltig, so atemberaubend schön war dies Gewässer, dass sie glaubte, sich darin zu verlieren. Und für einen Augenblick fühlte sie sich wieder ganz klein. Nur für einen Augenblick, denn schon bald begann sie zu lächeln, ging über vor Freude, dass sie bald die Stadt betreten würde.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Straße fand, von der Orlander ihr berichtet hatte. Denn anfangs war sie nur ein sandiger Pfad, den man an der schmalsten Stelle des Sees aufgeschüttet hatte, doch zur Mitte hin wurde der Sand von Steinen abgelöst und eine Brücke ragte über das Wasser, so hoch, das kleine Boote darunter Platz fanden.

Vorsichtig tat sie einen ersten Schritt. Die Brücke hatte kein Geländer und wirkte glatt und rutschig. Nur Elfen würden auf solch waghalsige Ideen kommen, dachte sie skeptisch. Doch war dem nicht so, im Gegenteil, der Stein war warm von der Sonne und ihre Schritte fanden besten Halt. Nach einigen noch recht unsicheren Bewegungen begann sie wieder zu laufen. Bald würde sie Sonne vollends untergegangen sein, und sie musste das Stadttor erreichen, ehe es dunkel war. Vereinzelt sah sie unter ihren Füßen noch einen kleinen Segler, der seine Fahrt zurück zu den Anlegestellen machte. Auch für Bootsfahrer galt im Krieg das Verbot, des Nachts ohne Erlaubnis abzulegen.

Gerade noch rechtzeitig erreichte Alyssa die andere Seite und ehe die Wachen ihr den Weg versperren und sie fragen konnten, weshalb sie so spät noch in die Stadt wollte, hatte sie auch schon die Kette, die Orlander ihr geschenkt hatte, gezückt und hielt sie den beiden gepanzerten Wachposten hin. Schweigend ließen sie die junge Frau passieren.

Unbeirrt eilte Alyssa weiter, auf der Suche nach jemandem, der ihr helfen konnte, doch nun, da die Nacht hereinbrach, waren die Straßen ruhig und nur noch wenige Leute gingen ihren Geschäften nach. Deutlich konnte sie auch das Geräusch wahrnehmen, das die großen Flügeltore von sich gaben, als die Wachen es schlossen. Heute würde niemand mehr die Stadt betreten oder verlassen.

Die Schönheit Tirganachs ignorierend durchlief die junge Frau den unteren Stadtring, bis sie zu einem Gasthaus gelangte. Geld hatte sie kaum welches dabei, ein Zimmer konnte sie sich also nicht nehmen, aber vielleicht gab es ja dort jemanden, der ihr Auskunft über die Drachenreiter geben konnte und vielleicht sogar bereit war, ihr bei der Suche nach Kazary zu helfen.

„Schönen guten Abend, junges Fräulein, was kann für Euch tun?“, hörte sie die tiefe Stimme des Wirtes, kaum dass sie den Schankraum betreten hatte. Sich neugierig umsehend trat Alyssa an den Tresen, wo ein Mann von etwa fünfzig Wintern einen Ansturm an Gästen bewirtete, die an ihrem Tischen sitzend laut redeten, lachten und Zechlieder sangen. Als sie näher trat, fiel ihr auf, dass dem Wirt ein Auge fehlte.

„Mal nicht so schüchtern, junges Fräulein, nur zu, herein mit Euch!“, forderte er sie noch einmal freundlich auf.
 


 


 

~ WIRD FORTGESETZT~



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  mitsuki11
2008-05-08T20:47:05+00:00 08.05.2008 22:47
Ich freue mich das du weiter geschrieben hast!

Mensch besonders begeistert ist sie ja gerade nicht das sie weiß wer sie ist!

Bin gespannt wie es weiter geht!

LG Mina
Von:  mitsuki11
2008-03-13T22:38:27+00:00 13.03.2008 23:38
Super Geschichte!! Bin gespannt wie es weiter geht!

LG
Suki


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