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Die Welt im Wandel

Oneshot-Sammlung zu "Dunkelheit/Vergeltung"
von

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Ausgeliefert

München, Deutschland (1923):
 

Sie war schwach.

Das war das erste, was Alec auffiel. Früher waren ihre Bewegungen fließend gewesen, einer Tänzerin gleich, die selbst das Hochheben einer Kaffeetasse in etwas Spektakuläres und Bühnenreifes hatte verwandeln können. Der Vampir hatte ihr stets mit Vergnügen dabei zugesehen, wie sie leichtfüßig und elegant durchs Leben geschritten war.

Nun aber schien es all ihre Kraft zu erfordern, sich auf den Boden zu knien und die toten Blätter einzusammeln, die sich nun im tiefsten Herbst überall verteilten. Ihre Hand zitterte, als sie das bunte Laub zusammenfegte und in den Eimer neben sich beförderte. Und bereits einen Moment später hielt sie inne und holte tief Luft, als hätte allein dieser eine kleine Akt derart viel Energie verbraucht, dass eine kurze Pause unumgänglich geworden war. Alec hatte schon Großmütter im hohen Alter gesehen, die deutlich mehr Dynamik gezeigt hatten.

Aber Erinya war ganz sicher keine Großmutter.

Zugegeben, sie ging stark auf die sechzig zu, sah aber eher aus wie Anfang zwanzig. Ein netter Bonus, wenn man das Leben einer Magierin führte. Der Körper alterte langsamer und verschließ erst sehr viel später. Oftmals konnte man dies sogar mithilfe von Magie zusätzlich eindämmen oder gar völlig aufhalten. In der Welt, in die Erin hineingeboren war, gab es kaum etwas, das nicht möglich war.

Sie könnte noch gute zweihundert Jahre leben.

Möglicherweise sogar länger, wenn sie es schaffte, ihre Macht sinnvoll zu nutzen.

Aber das Schicksal hatte es anders mit ihr gemeint.
 

„Willst du mich etwa die ganze Zeit aus dem Schatten heraus beobachten wie ein dreckiger Spanner?“ Ihre Stimme war scharf, während sie gleichzeitig ungerührt die Blätterte einsammelte, als wäre es etwas Alltägliches, einen Vampir im Garten zu haben.

Alec konnte sich derweil eines Lächelns nicht erwehren. Mochte sie auch noch so schwach und hilflos wirken, stets hatte sie es verstanden, seine Gegenwart wahrzunehmen. Sogar besser als viele andere Wesen.

„Du könntest wahrscheinlich noch in der tiefsten Dunkelheit merken, wenn dich jemand aus fünfzig Kilometer Entfernung beobachtet, nicht wahr?“ Alec lachte auf, als er zu ihr trat und sich neben sie kniete. „Hallo, Erinya!“

Weder Angst noch Unsicherheit waren in ihren Gesichtszügen zu erkennen, als sie sich dem Besucher zuwandte. „Hallo, Alec!“, sagte sie stattdessen kalt. „Wie überaus unangenehm, dich wiederzusehen.“

Alec schmunzelte. „Immer noch ein Sonnenschein.“

Erin schnaubte. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich es hasse, wenn du dich einfach so anschleichst.“

„Und ich habe dir doch gesagt, dass es mir total egal ist, was andere mir erzählen wollen.“
 

Erin musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, ehe sie sich abrupt wegdrehte und aufstand. Wäre sie in einer gesunden Verfassung gewesen, hätte sie einen verächtlichen Kommentar zum Besten gegeben und hätte ihn einfach zurückgelassen, doch stattdessen schaffte sie es nicht, auch nur einen Fuß vor den anderen zu stellen, ohne beinahe das Gleichgewicht zu verlieren. Sie begann zu schwanken und wäre sicherlich zusammengebrochen, wenn Alec mit vampirischer Schnelligkeit nicht sofort an ihrer Seite gewesen wäre und sie gestützt hätte.

„Du solltest dich nicht so überanstrengen, Sonnenschein“, entgegnete er. „Ohnmächtige Frauen machen nur Scherereien.“

Erin schnaubte und hätte ihn wahrscheinlich grob von sich gestoßen, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Doch stattdessen ließ sie ihn gewähren, als er sie zu der nahegelegenen Bank führte und sie darauf Platz nehmen ließ. Einzig ihr Gesichtsausdruck, der deutlich ihr Missfallen kundtat, machte deutlich, wie sehr ihr die Situation widerstrebte.

