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Der Gaukler

von

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Kommt schnell, seht her!

Das ewige Rauschen der Gaststätten von Paris war in weiter Ferne zu hören, als dumpfe Schritte sich in einer kleinen Seitengasse verirrten und langsamer wurden, als ihre Besitzer sich unbeobachtet fühlten. „Was machen wir nun mit diesem Kind?“ „Leg es einfach hier hin! Entweder es stirbt oder jemand findet es, es hat uns nichts mehr zu kümmern.“ Zögernde Bewegungen waren es, die die Frau voran schreiten ließen. Doch letztlich gab sie nach und bettete ihr gerade geborenes Kind in eine alte Holzkiste, die achtlos in der Ecke lag und verschwand so schnell sie konnte mit ihrem Mann.
 

Nein, noch nicht ganz, denn sie konnte nicht davon ablassen, noch einmal zu ihr zu gehen und ihr einen Zettel auf die Brust zu legen, den sie zuvor mit den spärlichen Worten, die sie zu schreiben in der Lage gewesen war, verfasst hatte, sollte jemand den Säugling finden. Lange konnte sie nicht mehr verweilen, um Abschied zu nehmen. Der Mann, ob nun ein Geliebter oder ihr Mann oder dergleichen, kam zurück und packte sie grob am Oberarm, um sie gleich darauf gewaltsam hinter sich her zu ziehen. Schreiend und flehend streckte sie den Arm nach ihrem Kind aus, scheinbar aber ohne wirkliche Worte von sich zu geben. Ungeduldig warf ihr der Mann die Hand vor den Mund und presste so jeden Laut zurück in ihren Körper. Unachtsam, ob sie sich verletzen konnte oder nicht, ging er mit ihr weiter.
 

Gleichen Ortes verirrte sich zum selben Zeitpunkt ein junger Mann in einer nahe gelegenen Seitengasse, in der eine unauffällige Wirtschaft aufzufinden war, in der er sich eine Unterkunft für die Nacht erhoffte. Er hatte den ganzen Tag Geschichten erzählt und gesungen und getanzt, um sich nun mit seinem hart erarbeiteten Geld in etwas anderes als das dreckige Heu eines Kuhstalls niederlassen zu können. Doch dieses Glück sollte ihm vergönnt werden, als ihn ein kleiner Junge anrempelte und ihm seine Tasche entriss. Tobend verfolgte der Mann den Jungen eine Weile, dann wurde er müde und wandte sich seufzend um. Und dann fing es an zu regnen. Der junge Mann blickte starr geradeaus und dachte über sein jetziges Dasein nach. Wie viel Unglück konnte wohl einem einzigen Menschen in einem bisher kurzen Leben und an einem ebenso bisweilen kurzen Tag widerfahren? Er sollte es nicht fassen, doch es kam schlimmer und schlimmer. Denn je tiefer er auf der Suche nach einem trockenen Platz war, umso mehr spürte er, wie sehr sein Hass auf diesen Jungen stieg, der ihm sein Geld und sein weniges Hab und Gut entwendet hatte und der sich wahrscheinlich gerade in ein warmes Bett kuschelte, das er mit dem Diebesgut bezahlt hatte. Und je tiefer er auch voran schritt, umso mehr wurde er vom Regen durchnässt; umso mehr begann er wieder die Leere in seinem Magen zu spüren; umso mehr begann er zu frieren und zu ermüden. Nach einigen weiteren, endlos erscheinenden Minuten erschlafften seine müden Muskeln und er sank zu Boden und schlief bald darauf ein.
 

Der nächste Morgen brach früher an, als es dem jungen Mann lieb gewesen wäre. „Hey!“ Er wurde grob in die Seite getreten und aufgefordert, aufzustehen. Das Erste, was er an diesem Tag erblicken sollte, war nicht das freundliche Gesicht eines lieben Menschen, sondern das eher zornige eines Wachmanns. Der Junge befürchtete bereits das Schlimmste. Man würde ihn festnehmen, ihn unter Arrest stellen, bis er alt und grau war oder bis er in der Zelle verfault war. Doch nichts dergleichen. Der Wachposten, der wohl seine morgendliche Patrouille abhielt, deutete auf etwas neben dem Mann und fragte nur mürrisch „Bring es endlich zum Schweigen!“.
 

Verwundert drehte sich der Angesprochene zur Seite und erlitt einen tiefen Schreck, als er dort zwischen einigen Holzlatten einen Säugling sah, der, wie er erst jetzt merkte, als er langsam seinen wachen Zustand erreichte, bitterlich schrie. Doch es blieb bei einem Zögern. Mehr war der Junge nicht in der Lage zu tun. Er war zu erschrocken und vielleicht auch zu hilflos mit seinem jungen Alter, um zu wissen, wie er das Kind behandeln sollte. Der Wachmann schien von dieser Reaktion genervt und wies ihn erneut an, das winzige Bündel dort ruhig zu stellen. „Es ist doch deines, oder?“ Der junge Mann überlegte kurz, dann nickte er zögerlich und hob das Kind auf seine Arme. Mit einem leichten Hin- und Herwiegen von selbigem, gelang es ihm, es zumindest etwas weniger schreien zu lassen. Der Wachmann schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas vor sich her, ehe er weiterging und gänzlich zu ignorieren schien, dass streunende Menschen festgenommen werden sollten.
 

Der Junge nahm dies aber als Gelegenheit war, stand auf und versuchte so schnell wie möglich das Weite zu suchen, ehe es sich der Posten anders überlegen konnte. Dabei spürte er aber schnell, wie seine erschöpften Muskeln und Knochen schmerzten und ihm das Rennen kaum machbar erschien, er sich also mit einem schnellen Gehen befriedigen musste. Es würde reichen, um aus dem Blickfeld von Gefahren zu gelangen. Und das musste er. Er musste sich in seine Schatten zurückziehen, aus denen er am Vorabend gekommen war. Es gab jetzt, an diesem Morgen nur eine Möglichkeit, nur einen einzigen Ort, wo er sich verstecken konnte: Der Hof der Wunder.

Hier im Hof der Wunder…

Der Hof, das Zuhause jener Zigeuner, die es seit Jahrzehnten verstanden, sich vor dem Gesetz zu verstecken, lag in einer unterirdischen Höhle, die nur über eine Treppe erreicht werden konnte, die unter einem Grabdeckel aus Stein des hiesigen Friedhofes lag. Der junge Mann hatte nicht die geringste Idee, wieso er das wusste, doch es war ihm egal. Sicher würde man ihm dort Unterschlupf gewähren können.

Leise tapsend, fortschreitend und verängstigt den Blick über jeden in der Grube liegenden Totenkopf gleiten lassend, bewegte sich der Junge voran, das schreiende Säuglingskind auf seinem Arm. Es war ein Mädchen, da war er sich mittlerweile ganz sicher. Er hatte es nicht überprüft, dafür war er viel zu verlegen, zu zurückhaltend und vielleicht auch ein wenig zu moralisch erzogen für einen Streuner. Doch diese Augen, die ihn in einer Pause des Weinens groß ansahen, konnten nur einem Mädchen gehören.

Immer wieder sprach er zu der Kleinen, bat sie, doch still zu sein, man könne sie noch hören. Andererseits verschaffte es vielleicht Sympathie, wenn man einen jungen Mann mit Säugling vorfand. Sicherlich würde man einem solch hilflosen Eindringling nichts antun. Zumindest hatte das der junge Mann gehofft.
 

„Ergreift ihn!!“ Erschrocken drehte der Junge sich um und sah nach allen Seiten, doch ehe er in jeglicher Weise anders reagieren konnte, zwang man ihn zum stillstehen und hatte ihn umzingelt. Ohne Rücksicht auf sein Alter, seinen Zustand oder dergleichen, entrissen sie ihm das Kind aus den Armen und schlugen ihn gewaltsam zu Boden. Er warf sich hilflos die Arme über den Kopf und krümmte sich zusammen, als sie nicht aufhörten, ihn zu schlagen und zu treten. Er spürte bereits den bitteren Geschmack von Blut in seinem Mund, da kam ein letzter kräftiger Tritt von vorne auf ihn zu, der sich in seinem Magen vergrub und ihn noch ein letztes Mal laut aufschreien ließ. Danach überkam ihn die Dunkelheit.
 

Stunden später erwachte er endlich wieder aus einer tiefen Ohnmacht und wirkte noch benommen und verstört, als er sich umsah. Er befand sich in einem normalen Raum, nicht in einer Art Zelle, wie er es befürchtet hatte. Neben seinem Bett ruhte eine ältere Frau in einem antiken Schaukelstuhl und schien zu schlafen. Dieses Gefühl, dass man ihn nicht tatsächlich festgenommen hatte, wunderte ihn und löste Unbehaglichkeit in ihm aus. Der Versuch, aufzustehen, sollte kläglich scheitern. Sein gesamter Körper tat noch mehr weh, als am Abend zuvor. Als er sein schmutziges Hemd etwas anhob, präsentierten sich ihm riesige, blaue Flecken und einige furchtbar aussehende Blutergüsse. Er hatte das Gefühl, dass man ihm jeden Teil seines Körpers zermalmt hatte und jede seine Bewegungen stimmte ihm zu dieser Vermutung zu. Er wagte es nicht, einen zweiten Versuch zum Aufstehen zu starten, sondern blieb liegen und starrte an die Decke über sich.
 

Der Raum war sehr hoch und unter der Decke hingen bunte Tücher, die teils Gegenstände wie Kleider und ähnliches beinhalteten, teils aber auch nur zur Zierde gut zu sein schienen. Rot, violett, blau, gelb. Alle möglichen Farben verbanden sich zu einem großen, kunterbunten Bild, das dem Jungen gefiel. Bunte Farben bedeuteten Fröhlichkeit. Doch was dann der Überfall auf ihn zu bedeuten hatte, blieb ihm vorerst ein Rätsel.

Als er seinen Kopf behutsam zu der Frau neben sich drehte, fiel ihm auf, dass auch sie in dieselben, bunten Stoffe gewickelt war, die an der Decke hingen. Sie hatte sich ein rotes Tuch um den Kopf gebunden, einige ihrer fast schon schwarzen Haare schauten darunter hervor, ein Teil davon war zu einem Zopf geflochten. Ihre Kleidung war freizügig, beinahe etwas légère, und betonte ihre mollige Figur. Trotzdem, obwohl sie so ganz anders gekleidet war, als der junge Mann es von den Frauen von Paris gewohnt war, gefiel sie ihm aus irgendeinem Grund. Es war nicht so, dass er sie besonders anziehend fand, nein, sie strahlte einfach eine gewisse Ruhe und Gemütlichkeit aus, die er seit langem so nicht mehr erlebt hatte.

Da wachte sie auf und lächelte ihn gutmütig an. Ohne vorher an etwas anderes zu denken, schien ihr eine Frage brennend auf den Lippen zu liegen. „Wie heißt du?“ Der Junge erwiderte ihr Lächeln zögerlich. „Ich heiße Clopin.“
 

„Was bildet ihr euch eigentlich ein??“ Aufgebracht lief der alte Zigeuner auf und ab, als diese Truppe von nutzlosen Wachposten sich ihm keiner Schuld bewusst, nein, sogar fast eher stolz auf ihren Fang waren. „Wir haben das Kind geschützt, Tertulienne!“, verteidigte sich einer der Männer, ein großer, stämmiger Kerl, der dem Jungen, der soeben aufgewacht und sich als Clopin vorgestellt hatte, den Gnadenstoß in die Magengrube verpasst hatte. Folgend zu seiner Aussage, hielt der Schrank nun das kleine Bündel mit dem immer noch weinenden Kind hoch. Ihr Anführer erschrak fürchterlich und nahm es ihm ab. Ohne ein weiteres Wort an diese Gruppe von Chaoten zu verschwenden, ging er und sah zu, dass dieses arme Geschöpf in seinen Armen verpflegt wurde.

Doch er wurde sogleich von einigen aus der Truppe verfolgt, die wie Wilde auf ihn einredeten. Sie hätten nur das Beste gewollt, hätten nur an das Wohl des Kindes gedacht, und dergleichen. Tertulienne schien dies jedoch nur noch mehr zu erzürnen. Er fuhr herum und schrie seine Männer ungehalten an: „Das Wohl des Kindes?? Habt ihr schon daran gedacht, dass der Mann, der bei dem Kind war, nach Hilfe gesucht hat?? Was ist das für ein Empfang im Hof der Wunder? Ein wildes Zusammenschlagen? Hat er das verdient?? Du meine Güte, der arme Junge! Meine Güte, der arme Junge!“ Als er weiterstürmte und nicht aufhörte, vor sich her zu murmeln, schienen die Männer ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Ihre großen Pranken falteten sie vor dem Bauch und ihr sonst so aggressiver Blick wurde sanft und wich zum Boden. Sie hatten die Verzweiflung ihres Königs verstanden und hatten ebenso verstanden, dass sie etwas Schreckliches getan hatten.
 

„Wie alt bist du?“ Die Frau hatte sich immer noch nicht vorgestellt, als sie mit dem jungen Mann sprach und immer mehr und mehr über ihn erfahren wollte. Sie war eine Person, die es nie Leid wurde, Neues zu erfahren. Und besonders bei einem so hübschen jungen Mann wie dem Neuling Clopin hier vor ihr, wurde sie wieder schwach.

Als der aber nicht auf ihre letzte Frage antwortete, seufzte sie und wiederholte sie etwas ungeduldig. Ihre langen Fingernägel ließ sie immer wieder auf die Lehne des Stuhls tippen. Clopin beobachtete dies einige Zeit schweigend und interessiert. Ihre Nägel waren schon ganz kaputt und trotzdem hatte sie sie noch nicht abgeschnitten. Ob das nun ein Zeichen der Schönheit sein sollte, wagte der junge Mann aber zu bezweifeln. Sie sahen nicht so aus, als würde man sie zur Zierde der schönen Hände tragen, sondern nur nach einer unausweichlichen Bedingung, da ihr Besitzer keine Zeit aufbringen konnte, sie zu kürzen.

„Junger Mann!“ Gerade zuckte der Angesprochene zusammen und wollte antworten, da begann seine Gegenüber auch schon lauthals und sehr herzlich zu lachen, wobei sich ihr dicklicher Körper dabei auf und ab bewegte. „Wie du dreinschaust! Beruhige dich, dir wird niemand mehr etwas tun. Und nun“, sie kicherte noch einmal kurz auf, „wie alt bist du?“ Noch einmal schweig Clopin kurz. Sie erkannte seine Bedenken schnell und stand auf, um sich nach wenigen Schritten wieder neben ihm auf der klapprigen Liege niederzulassen. „Ich frage nur aus Neugierde. Du musst ein junger Vater sein.“ Der Junge erschrak fürchterlich, als er verstand, worauf die Frau hinaus wollte. Hilflos winkte er ab und stotterte vor sich her: „Sie ist nicht mein Kind! Ich habe sie nur auf der Straße gefunden und…“ Die Frau unterbrach ihn mit einem lachenden Unterton: „Und du wolltest herkommen, um um Hilfe zu bitten, nicht?“ Ehe er darauf etwas antworten konnte, stöhnte sie auf und schlug die Hände zusammen. „Du armer Junge! Du suchst Hilfe und bekommst Prügel von einem Haufen Dummköpfe!“

„Pass auf, was du sagst, Germaine, du kennst doch Tertulienne. Wenn er dich so hört, hängt er dich noch wegen Meuterei!“ Beide, sowohl die Frau als auch Clopin fuhren zur Tür herum, wo ein junger Mann stand, der wohl unwesentlich älter als der vor kurzem Eingetroffene selbst war, dafür aber ein reichlich loses Mundwerk zu haben schien. Nun wusste Clopin aber wenigstens, und dafür war er dankbar, dass die Frau, die die ganze Zeit mit ihm gesprochen hatte, Germaine hieß. Und wer er nun wiederum war, würde er sicherlich auch gleich erfahren. Ja, zuverlässig wie erwartet, deutete Germaine auf den Jungen. „Das ist Homer. Homer, das ist Clopin.“ „Wie geht’s?“, fragte Clopins Gegenüber, was aber wohl eine Frage gewesen war, auf die es keine Antwort brauchte, denn kaum dass er antworten wollte, wandte sich Homer wieder zu der Frau und stemmte die Hände in die Hüfte. „Tertulienne will den Jungen sprechen.“
 

Kaum auf dem unterirdischen Marktplatz angekommen, auf dem großes Gedrängel von hunderten von Zigeunern herrschte, kam Clopin auch schon ein alter Mann entgegen, graue, lange Haare, jedoch halb kahl auf dem Kopf, und diese übrig gebliebenen Haare zu einem Zopf gebunden. Er trug goldene Kreolen und ein buntes Kostüm, ähnlich wie andere hier, nur eleganter, auffälliger. Sicherlich war er nicht irgendjemand.

Das alles war Clopin aber egal, als er das kleine Bündel auf seinem Arm entdeckte. Erleichtert ging er zu dem Mann und zögerte zwar, doch sein Gegenüber wusste auf den Punkt, was er wollte, also übergab er ihm das Kind nur lachend. Und Clopin schien sichtlich erleichtert zu sein, dass es ihr gut ging. Ja, sogar mehr als gut. Sie schlief – es war ihm ein Rätsel, wie sie das bei diesem Lärm hier vollbrachte – und ihre Wangen waren nicht mehr blass, sondern in einem kräftigen Rot gefärbt. Ihr Atem veranlasste ihren winzigen Körper dazu, ihre Brust schwer auf und ab zu heben, doch es fiel ihr scheinbar bei Weitem leichter als noch wenige Stunden zuvor. Sie war wieder gesund. So sehr Clopin eben auch seine Schmerzen geplagt hatten, umso zufriedener war er nun und umso weniger dachte er noch an seine Wunden. Und Tertulienne wurde richtig warm um sein Herz, als er diese Zuneigung zwischen den Beiden sah.

