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Die kleine Spieluhr

von

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Eine kleine Weihnachtsstory für Weihnachtsmuffel und für Leute, die auch noch an kleine Weihnachtswunder glauben! (mit Widmung an meinen Freund, der auch ein riesen Weihnachtsmuffel ist und für den ich die Geschichte geschrieben habe)

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Der Wecker begann lauthals zu klingeln und kündigte freudig den 24. Dezember an.

Jake erschrak unmittelbar beim ersten Klingeln und saß mit einem Mal kerzengerade im Bett.

Wie in Trance schaute er plötzlich an seine linke Wand, neben seinem Bett, und erhaschte dabei einen kurzen Blick auf den heutigen Tag. Jake fiel es mit einem Mal wie Schuppen von den Augen: Es war Heiligabend.

Diesen Tag hätte er liebend gerne einfach verpennt. Den 25. und 26. Dezember natürlich auch. Ein Autounfall mit einem darauffolgendem Koma für 72 Stunden wären ihm auch noch recht gewesen. Er hätte alles getan, nur um diesen Tag nicht miterleben zu müssen.

Jake ließ ein gequältes Stöhnen von sich, warf sich auf den Bauch, drückte sich sein Kissen auf den Kopf und ließ seinen Wecker einfach weiterklingeln.

Am anderen Ende des Zimmers stand aber auch noch sein Radiowecker, aus dessen Lautsprecher, nach einer Minute Klingeln des anderen Weckers, eine weibliche Stimme ertönte, die voller Freude ihr „Jingle Bells“ von sich gab und sich nun auch noch mit dem dröhnenden Klingeln des Weckers vermischte.

„Nein, bitte nicht! Das kann doch nicht wahr sein!“, stöhnte Jake wütend unter seinem Kissen hervor. Seine erste Aufgabe für den heutigen Tag war es diesen Radiowecker zu eliminieren und dafür zu sorgen, dass keine weitere Weihnachtsmusik an seine Ohren drang.

Jake schnellte mit einem Satz aus dem Bett und griff nach dem Kabel, zog kräftig daran, und die heitere Stimme der Frau erstarb von jetzt auf gleich.

„Ja, dies ist meine heilige Ruhe“, murrte er und ließ das Kabel auf den Boden fallen.

Heute würde er keinen Fuß vor die Tür setzten und sich für den Rest des Tages in seiner Wohnung verbarrikadieren. Weihnachten war definitiv nicht das Richtige für ihn. Vielleicht hatte er als Kind nie das richtige Geschenk bekommen, vielleicht hatte sein großer Bruder ihm damals zu früh gesagt, dass der Weihnachtsmann nur eine Erfindung sei, vielleicht war ihm das ganze Treiben an Weihnachten einfach zu bunt, jedenfalls konnte er mit den vielen glücklichen Menschen und deren dauergrinsenden Gesichtern nicht wirklich viel anfangen.

„Die tun doch alle nur so!“, dachte er sich jedes Mal, als ihm wildfremde Leute mitten auf der Straße ein frohes Fest wünschten und ihn dabei von Ohr zu Ohr angrinsten. Jake war normalerweise ein sehr sympathischer und aufgeweckter Mann, der für jeden Spaß zu haben war, doch an Weihnachten legte sich irgendwie ein Schalter in seinem Hirn um.

In seinen Boxershorts stand er nun in seinem Zimmer und schaute umher.

Es war mittlerweile 10:30 Uhr. Er hatte es wirklich ernsthaft versucht Weihnachten zu verschlafen. Jedes Jahr dasselbe Spiel, doch es war ihm bisher nie geglückt.

Vorletztes Jahr, zum Beispiel, waren da ein paar freche Kinder die den ersten Schnee ausnutzen mussten und natürlich sein Schlafzimmerfenster als Zielscheibe auswählten. Ehe er ihnen ein paar Takte pfeifen konnte und er auf den Balkon getreten ist, waren sie auch schon verschwunden, dabei hinterließen sie nur ihre Fußspuren und einen grässlichen Schneemann, der so aussah als würde er provozierend zu ihm hochgrinsen und ihm den Stinkefinger entgegenstrecken, da der mittlere kleine Ast seines rechten Armes etwas länger war als die anderen Äste.