„Was machst du hier?“, wollte sie wissen. „Du hast mir mal gesagt, du kannst Deutschland nicht leiden.“

„Eine Lüge“, meinte Alec schulterzuckend. „Hast du dir dieses Land schon mal angesehen? Hier gibt es wirklich wunderschöne Orte. Es wäre eine Schande, so etwas nicht angemessen zu würdigen.“

Erin musterte ihn, als könnte sie nicht glauben, dass er tatsächlich etwas für schöne Landschaften übrighatte. Schließlich aber seufzte sie und wiederholte ihre Frage mit mehr Nachdruck: „Was. Willst. Du. Hier?“

Alec ging in die Knie und betrachtete sie intensiv. „Das weißt du doch genau.“
 

Erin schien im ersten Moment seinem Blick ausweichen zu wollen, entschied sich dann aber doch anders und hielt ihm stand. „Du bist ein hartnäckiger Bastard!“, zischte sie. „Meine Mutter ist bereits seit über dreißig Jahren tot und dennoch stalkst du mich immer noch?“

Alec verzog keine Miene. „Ich habe ihr versprochen, dein Leben zu retten. Und das werde ich auch, so wahr mir die Götter helfen mögen.“

Erin lächelte. Bitter und frustriert.

„Du konntest meine Mutter nicht mal ausstehen!“, erwiderte sie vehement. „Du hast sie immer ‚alte, dreckige Hexe‘ genannt, erinnerst du dich? Sie hat deinen gottverdammten Arsch mindestens fünfzigmal verflucht und du hast ihr sicherlich doppelt so oft das Leben zur Hölle gemacht. Ihr wart wie Katz und Maus, nur wesentlich – wesentlich – schlimmer!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum sollte dich irgendein dummes Versprechen interessieren, das sie dir auf ihrem Totenbett abgerungen hat? Du bist ein Lügner, Alec, also wieso bleibst du nicht dabei, lässt ihre arme Seele ruhen und machst dich vom Acker?“

Alec legte seinen Kopf schief. „Du willst also sterben?“

„Nein, natürlich nicht!“

„Was willst du also dann?“
 

Erin sagte daraufhin nichts, schien selbst nicht genau zu wissen, wie sie mit der Situation umzugehen hatte. Es war ein Fluch, eine Krankheit, die ausgesprochen selten war und nur Magier befiel. Nichts konnte sie stoppen, weder Magie noch anderweitige Arzneimittel.

Bei Erins Mutter Melina hatten sich 1884 die ersten Symptome gezeigt. Kurz darauf hatte sie bereits in ihrer Familiengeschichte zu forschen begonnen und herausgefunden, dass einige ihrer Vorfahren ebenfalls krank geworden und gestorben waren, der letzte gerade mal gut zehn Jahre zuvor. Melina hatte sich selbst dafür gehasst, ihrer Familie, mit der sie niemals zurechtgekommen war, so früh den Rücken zugedreht zu haben, ohne überhaupt mehr über sie zu wissen. Ihr war damals bloß wichtig gewesen, dass sich ihre Moralvorstellungen nicht gedeckt hatten und natürlich ganz besonders dass ihre Eltern versucht hatten, den armen Fischersohn, in den sie sich verliebt hatte, umzubringen. Melina hatte es ihnen niemals verzeihen können und war gegangen. Hatte sie einfach zurückgelassen und nie wieder ein Wort mit ihnen gewechselt.

Es war für sie nicht schwer gewesen, ihre kalte und herzlose Familie einfach aus dem Gedächtnis zu streichen. Stattdessen hatte sie sich erlaubt, mit ihrem Fischersmann glücklich zu werden und eine eigene Familie zu gründen.

Aber hätte sie gewusst, dass diese besagte Krankheit in ihrem Blut lag, so hatte sie Alec einst anvertraut, hätte sie niemals Kinder bekommen. Schlimmer als ihr eigener Tod war für sie gewesen, dass sie Erin zu einem möglichen Leben voller Qualen verurteilt hatte.

Und seit Erin vor einigen Monaten die ersten Symptome gezeigt hatte, war mehr als deutlich, dass sich Melinas schlimmste Befürchtungen bewahrheitet hatten.
 