Während Clopin die Kleine hin und her wog, wandte sich Germaine an ihren Herrn. „Er hatte nie böse Absichten.“ „Ich weiß“, antwortete Tertulienne und sein Lächeln weitete sich über sein ganzes Gesicht aus. „Er ist ein guter Junge.“ Der junge Homer, der einige Meter von dem Geschehen entfernt stand, rieb sich freudig die Hände und kicherte in sich hinein. „Mal sehen, wie lange das noch so bleibt!“
 

Tertulienne bat Clopin um Verzeihung und rechtfertigte sich für seine Männer, die dem jungen Mann einen so kalten Besuch erwiesen hatten. Doch der schien das kaum noch bedacht zu haben. Er wandte sich längst wieder dem Säugling in seinen Armen zu und dachte nur daran, dass es ihr gut ging. Und das ging es ihr, auch als sie aufwachte und munter durch die neue Gegend blickte, die sich ihr zeigte.

„Eine Zigeunerzuflucht“, so beschrieb Germaine nun offiziell das, was Clopin längst erkannt hatte. Der Hof der Wunder war bei den meisten Menschen bekannt, doch nur wenige wussten, wo er lag. Clopin war einer von diesen Wenigen und nicht einmal ein Zigeuner, und das war es wohl gewesen, was Tertuliennes Gefolgsleuten verdächtig erschienen war. Wie dem auch sei, Tertulienne nahm Clopin und das Kind jedenfalls mit Freuden bei sich auf. Seine Ehre verbat es ihm, sie zurück auf die Straße zu schicken, außerdem stand der Hof der Wunder jedem offen, der Hilfe brauchte – so hatte man es zumindest erdacht. Dass nun einige Männer aus der Reihe tanzen mussten und hilflose Leute angriffen, hatte niemand ahnen können, am allerwenigsten aber der gutmütige Clopin.
 

Dies war wohl mit ein Grund, dass er sich in der langen Zeit, in der er sich im Hof befand, veränderte. Eigentlich hatte er nur eine Unterkunft für das Mädchen gesucht, doch nun, da er verwundet war und sein Hab und Gut von diesem frechen Straßenjungen gestohlen worden war, beschloss er, das Angebot von Tertulienne, dem König der Zigeuner, anzunehmen und einige Tage hier zu verweilen.
 

Das Kind, das er gefunden hatte, hatte einen Zettel bei sich gehabt. Clopin schien überrascht zu sein, als Germaine ihm selbigen in die Hand drückte und mit den Worten „Das hattest du bei dir“ bestätigte, dass er ihn wohl doch noch beiläufig eingesteckt haben musste, bevor er mit dem Kind vor dem Wachmann geflohen war. Auf dem Zettel war in wenigen Worten eine Nachricht geschrieben: „Er nennt sie Carbóna. Doch sie schön. Ihre Augen. Ich nennt sie Esmeralda.“ Wie es schien, beherrschte die Person, die den Zettel beschriftet hatte, die französische Sprache nur spärlich. Den Namen nach zu urteilen schien der Brief von einem Südländer oder dergleichen verfasst worden zu sein. Der Wunsch, den diese Person aber gehabt hatte, war ihnen allen klar: Das Kind sollte nicht Carbóna heißen, wie es jemand anders gewollt hatte, sondern Esmeralda, der Diamant.

Ihnen allen war nach einem Blick in ihre strahlend grünen Augen klar, wie der Verfasser auf die Idee zu dem Namen gekommen war. Und so war es beschlossen. Das Kind würde vom heutigen Tage an auf den Namen Esmeralda hören.
 

Tage. Ja, Clopin erinnerte sich an sein Vorhaben. Er würde noch einige Tage hier bleiben, bis seine Wunden geheilt waren und er sich einen kleinen, ehrlichen Vorrat an Nahrung erarbeitet hatte – er wollte nichts geschenkt bekommen – und dann weiter ziehen.
 

Doch aus den vorgenommen Tagen wurden Wochen. Aus den Wochen wurden Monate. Und aus vielen, vielen Monaten wurden letzten Endes zehn lange Jahre. Zehn Jahre, in denen Clopin sich als ein aufgeweckter Junge, später als ein heiterer Mann erwies, in denen er in Homer einen seiner besten Freunde fand, der aber wenige Jahre später, fünf, um es präzise zu sagen, fort ging, um neue Länder kennen zu lernen. Es waren ebenso Jahre, in denen Tertulienne eine Art Mentor für ihn wurde und in denen er die bezaubernde kleine Esmeralda aufwachsen sah. Und als er das Gefühl hatte, dass er nun endlich hätte gehen können, was seine Mittel betraf, war es zu spät. Der Hof der Wunder war zu seinem neuen Zuhause geworden und er würde es nicht über sein Herz bringen, diesen Ort für immer zu verlassen.

So ist unser kunterbunter Tag!

Etwas aufgebracht, aber lange nicht mehr so kindlich naiv wie noch vor zehn Jahren, schritt Clopin durch den Hof der Wunder und suchte nach jemandem. „Esme!?“ Der liebevolle Kosename für Esmeralda war bei ihnen in Fleisch und Mark übergegangen.

Als er sie endlich gefunden hatte, kam er kaum in ihre Nähe, da einige Zigeuner sich um sie herum geschart hatten und beobachteten, wie sie fröhlich tanzt. Clopin verschränkte die Arme und betrachtete das Spektakel gutmütig und schien von ihrem Können überrascht zu sein. Mit ihren zehn Jahren bewegte sie sich bereits beinahe wie eine erwachsene Frau. Ihr tiefschwarzes, voluminöses Haar schmiegte sich ihr sanft ums Gesicht und ruhte auf ihren Schultern. So gut sie auch tanzte, so sehr musste Clopin sie nun aus ihrer Heiterkeit entreißen. „Bravo!“, rief er und drängte sich zwischen dem Publikum hindurch. „War das die Generalprobe? Wir müssen in die Straßen, weißt du?“ Esmeralda seufzte und nickte widerwillig. Sie war es mittlerweile gewohnt, mit Clopin in Paris aufzutreten, um Geld heran zu schaffen, aber Spaß machte es ihr immer noch nicht. „Hepp!“ Damit warf Clopin ihr ihr Tamburin zu, ohne zu ihr zurückzublicken. Etwas überrumpelt schnappte sie es und folgte ihm weiter. „Jeden Tag das gleiche, muss das denn sein?“ Sie seufzte. „Willst du dein ganzes Leben lang nur mit mir auf den Straßen Musik machen? Strebst du nichts Höheres an?“ Clopin lachte laut auf und ging rückwärts weiter, um sie anzusehen zu können. „Höheres? Was hättest du denn da im Sinn?“ „Na“, Esmeralda grinste bösartig, „ich denke zum Beispiel, du würdest einen hervorragenden König abgeben!“ Clopin blieb beinahe die eigene Spucke im Hals stecken, als er das hörte. Er, ein König? Von was für einer Art König sprach sie? Er konnte unmöglich ein richtiger König werden, aber vielleicht König der Zigeuner. Doch das war immer noch Tertulienne und würde es sicherlich auch für lange Zeit bleiben. Außerdem konnte man nun nicht gerade behaupten, dass Clopin besonders angesehen war, eher das Gegenteil war der Fall.
 

„Eilt herbei!“ Die Stimme eines Mannes hallte durch den ganzen Hof. Er stand auf einem erhöhten Podest, kombiniert mit einem Galgen für Eindringlinge. Nach ihm trat Tertulienne auf selbes Podest und sprach zu seinen Leuten. „Es geht um das Fest der Narren! Bald beginnt das neue Jahr und es ist unsere Aufgabe, das Fest unvergesslich zu machen!“ Aus den Reihen hörte er einige Lacher und Kommentare wie „Als ob“ oder „Wie noch nie, ja?“. Denn zugegebenermaßen hatte das Fest der Narren, das jährlich im Januar in Paris stattfand, schon glorreichere Zeiten erlebt. Seit Tertulienne streng darauf achtete, dass alles korrekt ablief und ohne dass jemand Schaden nahm, langweilten sich die Bewohner von Paris und mieden das Fest weitgehend.

Doch endlich sollte sich dies ändern. Nur wie, das wusste noch keiner von ihnen genau und selbst Tertulienne selbst schien ratlos. Deshalb galt seine Frage „Ideen?“ wohl als ehrlich und nicht als rhetorisch. Doch Antwort bekam er nicht. Jeden Vorschlag, den die Zigeuner gehabt hätten, wäre zu gewagt für die Maßstäbe ihres Königs gewesen.
 

Clopin winkte ab und ging weiter. „Für so einen Unsinn brauchen die uns nicht. Komm.“ Esmeralda machte einige Schritte rückwärts und rannte Clopin dann hinterher. „Warum sagst du nichts? Ich weiß genau, dass du gute Ideen hast!“ „Und mich mit Tertuliennes Moral anlegen? Nein, nein…“ Er zündete seine Fackel an einer bereits brennenden an der Wand an. „Er verbannt jeden, der Meuterei begehen könnte.“ „Du bist ein solcher Feigling, Clopin!!“ „Jaja“, gab der Angesprochene nur von sich und ging völlig gelangweilt den dreckigen gang weiter, durch den er vor zehn Jahren zum ersten Mal hindurch geschritten war. Schöne Erfahrungen verband er hiermit immer noch nicht, aber es war der einzige Durchgang zu dem verlassenen Friedhof und somit nach Paris hinein.
 

Esmeralda und Clopin taten das Übliche. Er spielte ein wenig auf seiner Flöte, sie auf dem Tamburin und tanzte dazu. Dabei wirkten beide nicht sonderlich begeistert von dieser Arbeit, es würde ihnen aber nichts übrig bleiben. Als der Drang, Leute herbeizulocken, ins Leere lief und auch langsam weniger wurde, ging Esmeralda zu dem im Schneidersitz da hockenden Clopin und verschränkte die Arme. „Können wir nicht gehen?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Sieh in unseren Beutel da vorne, dann weißt du es.“ Esmeralda seufzte und tat einige Schritte zu dem alten Lumpen, in dem sie sich einige Spenden erhofft hatten. Doch er war gänzlich leer. „Da kommt sicher nichts mehr hinzu.“

Sie hockte sich zu ihm und starrte ihn stur an, ohne etwas zu sagen. Nach einigen quälend lang wirkenden Sekunden, stöhnte Clopin genervt auf und drehte sich zu ihr. „Wenn wir ohne etwas zurückkommen, dreht uns Tertulienne den Hals um.“ „Dann mach was Vernünftiges! Lass uns was singen oder so!“ Clopin blinzelte einige Male verwirrt und kratzte sich am Kopf. „Singen, hm? Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Esmeralda sprang wieder auf und stemmte ihre kleinen Hände in die Hüfte. „Du liebe Zeit, dann versuch es einfach! Arbeite mal an deinem Selbstbewusstsein, sonst bekommst du nie Anerkennung!“ Ehe er noch etwas erwidern konnte, hatte sie sich wieder neben ihn gekniet und ihm den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. „Nicht reden! Sing mir, was du sagen willst!“ „Ich, will dir aber sagen…!“ Esmeralda schmiss sich die Hände auf die Ohren und gab einige laute „Lalala“ von sich, um kenntlich zu machen, dass sie ihm so nicht weiter zuhören würde. Denn das Mädchen wusste ganz genau, dass Clopin gut singen konnte, immerhin tat er das auch ab und an, bevor sie beide schlafen gingen. Er glaubte zwar sicher, dass sie ihn nicht hörte, doch in Wahrheit grinste sie unter der Decke vergnügt drein, als er sich beim Zurechtmachen fürs Schlafen noch einige Melodien ausdachte und diese vor sich her sang.

Nach einigen weiteren, verzweifelten Versuchen, ihr zu sagen, was er dachte, begann er tatsächlich einige Töne anzustimmen, um es ihr vorzusingen. Und schon hatte er ihre Aufmerksamkeit zurückerlangt. „Beliebtheit ist nicht, was ich will“, summte er ihr entgegen und erhob dabei fast drohend seinen Zeigefinger. „Also sei ganz einfach still! “ Er stand auf. „Ich will jetzt einfach nur alleine sein, du bist sowieso viel zu klein! “ Er nahm den leeren Lumpen und ging voran, Esmeralda rannte ihm empört hinterher und erwies ihm Kontra: „Ich bin sowieso zu klein? Also gut, na schön, na fein! Ich werd dir nicht mehr auf die Nerven geh’n, ich werd’ nur noch geh’n, wiederseh’n! Immerhin gibt’s nichts Schön’res, als ganz weit weg von dir zu sein!!“ Sie drehte sich um und stampfte davon, Clopin folgte ihr, packte sie am Arm und sang weiter: „Bleib jetzt erstmal hier, sei nicht gemein. Im Grunde muss das hier ja Liebe sein. Seit ew’ger Zeit ertrag ich dich, auch klein.“ Er blickte auf und ließ langsam ihren Arm los. „Und ich merke… ich sing’ gerne!” Esmeralda strahlte plötzlich mit ihm im Einklang und ergänzte seinen Gesang: „Ich hab dir ja gesagt, dass das doch geht. Dumm ist doch, wer jetzt noch widersteht. Ja, dumm ist, wer sich jetzt von dir wegdreht. Sing noch heller, sing noch schneller!“ Gerade setzte Clopin zu einer neuen Zeile an, da kamen einige Wachen um die Ecke marschiert und zeigten entsetzt auf das singende Zigeunerpaar. Eilig packte Clopin Esmeralda an der Hand und nahm mit ihr die Flucht auf, bevor die Wachen sie erwischen konnten. Sie lachten.
 

„Wisst ihr, was für Sorgen ich mir gemacht habe??“ Germaine stemmte die Hände in ihre rundliche Hüfte und tippte nervös und gleichzeitig wütend mit dem rechten Fuß auf und ab. Clopin und Esmeralda standen vor ihr, ihre Hände hinter ihren Rücken gefaltet, den Blick demütig zu Boden gerichtet und sich ihrer Schuld durchaus bewusst. Sie waren nun vielleicht Zigeuner, Herumstreuner also, doch sie waren auch immer noch Kinder. Clopin wuchs aus dieser Bezeichnung vielleicht langsam heraus, doch er war längst nicht alt genug um bis in die späte Nacht mit einer Zehnjährigen durch Paris zu laufen, wo sie an allen Ecken und jeder dunklen Gasse hätten gefasst werden können.

„Ihr wisst ganz genau, wie gefährlich es für uns dort oben ist, seitdem Claude Frollo der herrschende Richter ist! Er will uns alle auf dem Scheiterhaufen sehen!“ Sie beugte sich nach vorne und stützte sich erschöpft mit den Händen auf ihren zitternden Knien ab. „Ihr habt mir einen solchen Schrecken bereitet…“ Esmeralda trat zu ihr und legte ihr behutsam und tröstend die Hände auf die Schultern. „Tut mir Leid, Germaine.“ Die dickliche Frau sah auf, ihre Augen schon ganz voller Tränen. Clopin erschrak sichtlich, als er das sah. In all den Jahren hatte er sie nie weinen sehen. Sie war die starke Frau gewesen, die es jedem zeigte, der ihren Freunden zu nahe kam. Wie oft sie doch die Männer nieder gemacht hatte, die Clopin auf die Zange nahmen. Doch jetzt, wo sie so zerbrechlich vor ihm stand, war Clopin selbst klar, dass sich eben doch einiges geändert hatte und noch ändern wurde. Während er heranreifte und mit jedem Tag neue Erfahrungen machte, die ihn selbstbewusster machten, wurde Germaine alt und schwach. Einerseits fürchtete Clopin sich vor der Zeit, in der sie nicht mehr da sein würde, doch andererseits… Was war das nur für ein seltsames Gefühl in ihm? Er bekam Angst, als ihm bewusst wurde, was er da gedacht hatte. Wünschte er sich Germaines Tod herbei? Nein, das konnte es nicht sein. Er hatte kindliche Gefühle für sie. Wieso sollte er so etwas Grausames herbeiwünschen?
 

Ein lautes Krachen ertönte vom unterirdischen Marktplatz. Sofort wurde das Trio hellhörig und stürmte unter chaotischem Reden hinaus. Als sie am Ort des Geschehens ankamen, erwies sich alles nur als halb so schlimm, wie sie es erwartet hatten. Es war lediglich Homer, der in einem Haufen Gerümpel da lag und… Homer??

Clopin fielen seine Augen beinahe aus dem Kopf. Das letzte Mal hatte er diesen gesehen, als der sich vor fünf Jahren in die Welt hinaus gewagt hatte. Und nun lag er da plötzlich in einem wilden Haufen aus Holzkisten und Tüchern aus Leinen und wusste nicht, wie er aufstehen sollte. Germaine und Clopin gingen zu ihm und halfen ihm aufzustehen. Es brauchte dazu ihre beiden Kräfte, da Homer in den letzten Jahren doch ganz offensichtlich die ausländische Küche genossen hatte. Er war geradezu dick geworden.

„Danke!“, jubelte er, als er wieder auf den Beinen stand und klopfte sich auf den vom Lachen bebenden Bauch. Danach nahm er seine Hände dazu, seinem alten Freund auf den Rücken zu schlagen. Der eher schmächtige Clopin fiel von den eigentlich sanften Schlägen beinahe um. Als Homers Blick aber zu Germaine und dann zu der kleinen Esmeralda hinter ihr wanderte, beließ er es mit dem Klopfen und wandte sich dem Mädchen zu. „Du bist ja bildschön geworden.“ Er hielt ihr seine Hand hin. „Ich bin Homer. Kennst du mich noch?“ Zögerlich ergriff sie seine Hand, nachdem Germaine ihr mit einem Nicken zu verstehen gegeben hatte, dass er ein netter Mensch war, und schüttelte auf seine Frage hin den Kopf. „Natürlich kennst du mich nicht mehr.“ Homer lachte. „Du warst ja fast noch ein Kind, als ich gegangen bin.“ „Homer“, Clopin hinter ihm verschränkte die Arme. „Sie ist immer noch ein Kind.“ Esmeralda machte einen beleidigten Schritt an Homer vorbei und schrie Clopin ungehalten an: „Nein, bin ich nicht! Wieso bist du der Einzige, der das nicht einsehen will??“ Damit rannte sie an ihm vorbei, wobei sie ihn noch einmal anrempelte, und verschwand aus Clopins Blickfeld.