Letztes Jahr war er sich schon siegessicher gewesen. Er beendete den Abend vor Heiligabend mit einer Flasche Wodka, um wie ein Baby zu schlafen. Doch gleich am nächsten Morgen, um Sage und Schreibe 5 Uhr, rüttelte auch schon ein Feuerwehrmann an seinen Schultern und sprach von einem brennenden Weihnachtsbaum in seiner Wohnung.

Ja, das war der Witz des Jahres. Jake und ein Weihnachtsbaum. Das glich ungefähr der Freundschaft zwischen Katz und Maus. Brüllend scheuchte er sie aus der Wohnung und erklärte ihnen, dass er keinen Weihnachtsbaum habe und als nette Zugabe für ihren kleinen falschen Auftritt, ließen sie ihn auch mit der eingetretenen Türe alleine.

Doch dieses Jahr hatte er dummerweise vergessen seinen Wecker auszuschalten. Er hatte Urlaub und musste nicht wie gewöhnlich um 10 Uhr aufstehen.

„Verflucht noch mal! Das kann doch nicht wahr sein. Es muss einfach ein Fluch auf mir lasten“, sagte er überzeugt.

Gedankenverloren kratzte er sich am Kopf und setzte sich wieder auf sein Bett. Er griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher einzuschalten, hielt aber auch gleich wieder inne, weil er wusste, dass er unzählige Gestalten, auf sicherlich jedem Sender, mit langen weißen Bärten, roten Mänteln und dicken Bäuchen zu Gesicht bekommen würde, die ihr lautes „Ho, ho, ho“ von ihren Schlitten, die von Rentieren, allen voran Rudolf, herab riefen. Und das konnte er nicht ertragen. Diese falschen Nikoläuse und das Rentier mit der riesigen glühenden roten Nase.

Jake musste den Tag irgendwie anders verbringen. Radio und Fernseher waren tabu, also blieb ihm nichts anderes übrig, als den ganzen Tag Computer zu spielen, DVD’s zu schauen und alte CDs zu hören.

Um ca. 17 Uhr schaute er aus dem Fenster. Langsam wurde es draußen dunkel. In Jakes Innerem loderte ein kleines Feuerwerk auf. Bald hatte er diesen ersten Tag überstanden. Er konnte sich schon fast wieder in sein Bett verkriechen und vielleicht darauf hoffen wenigstens den 25. und 26. Dezember zu verpennen. Er wollte seine Arme schon triumphierend in die Luft schlagen, als er plötzlich bemerkte, dass etwas an seiner Haustür raschelte.

Verduzt schaute er zur Tür und beobachtete, wie ein kleiner brauner Umschlag durch den Briefschlitz der Tür geschoben wurde. Mit einem leisen klackern fiel der Umschlag zu Boden.

Jake überlegte nicht lange und lief zur Tür. Er riss sie auf, doch niemand war weit und breit zu sehen. Das Treppenhaus war menschenleer.

Fragend schaute er auf den Umschlag und verschloss die Tür wieder langsam. Zunächst hielt er Abstand zu dem Umschlag, als wäre es eine Briefbombe, oder dergleichen und er wartete darauf, dass das Ding endlich hochging, um dem ganzen Theater endlich ein Ende zu bereiten und er nur noch ein Häufchen Asche sein würde. Doch es geschah nichts.

Er bückte sich nach dem Umschlag und drehte ihn hin und her, um einen Absender zu finden. Doch nichts stand auf dem Umschlag geschrieben. Er tastete nach dem Inhalt und versuchte zu erfühlen, was es sein könnte. Von außen konnte Jake nur etwas hartes mit vielen Ecken und Kanten ertasten. Er konnte den Gegenstand nicht genau bestimmen. Vielleicht hatte sich jemand einfach in der Tür geirrt?! Er konnte sich nicht vorstellen, dass er an Heiligabend Geschenke bekam, wo doch seine ganze Familie und seine Freunde wussten, dass er nicht viel davon hielt.