„Du weißt, dass nur ich dich retten kann“, ergriff Alec wieder das Wort. „Ich kann dir ein besseres Leben verschaffen.“

„Ein untotes!“, zischelte Erin. „Ich würde nur noch existieren, nicht leben.“

Alec zog seine Mundwinkel nach unten. „Du glaubst also, mein Leben ist erbärmlich?“

Erin zögerte einen Moment und schien tatsächlich zu überlegen, zuzustimmen, ehe sie entgegnete: „Du bist ein Sa’onti, Alec. Dir war es vorherbestimmt, mir aber nicht. Ich würde bloß sterben und als etwas anderes wiedergeboren werden.“

„So ist es nicht …“

„Versuch nicht, es irgendwie schönzureden“, fiel ihm Erin ungehalten ins Wort. „Es mag sein, dass es wirklich nicht so schlimm ist, wie ich es mir vorstelle, aber ehrlich gesagt würde ich lieber hier und jetzt sterben, als einen schrecklichen Fehler zu begehen.“

Alec schnalzte mit der Zunge. Erin war immer schon ein unverbesserlicher und dummer Dickkopf gewesen, fast noch schlimmer als er selbst.

„Du hast deine Mutter gesehen, ganz am Ende“, rief er ihr ins Gedächtnis. „Sie war nur noch ein Schatten. Willst du wirklich auf diese Weise enden?“

Erins Miene blieb hart. „Was gut genug für meine Mutter war, ist auch gut genug für mich.“

Unwillkürlich stöhnte Alec auf, frustriert angesichts solcher Starrköpfigkeit. Er hätte wahrscheinlich noch stundenlang darüber reden können, wie beeindruckend und großartig das Leben als Vampir war, es hätte ihre Meinung trotzdem nicht geändert.
 

Dennoch wollte er nicht so schnell aufgeben. Er lehnte sich vor, ganz nah, und wisperte ihr ins Ohr: „Hast du eine Ahnung, was Unsterblichkeit dir bringt? Was für eine Macht du bekommst?“ Er strich ihr sanft über die Hände, die sosehr zitterten. „Erzähl mir nicht, dass du keine Angst vor dem Tod hast. Er wird dich von nun an begleiten, für den Rest deines Lebens. Du wirst keine Ruhe mehr haben und in ständiger Furcht leben. Das kannst du nicht ernsthaft wollen.“

Erin zog sich ein wenig zurück, sodass sie ihm direkt in die Augen zu sehen vermochte. „Nein, das will ich sicher nicht.“

„Warum bist du also so dumm und lehnst mein Angebot ab?“

Erin hob eine Augenbraue. „Weißt du, wenn du versuchen willst, mich zu verführen, würde ich Wörter wie ‚dumm‘ nun wirklich nicht benutzen.“

Alec schmunzelte. „Wer sagt, dass ich dich verführen will?“

„Auf die ein oder andere Weise versuchst du es doch gerade, nicht wahr?“ Sie musterte ihn herausfordernd. „Du setzt deinen Charme ein und was sonst noch alles, das Frauen normalerweise schwach werden lässt, um mich dazu zu bringen, zu tun, was du willst. Wenn das keine Verführung ist, dann weiß ich auch nicht.“

Dem konnte Alec nicht widersprechen. „Funktioniert es denn?“

Erin schnaubte. „Nein!“

Und dennoch schwang in ihrer Stimme ein unsicherer Ton mit, als wüsste sie selbst nicht ganz genau, ob es nicht doch einen gewissen Einfluss auf sie hatte.
 

Alec zog sich derweil wieder ein Stück zurück und meinte mit Nachdruck: „Dann verlass wenigstens Deutschland.“

Erin blinzelte daraufhin nur verwundert. Anscheinend hatte sie mit solch einer Wendung des Gespräches nicht gerechnet. „Warum das denn?“

„Hier ist es gefährlich.“

Erin starrte ihn einen Augenblick sprachlos an, dann aber zuckten ihre Mundwinkel nach oben. Es schien fast, als stünde sie kurz davor, ihn schamlos auszulachen. „Ich weiß, hier geht es gerade ein bisschen drunter und drüber, aber das ist doch nur eine Phase. Das vergeht wieder.“[1]

„Die ganzen Aufstände beunruhigen dich also nicht?“, hakte Alec verblüfft nach. Seitdem er in Deutschland angekommen war, war ihm von allen Seiten nur Sorge und Verzweiflung entgegengeschlagen. Die Menschen hungerten, gingen zugrunde und entwickelten einen extrem ungesunden Hass gegen die neue Republik.