Clopin sah es nicht ein, ihr hinterher zu rennen, nein, stattdessen verschränkte er nur wieder die Arme und erntete dafür böse Blicke von Germaine und Homer. „Was?? Meine Güte, sie ist zehn!“ Als die Zwei ihn nur anschwiegen, seufzte Clopin nach kurzer Zeit und folgte Esmeralda.
 

„Esme?“ Clopin tastete sich durch die tiefe Dunkelheit der Gänge, die ihm immer noch Unbehagen bereitete. „Esmeralda?“ „Lalala“, ertönte plötzlich aus einer Ecke. Er sah sie nicht, doch er hatte ihre Stimme erkannt. Und er wusste, was dieses Lalala geheißen hatte. Er sollte ihr seine Entschuldigung singen. „Esmeralda“, er seufzte und ging zu der Ecke, in der sie hockte und ihre Beine an sich gezogen hatte, diese fest mit ihren Armen umschlossen. „Mein kleiner Engel, bitte weine nicht. Du weißt wie sehr mir das mein Herz zerbricht.“ Er setzte sich hin und nahm die gleiche Haltung an, wie sie. Mit engelsgleicher und sanfter, fast väterlicher Stimme, sang er weiter: „Worte können ja so schmerzlich sein. Ich weiß. D’rum lass ich dich nun nicht allein. Glaub mir bitte, was ich sage: Ich hab’s nie so gemeint.“ Er musste ein Seufzen unterdrücken. „Du bist kein Kind, oh nein, das kannst du gar nicht sein, doch dafür bist du nie allein.“ Vorsichtig streckte er seine Hand ins dunkel und spürte, sie eine kleine Hand seine berührte. Er lächelte. „Ich weiß du fühlst dich groß und brauchst mich nicht. Auch etwas, das mir fast mein Herz zerbricht. Ich will für immer dein Beschützer sein, doch ich weiß, ewig bist du nicht mehr mein.“ Langsam kroch Esmeralda aus der Ecke raus und kuschelte sich an ihren Clopin. Der legte die Arme um sie. „Die Zeit mit dir vergeht im Fluge, ich hab es nicht bemerkt. Du wirst so schnell so groß, bleibt die Erinn’rung bloß, doch du bist niemals ganz allein…“ Er drückte ihr einen lieben Kuss auf den Kopf und schwieg. Esmeralda sah zu ihm hoch. „Sing noch einmal.“ Statt groß etwas anderes zu sagen, stimmte Clopin sein kleines Lied wieder an und merkte, wie Esmeralda nach einiger Zeit ruhig in seinen Armen einschlief.
 

„Herbei, herbei!“ Homer versuchte die müde Menschenmenge, die aus Alten, aus Kindern, besonders aber aus Arbeitenden bestand, in die Nähe des Marktplatzes zu locken, doch niemand ging auf ihn ein. Sie rasten an ihm vorbei, als sei er gar nicht existent. Und nach einem halben Tag des „Beine in den Bauch Stehens“ hatte es der Zigeuner satt und er verließ seine Posten. Zumindest hatte er das vorgehabt, da kam Tertulienne von der anderen Seite und packte ihn abrupt am Kragen. „Was glaubst du, wo du hingehst?“ „Also, jetzt glaube ich, ich gehe nirgendwo mehr hin, nicht?“ Homer grinste seinen Herrn unschuldig an und faltete die Hände wie ein kleines Kind es zum Gebet getan hätte, vor der Brust. Sein Ziel war es gewesen, lieblich, fast rein, wie ein gerade geschlüpftes Küken zu wirken. Doch seine kräftige Statur und der Bartwuchs in seinem Gesicht, auf den Clopin doch ach so neidisch war, zeugten nicht gerade von einer Art „Niedlichkeit“.

Im selben Moment stießen Clopin und Esmeralda ziemlich müde zu der Gruppe hinzu. „Tertulienne, können wir es nun gut sein lassen?“, Esmeralda streckte ihre Glieder in alle Richtungen und spürte förmlich, wie sie vor Erschöpfungen knackten. „Ich bin wirklich nicht nur müde, sondern auch noch gelangweilt. Keine gute Kombination für einen Tag, an dem eigentlich gefeiert werden soll, oder?“ Tertulienne verschränkte die Arme und pflichtete dem sehr unzufrieden bei: „Ganz genau, und deshalb werdet ihr jetzt alle gemeinsam auf den Marktplatz vor Notré Dame gehen und etwas gute Laune verbreiten!“ Er drückte Clopin seine Flöte entgegen und Homer ein Tamburin. Widerwillig schlurften die zwei Zigeuner in Richtung von Notré Dame, Esmeralda verschränkte nur die Arme und betrachtete die Blockflöte in Clopins Hand. „Tertulienne, ich habe da eine Idee…“ Ehe sie etwas sagte, sah sie sich nur um und grinste bösartig. „Ach, was. Vergiss es. Besser um Verzeihung bitten, als um Erlaubnis zu fragen“, lachte sie und rannte Clopin und Homer hinterher. Tertulienne ahnte Schreckliches, doch er würde sie an diesem Tag gewähren lassen, um das Fest vielleicht doch noch retten zu können.

Tanz, La Esmeralda… tanz!!

Homer begann auf seinem Tamburin ein wenig zu trommeln, Clopin setzte gerade an, die Flöte zu spielen, da sprang Esmeralda ihn fast um. Sie entriss ihm das Stück Holz aus den Fingern und warf sie in die Menge hinein. Einige Bürger sahen empört auf, ebenso schien Clopin nicht gerade erfreut über dieses plötzliche Geschehen und sah sie fragend an. „Esmeralda!!“ „Sing!“, würgte sie sein Meckern ab und er blinzelte verwirrt. Ohne ein weiteres Wort begann sie zu dem Tamburinspiel von Homer zu tanzen und warf Clopin noch einige kurze Blicke zu. „Sing! Na los!“ „Über was??“ Esmeralda lachte und warf ihr Kleid hin und her. „Egal! Meinetwegen über dieses langweilige Fest oder über das Tanzen oder… egal! Sing irgendetwas, solange wir die Aufmerksamkeit auf unserer Seite haben!“ Clopin bemerkte erst jetzt die Blicke der Bürger und war wieder einmal überrascht, wie schnell und präzise die Zehnjährige dachte und handelte.

Komm, la Esmeralda, tanz für uns, wie du’s sonst auch tust, denn wir sind verzückt.“ Wenige Leute horchten auf, als Clopin passend zu dem Tamburin und Esmeraldas Tanzen zögerlich sang. Als verfestigte er seinen stand und sang lauter. „Lust’ges Fest? Nun, der Mist… Außer uns ist hier doch nichts, los, komm, zeig uns was du so kannst!“ Er klatschte etwas in die Hände und sprang um Esmeralda herum, die zu lachen begann, als sie das bemerkte. „Keine Grenzen heute Nacht, komm, und zeig uns wie man’s macht. Die Leute warten schon darauf.“ Er winkte die Leute zu sich und tatsächlich kamen wesentlich mehr Menschen herbei geeilt, als er erwartet hatte. Sie schienen regelrecht begeistert zu sein. „Ich seh das Funkeln deiner Augen, und ich kann es doch kaum glauben, dass es jemand wie dich hier wirklich gibt!“ Clopin packte Esmeralda an den Händen und drehte sich einige Male mit ihr im Kreis und ergänzte sie danach beim Tanzen. Er ging völlig aus sich heraus, versank in der Musik und in dem immer lauter werdenden Jubel der Menschen. Er versank so tief darin, dass er nicht bemerkte, wie nach nur wenigen Sekunden hunderte von Menschen um sie herum standen und ihnen applaudierend und feiernd zusahen.
 

Es war beinahe, als würde er in einem Zeitraffer feststecken, denn jedes folgende Jahr standen sie nun hier und tanzten und sangen gemeinsam für die Menschen beim fest der Narren. Der Tanz von Esmeralda und Clopins Gesang wurden zu einem der Höhepunkte des Festes und einmal im Jahr lebte die Stadt regelrecht wieder auf. Das fest der Narren war gerettet.

Es vergingen die Jahre, Esmeralda wurde zu einer Frau, Clopin zu einem reifen Mann, und wieder standen sie im Januar beim fest der Narren als die Hauptveranstalter des Festes im Mittelpunkt und unterhielten das Volk mit ihrem Auftritt.

Wenn ich mit dir tanze, vergess ich jede Stunde“, Clopin legte seine rechte Hand an Esmeralda Taille, ebenso tat sie es bei ihm und drehte sich mit ihm im Kreis, während er laut und strahlend weiter sang, „bin Feuer, Herz und Flamme, vergesse jede Wunde. Denn du, du bist die, die mich zum Wahnsinn treibt, wo ich heut gern verbleib!“ Er ließ sie los, sie tanzte alleine weiter. Clopin klatschte in die Hände, das Volk tat es ihm lautstark gleich. Während sie für ihn den Rhythmus hielten, tanzte Clopin um seine Tanzpartnerin herum, beinahe als wolle er versuchen, schauspielerisch ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Schau mich an, sieh mich an! So was schimpft sich dann noch Mann! Wegen dir bin ich eine Maus.“ Sie tat eine gleichgültige Handbewegung und wich im Tanz einige Schritte von ihm weg, er fiel gekünstelt zu Boden.

Sie waren perfekt aufeinander eingestimmt und die Massen hatten Spaß, ihnen bei ihrem aufgeführten Balzspiel zuzusehen. Aus seiner Tasche zog der auf der Bühne sitzende Clopin einen Dolch und hielt ihn sich drohend an die Brust. „Bis morgen ist es auch nicht besser, komm stich zu, gib mir das Messer, denn ich fühl mich wie eine kleine Laus!!“ Esmeralda machte einen Überschlag und landete direkt neben ihm, entriss ihm den Dolch und nahm seine Hände, um ihm auf die Beine zu helfen. Er lachte und tanzte mit ihr, als hätte er bekommen, was er wollte. „Wenn ich mit dir tanze, vergess ich jede Stunde! Bin Feuer, Herz und Flamme, vergesse jede Wunde! Denn du, du bist die, die mich zum Wahnsinn treibt, wo ich heute gern verbleib!“ Esmeraldas Lächeln bestätigte ihm, dass er seine Arbeit immer noch so gut tat, auch nach all den Jahren, dass es sie immer noch erfreute, mit ihm zu arbeiten, wobei dies hier wirklich kaum Arbeit mehr war, sondern einfach nur die pure, dargestellte Lebensfreude.

Mit einem Mal sprang Clopin an den Rand der Bühne und deutete zu einem beliebig ausgewählten Mann im Publikum. Esmeralda zügelte ihr Feuer etwas und ging auf seinen Wechsel ein. „Dieser Mann starrt, seit er hier ist. Wie er dich mit Augen auffrisst. Wie könnt ich’s ihm übel nehm’?“ Er sprang von der Bühne und ging zu dem Mann und legte ihm den Arm um die Schulter. „Und trotzdem, wenn ich das noch lang seh, kriegt er gleich was auf die Nase. Er wagt’s nicht, dich mir wegzunehm’…“ Mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter war klar, dass er es nicht so gemeint hatte und das Volk lachte, ebenso Esmeralda, die diesen Part ihres Auftrittes bisher nicht gekannt hatte. Eine neue Einlage, um die Bürger bei Laune zu halten. Es war gelungen.

Zum Abschluss des Tanzes sprang Clopin wie ein Hochseilartist zu Esmeralda zurück. „Sind wir zusammen, sind wir zusammen, gibt es kein morgen, nein, gar kein morgen!“ Er nahm sie unter den Armen und hob sie einige Zentimeter vom Boden hoch, um sie gleich darauf um sich herum zu drehen. „Sind wir zusammen, gibt es keinen in der Welt außer dir und mir! Nur dir und mir! Dir und mir!“ Der Tanz wurde langsam schwächer, ruhiger, gelassener, bis die Leute bemerkten, dass er sich dem Ende neigte und laut Applaus von sich gaben. Clopin ließ Esmeralda hinunter und sah ihr lächelnd entgegen, sie erwiderte dies, schien jedoch ziemlich erschöpft von dem andauernden Tanzen.
 

Außer dir und mir, nur dir und mir!“ Es war tiefste Nacht, das Fest war zu Ende und Homer machte sich einen Spaß daraus, Clopin nachzuäffen und hielt sich vor Lachen den Bauch. „Du alter Charmeur!“ Der Angesprochene stellte sich drohend vor ihn und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Du bist doch nur neidisch! Na, los, gib’s zu, mein runder Freund!“ Er kicherte böse in sich hinein, was Homer keineswegs verunsicherte, nein, er lachte nur wieder und schlug Clopin freundschaftlich auf den Rücken, was diesen kurzzeitig aus der Balance brachte. Homer hatte wohl immer noch nicht verstanden, dass er eindeutig eine dreifache Version von Clopin war.

Spaßeshalber packte der dicke Homer seinen schmächtigen Freund nun unter den Armen und drehte ihn um sich herum, wie es Clopin zuvor bei Esmeralda getan hatte. Clopin hampelte etwas herum und sprang runter. Da kam Tertulienne auf sie zu und gratulierte ihnen für ein erneut gelungenes Fest. „Clopin, es ist unglaublich, was du aus dem Fest der Narren gemacht hast! Die Leute lieben es!“ Esmeralda holte die beiden Männer ein und stupste Clopin von der Seite mit ihrer Schulter an. „Naturtalent!“ Clopin gab eine spöttische Verbeugung von sich und öffnete die Tore zum Friedhof vor ihnen. „Danke!“, antwortete Clopin selbstverständlich und etwas überheblich, wobei er arrogant grinsend zu Homer hinüberblickte. Der schüttelte den Kopf und gab es auf, auf ihn einzureden. Clopin wusste längst, was seine Stärken waren und spielte diese aus. Er war nicht mehr der Junge, der damals zu ihnen gekommen war, sondern ein erwachsener, cleverer und durchaus auch etwas manipulierender Mann.
 

„Ich freue mich schon, Germaines Gesicht zu sehen, wenn ich ihr von meinem nächsten Streich erzähle.“ Clopin rieb sich freudig die Hände. Homer schien sein Handeln nicht zu verstehen. „Du bist gerade heil aus der einen Sache heraus“, er seufzte, „und willst in die nächste hinein. Erinnerst du dich an den Vorfall vor einer Woche?“ Clopin hob beschwichtigend die Hände. „Die Katze lebt doch noch!“ „Wie kannst du nur so nett und gleichzeitig so ein Mistkerl sein?“ „Übungssache“, der Zigeuner lachte hämisch und kletterte vor Homer die Stufen zu den alten Katakomben hinunter. Er blieb noch einmal kurz stehen, schlug Homer auf seinen Bauch und ging mit einem „Ich erklär’s dir irgendwann, Dickerchen“ weiter. Sein Freund zog die Platte zurück über das Grab und folgte ihm kopfschüttelnd.
 

Kaum im Hof angekommen erwartete die Beiden aber eine böse Überraschung: Der gesamte Hof war in Aufruhr, nur wenige Zigeuner lagen verwundert auf dem Boden, einige kamen unter Verstecken unter dem Boden hervor, indem sie einen Stein beiseite schoben unter dem eine Schutzkammer gelegen hatte. „Du meine Güte, was…?“ Homer fasste sich an die Stirn und sah sich um. „Was ist hier passiert?“ Er ging mit Clopin zu Tertulienne, der einer Verletzten half. Er sah wütend zu ihnen. „Das ist doch alles nur eure Schuld! Nein!“ Er zeigte auf Clopin. „Deine! Weil du diesen Schabernack bezüglich dem Fest der Narren gemacht hast, waren unsere Wachposten beschäftigt und einige Eindringlinge sind hier hineingestürmt und haben Dutzende von uns ausgeraubt und als Geiseln mit sich genommen!“ Er wandte sich der Frau zu, der nun von einem anderen Mann aufgeholfen wurde. „Geht es?“ „Ja. Danke.“ Sie humpelte mit ihrem Begleiter weg, der König der Zigeuner stand auf und stellte sich bedrohlich nahe vor Clopin. „Von jetzt an wirst du dich zurückhalten! Hast du mich verstanden, Clopin?“ „Aber, Tertulienne, ich…!“ „Hast du verstanden??“ Statt zu antworten ballte der Angesprochene seine Hände zu Fäusten und sah starr geradeaus, einige Millimeter an Tertulienne vorbei. Der König seufzte und ging. Homer wollte Clopin aufbauen und ihm die Hand auf die Schulter legen, doch der zuckte nur mit selbiger, um seine Hand loszuwerden und ging ebenfalls.
 