Um dies herauszufinden, musste er den Umschlag öffnen. Er wartete nicht lange und riss ihn einfach auf. Briefbombe hin oder her. Auf einmal schlug etwas hölzernes auf dem Boden auf.

Jake bückte sich danach und hielt einen kleinen Engel in seinen Handflächen, der zu fliegen schien und eine Harfe mit beiden Händen trug. Der Engel hatte ein langes weißes Gewand und kurze goldene Locken.

Jake lachte laut auf: „Und so was wollte mir Angst einjagen? Ich bin doch total irre.“

Er war sich auch jetzt ganz sicher, dass der kleine Engel, der in seinen Augen richtig hässlich und kitschig war, ganz sicher nicht für ihn bestimmt war.

Er erholte sich schnell von diesem Durcheinander und schlüpfte in seine Klamotten. Irgendwoher würde er sicher noch ein Bier herkriegen, dachte er sich. Das würde ihn schnell zum Einschlafen bringen. Der Kühlschrank war jedenfalls leer. Er wollte zwar nicht vor die Tür treten, doch er hoffte einfach, dass ihm nicht allzu viele Leute begegnen würden. Die sollten doch eh alle Zuhause sein und mit ihren Familien feiern.

Langsam schlurfte er durch den hohen Schnee. Er verfluchte es jetzt schon seine Wohnung verlassen zu haben. Es war eisig kalt und zudem war seine Hose jetzt auch noch durch den hohen Schnee klitschnass.

Er lief durch die Straßen, doch seine Suche war vergeblich. Er fand einfach weit und breit keine offenen Geschäfte oder Kneipen. Das war schon ziemlich merkwürdig, wie er fand. Noch nicht mal eine Menschenseele war unterwegs. Es gab nur ihn, die hellen Straßenlaternen und der leise fallende Schnee.

Er überlegte schon wieder umzukehren, als er ein paar Meter vor sich ein Schaufenster erblickte, dessen Licht sich im hellen Schnee spiegelte.

Jake trat näher heran und wusste schon beim ersten Blick, dass er hier sicherlich kein Bier bekommen würde. Er stand direkt vor einem Krimskramsladen, der alles mögliche zu bieten hatte: alte Puppen, mehrere alte Puppenhäuser, ein kleiner roter Kinderwagen, Kuscheltiere sehr viel Spielzeug aus Holz und viel Porzellan.

Er wollte sich schon wieder umdrehen und den Heimweg antreten, als er merkte, dass seine Hosentasche plötzlich schwer wurde, so, als ob ihm mit einem Mal jemand etwas in die Tasche gesteckt hatte.

Jake griff gezielt in seine Hosentasche und hielt den kleinen Engel in seinen Händen.

„Wie kommt der denn da rein?“, fragte er ganz verwundert, denn er war überzeugt davon, dass er den Engel zurück in den Umschlag gesteckt und in die nächstbeste Schublade gepfeffert hatte, bevor er losging. Er wollte ihn bestimmt nicht spazieren tragen.

Ungläubig starrte er den Engel an und schüttelte den Kopf. Da kam ihm auch schon die Idee: Wo er doch schon mal vor diesem Laden stand, konnte er doch einfach mal reingehen und nachfragen für wie viel Geld er den Engel verscherbeln konnte. Denn wirklich was mit ihm anfangen, konnte er ja nicht und als Staubfänger wollte er ihn auch nicht behalten.

Er legte seine Hand auf die Türklinke und trat in den Laden.

Direkt kam ihm eine wohlige, wärmende Luft entgegen, die nach Vanille und Zimt roch. Es war schon fast ein typischer Weihnachtsduft, den er normalerweise auch nicht sonderlich mochte, da es ja mit Weihnachten zu tun hatte, doch diesmal störte es ihn irgendwie weniger als sonst, vielleicht nahm er es auch gar nicht so intensiv wahr. Gleichzeitig war der Laden in ein geheimnisvolles orangerotes Licht getaucht. Was von außen, wie ein ungemütlicher Krimskrams Laden wirkte, entpuppte sich von innen, als eine gemütliche, warme Stube.