„Das wird bald ein Ende haben“, sagte Erin abwinkend. Sie klang dabei derart überzeugt, dass sie beinahe Necroma hätte sein können, die einen Blick in die Zukunft hatte werfen dürfen.

„Ein Ende?“ Alec schnaubte. „Hast du gemerkt, dass in der Innenstadt Tausende von Menschen auf den Beinen sind? Ich kann sie hier sogar noch hören. Sie schreien und kreischen und machen mich ganz wahnsinnig.“

Es dröhnte wie verrückt in seinen Ohren. Meistens wurde behauptet, Vampire würden von Unruhen, Tumulten und Kriegen geradezu magisch angezogen, aber in Wahrheit war es allzu oft viel zu laut, als dass es ein Untoter lange hätte ertragen können. Auch dieser verhältnismäßig kleine Putschversuch machte Alec bereits zu schaffen.
 

Erin zuckte derweil mit den Schultern. „Das ist nur dieser Hitler und seine fehlgeleiteten Anhänger. Die brauchst du nicht allzu ernst zu nehmen.“[2]

Alec verengte seine Augen zu Schlitzen. „Nichtsdestotrotz solltest du aus Deutschland verschwinden. Ein Krieg wird kommen.“

„Hast du das in deinem tollen Büchlein gelesen?“, spottete sie. „Ein Krieg hier in Deutschland? Super! Wo soll ich mich denn deiner Meinung nach verkriechen? Frankreich? England? Timbuktu?“

„Ein Krieg, der fast die ganze Welt umspannt“, erklärte Alec und zitierte damit die besagte Passage aus dem Thy’lar. „Sogar noch größer als der letzte.“

Erin hob eine Augenbraue und musterte ihn, als sei er komplett wahnsinnig. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass die Menschen so dumm sind, einen zweiten Weltkrieg anzuzetteln, oder etwa doch?“

Alec verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube, dass die Menschen extrem dumm sind.“

Erin erweckte zunächst den Anschein, als wollte sie protestieren, als wollte sie ihn dafür schelten, dass es so töricht war, dies auch nur eine Millisekunde zu glauben, aber schließlich ließ sie davon ab. Ihr war sehr wohl bewusst, dass Alec sowohl ein Buch gelesen hatte, dass bekanntlich die Zukunft voraussagte, als auch eine Vampirin kannte, die mehr über das Mysterium von Zeit und Raum wusste als vermutlich irgendein anderes Wesen auf diesem Planeten. Somit musste selbst Erin zugeben, dass man seine Voraussagen nicht einfach mit einem Schulterzucken abtun konnte.
 

„Du willst mich also retten?“ Sie schüttelte ihren Kopf, als wäre dies eine absolut lächerliche Vorstellung, der man nicht mal eine Sekunde lang Glauben schenken sollte. „Ich kenne dich nicht mal.“

Alec schnaubte abfällig. „Was redest du denn da? Wir kennen uns schon seit Ewigkeiten, schon vergessen? Weißt du noch, wie deine Mutter mir bei unserer ersten Begegnung Säure ins Gesicht geschleudert hat? Und du standest daneben, noch ein ganz kleiner Stöpsel, und hast dich königlich amüsiert. Deine sadistische Ader war schon damals sehr ausgeprägt.“

Erin runzelte die Stirn. „Ich rede davon, dass ich dich nicht kenne, du Narr!“, zischelte sie. „Du bist wie ein Schatten, der nichts von sich preisgibt. Du redest gerne von Morden und Massakern, von den Dummheiten der Menschen und den Verrücktheiten der Welt. Du zählst gerne deine Eroberungen auf und die Lügen, mit denen du all diesen Frauen den Kopf verdreht hast. Du bist ein Krieger, ein Charmeur, ein Lausbub und ein Psychopath. Das weiß ich alles!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und doch kenne ich nicht den wahren Alec. Der, der sich hinter der Maske versteckt und sich nur ab und zu für ein paar Millisekunden zeigt. Der, der wahrscheinlich sogar so etwas ähnliches wie Gefühle oder zumindest ein einigermaßen annehmbares Gewissen hat.“

Alec verengte die Augen zu Schlitzen. Ihm gefiel die Richtung, in die das Gespräch ging, ganz und gar nicht. Sie hätte ihn nach der größten Peinlichkeit seines Lebens fragen können, nach seinen törichten und schwachen Momenten, die selbst ein Monster wie er an und ab hatte … doch das, was sie wissen wollte, lag so viel tiefer.
 