„Es war nicht mein Fehler!!“ Germaine beobachtete den aufgebrachten Clopin, wie er auf und ab stampfte und sich nicht beruhigen wollte und pflichtete ihm bei: „Natürlich nicht, du hast es nur gut gemeint.“ „Dieser alte Dickkopf!“ In dem Moment platzte Esmeralda in den Raum und hielt sich stützend an den Mauern neben sich fest. „Ist es wahr?“ „Was?“ „Bist du Schuld, dass man uns ausgeraubt hat??“ Clopin hob die Hände und schüttelte erzürnt den Kopf. „Natürlich nicht!!“ „Tertulienne sagte…!“ „Es ist mir völlig egal, was der Alte sagt, es war nicht meine Schuld, hörst du!? Außerdem hätten diese Narren selbst auf sich aufpassen sollen!!“ Aufgebracht sprang Esmeralda auf ihn zu und holte aus. „Mistkerl!!“ Sie schlug zu und verpasste ihm damit eine schallende Ohrfeige. Erschrocken fasste er sich an die Wange, die vom Schmerz etwas pochte. „Was soll das??“ „Pack einige Sachen und geh unsere Leute befreien!!“ Clopin setzte eine Gestik ein, die klarmachte, dass er hoffte, er hätte sich verhört. „Wie bitte?“ „Tertulienne hat Recht! Hättest du nicht so viel Spektakel um das Fest gemacht, wären unsere Wachen an ihren Plätzen gewesen und es wäre nichts passiert!! Also geh und befrei die, die sie mit sich genommen haben!“ „Das werde ich nicht!“ „Doch!!“ „Nein!! „Doch!!” „Nein!!“ Germaine sprang auf und schrie mit geballten Fäusten dazwischen. „Entweder ihr haltet jetzt den Mund oder ihr schlagt euch endlich!!“ Als sie bemerkte, dass sie die Aufmerksamkeit für sich gewonnen hatte, verschränkte sie die Arme. „Wie wäre es, wenn du ihn begeleitest?“ Schweigen brach aus, als Germaine zufrieden grinste und zu Esmeralda sah. Sie und Clopin alleine unterwegs? Ob das mal gut ging…
 

„Jede Information“, Tertulienne ließ sich auf einen samtenen Stuhl nieder, schlug seine Beine übereinander und betrachtete gelassen seine Nägel, „die Ihr von mir bekommt, hat seinen Preis, wisst Ihr?“ Er grinste. „Aber es dürfte Euch freuen, zu hören, dass ich glücklicherweise kürzlich eines unserer Probleme losgeworden bin.“
 

Tagelang streiften Esmeralda und Clopin durch die Gegend, immer auf der Suche nach Spuren zu den Geiseln, ihren Freunden. Doch niemand wusste etwas und wenn es doch so schien, so wollten sie es ihnen, einem dreckigen Zigeunerpaar, nicht erzählen. Und so kam es, dass sie fast eine ganze Woche herumstreunten, ohne sichtlichen Erfolg.

Ein warmes Feuer würde für die Nacht alles bleiben, was sie wieder einmal zum Wärmen hatten. Und nicht einmal das wollte so richtig brennen. „Ich weiß wirklich nicht, wieso ich mitgehen musste.“ Esmeralda seufzte und legte sich das seidene Tuch, das sie sonst um die Hüfte gebunden hatte, um die Schultern, um nicht allzu sehr zu frieren. „Immerhin ist es deine Schuld gewesen, dass…“ Grob unterbrach Clopin sie: „Fängst du schon wieder an?“ „Es war deine Schuld, sieh es ein und steh wenigstens dazu!“ Statt zu antworten, stocherte der Zigeuner mit einem Stock in der übrig gebliebenen Glut ihres winzigen Feuers herum und schüttelte genervt den Kopf. Seiner Meinung nach war es völliger Unsinn, ihm die Schuld für diese Situation zu geben. Dass die Wachen ihre Posten verlassen sollten, hatte er sicherlich nicht angeordnet. Entweder hatten sie diese dumme Idee also von selbst bekommen oder sie hatten den Befehl von jemand anderem bekommen. Und selbst wenn Clopin ihnen gesagt hätte, sie sollten ihre Posten verlassen: Wie groß wäre die Chance gewesen, dass sie auf ihn gehört hätten? Aber niemand außer ihm erkannte wohl, wie lächerlich diese Schuldzuweisung ihm gegenüber war. Selbst Esmeralda hatte sich gegen ihn verschworen, wie es schien. Doch andererseits, blickte diese nun lächelnd auf. Und da widersprach sie seinem eben noch durchgeführten Gedanken: „Ich stehe immer hinter dir. Das weißt du.“ Er legte die Unterarme auf seine Knie und nickte nach einem langen Zögern, das seiner Freundin seltsam vorkam. „Du weißt das doch, oder?“ „Ich glaube, nicht.“ Clopin stand auf und wollte gerade gehen, da stand Esmeralda auf und packte ihn am Handgelenk. „Was soll das heißen, du glaubst nicht??“ „Das bedeutet, dass ich mir nicht sicher bin, ob du wirklich hinter mir stehst.“ Er drehte sich um und sah sie etwas vorwurfsvoll an. „Immerhin tut meine Wange von deinem Schlag immer noch weh!“ „Im Ernst??“ Esmeraldas Gegenüber schwieg kurz. „Nein. Das war nur… Ach, lassen wir das.“ Eigentlich hatte er vorgehabt, sich die Beine etwas zu vertreten, doch nun war ihm auch dazu die Lust vergangen und er schlenderte zurück zum Feuer, um sich dort niederzulassen. Entgegen seiner Erwartungen – er hatte befürchtet, dass Esmeralda wütend war oder etwas dergleichen – kniete sie sich plötzlich neben ihn und starrte ihn mit einer Mischung aus einem entsetzten und einem besorgten Blick an. „Das mit der Ohrfeige tut mir Leid, Clopin.“ „Hmpf“ war alles was sie als Antwort bekam. Kurz darauf fügte er ein „Tu nicht so, als würde es dir wirklich Leid tun.“ Nach einem leisen Seufzen beugte sie sich zu ihm vor und verweilte erst wieder, als sie nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. „Hör auf damit“, sagte sie enttäuscht. „Du weißt es ganz genau.“ Er wusste nicht, wovon sie genau sprach, und vermutete einfach etwas. „Ich hab schon gesagt, ich glaube, ich weiß es nicht.“ „Das meinte ich nicht.“ Esmeralda stand auf und sah zu ihm hinab. Er erwiderte ihren Blick etwas verwundert. Als sie mit einem traurigen Lächeln auf ihr Herz zeigte, wurde ihm langsam klar, was sie ihm hatte sagen wollen. „Das meinte ich“, seufzte sie leise und setzte sich weiter von ihm entfernt wieder hin. „Oh“, gab Clopin leise von sich, dachte aber noch darüber nach. Ein zweites, deutlicheres „Oh“ entwich ihm erst einige Sekunden später, als ihm klar geworden war, dass Esmeralda ihm wohl gerade indirekt gesagt hatte, dass sie sehr viel mehr für ihn empfand, als er es hatte wahrhaben wollen.
 

„Ich bin müde. Gute Nacht.“ Clopin blickte zu Esmeralda, wie sie ihr türkisfarbenes Korsett auszog und das Haarband aus ihrem dunklen, welligen Haar löste. „Ja. Gute Nacht.“ Wieder einmal rasten seine Gedanken. Er sah in ihr immer noch das kleine Kind, den Säugling, den er damals gerettet hatte. Andererseits musste er endlich erkennen, dass sie erwachsen war und ganz genau wusste, was zu tun war. Vielleicht sogar besser als er.
 

Die Nacht ging rasch vorbei und am frühen Morgen wachte Esmeralda unter unsäglichen Rückenschmerzen auf, die sie durch ein ausgiebiges Räkeln zu verdrängen versuchte. Bei einem Versuch sollte es aber bleiben. Nein, diese Schmerzen würde sie so einfach nicht wegbekommen. Ihr fiel aber eine viel gerissenere Lösung ein. Eine Massage würde sicher das Problem verschwinden lassen. „Clopin! Ich habe da eine großartige Idee…!“ Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass er verschwunden war. „Clopin?“ Sie dachte sich nichts dabei. Seine Tasche lag noch da, also konnte er nicht weit sein. Sie setzte sich wieder ans Feuer und legte ihre müden Arme um ihre Beine. Als sie ins die Asche des Feuer dieser Nacht sah, wurde sie melancholisch, musste aber auch lächeln. Es war zu komisch gewesen, wie ihr Begleiter gestern versucht hatte, das Feuer zum brennen zu bringen und sie es letztendlich hatte machen müssen. Wie er sie da angestrahlt hatte, so gelassen und so fröhlich. Es versetzte ihr jedes Mal ein eigenartiges Kribbeln im Bauch, wenn er dieses Schmunzeln hatte und sich auf seinen Wangen Grübchen bildeten. Sie schloss ihre Augen und rief sich die Erinnerung an dieses Lächeln zurück und bemerkte wieder, wie sehr sie dies vermisste, wenn er nicht da war. „Seit einer Weile bin ich nun schon wach“, wisperte sie leise vor sich hin. Sie nahm ein kleines Stöckchen und stocherte damit in der Asche herum. Einige Holzstücke glühten sogar noch und Esmeralda schien davon überrascht zu sein. Wegen der Glut dachte sie da wieder an Clopin und seufzte. „Seit einer Weile bin ich wirklich schwach.“ Esmeralda blickte um sich und nach kurzer Zeit schweifte ihr Blick zu Clopins Sachen. „Denn dann wenn ich dein süßes Lächeln seh’, bekomm ich Kribbeln, es tut fast schon weh.“ Sie schloss die Augen und schwang leicht hin und her. „Fängt in den Zehen an, arbeitet sich voran, und wohin es auch geht, wie es auch um mich steht…“ Sie öffnete die Augen wieder und sah zurück zu der Asche vor sich, wo die Glut wieder mehr zu glühen begann. „Dein Lächeln, es heilt und nun bleib, lass dir Zeit, bitte, nicht geh’n, nur du kannst mich versteh’n.“ Eine kleine Flamme loderte gerade wieder an der Feuerstelle auf und Esmeralda musste plötzlich laut loslachen, als sie das sah.
 

Esmeralda bekam immer mehr das Gefühl, dass mehrere Stunden vergingen, während sie auf ihren Freund wartete. In Wahrheit waren es nicht einmal zehn Minuten, die verstrichen waren. Trotzdem begann sie sich um ihn Sorgen zu machen. Sie stand auf und war bereit, loszugehen, um ihn zu suchen. Doch ihr Hab und Gut konnte sie nicht hier lassen, vielleicht nur einen Zettel, um ihm mitzuteilen, dass sie nur in der Umgebung nach ihm suchte, sollte er zurückkommen. Clopin hatte immer etwas Zettel und Papier dabei, wer wusste schon wozu man es gebrauchen konnte. So kniete sich Esmeralda vor seiner Tasche hin und wühlte darin herum, als ihr plötzlich ein neben der Tasche liegendes gefaltetes Stück Papier. In geschwungener, aber einfacher Schrift stand auf diesem Esmeraldas Spitzname geschrieben. „Esme“, las sie für sich vor und entfaltete den Brief. Ihre Augen überfolgen das Geschriebene und je mehr sie las, umso mehr schien sie schockiert. Ihre Augen wurden weit und ihre zarte und nun zitternde Hand legte sich langsam vor ihren Mund. Sie fiel zurück und stützte sich gerade noch mit ihrer freien Hand auf dem Boden ab. Das konnte einfach nicht wahr sein.
 

Esmeralda,
 

so sehr es mich auch schmerzt, aber ich habe erkannt, dass ich immer noch nicht der Mann bin, der ich gerne sein würde. Ich bin ein Kind. Ein schwaches Kind. Und es stimmt. Es war meine Schuld, was geschehen ist. Ich werde noch nach unseren Leuten suchen und mich danach vom Hof der Wunder distanzieren. Diese Distanz ist es vielleicht, die mir endlich zeigen kann, wer ich bin. Du hast schon erkannt, wer du bist, wie es scheint. Doch ich noch lange nicht.
 

Entschuldige. Ich habe nicht den Mut aufgebracht, dir anders Lebewohl zu sagen. Verzeih mir, Liebste.
 

Die Tränen begannen Esmeraldas Gesicht hinunterzufließen, als wollten sie aus diesem nun so ärmlichen und hüllenlosen Körper fliehen, hinaus in die Freiheit. Ihre Hände hatte sie eng vor ihre Augen gepresst, als wolle sie ihren Kummer vor der Welt verbergen. Doch es brachte nichts. „Clopin…“
 

Esmeralda kehrte zum Hof der Wunder zurück, ohne die Diebe und deren Geiseln gefunden zu haben. Doch wo sollte sie auch suchen? Sie konnten überall sein. Es war hoffnungslos.

…wo es ein Wunder ist, wenn du überlebst.

So sehr sie auch hoffte, dass es nur ein dummer Streich war, wie von einem kleinen Jungen, so sehr befürchtete sie auch immer mehr, je länger Clopin weg war, dass er ernst gemeint hatte, was er geschrieben hatte. Denn es gab kein Anzeichen davon, dass er Anstalten machen würde, zurückzukommen.

Auch die anderen hatten Esmeralda ihre Aussage nicht glauben wollen, bis sie ihnen seinen Brief gezeigt hatte. Germaine weinte. Tertulienne ärgerte sich. Und Homer stellte ein verzweifeltes „Wozu bin ich dann überhaupt zurückgekommen?” in den Raum.

Noch konnten sie nicht glauben, dass er nie mehr wieder kommen sollte. Doch so sehr sie ihn auch nicht vergessen wollten, umso mehr begriffen sie mit der Zeit, dass es nichts bringen würde, weiter auf ihn zu warten. Er würde nicht wiederkommen und spätestens nach einem halben Jahr, gab auch Esmeralda die Hoffnung auf. Sie war die letzte von allen Zigeunern, die noch auf seine Rückkehr gewartet hatte. Doch nun hatte sie ebenso wie die anderen die Realität eingeholt. Entgegen aller Erwartungen nahm die Beliebtheit des Festes der Narren aber nicht ab, nein, denn sie behielten Clopins Traditionen bei und hielten so das Fest am Leben. Nur denselben Charme versprühte es nicht mehr. Und das würde es auch für viele, viele Jahre nicht.
 

Der Hof der Wunder wuchs in dieser Zeit stark an. Immer mehr Reisende suchten hier Zuflucht und es wurde wegen des Überfalls damals genau darauf geachtet, wer den Hof betrat. Wachen standen bereits weit am Anfang der Katakomben und nahmen jeden fest, der ihnen verdächtigt erschien, wenn auch mit wesentlich weniger brutalen Methoden als noch bei Clopins Ankunft.

Esmeralda hatte Clopins Abschied nie richtig verarbeitet, dafür hatte sie nun einen neuen Spielkameraden gefunden: Eine kleine Ziege, treu und lieb, die sie Djali genannt hatte. Sie war ihr eines Nachts, nachdem sie sich vom Marktplatz zurück zum Hof der Wunder aufgemacht hatte, aus heiterem Himmel gefolgt. Ob nun Fügung des Schicksals oder einfach Zufall, aber Esmeralda war froh, dass es Djali nun gab.
 

Ächzend ließ sich Germaine auf einen Stuhl nieder und betrachtete den Haufen bunter Stoffe vor sich. Diesen ganzen Müll sollte sie noch waschen und flicken, damit man sie als Vorhänge und ähnliches beim kommenden Narrenfest nutzen konnte. Nun war aber auch sie wieder einige Jahre gealtert und die Arbeit, die sie früher mit Leichtigkeit gemacht hatte und damit allen jungen Weibern hier gezeigt hatte, wie man so etwas machte, fiel ihr sichtlich schwerer als früher. Ein glück war, dass wenigstens ab und an Homer ihr zur Hand ging. Doch der versuchte genau wie die meisten hier, Geld zu verdienen, indem er am Tageslicht auftrat. Germaine blickte über den Hof und entdeckte weiter entfernt einen mittlerweile doch recht alten Mann, der kaum noch aus seinem Stuhl aufstehen konnte, rein körperlich, und es deshalb auch vorerst unterlassen würde.

Germaine stemmte sich von ihrem Stuhl hoch und ging zu dem Mann. Als er bemerkte, dass sie so neben ihm stand und ihn mit verschränkten Armen betrachtete, brummte er wütend etwas vor sich hin. „Was starrst du so an?“ „Dich, Tertulienne.” Der Zigeunerkönig sah nur noch gedemütigter weg und wollte in Ruhe gelassen werden. Ihn hatte es wohl am meisten geärgert, dass Clopin weg war. Seine ganzen Mühen damals… seine Pläne… dahin.
 

Etwas entfernt von ihnen ging plötzlich etwas zu Bruch. Sie sahen auf und entdeckten den ungeschickten Homer, der einzelne Scherben aufsammelte und Esmeralda, die ihm dabei zur Hand ging. „Wie schaffst du das nur immer?“, lachte sie und Homer stimmte in ihr Lachen ein. „Übungssache. Ich erklär’s dir irgendwann.“ Bei seinen eigenen Worten stockte Homer und wurde plötzlich unheimlich still. Seine Worte hatten ihn an Clopin erinnert und es machte ihn weniger die Tatsache traurig, dass sein Freund weg war, als die Erkenntnis, dass er immer noch an ihn denken musste.
 