Ganz eingenommen von diesem Geruch und dem Licht bemerkte er gar nicht, dass eine Frau mit langen blonden Locken am Tresen stand. Sie wartete offenbar auf den Ladenbesitzer, da niemand hinter dem Tresen war und sie bediente. Die Frau drehte sich zu ihm um, da eine laute Türglocke bei seinem Eintritt laut klirrte und auf ihn aufmerksam machte.

Sie strahlte Jake mit ihren hellblauen Augen an und sagte lächelnd: „Frohe Weihnachten!“

Jake stockte für einen Moment der Atem, als er sie sah, doch er nickte nur mürrisch und murmelte dieselben Worte noch einmal.

Dann war es still und beide warteten, dass jemand hinter dem Tresen erschien. Jake schielte hin und wieder zu der Frau rüber, die still vor sich hinlächelte.

Aus einem Hinterzimmer hörte man plötzlich leises Fußgetrappel, das immer lauter wurde.

Die junge Frau und Jake behielten die Tür des Hinterzimmers im Auge und warteten darauf, dass jeden Moment jemand in der Tür erschien.

Und tatsächlich trat jemand hinter den Tresen: Es war eine kleine rundliche Frau mit kurzen braunen Locken und rosa Wagen. Sie trug eine weiße Schürze und ein langes rosanes Kleid darunter.

Die kleine Frau wünschte beiden Kunden ein frohes Fest und schaute dann direkt mit ihren dunklen, runden Augen in das Gesicht der jungen Frau und lächelte.

„Was kann ich für sie tun, junges Fräulein?“, fragte die kleine Frau mütterlich.

Die Frau mit den blonden Locken kramte in den Taschen ihres langen roten Mantels und zog eine kleine, braune, hölzerne Truhe hervor.

„Ich habe diese Spieluhr heute Morgen in meinem Briefkasten gefunden. Ich weiß zwar noch nicht, wer mir dieses Geschenk gemacht hat, aber das spielt jetzt erst mal keine Rolle“, lachte sie und fuhr dann auch direkt fort, „jedenfalls wollte ich sie direkt aufziehen doch sie hat nicht funktioniert. Sie gab keinen Ton von sich. Als ich sie mir dann näher angeschaut habe, habe ich gemerkt, dass etwas fehlt.“

Die junge Frau öffnete die Spieluhr und deutete auf einen kleinen quadratischen Sockel, an dem ganz offensichtlich noch etwas fehlte.

„Dann bin ich hierher gekommen, weil ich ihre Adresse in dem Umschlag gefunden habe, in dem die Spieluhr verpackt war und hoffe nun, dass sie mir irgendwie helfen können.“

Die kleine, runde Frau, nahm die Spieluhr an sich und musterte sie ganz genau, dann nickte sie: „Ja, ich verstehe.“

Dann gab sie der jungen Frau die braune Truhe wieder und schaute sie wissend an.

„Fragen sie einfach den jungen Herrn. Er hat das, was sie suchen“, die kleine Frau deutete in Jakes Hände.

Die ganze Zeit hat er der Unterhaltung gelauscht und bekam jetzt kaum mit, dass die junge Frau in dem roten Mantel sich zu ihm drehte und ebenfalls in seine Hände starrte.

„Aber, ich hab doch.....“, stammelte Jake und schaute an sich herunter.

Die junge Frau setzte zu einer neuen Frage an, doch die runde Frau war schon wieder verschwunden. Der Tresen war wieder leer.

Jake fing sich im nächsten Moment wieder: „Das einzige, was ich habe, ist der hier.“

Er ging hinüber zu dem Tresen und öffnete seine Faust, in dem der Engel weich in seiner Handfläche lag. Sie nahm ihm den kleinen Engel ab und betrachtete ihn zunächst von allen Seiten und schließlich sah sie sich nur noch ganz genau die Unterseite des Engels an.