„Woher kommst du?“, fragte sie nach. „Und wie lautet überhaupt dein Name? Dein richtiger Name!“

Alec knirschte mit den Zähnen. „Ich denke nicht –“

„Denken ist nicht unbedingt deine Stärke“, fiel sie ihm aufgebracht ins Wort. „Und für dich mag das heute vielleicht alles unwichtig sein, aber für mich ist es das nicht.“

„Was damals war, hat mit dem Hier und Jetzt nicht mehr das Geringste zu tun!“, erklärte Alec bissig. Er hasste es, darüber zu reden oder auch nur daran zu denken. „Es war eine andere Zeit, ein anderes Leben.“

Sie schwieg eine Weile und betrachtete ihn mit solch einer Intensität, dass es selbst einen Vampir wie ihm unangenehm wurde. Ohne dass er es wirklich kontrollieren konnte, wich er ihrem bohrenden Blick aus.

„Warum fällt es euch so schwer, über eure Vergangenheit zu reden?“, wollte sie wissen.

Alec verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, einfach zu gehen. Mochte er auch Melina noch so hoch und heilig versprochen haben, alles daran zu setzen, ihre Tochter zu retten, so hatte er sicherlich nicht damit gerechnet, dafür in die tiefen Abgründe seiner Seele eintauchen zu müssen. Er war ein Vampir und ein gegebenes Versprechen konnte ihm im Grunde einerlei sein. Er besaß ja nicht einmal so etwas wie Ehre.

Doch er brauchte nur in Erins Augen zu schauen und schon fühlte er sich wie der letzte Dreckskerl, überhaupt nur darüber nachzudenken, sie im Stich zu lassen. Er hatte sie als kleines Mädchen kennengelernt, als junges Ding, das sich mit ungewöhnlichem Mut den Missständen der Zeit entgegengestellt hatte. Und je reifer sie geworden war, desto mehr hatte man sie bewundern müssen. Selbst Alec, der schon so manche beeindruckende Geschöpfe gesehen hatte, war es nicht anders ergangen.

Und er verabscheute den Gedanken, dieses dumme und sture Mädchen einfach zugrunde gehen zu sehen.
 

„Du bist eine Tortur, weißt du das eigentlich?“, hakte Alec nach.

Erin lächelte leicht. „Das ist mir absolut bewusst.“

Alec blieb einen Augenblick stumm und beobachtete, wie sie sich kurz durch die Haare fuhr. Im Grunde eine banale Geste, doch ihre Hand zitterte derart stark, als hätte sie an jedem Finger ein Zehn-Kilo-Gewicht hängen. Es stand wirklich nicht gut um sie. Wenn die Krankheit weiter so rasch voranschritt, würde sie sehr viel eher im Grab landen als ihre Mutter.

„Neyo!“, meinte er somit schließlich. Es war schwer, diesen Namen auszusprechen, wie er sogleich merkte. Ein Knoten entwickelte sich automatisch in seinem Hals, als wollte sein Körper ihn davon abhalten, weiterzureden.

„Bitte was?“ Erin musterte ihn verwirrt, offenbar geistig ganz weit fort gewesen.

„Neyo!“, wiederholte Alec zähneknirschend. „Das ist der Name des Idioten, den du unbedingt wissen wolltest.“

Erin blinzelte, anscheinend durchaus überrascht, dass der Vampir ihrer Aufforderung gefolgt war. Dann aber legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen, das ein naiver Beobachter als harmlos und nett bezeichnet hätte, während ihm das spöttische Aufblitzen in ihren Augen völlig entgangen wäre.

„Neyo war also ein Idiot?“, hakte sie nach, nicht mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme.

„Der größte von allen“, erklärte Alec schnaubend.

„Aber er hatte einen sehr schönen Namen.“

„Wenn du meinst.“
 

Sie bedachte ihn daraufhin mit einem Blick, den er nicht so recht einzuordnen wusste. In ihren Zügen lag immer noch ein wenig Belustigung, aber auch etwas anderes schien durchzuscheinen. Nur kurz und schwach, aber dennoch präsent.