Spät in der Nacht tapste eine düstere Gestalt durch die Katakomben, Richtung des Ausgangs, immer weiter, über den Friedhof, den Eingang unachtsam ein Stück offen lassend, und in die Stadt hinein, wo man in einer Seitengasse bereits auf ihn wartete. „Ich habe es satt. Ich will nicht mehr warten. Du hast mir den König der Zigeuner versprochen und den Weg zum Hof der Wunder! Frollo wird bereits ungeduldig!“ Der Mann, der sich vom Hof der Wunder hierher gestohlen hatte, nickte hastig und demütig. „Gewiss! Ihr werdet Eure Informationen bekommen! Gebt mir nur noch etwas Zeit.“ Der Kerl, mit dem der Mann sprach, trat aus den Schatten und seine hässliche Fratze kam zum Vorschein. Er packte den Mann am Kragen. „Seit mehr als fünf Jahren versprichst du mir Informationen! Die kleinen Verstecke in der Stadt genügen nicht mehr! Rück endlich mit mehr Antworten heraus, Tertulienne!!“ Er riss dem Mann die Kapuze herunter und stutzte. „Was zum??“ Ein breites, dickliches Grinsen sah ihn an und schien keineswegs beunruhigt. „All die Jahre hast du mit dem Falschen Geschäfte gemacht.“ Ein stechender Schmerz breitete sich in der Magengrube des Kerls aus, der ihn gepackt hatte. Als er an sich herab sah, bemerkte er den Dolch, der bis zum Griff in seinem Körper steckte. Der Mann vor ihm grinste immer noch unverändert. „Jammerschade. Dachtest du wirklich, dass einer der Zigeuner seinen König verrät?“ Er trat von dem sterbenden Mann weg und zog sich wieder seine Kapuze über, ehe er, nach einem letzten Blick auf den blutenden Mann, den Rückweg antrat. „Wieder ein Problem weniger.“
 

Dass Clopin seit nun bald einem Jahr nicht gesehen ward, bedeutete ja nicht, dass er plötzlich aus der Welt ausradiert worden war. Er war keineswegs gestorben, sondern quietschfidel, ja, man konnte sagen, völlig verändert sogar. Beinahe zeitgleich kam dieser nämlich an die Stadtmauern von Paris und erbat Eintritt, den er erstaunlicherweise sehr schnell eröffnet bekam. Doch er war nicht allein. Mit ihm kam ein anderer Zigeuner, etwas älter als er, seine Haare nach hinten gekämmt, ein Stirnband um, einen Ziegenbart, ebenso wie Clopin ihn mittlerweile stolz trug, nur lange nicht so kräftig schwarz und glatt wie dieser, sondern mit grauen Strähnen darin versehen und äußerst verfilzt.

Neben Clopins neuem Bartwuchs hatte er sich ebenso neue Kleidung angelegt: Im Moment trug er ein violettes Hemd, das von seiner langen Reise schon sichtlich gelitten hatte, ebenso wie der Rest seiner Kleidung. Über diesem langen Hemd, das er um die Hüfte herum mit einem Stück gewöhnlicher Kordel enger geschnürt hatte, trug der Zigeuner eine Art Poncho in einem helleren Violettton als der des Hemdes. Seine Beine waren von einer dunkelblauen Strumpfhose bedeckt, an seinen Füßen wärmten ihn Schnabelschuhe. Der Höhepunkt seines neuen Aussehens, war aber ein Accesoire, das niemanden mehr daran zweifeln lassen würde, dass er ein Zigeuner war und diesen Titel auch verdient hatte: Auf seinem Kopf thronte ein großes, violetter Hut mit einer langen, gelblichen, ja, fast goldenen Feder daran. Ähnlich auffällig war sein Begleiter gekleidet, er ragte jedoch nicht im Entferntesten an das Aussehen von Clopin heran.

Es schien ein Wunder, dass man sie in dieser Kleidung hatte eintreten lassen. Und doch, es war geschehen. Clopin und sein Begleiter, mit Namen Alain, machten sich auf den Weg zum Hof der Wunder, von dem Clopin seinem neuen Freund bereits so viel erzählt hatte. „Bist du dir sicher, dass man uns einfach eintreten lassen wird?“ Clopin lachte bei dieser Frage laut auf und entzündete eine Fackel. „Nein. Aber das dachte ich am Stadteingang auch nicht!“ Sein Begleiter seufzte. „Und was machen wir dann?“ Clopin grinste ihm bösartig zu. „Keine Sorge. Ich hab schon was in petto.“ „Das habe ich befrüchtet.“

Alains Sorge sollte sich bestätigen. Kaum, dass sie die Katakomben gut betreten hatten, wurden sie von den Wachen überrascht. Sie umringten sie. Clopin schien sichtlich verdutzt über die mittlerweile hohe Anzahl an Wachposten. „Sieh mal an, ihr habt ja an Wachen zugelegt!“ Der Anführer der Wachen, eben derselbe, der Clopin vor vielen, vielen Jahren hier so allzu freundlich begrüßt hatte, baute sich vor den Beiden auf. Es brauchte nur ein kurzes Fingerschnippen und zwei seiner Leute hatten Clopin und Alain von hinten gepackt und sie gefesselt. „Was zum…?? Begrüßt man so alte Freunde, Rien!?“ „Alte Freunde, papperlapapp! Wer willst du denn sein, du Zwerg??” Clopin knirschte kurz mit den Zähnen. „Wisst ihr denn nicht, dass wir zu euch gehören, zum düsteren, boshaften Teil von Paris??“ Der Mann, der ihn gepackt hielt, zog seine Fesseln etwas fester zusammen. Clopin knurrte kurz etwas und sang wieder dem Anführer entgegen. „Wisst ihr denn nicht, dass wir’s gut mit euch meinen, wir sind eure Männer!“ Alain schob ein etwas beschwichtigendes Nur, dass ihr’s wisst! ein. Die Männer um den Anführer der Wachen herum begannen auf ihn einzureden und sangen beunruhigt, da sie glaubten, er könne nachgeben: „Sowas glaubt man nicht! So ein frecher Wicht!“ Alain erkannte die Gereiztheit ihrer Angreifer und warf wiederum beruhigend ein: „Nein, so meint er’s nicht! Doch bevor ihr uns schlagt, seid gewiss, dass ihr’s wagt!“ Eigentlich hatte er damit nur ausdrücken wollen, wie unschuldig sie hierher gekommen waren, doch nun, da Clopin wieder anstimmte und Alain seinem Text lauschte, sah er seine Bemühungen wieder dahin schwinden. Clopin hatte seine Worte nämlich offensichtlich völlig falsch aufgenommen: „Denn uns’re erwiesene, blutvergießende Art und zu wehren ist schnell und diskret. Hier im Hof der Wunder, wo es ein Wunder ist, wenn man überlebt!“ Der Zigeuneranführer stemmte seine dicken Pranken in die Hüfte. „Ihr könnt ja ganz schön den Mund aufreißen!“, maulte er die Zwei an und wieder schrieen ihm seine Männer zu: „Ich glaub ihnen nicht! Lass sie uns zum König bringen!“ Andere stimmten ein: „Ja, zum König!!“ Also packten die Männer Clopin und Alain, hoben sie in die Höhe und brachten sie aus den Katakomben langsam in Richtung des Hofes. Alain warf seinem Freund einen langen, durchdringenden Blick zu. „Was?“ Clopin grinste zufrieden. „Keine Sorge, das gehört alles zum Plan! Ich sag doch, ich hab immer noch etwas…“ Alain fuhr ihn ungehalten an: „Wenn du in petto sagst, schrei ich!!“
 

Kaum im Hof angekommen, in der Nähe der alten Galgen, die Clopin nun mit ganz anderen, weniger sympathischen Augen betrachtete, begann er erneut zu versuchen, die Bande von Wachen mit seinem Gesang umzustimmen. „Ich sag’s euch noch mal, lasst ihr uns nicht runter, so zeigt euch Clopin mal, was er alles kann!“ Die Wachen stutzten sichtlich, als sie den Namen Clopin hörten. Der sang weiter: „Was schaut ihr? Was guckt ihr? Erinnert ihr euch, dass ich jener war, euer bester Mann!!“ Außer dem Anführer, schien nun jeder andere Mann der Wachposten langsam zu glauben, dass er wirklich einer von ihnen sein könnte. Doch der große Schrank, den Clopin zuvor Rien genannt hatte, verschränkte seine Arme und lachte ignorant. „Du lügst, hier kennt dich niemand, Vagabund! Denn alle Beweise sagen nun…!“ „Wir gehören zu euch!!“, schrie Clopin. „Sei still!!“ Der Anführer wurde grimmig. Alain mischte nun auch wieder mit: „Nein, wirklich, wir sind unschuldig…!!“ Von unten ertönte plötzlich ein raues, jedoch erstaunlich kräftiges „Ruhe!!“.

Schweigen brach aus und die Männer blickten zu der Leiter, die nun ein schwacher, alter Mann herauf geklettert kam. Er stellte sich vor ihnen so gerade auf, wie er konnte, doch immer noch wirkte er klein und zerbrechlich. Er sah Clopin und Alain nicht an, doch Clopin ahnte, wer der Mann war. „Bezweifle ich auch eure Unschuld, so kann meine Antwort nur sein…“ Er blickte auf und lächelte breit. Clopin erkannte ihn und lachte zufrieden. Es war Tertulienne. „Willkommen Daheim!!“ Er ließ ihre Fesseln lösen und klopfte Clopin freundschaftlich auf die Schulter, bevor er ihn wie ein Vater seinen Sohn in die Arme nahm und sich offensichtlich freute, dass er wieder da war. Doch danach wandte er sich zuerst seinen Wachen zu. „Ihr Narren, was soll denn das?? Erkennt ihr unseren Clopin nicht, wenn er vor euch steht!?“ Die Männer schlugen etwas empört auf ihren Anführer ein und maulten unschuldig, sie hätten doch gesagt, er solle ihnen vertrauen. Der Anführer warf ihnen daraufhin wütende Blicke zu. „Ihr hinterlistigen Ratten…!“
 

„Mein Name ist Alain. Ich würde mich freuen, wenn…“ Clopin drängte sich davor. „Du meine Güte, nicht so förmlich! Alter Mann, ich nehme an, du hast nichts dagegen, einen Zigeuner mehr hier aufzunehmen.“ Tertulienne war von Clopins Selbstvertrauen sichtlich erschrocken, nickte aber als Zustimmung. „In Ordnung! Nun? Wo ist Germaine?“ „Unten. Geh zu ihr, sie freut sich sicher, dich zu sehen.” „Und Esmeralda?“ Tertulienne schwieg kurz. „Sie ist auf den Straßen und tanzt.“ Clopin schien verwundert. Mitten in der Nacht? Das war ganz offensichtlich eine Lüge. Vorerst kümmerte ihn das aber nicht. Erstmal mussten „die Dicken“ dran glauben, wie Clopin es sagte. Damit meinte er auch Homer, den er aber auch nicht so schnell finden würde. Denn der war auch noch zu so später Stunde in Paris unterwegs.
 

Dafür freute sich Germaine umso mehr, ihn wieder zu sehen. „Klopf, Klopf? Darf man eintreten?“, fragte er neckisch. Germaine, die seine Stimme augenblicklich erkannte, gewann sofort alle Farbe in ihrem Gesicht zurück, sprang auf und fiel ihm in die Arme. Sie schien ganz aufgelöst, begann sofort zu weinen, als wäre sie froh, endlich zu wissen, dass es ihm gut ging und drückte ihn ganz feste an sich. „Du dummer, dummer Junge! Mach so etwas nie wieder!“ Clopin schmunzelte und erwiderte ihre Umarmung, da ging hinter ihnen, beinahe schon in alter Manier, etwas zu Bruch. Erschrocken drehten sie sich um und sahen Homer, Scherben vor sich. Er sah Clopin mit weit geöffneten Augen an, dann lachte er und schloss ihn ebenso wie Germaine zuvor in seine Arme. „Du alter Schlawiner! Da bist du ja wieder!!” Er zog Clopin den Hut ab und schrubbte ihm ordentlich durch seine schulterlangen Haare. „Was glaubst du, was du uns für einen Schrecken eingejagt hast, du Wahnsinniger!?“ Clopin lachte. „Ist alles Übungssache!“ „Hast du ein Glück“, kicherte Homer etwas in sich hinein, „dass wenigstens Germaine und ich nicht den verstand verloren haben! Was hättest du Ärger bekommen!“ Bei diesen Worten wurde der Angesprochene besonders hellhörig. „Wenigstens ihr nicht?“ Er sah zu Germaine, von der er sich eine konkrete Antwort erhoffte. „Wer hat wegen mir den Verstand verloren?“ Ein betretenes Schweigen trat ein. Homer ließ seine Hände von Clopin ab und sie gen Boden sinken. Als sie Beide bedrückt von ihm wegsahen, wurde Clopin klar, wen sie meinte. „Wo ist Esmeralda?“
 

Homer zündete eine Fackel an und ging durch das Knöcheltiefe Abflusswasser, das in den Katakomben verlief. Er wurde dicht gefolgt von Clopin und Germaine. Besonders ersterer machte sich mittlerweile Sorgen, was ihn erwarten würde. Was war mit Esmeralda? Wieso taten sie alle so betroffen und wieso führte man ihn in die wirklich dunkelsten Ecken der unterirdischen Katakomben. „Esmeralda?“ Germaines Stimme drang so kräftig durch die Gänge, dass die Gerufene sie auf jeden Fall hätte hören müssen, wenn sie da gewesen wäre. Doch es kam keine Antwort. Bedeutete das aber nun wirklich, dass sie nicht da war oder nur, dass sie nicht antwortete?

„Esmeralda!“ Erneut versuchte Germaine sie zu erreichen, doch nichts. Da tropfte in einer Ecke etwas in das schmutzige Wasser. Als Homer aber mit der Fackel an die Stelle schwenkte, war nichts zu sehen. Umso erschreckender war der Laut einer Ziege aus der Ferne. „Das war Djali!“ Homer beschleunigte seine Schritte. „Djali! Djali, wo ist Esmeralda?“ Clopin schien irritiert. Wer war nun wieder Djali?

Ihre schnellen Schritte führten sie zu der abgelegensten, aber noch trockensten Ecke der Katakomben, wo Esmeralda saß. Clopins Herz ging auf. Sie schlief. Das bemerkte er sofort. Germaine und Homer hatten direkt panisch prüfen wollen, ob sie dort tot in der Ecke lag, doch Clopin hatte sie aufgehalten. Er hatte bemerkt, wie ihre Brust sich langsam auf und ab bewegte. Nun, da er sie begrüßen wollte, kniete er sich vor sie und strich ihr einige Strähnen aus dem Gesicht. Sie war noch schöner geworden, obwohl Clopin nicht gedacht hatte, dass das möglich gewesen wäre. „Esme?“ Sie wachte nicht auf. Clopin wusste, dass sie immer sehr tief schlief, aber diesmal war es noch tiefer und er würde sich etwas einfallen lassen müssen. Auch ein sanftes Rütteln an ihrem Arm weckte sie nicht richtig. Also sah clopin dies als Chance, das zu tun, womit er sie vielleicht wecken konnte und was er schon seit einer Ewigkeit hatte tun wollen. Er zog seinen Hut ab und beugte sich näher vor sie. Nach kurzem Zögern näherte er sich ihr und presste sanft seine Lippen auf ihre. Und kaum, dass sie das spürte, wachte sie auf. Sie bemerkte, wie Clopin sie immer noch küsste, doch es schien sie nicht zu überraschen oder zu stören. Stattdessen legte sie nur ihre Arme um ihn. Als er sich von ihr löste und auf ihre Umarmung einging, erdrückte sie ihn fast vor Glück. „Willkommen zurück, Clopin.“ „Danke.“
 

Clopin hockte sich vor sie, hielt ihr die Hände an die Wangen und sah sie lächelnd an. „Mein Gott, du bist so schön geworden. Wie machst du das nur, wie kannst du nur so schön sein?“ Esmeralda lachte etwas und strich ihm durch die Haare. „Übungssache.“ Er stimmte in ihr Lachen ein. Neben ihnen standen Germaine und Homer. Sie betrachteten die Situation noch einen Moment stillschweigend, ehe Germaine sich an Homer wandte.
 

„Jetzt, Homer.“
 

Clopin und Esmeralda sahen hinter sich, als sie diese Aussage wahrnahmen. Da standen ihre zwei Freunde da, ihre Gesichter fast vollständig vom Schatten bedeckt. Sie wirkten düster, fast leblos. „Was ist denn? Was habt ihr?“, wollte Esmeralda wissen, da war es schon zu spät. Germaine ergriff sie und Homer Clopin. Die Zwei wehrten sich mit Händen und Füßen, doch sie hatten gegen die viel größeren und kräftigen Gegenspieler keine Chance. „Esme!!“, presste Clopin noch hervor, da hielten ihnen Homer und Germaine Tücher auf die Münder. Kurz darauf wurden sie bewusstlos. Mit irgendetwas waren die Tücher beträufelt gewesen. Während Homer Clopin in Richtung des Ausgangs trug, ließ Germaine Esmeralda in der Ecke liegen. Djali, die nun nur noch neugierig und scheinbar unwissend neben ihrem Frauchen stand, beachtete sie nicht weiter. Voller Mitleid sah sie auf das Zigeunermädchen hinab und seufzte. „Es tut mir so Leid.“ Sie folgte Homer.

Und er befahl, alle Sünder auszumerzen…

Erst Stunden später wachte Esmeralda, geweckt von einer gütigen, schwachen Hand auf, und wusste zuerst nicht, ob sie geträumt hatte oder nicht. Vor ihr kniete Tertulienne, seine knochige, aber voller Wärme gefüllte Hand auf ihrer Schulter. „Was hast du, mein Kind? Du bist so blass.“ Er hatte Recht. Esmeralda, normalerweise dunkel gefärbte Haut, sah aus wie eine lebende Moorleiche. Ihre Hände waren verschwitzt und sie zitterte am ganzen Körper. Neben ihr saß immer noch treu Djali, die nun erleichtert schien, dass Esmeralda das Bewusstsein zurück erlangt hatte. „Was ist passiert?“ Auf seine Frage hin, half Tertulienne dem Mädchen auf und wartete geduldig eine Antwort ab. Sie schien verwirrt zu sein, fasste sich nur an die Stirn und blickte auf den Boden vor sich. „Ich weiß es nicht genau.“ Sie seufzte und blickte in die alten Augen ihres Königs. Da erkannte sie etwas Vertrautes und irgendetwas rührte sich in ihr. „Clopin“, flüsterte sie. In ihrem Kopf sammelten sich Bilder der vergangenen Stunden zusammen und sie erschrak des Öfteren. Tertulienne schien besorgt und fasste sie am arm. „Esmeralda, was ist los?“ Sie sah erst zittrig auf den Boden, dann mit schneller Atmung wieder zum König des Hofes. „Clopin! Es ist Clopin!“ Sie krallte sich an seinen Oberarmen fest. „Sie haben ihn entführt!“ „Wer??“ „Homer und Germaine!“ Tertulienne schien erschrocken, andererseits noch zu ruhig, als dass es ihn wirklich überrascht zu haben schien. Stattdessen ging er nur vor. „Komm. Ich ahne Schreckliches.“ Ohne zu Zögern folgte Esmeralda ihm und ihr wiederum Djali.
 