Sie ließ dann ein leises „Aha!“ von sich hören und nickte dabei. Dann griff sie nach ihrer Spieluhr, öffnete die Klappe und setzte ganz gezielt den Engel auf den leeren Sockel.

Er passte!

„ Jetzt sieht sie noch viel schöner aus“, freute sie sich und strahlte Jake an. So schnell ihr Lächeln kam, so schnell wich es ihr auch wieder aus dem Gesicht.

„Aber, das ist doch ihr Engel. Das hätte ich fast ganz vergessen“, murmelte sie und schaute Jake mit traurigen Augen an.

„Ach, vergessen sie das und behalten sie den Engel. Ich will ihn nicht haben!“, sagte er gelassen, es war ja auch die Wahrheit. Er ist ja nur hierher gekommen, um ihn loszuwerden. Jetzt gab es zwar kein Geld für die Figur, aber einen anderen Zweck erfüllte sie ja trotzdem.

„Möchten sie etwas dafür haben? Eine kleine Entschädigung vielleicht?“, lächelte die Frau.

„Hmmm.... Aber kein Geld. Das verlange ich nicht von ihnen“, das meinte er aufrichtig.

„Na, gut, dann lad ich sie zu mir ein. Dann sind wir Heiligabend beide nicht so alleine“, sie freute sich sichtlich darüber.

Er nickte und lächelte. Bei jedem anderen wäre er wahrscheinlich mit der Tür ins Haus gefallen und hätte direkt gesagt, dass er Weihnachten hasste und eigentlich viel lieber Zuhause bleiben würde. Bei ihr konnte er das aber nicht machen. Irgendwie war er neugierig auf sie geworden. Das Gefühl überkam ihn von Anfang an, als er den Laden betrat.

„Ich wohne nicht weit von hier. Wir können zu Fuß gehen“, sagte sie und ging zuerst aus der Tür in die Kälte hinaus. Keiner der beiden dachte daran sich von der Frau zu verabschieden.

Auf dem Weg zu ihrer Wohnung redeten sie kaum miteinander. Jake bemerkte, dass sie das stille Schneetreiben genoss und wollte sie nicht dabei stören. Allerdings wusste er jetzt wenigstens, dass ihr Name Alicia war. Das genügte ihm für den Anfang.

Nach fünf Minuten Fußweg stand Jake auch schon in ihrer warmen Wohnung. Diese war so weihnachtlich geschmückt, dass er bei allen anderen Personen wahrscheinlich schon längst die Flucht ergriffen hätte und er nur noch eine Staubwolke von ihm zurückgelassen hätte.

Er wartete auf das vertraute Gefühl des Unbehagen, das er kannte, wenn seine Augen solche festlich geschmückten Zimmer erblickten. Doch es loderte kein Gefühl auf.

Jake fing langsam an sich über sich selbst zu wundern. Seitdem er diesen merkwürdigen Laden betreten hatte, war er irgendwie ganz anders gelaunt.

Es passierte noch nicht einmal etwas, als Alicia ihn durch den Flur ins Wohnzimmer führte, wo unzählige rote Kerzen, kleine geflügelte Engelchen, Schneemänner und Weihnachtsmänner aus Porzellan standen.

Von der Wohnzimmertür stach ihm auch schon direkt der gewaltige Weihnachtsbaum ins Auge, der ihm in Rot entgegenstrahlte.

Jake setzte sich auf die Couch und sagte: „Na, du bist ja ein regelrechter ‚Rotfreak’.“

„Wenn du das jetzt schon extrem findest, dann frag dich besser erst gar nicht, wie mein Schlafzimmer aussieht“, lachte Alicia laut auf.

„Möchtest du vielleicht noch etwas trinken?“, fügte sie noch hinzu, als sie sich schon in Richtung ihrer Minibar wandte, die rechts neben dem Weihnachtsbaum stand.

„Was darf ich dir denn anbieten, Jake?“

„Ein Bier, wenn du eines hast, bitte“, sagte er ohne darüber nachdenken zu müssen.