„Wo ist Neyo geboren?“

Alec hatte Mühe, seine Hände nicht zu Fäusten zusammenzuballen, als er sagte: „Keine Ahnung. In irgendeiner schäbigen Gasse wahrscheinlich.“

Erin lehnte sich zurück. „Geht das auch was genauer?“

Alec knirschte lautstark mit den Zähnen. „Du stellst eine Menge lästiger Fragen, Erin!“

„Das ist eine meiner positivsten Eigenschaften“, erklärte sie mit einem Grinsen, das sicher strahlend wie die Sonne gewesen wäre, hätte sie noch genügend Kraft dafür aufbringen können. Stattdessen wirkte es matt und machte mehr als deutlich, dass ihr Körper immer schwächer wurde.

„Schon einmal von Mystica gehört?“, wollte Alec wissen, während er mühevoll das dumpfe Gefühl in seiner Magengegend zu ignorieren versuchte.

„Ich glaub, meine Mutter hat mir mal von diesen geheimen Provinzen erzählt“, entgegnete Erin zögernd. „Aber ich weiß nicht genau …“

„Es lag auf keltischem Gebiet“, meinte Alec. „Na ja, wenn man’s genau nimmt, nannte man es damals noch nicht wirklich keltisch. Das haben erst die Römer eingeführt. Die Menschen damals hatten keinen universellen Namen für das Gebiet.“ Er schwieg einen Moment. „Aber Mystica lag im Norden des heutigen Frankreich, ganz in der Nähe des Stammes der Morini.“[3]

Erin sah ihn einen Augenblick einfach nur, ehe sie schließlich zu kichern begann. „Du bist Franzose?“

Alec rümpfte die Nase. „Kelte, Erin! Kelte!“ Er schüttelte den Kopf. „Konzentrier dich.“
 

Erin wirkte, als wollte sie noch etwas hinzufügen, vielleicht eine spitze Bemerkung oder irgendein stereotypisches Klischee, indem sie von Baguettes und Baskenmützen zu erzählen begann, doch sie hielt sich zurück. Stattdessen fragte sie, nun wieder deutlich ernster: „Hatte Neyo ein gutes Leben?“

Alec zog seine Mundwinkel nach unten. Er hasste es aus tiefstem Herzen, überhaupt darüber nachzudenken.

„Manchmal schon“, antwortete er schließlich. „Eine Zeit lang war er fast schon überzeugt, endlich mal glücklich zu sein. Aber es war nicht von Dauer.“

Erin nickte leicht. „Hat er vieles in seinem Leben bereut?“

Alec ließ es sich nicht nehmen, lautstark mit den Zähnen zu knirschen und ihr somit mehr als deutlich zu machen, dass ihm der Verlauf des Gesprächs mit jeder Minute immer weniger zusagte, doch wie so oft ließ sich Erin nicht davon beeindrucken. Sie starrte ihn erwartungsvoll an und schien absolut bereit, eher hier und jetzt zu sterben, als Alec die Antwort zu ersparen.

„Weißt du, Erinya, ich brauche deine Erlaubnis nicht, um dich zu verwandeln“, erinnerte sie der Vampir in einem drohenden Unterton. „Treib es also am besten nicht zu weit!“

Sie musterte ihn daraufhin unbeeindruckt. „Du würdest dich niemals gegen meinen Willen an mir vergreifen! In dieser Hinsicht hast du ein viel zu weiches Herz, auch wenn du das niemals zugeben würdest.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, hat Neyo vieles in seinem Leben bereut?“

Alec seufzte auf. „So einiges.“

„Was zum Beispiel?“

Alec rieb sich die Schläfen. „Na ja, er hat es bereut, nicht mehr aus seinem Leben gemacht zu haben. Er war ein ziemlicher Nichtsnutz, musst du wissen. Er lebte am Rande der Gesellschaft und selbst, als ein wohlhabender Mann ihn bei sich aufnahm, war er immer noch ein Diener. Er hat es niemals geschafft, sein Potenzial voll auszuschöpfen. Ein Narr, ohne jeden Zweifel.“

„Und doch klingt er sympathisch“, erwiderte Erin. „Ich hätte ihn gerne kennengelernt.“
 

Alec spürte, wie sich in seinem Inneren alles verkrampfte. Er wusste, dass sie nur darauf herumritt, um ihn zu quälen und aus der Reserve zu locken. Bei jedem anderen hätte er schon längst einen Schlussstrich gezogen und wäre gewalttätig geworden oder hätte sich zumindest zurückgezogen. Aber bei Erin war ihm das einfach nicht möglich. Stets sah er das kränkliche und ausgemergelte Gesicht von Melina vor sich, wie sie ihn mit letzter Kraft geradezu anflehte, ihrer Tochter einen schrecklichen Tod zu ersparen.