Er stürmte mit ihr aus den Katakomben hinaus, bis zum Eingang selbiger und ging weiter in Richtung Notre Dame. „Wo willst du denn hin?“, fragte Esmeralda aufgeregt. „Es gibt viele Männer von Claude Frollo in der Stadt, die Informationen über den Hof der Wunder sammeln.“ Esmeralda erschrak sichtlich. „Glaubst du etwa…?“ „Ja, das glaube ich.“ Tertuliennes Miene verfinsterte sich. „Sie wollen Clopin ausliefern.“
 

In einer Hinsicht irrte Tertulienne. Sie wollten ihn nicht ausliefern, sondern hatten es längst getan. Und als Clopin langsam erwachte, lag er in einer dunklen, dreckigen Zelle. Er sah sich schockiert um, als er den Ort erkannte, an dem er war. Links neben ihm in der Zelle lag ein alter Mann, ebenso Gefangener wie er, der sich wohl mit seinem Schicksal abgefunden hatte, rechts neben ihm lag ein Mann, der nur unwesentlich jünger war als er selbst und bangte der Dinge, die auf ihn zukamen. Da kam auch schon ein Wärter in den Raum, ging strickt auf die Zelle des Mannes zu und öffnete selbige. Durch eine einzige Kopfbewegung machte er dem Gefangenen klar, dass er hinauskommen sollte. Seine Zeit war gekommen. Als er ihn beinahe gewaltsam hinter sich her zog und Clopin die Tränen in den Augen des Gefangenen erkannte, wurde ihm schlecht. War es das, was auch ihn erwarten würde?

So saß er mehrere Stunden in der Zelle, flehend und nervös, und gleichzeitig skeptisch und verängstigt. Wie war er hierher gekommen? Ebenso wie Esmeralda hatte auch er Probleme, sich an das Vorige zu erinnern. Er wusste nur noch, wie er Esmeralda gesehen hatte, wie er sie berührt und geküsst hatte. Oder war es nur ein Traum gewesen? Denn so kam es ihm vor: So fremd, so unwirklich.

Der alte Mann neben ihm regte sich plötzlich. „Was hast du, Jungchen?“ Clopin sah ihn an. „Ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin.“ Der Alte lachte. „Deine zwei charmanten Freunde haben dich ausgeliefert. Das nehme ich zumindest mal an.“ In Clopins Kopf wurden einige Erinnerungen wieder zurück gerufen und er bekam eine unbändige Wut in sich. „Germaine und Homer…“ Wieder stimmte der Alte zu. „Das waren die Namen, die diese Männer gesagt haben.“ „Diese Männer?“ „Ja“, der Mann sah von Clopin weg. Er konnte wohl ohnehin kaum noch etwas sehen. „Hier kamen zwei Männer mit dir an, richtige Schränke, die sagten, zwei Zigeuner hätten dich ihnen ausgeliefert.“ Clopin setzte sich an die Wand und verschränkte die Arme verärgert. „Wie konnte ich so dumm sein? Diese Verräter… all die Jahre!“ Er bemerkte das leise Kichern des alten Mannes und war empört. „Findest du das lustig, Greis??“ „Ja, durchaus“, lachte der nur weiter. „Weißt du, mein Bruder hat mich hierher gebracht. Korruptes Völkchen, was?“ Als er den Mann so lachen sah, konnte er sich nicht lange ernst halten. Trotz seiner so misslichen Lage, schien der Mann nicht verbittert zu sein. Zu komisch. Clopin stimmte in sein Lachen etwas ein und vergaß beinahe, wo er hier war.

Doch da erinnerte er sich an Esmeralda und fragte sich, wie es ihr wohl ergangen war und ob man sie genauso hierher gebracht hatte, ob sie vielleicht überhaupt noch lebte oder nicht. Und der Alte schien seine Blicke erneut deuten zu können. „Bist du verliebt, Jungchen?“ Clopin lächelte, winkte aber ab. Liebe war es nicht, nein. Es war irgendetwas anderes. „Ah, verstehe.“ Sein Zellennachbar legte die Hände auf seine ausgestreckten Beine und sah zur Decke. „Junges Verlangen, was? Wie schön. Wie erfrischend.“ Das fand Clopin nun wiederum auch unpassend. „Ich habe sie aufwachsen sehen. Es ist seltsam“, sagte er leise. Der Alte verstand seine Situation wiederum. „Ich liebte meine jüngere Schwester“, sagte er geradeheraus, als sei dies das Normalste der Welt. Clopin aber schluckte und sah den Alten fassungslos an. Der Mann lachte auf. „Seltsam, wo die Liebe so hinfällt, nicht wahr? Deshalb brachte mein Bruder mich auch hierher. Eigentlich sehr nobel. Er wollte nicht, dass ich sie verletze.“ Er sah Clopin an. „Doch wie töricht. Wieso sollte ich jemanden verletzen, den ich liebe?“ Der Zigeuner erkannte, was der Mann ihm sagen wollte, nur nachvollziehen konnte er es nicht. „Ich liebe sie nicht“, sagte er. „Nicht auf diese Weise. Sie ist ein Teil von mir und wird es immer bleiben.“ Der Alte nickte und vervollständigte Clopins Aussage: „Aber du könntest es dir nicht vorstellen, sie deine Geliebte zu nennen, nicht wahr?“ Noch ehe er eine Antwort darauf bekam, sondern schon als Clopin gerade Luft holte, um eine Korrektur vorzunehmen, lachte der Mann auf und korrigierte selbst: „Nein, wie dumm. Natürlich könntest du dir das vorstellen. Wer könnte das nicht, hm? Sie ist wahrscheinlich wunderschön. Aber sie deine liebe Frau zu nennen, das könntest du dir nicht vorstellen, wie?“ Clopin schmunzelte und nickte. „So ist das“, murmelte der Alte zufrieden. „Also liebst du sie wie eine Schwester?“ „Nein.“ „Wie eine Freundin vielleicht?“ „Oh, nein.“ „Trifft es Seelenverwandte?“ Clopin grinste in sich hinein. „So etwas in der Art, ja.“
 

Tertulienne prüfte die Stellen, wo sonst immer Gesandte von Frollo warteten, doch in dieser Nacht war keiner von ihnen aufzufinden. Überhaupt schien ganz Paris wie verlassen zu sein. Und hinzukam, dass es schon wieder Mittag wurde und die Chancen somit ohnehin kleiner wurden, dass er und Esmeralda in Ruhe in den Straßen nach Clopin suchen konnten. Und auch Germaine und Homer, diesen Verrätern, waren sie nicht begegnet.

Langsam wurde es dunkel in Paris, die Wachen zogen umher und zündeten die kleinen Fackeln auf den Straßen an, die es aber kaum ermöglichten, mehr zu sehen. Stattdessen ließen sie die Dunkelheit nur noch etwas mehr durch die grellen, aber zentrierten Lichtpunkte verwischen. Doch das Licht verschwand nicht weit genug, als dass man gar nichts mehr gesehen hätte. Als Tertulienne, Esmeralda und ihre ihr immer noch folgende Ziege sich dem Marktplatz auf wenig Distanz näherten, hörten sie Stimmen. Es waren nicht nur einzelne Stimmen, nein, hunderte riefen und verursachten Lärm. Die beiden Freunde Clopins beschleunigten ihre Schritte und betraten nach einer langen Gasse den Marktplatz vor Notre Dame. Ihre Augen weiteten sich vor staunen. Eine Hinrichtung ging vor sich, das sah man. Nein, sie ging noch nicht vor sich, doch sie wurde vorbereitet. So stapelte man zum Beispiel auf einer Tribüne an einem Pfahl Holzstücke. Esmeralda schüttelte entsetzt den Kopf. „Die arme Seele, die es trifft…“ Tertulienne seufzte zustimmend. „Sei lieber froh, dass es nicht uns trifft.“ Esmeralda sah ihn fragend an, als ahnte sie, dass er weiß, wen man dort hinauf stellen würde.
 

Clopin erhob müde seinen Kopf, als die Zellentür aufging und ein Wachmann, wie schon so oft an dem heutigen Tag, eintrat, um nach dem Rechten zu sehen, und gleich darauf wieder zu verschwinden. Die Tür schloss sich wieder, Clopin ließ seinen Kopf hängen und schlummerte weiter vor sich hin. Sein Zellennachbar, der alte Mann, tat es ihm gleich. Sie schienen Beide gelassen, besonders Clopin wirkte lange nicht mehr so nervös wie zu Beginn seines Aufenthaltes. Die Ruhe des Alten war sichtlich auf ihn übergegangen.

Nur vor einem hatte Clopin noch Angst und es zerriss ihn beinahe, wenn er zu lange darüber nachdachte: Es kümmerte ihn nicht, wenn er jetzt sterben musste. Aber wenn er jetzt starb, dann in falscher Schuld. Man würde nie erfahren, wie schuldlos er gestorben war.

„Clopin Trouillefou“, lachte der alte Mann neben ihm plötzlich auf. Verwundert sah der Zigeuner zu ihm. „Woher…?“ „Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne! Du bist der König der Zigeuner!“ Clopin verschluckte sich beinahe an seiner eigenen Spucke. „Wie? Nein, nein, das bin ich nicht! Tertulienne Lafayette ist der Kö…“ Erschrocken presste der vorlaute Mann die Lippen aufeinander und ärgerte sich über sein törichtes Verhalten. Doch der Alte ihm gegenüber lächelte nur zufrieden. „Keine Sorge, mein Junge. Von mir erfährt es niemand.“ Clopin schluckte und nickte zuversichtlich. Er traute dem Alten. Außerdem hoffte er, dass die Wachen ihn für tattrig und verwirrt halten würden, würde er es ihnen erzählen.

„Aber“, setzte der Greis wieder an, „du bist doch der, den ich auf den Straßen singen gehört habe. Am sechsten Januar. Nicht wahr?“ Clopin gab ein zögerndes Nicken von sich. Er konnte es wohl nicht leugnen, immerhin war seine Stimme sehr markant. „Du bist also derjenige, der zum Fest der Narren das größte Theater macht und du bist der Einzige, den sie am Fest der Narren sehen wollen, aber der König der Narren bist du nicht?“ Statt zu antworten, hob Clopin nur unwissend die Schultern an, als wolle er wissen, was er denn dagegen tun solle. Doch das sah der Alte wegen seiner schlechten Augen wohl nicht. „Ich sage dir was: Du hättest es verdient, der König deines Volkes zu sein, Junge. Sie rufen deinen Namen auf den Straßen, wenn der sechste Januar beginnt. Ich mag fast blind sein, aber ich habe Ohren wie ein Luchs. Und der Name Clopin hallt durch die ganze Stadt, wenn das Fest naht.“ Das Gesicht des Zigeuners füllte sich mit einer Mischung aus Stolz und Glück.
 

„Clopin Trouillefou!“ Als sein Name diesmal in voller Pracht ertönte, geschah dies in einem weit aus unangenehmerem Tonfall, fast mit Zorn in der Stimme. Es war ein Wachmann, der hinein getreten war und auf Clopins Zelle zuging.
 

„Es ist Zeit.“ Clopin stand auf und ging an die Zellentür. „Was meint Ihr?“ Die Wache seufzte, scheinbar aus Mitleid. „Dein Urteil wurde vollstreckt. Auf den König der Zigeuner wartet der Scheiterhaufen.“
 

Wie ein Dolch stachen sich seine Worte in Clopins Brust und ließen in augenblicklich zusammenbrechen. Er erblasste und ihm wurde übel. Schweiß der Angst brach ihm aus, sein Blick raste von einem Punkt zum anderen, nur zu dem Wachmann zu sehen, das wagte er nicht. Als dieser aber einfühlsam in die Zelle des Angeklagten kam und seine Hand nach ihm ausstreckte, um ihm auf und hinaus zu helfen, wich Clopins Blick zu ihm. „Nein.“ Die Hand des Wärters griff nach Clopins Oberarm, er zog ihn etwas. „Nein!“ Ängstlich drückte sich der Zigeuner an die steinerne Mauer hinter ihm. „Nein!! Ich bin unschuldig!!“ „Mach es uns nicht so schwer“, seufzte der Wärter voller Mitleid und legte seine zweite Hand an den anderen Oberarm von dem dürren Clopin. Er zog ihn auf die Beine, da begann selbiger sich mit Händen und Füßen zu wehren, zu schreien und vor Panik fürchterlich zu zittern. „Nein!! Bitte! Nein!! Ich bin unschuldig!! Ich habe nichts getan!!“ „Clopin!“ „Nein!!“ „Clopin Trouillefou!!“ Dieses Mal wurde sein Name wieder von dem Alten gerufen. Verängstigt drehte sich Clopin zu ihm. Der Alte erschrak. Clopins Augen waren rot angelaufen, ebenso wie fast sein ganzer Kopf, er sah aus, als sei er bereits tot. Da versuchte der Greis sich wieder zu fassen und sprach mit ruhigen Worten zu ihm: „Glaube an eine höhere Macht. Glaube daran, dass es nicht vorbei ist. Dass ihr euch wieder sehen werdet.“ Er begann auf einmal wieder zu lachen. „Du kannst sowieso nichts mehr daran ändern.“ Vom Wahnsinn getrieben, lachte er lauter und brachte Clopin damit nur noch mehr zur Verzweiflung. Ein lauter, aus voller Kehle erklingender Schrei war in der näheren Umgebung überall zu hören.

NEIIIIN!!!
 

Esmeralda lauschte auf. „Hast du das gehört?“, fragte sie Tertulienne, der weiter vor ihr ging. Er winkte ab und betrachtete das Spektakel, das sich weiter vorne an der Tribüne abspielte. Die Leute begannen mürrisch zu werden. Sie schrieen Flüche und warfen faulige Tomaten auf die Männer, die den Scheiterhaufen vorbereiteten und gerade mit Öl tränken wollten. „Wie können die Menschen nur so ungeduldig sein, jemanden sterben zu sehen?“, fragte Esmeralda fassungslos. Tertulienne wusste es besser. „Das ist nicht ihr Grund zur Beschwerde.“ Esmeralda sah ihn verwundert an. „Was ist es dann?“ „Sie wissen es. Sie kennen die Person, die auf den Scheiterhaufen kommt und wollen es verhindern.“ „Bist du sicher?“ Tertulienne nickte. Er hatte sie rufen hören. „Nicht ihn“, hatten sie gebrüllt, „Bastarde, nicht ihn!“. Und ein flaues Gefühl breitete sich langsam, aber sich in seinem Magen aus. „Bitte nicht.“ Er schloss die Augen und, seit vielen Jahrzehnten zum ersten Mal wieder, faltete die Hände zum Gebet. „Herr… bitte nicht er. Lass es jemand anderen sein. Erhör mein Gebet.“ Esmeralda betrachtete sein Verhalten und ihr wurde klar, was er befürchtete. Sie musste schlucken und suchte nach Halt in ihrer Nähe. Doch sie fand keinen und stürzte zu Boden.
 

„Nein!! Nicht ihn!!“
 

Der Protest der Menschen wurde lauter, sie drängten sich um den Scheiterhaufen und die vielen Wachen hatten alle Mühe, sie in Schach zu halten. Tertulienne wagte es kaum, aufzusehen. Zu groß war die Angst, dass es Clopin war, den sie nun auf die Tribüne brachten. Doch er musste aufsehen. Er brauchte Gewissheit. „Herr, bitte nicht. Herr, bitte, ich bitte dich, Herr…“ Unter diesem Flehen öffnete er die Augen und sah langsam auf. Sein Herz machte einen entsetzlichen Sprung, als sich all seine Furcht bestätigte. Zuerst erkannte er nur einen schwächlichen Mann, dünn, in einem weißen Hemd. Als er genauer hinsah, erkannte er den Kampf, den zwei Wachen mit ihm führten. Der Verurteilte versuchte sich loszureißen, er schrie und flehte, er sei unschuldig, warum sie ihn den nicht anhören würden. Tertulienne verstand wegen dem Schreien der Menschen seine Stimme nicht, doch er hatte ihn erkannt und versuchte nicht gänzlich zusammen zu brechen. „Clopin…!!“

Bei dem Fallen seines Namens raste Esmeraldas Blick nach oben und zum Scheiterhaufen. Mit einem Schrei legte sie die Hand vor den Mund, um gleich darauf panisch los zu laufen. Tertulienne versuchte noch, sie aufzuhalten, doch sie war zu schnell für ihn und erkämpfte sich ihren Weg durch die Menschenmenge rasch. „Bitte! Bitte, lasst mich durch! Ich muss zu ihm! Bitte!“ So errang sie sich Zugang zu der Tribüne. Als einer der Wachen sie aufhielt und es kaum alleine schaffte, half ihr ein zweiter. Esmeralda drängte sich zwischen den mächtigen Schultern der Männer durch und streckte ihren Arm nach Clopin aus. Mit der letzten Kraft, die ihr geblieben war, schrie sie dem Kämpfenden zu: „Clopin!!!“

Erschrocken von dieser Stimme, gab Clopin seinen Kampf kurzzeitig auf, um ihn gleich darauf wieder zu beginnen, als er sie in der Menschenmenge ganz vorne entdeckte und zu ihr wollte. „Esme!“ Als ein Wachmann ihn wieder packte, platzte ihm der Kragen und er biss ihm rasend vor Wut in die Pranke. Schmerzerfüllt schrie er auf und ließ Clopin kurzzeitig los. Der Zigeuner stürmte zu seiner Freundin und ergriff ihre schwache Hand mit seinen beiden Händen. „Esme, ich weiß nicht, was ich tun soll, ich bin unschuldig!“ „Ich weiß, Clopin! Ich weiß!!“ Sie riss auch noch ihre andere Hand noch vorne und schaffte es, ihn kurz in den Arm zu nehmen und ihm leise etwas zuzuflüstern, ehe Wachen sie trennten und Clopin an den Pfahl zerrten, um ihn dort festzubinden. Als Clopin bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte, bekam er Angst, denn er erinnerte sich auch an die letzten Worte des alten Mannes. „Esmeralda!!
 