„Ein Bier?“, schaute Alicia verwundert, „wie wär’s denn mit etwas festlicherem. Etwas, was mehr zu diesem schönen Tag passt. Ein Glühwein oder ein Rotwein?“

„Hmm... ja, du hast wahrscheinlich Recht“, und das kam aus seinem Mund! „Dann lieber ein Rotwein“, sagte er.

Alicia strahlte ihn an, nickte und verschwand hinter der Bar. Nach zwei Minuten saß sie auch schon mit 2 Gläsern Rotwein neben ihm.

Jake ergriff direkt das Wort: „Sag mal, was machst du hier eigentlich alleine. Warum bist du nicht bei deiner Familie, bei deinen Freunden oder deinem Freund? Wir haben Heiligabend und du besuchst mutterseelenallein solch einen komischen Laden.“

„Na ja, ich hab mit meinen Eltern und Freunden ausgemacht, dass ich sie erst morgen besuchen komme. Ich wollte heute lieber alleine sein und den Tag genießen. Ein bisschen Ruhe kann manchmal gar nicht so verkehrt sein. Und einen Freund habe ich nicht.... Aber dasselbe könnte ich dich doch auch fragen.“

Sollte Jake jetzt mit der Wahrheit rausrücken und ihr sagen, dass er Weihnachten normalerweise ganz und gar nicht mochte, er sich aber in ihrer Gegenwart und seid dem Ladenbesuch irgendwie anders fühlte? Das hörte sich irgendwie wie eine schlechte Anmache an. Aber mit der halben Wahrheit konnte er ja rausrücken. Irgendwie durch die Blume würde er es sicher aussprechen können.

„Na ja“, stammelte er und nippte an seinem Wein, „ich mag Weihnachten eigentlich nicht so sehr. Ich halte nicht viel von diesem Fest und wollte eigentlich den ganzen Tag Zuhause verbringen. Weihnachten ist doch bloß von irgendwem erfunden worden.“

„Ja, das denke ich auch manchmal, wenn ich auf irgendwas wütend bin an Weihnachten“, lachte sie, „aber es kommt doch eigentlich nur darauf an, was man an diesen Tagen macht und mit wem man sie verbringt. So fällt alles viel leichter.“

„Hmm, mag sein. Ich habe es jedenfalls noch nie probiert. Vielleicht weil ich einfach denke, dass meine Familie ein wenig durchgeknallt ist und bei mir nicht alles so rosig verläuft, wie in anderen Familien.“

„Bei wem ist das denn schon so? Aber wie gesagt, wenn du das nicht mit ihnen kannst, dann solltest du dir einfach andere Leute suchen. Irgendwer wird dir doch wichtig sein, oder?.... Aber, wo du doch gerade sagtest, dass du eigentlich Zuhause bleiben wolltest. Warum warst du denn dann draußen und vor allem, warum warst du in diesem Laden?“, fragte Alicia neugierig.

Die ganze Wahrheit musste er ihr ja nicht sagen. Vor allem nicht, dass er auf der Suche nach Bier war. Das würde sich bescheuert anhören.

„Wegen dem Engel“, antwortete er knapp. „Eigentlich wollte ich nur mal an die frische Luft und ich bin dann zufällig an diesen Laden geraten. Hier wollte ich den Engel eigentlich verkaufen. Aber jetzt hast du ihn“, lächelte er.

„Woher hast du ihn denn?“, fragte sie etwas verduzt, der Tannenbaum leuchtete in ihren hellen Augen.

„Na ja, ich bekam ihn heute Nachmittag ohne Absender. Ich bin dann zufällig an diesem Laden vorbeigekommen und dachte, dass ich ihn eh nicht brauche. Ich halte das für einen ziemlich großen Zufall, dass ich, der Weihnachten gar nicht ausstehen kann, plötzlich hier mit dir sitze und Rotwein trinke. So viele Zufälle gibt es doch gar nicht, dass wir uns da plötzlich begegnen und mein Engel zu deiner Truhe gehört.“

Alicia stockte der Atem und schaute ihn mit aufgerissenen Augen an.