Hab Zuversicht! Glaube!
 

„Ich ertrage das nicht.“ Mit diesen Worten drehte sich die schwache Germaine um und sah weg. Homer legte ihr die Hand auf die Schulter. Er bemerkte, wie sie vor Schreck zuckte, als er Tertulienne und Esmeralda, die sich gegenseitig stützten, vor sich herlaufen sahen. Sie versuchten noch, sich zu verstecken, doch zu spät. Der wahre König und sein Gefolge hatten sie entdeckt und gingen strickt auf sie zu. Während Tertulienne Homer am Kragen packte und ihn wütend anschrie, ging Esmeralda auf Germaine zu, holte aus und verpasste ihr ohne auch nur kurz zu Zögern, eine schallende Ohrfeige. „Du Miststück!! Er liebt dich, du Hexe!!“ Germaine ersuchte sie, leise zu sein. Bei dem Wort Hexe könnte das Volk empfindlich reagieren. Da reichte es Esmeralda und sie begann wie eine Furie schreiend und weinend auf sie einzuschlagen. „Du Miststück!! Er hat dir vertraut! Er hat dich geliebt!! Du Miststück! Hexe!! Fahr zur Hölle!!“ Germaine suchte nach Schutz, doch Esmeralda war viel zu wütend, als dass sie sie hätte aufhalten können. Doch Tertulienne bemerkte, wie sie in Rage geriet, packte die junge Frau von hinten und zog sie von Germaine weg. „Esmeralda!!“ „Nein!! Sie haben Clopin ausgeliefert!! Sie sind Schuld!!“ „Esmeralda!!“ Die Zigeunerin schwieg, raste aber immer noch. Ihr Atem war schwer, aber kurz angebunden. Als sie sich plötzlich wieder klar machte, was in wenigen Minuten geschehen würde, brach sie mit einem verzweifelten Schrei auf die Knie und legte ihre Hände vor ihr verweintes Gesicht.

Mitleidig betrachteten Germaine und Homer sie, da fuhr Tertulienne sie grob an: „Wieso?? Was habt ihr Zwei euch dabei gedacht, ihn auszuliefern?? Was hat es euch gebracht??“ „Sie“, stotterte der sonst so mutige Homer nun ängstlich, „sagten, wenn wir ihn ausliefern, geschieht den anderen nichts mehr.“ Tertulienne rümpfte die Nase und schien nicht zu verstehen. „Was??“ „Sie sagten“, ergänzte Germaine, „sie würden weiter jeden Zigeuner töten, bis wir ihnen“, sie sah kurz Homer an, dann wieder zum Boden vor sich, „bis wir ihnen den König der Zigeuner ausliefern.“ „Was gibt das für einen Sinn, ihr Narren?? Ich bin der König! Wenn ihr jemanden ausliefern musstet, wieso dann ihn und nicht mich??“ „Es klang plausibel! Wir wussten, dass sie uns glauben würden!“ „Nein!! Wieso?? Warum er??“ Homer warf stotternd ein: „W-weil wir dich doch viel länger kennen, als ihn! Wir hätten dich niemals verraten können!“ „Ihr kennt mich länger?? Das war euch Grund genug den Jungen, der euch vergöttert, zum Tode zu verurteilen??“ Germaine winkte panisch ab. „Das wollten wir nicht!!“ „Das habt ihr aber! Ihr habt sein Schicksal besiegelt, als ihr ihn ausgeliefert habt!!“ „Aber, Tertulienne, wir hätten dich niemals…!“ Rasend warf Tertulienne ein: „Ich habe mein Leben gelebt, er nicht! Er hat seines noch vor sich!! Jeder andere hätte das erkannt!! Ihr nicht!“ Bei den letzten Worten senkte er seine Stimme und warf ihnen nur noch abgrundtief verärgerte und vorwurfsvolle Blicke zu. Und da wurde Homer und Germaine klar, was sie getan hatten. Ihnen wurde anders zumute, ihre Gesichter nahmen die Farbe von Schnee an. Die Übelkeit überkam sie. Was hatten sie nur getan?
 

Der Richter, Don Claude Frollo, war angekommen, um die Klage und das Urteil zu verlesen. Er stand neben Clopin, beachtete ihn wenig, sondern rollte nur ein Papierstück aus. „Der Zigeuner Clopin Trouillefou wird der Hexerei und dem Verrat der französischen Kirche angeklagt. Dieser Gesandte des Teufels bringt Übel über die gesamte Menschheit. Seine Taten müssen hier und heute ein Ende nehmen. Als Repräsentant aller Zigeuner, als ihr König, nimmt er einen Teil ihrer Sünde auf sich und mildert die Sühne, die sich über die Bürger verbreitet.“ Er pausierte und betrachtete Clopin. „Sprich! Willst du deine Sünde eingestehen und dich von allen Fehlern befreien, um vor der ewigen Hölle bewahrt zu werden?“ Clopin beugte sich mit aller Kraft nach vorne und schrie dem Richter entgegen: „Ich habe keine Sünde begangen!!! Ich bin unschuldig!!!“ Der Richter schien von diesem Aufschrei, der von dem Volk allerdings laut unterstützt wurde, wenig beeindruckt zu sein. „Der Zigeunerkönig weigert sich, Buße zu tun. Hiermit ist das Urteil gefällt. Es lautet: Tod durch Verbrennung!“

Das Volk schrie auf, als das Feuer an der Fackel des Scharfrichters angezündet wurde und dieser die Scheite unter Clopin auf Claude Frollos Zeichen hin in Brand setzte. Clopin schrie jämmerlich, als der Rauch aufstieg und die Flammen langsam größer wurden. Das Volk schrei mit ihm, es versucht den Scheiterhaufen zu stürmen, protestierte, was dies doch für eine Unmenschlichkeit sei, doch die Wärter konnten sie mit gemeinsamer Kraft zurückhalten.

In der Ferne kreischte Esmeralda laut auf, erneut begannen Tränen ihr Gesicht zu fluten. „Clopin!!“ Tertulienne ergriff sie und drehte ihren Blick vom Feuer weg. „Sieh nicht hin…!” Zitternd drückte sich Esmeralda an ihn und weinte noch mehr. Clopin hatte nie jemandem etwas getan. Wofür sühnte er?
 

Clopins Lungen füllten sich mit Qualm. Sein Atem ging schnell, so dass er durch den aufsteigenden Rauch sogar noch schneller benommen wurde. Er spürte, wie sein ganzer Körper sich dagegen sträubte, weiter zu atmen. Gleichzeitig stiegen die Flammen an und ihm wurde heiß. Die Flammen hatten ihn noch nicht erreicht, aber trotzdem hatte er das Gefühl, er brannte bereits und schrie vor Schmerzen auf, immer wieder, aber jedes Mal nur kurz und abgehakt, denn wieder und wieder kratzte der Rauch in seinen Lungen und seinem Hals und er musste husten.

Das Volk tobte vor Erregung. So einen schrecklichen Tod hatten sie noch nicht miterlebt. Bis jetzt hatten nur Leute dort gestanden, die sie alle als schuldig empfunden hatten. Diesmal war alles anders. Wirklich alles.
 

Ja. Alles. Auch der Ausgang dieser Hinrichtung.
 

„Zum Scheiterhaufen!!“
 

Esmeralda und die anderen sahen erschrocken auf, als sie diese Stimme hörten, die hinter ihnen wie ein Soldat Kommandos um sich warf. Ein kleiner, schwächlich erscheinender Zigeuner war es aber, der nun durch die Menge an ihnen vorbei raste, hinter sich griff und Pfeil und Bogen hervorzauberte. Mit gebanntem Blick beobachteten Tertulienne, Esmeralda, Homer und Germaine, was er da tat, da rauschten mit einem Mal ein Dutzend anderer Zigeuner an ihnen vorbei, die eine Hälfte folgte dem Anführer, die andere setzte die wenigen Wachen, die nicht in der Nähe des Scheiterhaufens standen, außer Gefecht.

Der kleine Anführer blieb stehen, als sein Gefolge an ihm vorbei rannte, in Richtung des Scheiterhaufens, und spannte einen Pfeil in seinen Bogen. Präzise zielte er auf Clopin, zumindest schien es so, was Esmeralda stocken ließ. Was hatte er vor? Wollte er wie ein Märtyrer dastehen, der Clopin frühzeitig von seinen Schmerzen erlöste? Nein, das war ganz bestimmt nicht seine Absicht. Den Männern, die sich den Weg zum Scheiterhaufen rasch freikämpften, schrie er noch ein schnelles „Achtung!!“ zu, dann ließ er den Pfeil los und selbiger düste auf sein Ziel zu. Dieses war aber nicht der mittlerweile vom Rauch betäubte Clopin, sondern das Seil, das ihn um den Oberkörper herum an den Pfahl band. Mit einem einzigen Treffer zerschnitt die Spitze des Pfeils das Seil hinten am Pfahl und Clopin sank nach vorne, in Richtung des Feuers. Da kam der Moment der sechs Männer, die dem kleinen Zigeuner gefolgt waren: Während vier von ihnen kraftvoll die wachen auseinander drückten und sie zu Boden schlugen, sprangen zwei auf die Tribüne und fingen Clopin auf, ehe er in die Flammen stürzen konnte. Einer von ihnen warf sich ihn über die Schulter und rannte los, der andere legte sich mit dem Scharfrichter an.

Tertulienne und die anderen konnten nicht fassen, was sie da sahen, aber sie lachten erleichtert, als sie Clopins Leben in Sicherheit wussten. Doch nun sollte der Spaß erst anfangen. Der kleine Zigeuner kam ihnen wieder entgegen, verfolgt von einem Wachmann, und schrie panisch. Erst jetzt erkannte Tertulienne den Zwerg als Alain, den Clopin zuvor mitgebracht hatte. Ohne ihnen groß Aufmerksamkeit zu schenken, rannte der an der kleinen Gruppe vorbei. Der Wärter folgte ihm fluchend. Gleichzeitig überrannte sie nun von hinten beinahe eine Gruppe weiterer Verstärkung. Und dieses Mal waren es nicht nur wenige Männer, sondern Dutzende und abermals so viele Zigeuner, sowohl Männer als auch Frauen, angeführt von dem Schrank und Anführer der Wachen.

„Rien??“ Tertulienne sah ihm entsetzt hinterher. Hatte er doch gedacht, dass gerade der Wachposten seiner Männer Clopin nicht ausstehen konnte, so trug dieser nun begeistert zu dessen Rettung bei. Der Gerufene drehte sich im Laufen kurz grölend um und schrie seinem König nur ein „Wohoo!“ zu, dann rannte er weiter geradeaus und stürzte sich auf die Wachen.

Während Tertulienne herzlich lachte und einfach nur erleichtert war, hielt Esmeralda nach den Kerlen Ausschau, die Clopin eben so ritterlich vom Scheiterhaufen gerettet hatten.

Im selben Moment begannen Germaine und Homer auch mit zu kämpfen, allerdings eher unbeabsichtigt: Ein Wachmann, rasend vor Wut, kam auf die zu gerannt, wohl der Überzeugung, sie seien ja auch Zigeuner, also könne man sie ebenso angreifen wie die anderen, und gab einen Kampfschrei von sich. Da stimmte Germaine mehr panisch als kämpferisch in sein Schreien ein und streckte einfach nur die Faust nach vorne und schloss erschrocken die Augen. Und just rannte der Wachmann auch in die ausgestreckte Faust hinein und fiel zu Boden. Homer beugte sich über ihn. „Unglaublich…!“ Er wedelte mit seiner Hand vor dem Gesicht des Mannes herum, der aber tatsächlich bereits K.O. zu sein schien und klatschte Germaine beeindruckt Beifall. „Alle Achtung, Madame!“ Germaine schien von sich selbst überrascht, machte aber einen vornehmen Knicks und erwiderte: „Mademoiselle, wenn ich bitten darf, junger Mann!“ Die Zwei machten sich auf, um die Bürger etwas mit anzuheizen und selbst in die vermeintliche Schlacht zu ziehen.
 

Nach einer Weile des Kampfes, hielt Tertulienne einen vorbeilaufenden Zigeuner auf, indem er ihn am Oberarm packte. Er hatte Rien erwischt und lachte. „Du schon wieder!“ Rien machte eine fast edle Verbeugung. „Mein König“, sagte er, treu wie eh und je. „Kann ich dir helfen?“ „Ja, kannst du wirklich“, sagte Tertulienne etwas ungeduldig. „Wo habt ihr Clopin hingebracht?“ Rien deutete in eine Seitengasse, nachdem er sich aber vorher versichert hatte, dass keine verräterische Wache in der Nähe stand, und antwortete: „Durch diesen Gang gelangst du an eine kleinere Passage, einen Durchgang, wenn du so willst, zu den Katakomben. Pass auf, dass dir niemand folgt.“ Tertulienne lachte etwas ignorant, als wolle er ihm klar machen, wer von ihnen der König der Zigeuner war, dann rannte er los, um Esmeralda zu suchen und mit ihr nach Clopin zu sehen.

Rien blickte ihm schmunzelnd hinterher. Und da passte er für einen Moment nicht auf und eine wütende Wache rannte ihn mit einem Kampfgebrüll um und warf ihn zu Boden. „Autsch…“ „Tschuldigung.“ Die Wache erwies sich als ein Zigeuner, der die Jacke eines Wachmannes scheinbar geklaut hatte. Er stand von Rien auf und sah sich um. „Ich suche eigentlich mehr Wachen, die ich umhauen kann.“ Rien stand auch auf und folgte seinem Blick. Doch es schien, dass alle anderen dasselbe Problem wie sie hatten. In der Mitte hatten die Bürger und Zigeuner alle Wachen gefesselt und zu einem Haufen zusammengesetzt oder gelegt, je nachdem, welchen Bewusstseinszustand sie hatten. Und das war ein riesiger Haufen. Und auch sonst lief keine Wache mehr herum. Claude Frollo, den hohen Richter, hatten sie nicht erwischt. Er war wohl bereits aus Desinteresse nach der Urteilsverkündung gegangen.

„Das kann doch nicht sein… war das schon alles?“ Rien sollte sich wundern, aber er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen: Die Zigeuner und die Bürger, die sich mit ihnen verbunden hatten, hatten gesiegt. Das genügte den Gauklern aber auch an Ruhm. Sie zogen sich zurück, ebenso wie die Bürger, die nun Angst davor hatten, bestraft zu werden. Und so kam es dann, dass der Marktplatz, wenige Minuten, nachdem der Sieg errungen worden war, leer zurück blieb, bis auf die immer noch gefesselten Wachen, die erfolglos versuchten, sich zu befreien.

Kommt schnell… seht her…

Behutsam tupfte Esmeralda Clopins Brandwunden mit etwas Alkohol ab, um sie zu desinfizieren. Es war gut gewesen, dass sie Clopin gerettet hatten. Er hätte keinen Moment mehr länger ausgehalten. Entweder wäre er wegen des Qualmes erstickt oder an den Flammen verbrannt. Statt eine lange Dankesrede zu halten, blickte der Verwundete aber nur zur Seite, wo Alain saß und ihn zufrieden ansah. „Danke, mein Freund.“ „Keine Ursache.“

Nun endlich kehrten auch die letzten Zigeuner zurück, unter ihnen auch Rien und zwei bekannte Verräter. Auf dem Marktplatz stand Tertulienne, seine Arme verschränkt, und nahm die Beiden in Empfang. „Nennt mir einen Grund, warum ich euch nicht verbannen oder einfach umbringen sollte!“ Germaine seufzte. „Es gibt keinen Grund. Alles, worauf wir bauen können, ist deine übergroße Güte, Tertulienne.“ Der König lachte ignorant und zeigte hinter sich. Der Durchgang zu einem kleinen Raum wurde ihnen dargeboten. Sie konnten hinter dem Durchgang den auf einem Bett liegenden Clopin sehen, der immer noch von Esmeralda behandelt wurde. „Es geht nicht um meine Güte. Bittet ihn um Gnade. Was immer er entscheidet, werde ich akzeptieren.“ Etwas verzweifelt sahen sich Germaine und Homer an. Sie hatten die Hoffnung längst aufgegeben, dass Clopin ihnen jemals verzeihen würde. Trotzdem, sie wollten ihn ein letztes Mal um Vergebung bitten, damit er zumindest wusste, wie Leid ihnen tat, was sie ihm angetan hatten.
 

„Clopin?“ Die drei im Raum Anwesenden sahen zum Eingang, wo zwei sehr schüchterne und demütig dreinschauende Personen standen. „Wir müssen mit dir sprechen.“ Esmeralda und Alain sahen Clopin noch einmal an, der nickte und sie ließen sie allein. Germaine und Homer traten einige Schritte an ihn heran und setzten sich. „Wir wollen nicht, dass du uns verzeihst. Das wäre wohl zu viel verlangt.“ Homer nickte und fügte gutmütig hinzu: „Wir wollen nur, dass du weißt, dass wir nicht geahnt haben, dass man dich zu so einer Strafe…“ Mit seiner unsensiblen Antwort brachte er Clopin dazu, seine Hand zu heben und ein lautes „Ruhe“ von sich zu geben. Langsam richtete er sich auf und schnappte sich den Hut, den man neben seinem Bett deponiert hatte. Er zog ihn auf. „Seht ihr das? Ich bin ein Zigeuner.“ Germaine und Homer sahen sich ratlos an, unwissend, was er ihnen sagen wollte. Da verdeutlichte er ihnen das, indem er den Hut noch einmal auszog und sich auch seine anderen Kleider anzog: Seine goldene Kreole, seinen violetten Poncho, seine Schnabelschuhe und zuletzt auch wieder seinen Hut. „Seht ihr das?“ Er stand auf und hielt sich gerade. „Ich habe Stolz. Ich habe mein ganzes Leben.“ Er stand etwas wackelig auf und stolzierte an ihnen vorbei. „Ich lebe, Mutter…“ Er sah Germaine scharf an. „Ich lache, Schwester…“ Esmeralda kam an ihm vorbei und nickte zufrieden. „Ich bin frei, mein Bruder…“ Er drehte sich um und sah noch einmal zu Homer, gleichzeitig ging er rückwärts weiter, weitete die Arme aus und grinste breit. „Und mir geht’s einfach gut.“ Er stolzierte weiter zwischen ihnen her und tapste langsam in Richtung der Tribüne, auf der die Galgen angebracht waren. „Ich dreh oftmals durch, Tochter, hab unglaublich großen Charme, Cousin. Ich hab Kopfweh, und Bauchweh, ja, ab und zu“, er stellte sich mit einem Fuß auf die Treppe zu der Tribüne und ließen sich etwas hängen. Er holte aus und zeigte auf Tertulienne in der Ferne, „wie du!“ Schweigen war auf dem Marktplatz ausgebrochen, als Clopins Stimme mit der Zeit immer kräftiger geworden war. Nun waren alle Augen auf ihn gerichtet, besonders die von seinen Freunden. Da grinste der Zigeuner, sprang von der Leiter und sang lauter und schneller als vorher, mit einer unbändigen Freude in der Stimme und scheinbar jegliche Schmerzen vergessend: „Ich hab mein Haar, hab meinen Kopf, hab mein Gehirn, hab meine Ohr’n, hab meine Augen, meine Nase, meinen Mund!“ Er tanzte umher, machte ein Rad, so dass er direkt vor Tertulienne stand und ihn anlachen konnte. „Meine Zähne!“ Er machte einen Flickflack nach hinten und stellte sich in der Mitte der Zuschauenden auf. „Hab meine Zunge und mein Kinn, meinen Nacken, meine Brust, hab mein Herz, hab meine Seele, meinen Rücken…“ Er machte einen Handstand, so dass sein Oberteil von seinem Unterkörper wegrutschte. „Ich hab meinen Arsch!“ Einige von den Zigeunern lachten, während Tertulienne sich beschämt wegdrehte und den Kopf schüttelte, im Grunde aber auch über dieses naive Kindliche lachen musste. „Hab meine Arme, meine Hände, meine Finger, meine Beine, meine Füße, meine Zehen, meine Leber, ich hab mein Blut!“ Er sprang in die Luft und packte ein umher schwingendes Tuch, das von der Decke hing, und flog daran hin und her, wie ein Affe an seiner Liane. „Ich lebe, Mutter! Ich lache, Schwester! Ich bin frei, mein Bruder! Und mir geht’s einfach gut!“ Er zwinkerte Esmeralda zu, die erwiderte das lachend. „Ich dreh oftmals durch, Tochter, hab unglaublich großen Charme, Cousin. Ich hab Kopfweh, und Bauchweh, ja, ab und zu wie du!“ Tanzend sprang Clopin zu Tertulienne, hakte sich bei ihm ein und drehte sich mit ihm im Kreis. „Hab mein Haar, meinen Kopf, mein Gehirn, meine Ohr’n, meine Augen, meine Nase, meinen Mund! Meine Zähne!“ Tertulienne befreite sich lachend und taumelnd von diesem verrückten Jungen, der er in seinen Augen war. Da schnappte sich Clopin Germaine und drehte sich stattdessen mit ihr im Kreis. Die lachte auch, wusste aber nicht so recht, wie sie sich sonst verhalten sollte. Da sang Clopin weiter: „Hab meine Zunge und mein Kinn, meinen Nacken, meine Brust, hab mein Herz, meine Seele, meinen Rücken…Ich hab meinen Arsch!“ Er ließ Germaine los und stieß sie mit einem gutmütigen Schubs zurück zu den anderen. Clopin hörte auf zu tanzen und stolzierte stattdessen auf Tertulienne, Homer, Germaine und Esmeralda zu. „Hab meine Arme, meine Hände, meine Finger, meine Beine, meine Füße, meine Zehen, meine Leber, ich hab mein Blut!“ Er drehte sich noch einmal um, und hob die Arme hoch. „Ich hab Gedärme, ich habe Muskeln!“ Da schwang er sich wieder herum und tanzte zu dem König und seinen Freunden. „Ich hab mein Leben, Leben, Leben, Leben, Leben, Lebeeeeen!!“ Damit sprang er vor Homer und Germaine und sah sie atemlos an, während die anderen Zigeuner Beifall klatschten und von diesem Auftritt begeistert waren. Clopin war wieder da und die Stimmung gerettet. Und ebenso hatten Germaine und Homer verstanden, was er ihnen sagen wollte. Trotzdem sagte er es ihnen noch einmal: „Es ist mir egal, was ihr getan habt. Ich lebe! Und ihr müsst mit euren Schuldgefühlen leben, nicht ich.“ Tertulienne trat vor und legte Clopin seine Hand auf die Schulter. „So spricht nur einer… schließ deine Augen, mein Junge.“ Beobachtet von allen anwesenden Zigeunern, tat Clopin etwas verwundert, was ihm gesagt wurde. „Streck deine Hände aus.“ Gesagt, getan. Da spürte Clopin, wie Tertulienne ihm etwas Leichtes in die Handflächen legte.

„In Ordnung. Du kannst wieder hinsehen.“ Als der Angesprochene zuerst die Augen öffnete, sah er in die lächelnden Gesichter seiner Freunde, dann zu seinen Händen, wo die Maske ruhte, die Tertulienne stets in der Öffentlichkeit getragen hatte. Clopin zögerte und sah wieder zu seinem König. „Was… ich meine…“ „Ich bin alt und habe abgedankt. Nur durch dich sind Zigeuner wieder das, was sie mal waren und das Fest ist jedes Jahr wieder gerettet. Du hast uns alle gelehrt, wieder wir selbst zu sein.“ Er ging in die Mitte des Platzes und rief mit lauter Stimme: „Heute danke ich als König der Zigeuner und erkläre Clopin Trouillefou zu meinem rechtmäßigen Nachfolger!“ Augenblicklich brachen die Anwesenden in Beifall und Gejubel aus. Das hatten sie schon seit langem erwartet. Ebenso Esmeralda, Homer und Germaine, die geahnt hatten, was Tertulienne seit dem ersten Tag, an dem Clopin hier war, im Sinn gehabt hatte.

Als Clopin den Jubelchor wahrnahm, der um ihn herum ertönte, lachte er wieder auf eine ihm typische Weise und setzte sich die Maske auf. Endlich, nach all den Jahren, wusste er wo sein Platz war. Man respektierte ihn und erkannte ihn als einen von ihnen an. Mehr hatte Clopin nie gewollt.
 

Kommt schnell! Seht her!“ Schwarz gekleidete Gestalten betraten den Platz vor Notre Dame und hielten Zepter und Banner in ihrer Hand, auf denen Kronen und alberne Masken zugleich abgebildet waren. „Bauern, Jungfern, Mägdelein! Lasst die Arbeit Arbeit sein!“ Die Menschen hatten sich um die Auftretenden versammelt und wunderten sich, was sich zutrug. „Kommt schnell! Seht her! Theologe, Philosoph! Freut euch, eure Welt steht Kopf! Heute sind die Leute…“ Plötzlich platzten die Zepter auf und Konfetti sprang heraus, Luftballons stiegen unter den Kutten der Schwarzgekleideten auf, nur unter einer einzigen Kutte sprang auf einmal Clopin hervor, in bunte Kleider gehüllt, und schrie: „Dooooof!“ Er lachte herzlich und sprang umher, um mit den Leuten zu feiern. „Jedes Jahr sind Narren in Paris begehrt. Jedes Jahr steht alles, was man sieht, verkehrt! Jedes Jahr wird Lachen in Paris gelehrt. Heut ist unser kunterbunter Tag!“ Er sah sich nach gewählten Opfern um, die er für einen weiteren Schabernack brauchen würde. „Wieder mal ist heute hier der Teufel los, wieder mal sind Arme reich und Kleine groß.“ Ein kleiner Mann stolzierte auf stelzen an ihm vorbei. „Wieder mal ist Karneval und heut sind Leute doof!“ Da tanzten auf einmal Männer auf den Händen vorbei, gefolgt von Frauen mit lächerlichen Kleidern, offensichtlich alle Zigeuner. Da rief die Menge der Bürger auf einmal ein erheitertes „Kunterbunter!“ zu Clopin. „Lahme Enten werden munter!“ „Kunterbunter!“ „Hier geht alles drüber, drunter“, er hakte sich bei einigen leichten Mädchen ein und tanzte mit ihnen. „Stroh ist Gold, Kostüme sind gewagt! So ist unser kunterbunter Tag!“ Er verschwand in einem Zelt, in dem sich Esmeralda auf ihren Auftritt vorbereitete. Sie zog sich gerade ihren Ohrring an, als sie den jungen König da so vor sich sah, etwas außer Atem, aber aufgeregt wie ein kleines Kind. „Und du willst wirklich, dass ich so gewagt tanze?“ Clopin nickte und klatschte in die Hände. „Ja, will ich! Keine Sorge, wenn es jemanden ärgert, dass du so leidenschaftlich tanzt, nehme ich die volle Verantwortung auf mich!“ Esmeralda lachte ignorant. „Bevor du Verantwortung auf dich nimmst, werde ich zur Nonne.“ „Gehabt Euch denn wohl, Schwester Esmeralda“, sagte Clopin gehässig, machte ein Kreuzzeichen vor sich und ging wieder aus dem Zelt hinaus. Esmeralda lachte schmunzelnd den Kopf.

„Kunterbunter!“ „Folgt dem Rufe der Trompeten!“ „Kunterbunter!“ „Flittchen, Diebe und Proleten!“ Um ihn herum begannen Leute im Reigen zu tanzen. „Strömen rein von Chatres bis Le Havre“, da traf die königliche Wache ein, „schwere Jungs, das leugnet keiner, sind im Januar noch gemeiner, jeder liebt den kunterbunten Tag!“ Clopin machte einen Radschlag vor den Hauptmann der Wachen und sang ihn direkt an. Der wirkte allerdings alles andere als begeistert. „Kommt schnell! Seht her! Schneller, dass ihr’s nicht verpasst“, einige Wachen zogen ihn unter Gelächter der Bürger von dem Hauptmann weg, „folgen tut der dollste Spaß!“ Er sprang in Richtung der Bühne und legte einem Mann freundschaftlich die Hände auf die Schultern. „Kommt schnell! Seht her! Seht die Schönste hier im Land“, die Männer und Frauen richteten ihre Augen auf die Bühne, auf die nun Clopin mit einem leichten Satz sprang, „weidet euch an ihrem Glanz!“ Alle waren so auf sein Herumalbern konzentriert, dass niemand mehr beachtete, wie er in einen kleinen Beutel griff, den er sich am Gürtel festgemacht hatte, und etwas Pulver daraus hervorholte. Mit kraftvollem Gesang hob er die geballte Faust über sich. „Tanz, la Esmeralda…!“ Er schmiss das Pulver zu Boden und mit einem letzten lauten „Tanz!“ der in einer Rauchwolke und Esmeralda erschien, leicht bekleidet, und tanzte für die Menge, wie Clopin es ihr gesagt hatte.

Einige unter den Zuschauern waren empört, doch die meisten begannen schon nach kurzer Zeit zu jubeln und der schönen Frau auf der Bühne zu zu pfeifen. Einige kramten sogar in ihren Taschen herum und warfen ihr etwas Gold auf die Bühne. Und als Esmeralda fertig war, nahm sie dieses auch dankend an, nachdem sie sich verbeugt hatte. Die Bürger waren angeheizt. Das war, worauf Clopin gewartet hatte. Nun würde er den Höhepunkt des diesjährigen Festes heraufbeschwören.

„Madame et Monsieur! Dieses Jahr haben wir ein ganz besonderen Leckerbissen!“ Er zeigte zu einigen entstellten und hässlichen Männern auf der Bühne, die sich nun in Reih und Glied aufstellten und die Menge in ein Raunen voller Ekel versetzten. Einer von ihnen war hässlicher als der andere und jeder Bürger fragte sich, wozu man diese Abscheulichkeiten zusammen gesucht hatte. „Zu einem richtigen Fest der Narren“, grinste Clopin und stellte sich als Repräsentant der Lächerlichkeiten vor die Hässlichen, „gehört ja wohl auch ein König der Narren!“ „Das bist doch du, du Narr!“, tönte es da aus der Menge und alle lachten. Clopin stimmte in dieses Gelächter ein und winkte ab. „Doch eine andere Art König! Jetzt, so hoffe ich, werdet ihr bei der hässlichsten Fratze laut aufjubeln! Seid ihr bereit?“ „Was für ein Frevel!“, schrie es auf einmal von einem der Wachen, da trat auch der Hauptmann hervor und rief zur Ordnung. „Was für einen Schabernack treibt Ihr da, Clopin?“ „Was soll ich treiben, Herr?“, grinste der Zigeunerkönig. „Eine gewöhnliche Volksbefragung!“ Der Hauptmann hob seine kräftige Hand und schüttelte den Kopf. „Das lasse ich nicht zu! Dass das Fest stattfindet, ist genug des Unsinns und Albernheiten!“ Ehe Clopin gänzlich seine Hoffnung auf Spaß verlieren konnte, erhallten die Stimmen der Bürger, die den Hauptmann zu besänftigen versuchten: „Seid nicht so!“ „Ja, Herr, es ist nur Spaß!“ „Nun lasst uns doch die Freude!“ Als immer mehr Stimmen auf den sanften Protest eingingen, gab sich der Hauptmann schnell geschlagen und trat mit seinen Männern zurück in den Hintergrund.

Die Wahl zum König der Narren war schnell geschehen, aber umso freudiger für alle, die daran teilhaben durften. Sogar für die Hässlichen selbst. Denn diese standen endlich einmal positiv im Vordergrund und wurden wegen ihres Aussehens nicht geächtet, sondern gefeiert. König wurde letztendlich ein Mann, dick, voller roter Pickel im Gesicht, abstehende Ohren und vorstehende Zähne. Er war wirklich der hässlichste von ihnen allen.

Und jetzt alle!“ Statt Clopin übertönte nun fast das Volk den König, der vor der Maße herstolzierte, die wiederum den neu gewählten Narrenkönig über sich trugen. „Dieses Jahr da schmeißen wir ein Riesenfest! Dieses Jahr kriecht ganz Paris aus seinem Nest! Dieses Jahr regiert hier nur, wer hässlich ist! Dieses Jahr, am kunterbunten Tag!“ Die Leute begleiteten den hässlichen Mann auf ein Podest. Dort empfang ihn auch sogleich Clopin und überreichte ihm einige provisorische Gegenstände, die ihn als lächerlichen König dastehen ließen, wie ein Zepter und eine Krone. Da stimmte Clopin in den Gesang der Menge wieder mit ein: „Und so ein Tag der lebt von lauter Blödelein! So ein Tag gibt allen Grund verrückt zu sein!“ Ihr Gesang wurde schneller und noch fröhlicher. „Heute kann uns keiner trüben, heute woll’n wir uns vergnügen, heut ist eure Hässlichkeit gefragt! Heut feiern wir den König unsres kunter… bunten…“ Die Menge sprang im Rhythmus der Musik auf und ab, Clopin zeigte stolz auf den frisch gewählten König. Gleichzeitig kam Esmeralda auf das Podest geklettert, sang mit und umklammerte Clopin lachend von hinten. Als der das bemerkte, sah er kurz irritiert zu ihr und lachte, als er sie erkannte. In der Menge entdeckte er gleich darauf all seine Freunde, Homer, Germaine, Alain und sogar Rien hatte sich hierher begeben, um das Fest mit seinem neuen König zu feiern. Noch singend und nebenbei der Menge lauschend, sah Clopin weiter in die Menge und suchte nach einem letzten, vertrauten Gesicht. Das fand er in Tertulienne, der nun, gestützt auf einen Stock, und in gekrümmter Haltung neben Germaine auftauchte und seinen Hut vor Clopin zog. Clopin lächelte, legte seine Hand vor den Bauch und verbeugte sich etwas.
 

Kunterbunter, hier geht alles drüber, drunter, kunterbunter Tag!!
 

ENDE



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  AkephalosXx
2009-02-28T21:40:46+00:00 28.02.2009 22:40
ich finds echt toll.... ^^
Ich habe sie verschlungen XD
ischließe mihc rum_bottle an, clopin is super geworden ^^
Von:  rum_bottle
2007-12-14T19:57:10+00:00 14.12.2007 20:57
*_*
oh mein gott.
wie toll ist diese FF denn? *schmelz*
soo wundertollig!
*narrenhut schwing* <3
wirklich einmalig x3~ und du hast clopin wirklich toll dargestellt. und die ganzen lieder.. *dahinfließ* <3²


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