„Mir ist es doch ähnlich ergangen. Ich weiß nicht, wer mir diese Spieluhr geschenkt hat. Ich bin dann einfach mal in den Laden, der auf dem Zettel stand, den ich neben der Truhe gefunden habe, weil sie ja nicht funktioniert hat. Der Laden war irgendwie seltsam. Nicht, dass du jetzt denkst, dass ich durchgeknallt wäre, oder so. Aber irgendwie fühle ich mich seitdem viel ruhiger und.... Na ja, das mag sich jetzt vielleicht blöd anhören, aber ich hätte mich nie im Leben getraut dich anzusprechen und dich zu mir einzuladen....“

Jetzt riss auch Jake die Augen auf und antwortete: „Ja, und ich wäre wahrscheinlich nie mitgekommen. Vielleicht hätte ich ohne diesen Engel wahrscheinlich auch nie das Haus verlassen. Das hört sich doch total bekloppt an!“

Alicia nickte, sagte dann aber: „Ich glaube nicht an Zufälle. Vor allem nicht in dieser Sache. Moment, da fällt mir auch gerade ein, dass wir die Spieluhr noch gar nicht ausprobiert haben. Ich hole sie mal.“ Sie stand auf und verschwand wieder in den Flur, wo sie ihren Mantel abgelegt hatte. Nach wenigen Sekunden erschien sie wieder mit der Spieluhr in der Hand .

„Na, dann wollen wir mal. Wenn das wirklich irgendwie ein überirdisches Zeichen sein soll, dass wir möglicherweise zusammen gehören, oder so, dann sollte sie jetzt ohne Probleme laufen“, alberte sie herum.

Sie zog die Truhe auf und öffnete die Klappe. Beide warteten erwartungsvoll auf den ersten Ton, da sie nicht wussten, welche Musik sie offenbaren würde, doch nichts geschah.

Enttäuscht legte sie die offene Spieluhr auf den Tisch vor ihnen.

„Sie funktioniert nicht“, murmelte sie nun doch etwas traurig. Innerlich hatte sie sich diesen Weihnachtszauber doch irgendwie gewünscht.

„Ach, vergiss es!“, versuchte Jake sie zu trösten und legte ganz behutsam einen Arm um ihre Schultern.

Beide erschraken heftig. Die kurze Stille wurde durchbrochen, indem die Spieluhr in dem Moment begonnen hatte ihr Lied zu spielen, als Jake Alicia berührte. Sie bimmelte mit ihren leisen und zerbrechlichen Tönen „Stille Nacht, Heilige Nacht“ vor sich hin.

Beide schauten sich verwundert an. War das nicht doch ein Zeichen gewesen? Sollte Jake langsam beginnen seinen Missmut über Weihnachten zu begraben? Langsam begann er zu glauben, dass er in der heutigen Nacht Alicia nicht zufällig getroffen hatte. Diese Spieluhr hatte sie zusammengeführt, oder war es doch die kleine, rundliche Frau?

Alicia und Jake schauten sich tief in die Augen. Alicia lächelte, küsste ihn dann ohne zu zögern auf die Wange und sagte noch einmal: „Fröhliche Weihnachten!“

Jake lächelte und gab ihr ebenfalls einen Kuss, dann nickte er ergriff sie bei der Hand und fragte: „Denkst du dasselbe, was ich denke?“

Alicia nickte: „Ja, lass und noch einmal zurückgehen.“

Sie liefen durch ein heftiges Schneetreiben die Straße entlang, in dem beide den Laden gefunden hatten. Sie liefen bis zum Ende der Straße. Zwei Mal hin und her, doch der Laden war verschwunden. Er war nicht mehr da. Das war ein eindeutiges Zeichen. Eindeutiger ging es gar nicht mehr und als sie wieder bei Alicia waren, war auch die Spieluhr verschwunden, die sie auf dem Tisch zurückgelassen hatten.



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