Und sosehr ihm dieses Mädchen auch auf die Nerven fiel, so wollte er sie doch um nichts in der Welt auf diese grausame Art und Weise sterben sehen.

„Wie war er so?“, wollte sie wissen.

„Neyo? Wie gesagt, ein Nichtsnutz und ein Narr!“

Erin schnaubte. „Ein bisschen mehr brauche ich schon, Alec!“, entgegnete sie. „Haben die Leute ihn gemocht? Hat man sich bei Problemen und Sorgen an ihn gewandt? Oder war er ein Charmeur und Lügner, so wie du?“

Alec lehnte sich zurück. „Er war ganz und gar nicht wie ich“, zischte er. „Er hatte zwar ein freches Mundwerk, aber er war zuvorkommend und freundlich. Ihn hat es interessiert, wie es anderen Menschen ging. Er hat sich für die eingesetzt, die er liebte.“ Alec verengte seine Augen zu Schlitzen. „Wie gesagt, ein Narr!“

Erin aber lächelte, als sie sich näher zu ihm beugte und flüsterte: „Ich glaube, ihr beide habt mehr gemeinsam, als du ahnst.“
 

Alec verengte seine Augen zu Schlitzen. „Habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich dich hasse, Erinya?“

Erin lachte auf, aber es war weder spöttisch noch herablassend, sondern es klang ehrlich und herzlich. Ehe er sich versah, strich sie mit ihrer Hand sanft über seine Wange und entgegnete: „Danke, Alec. Ich bin sicher, du hast noch nicht mit vielen über Neyo gesprochen, nicht wahr? Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass ich eine Ausnahme bin.“

„Aber es ändert nichts, stimmt’s?“ Alec vermochte es bereits an ihrem Tonfall zu hören.

„Ich werde mich niemals in einen Vampir verwandeln lassen“, stellte sie noch ein letztes Mal klar. „Auch wenn es wirklich süß ist, dass du es so angestrengt versuchst.“

Alec knirschte mit den Zähnen. „Und warum musste ich dir dann diesen ganzen Mist erzählen? Wolltest du mich einfach nur quälen?“

„Ich wollte einfach nur mal den wahren Alec kennenlernen, verstehst du?“, hakte sie nach. „Ich wollte nicht sterben, ohne zu wissen, wie du wirklich bist.“

Sie beugte sich vor und legte ihre Lippen auf die seinen.

Nur ganz kurz, ein winziger Augenblick.

Und es fühlte sich an wie ein Abschiedskuss.

„Ich hasse dich immer noch“, flüsterte Alec, nachdem sie sich wieder etwas zurückgelehnt hatte.

Erin lächelte daraufhin. „Dann wirst du mich wenigstens niemals vergessen.“

Sie starb am 24. Januar 1926.
 


 


 

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[1] Das „Krisenjahr“ 1923 war der erste große Tiefpunkt der noch jungen Weimarer Republik. Die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen, die immer stärker werdende Hyperinflation und die damit einhergehende Entwertung des Geldes sowie die zahllosen Aufstände im ganzen Land stürzten die Demokratie in eine schwere Krise.

[2] Der „Hitler-Ludendorff-Putsch“ am 9. November 1923 in München war der Versuch der Nationalsozialisten, die krisengeschüttelte Regierung umzustürzen. Der Aufstand scheiterte jedoch und Hitler wurde für mehrere Monate ins Gefängnis geschickt, wo er begann, „Mein Kampf“ zu verfassen.

[3] Die Morini waren ein keltischer Volksstamm, der am nördlichen Küstengebiet Galliens angesiedelt war und 53 v. Chr. durch Julius Caesar in das Römische Reich eingegliedert wurde.
 

So, mein zweiter Oneshot innerhalb weniger Tage! Gut, diesen hier (und auch den letzten) hatte ich schon vor Ewigkeiten angefangen und jetzt auch endlich mal die Muse gefunden, sie zu beenden ^^ Ich hab auch noch ein paar andere angefangene OS auf meinem PC liegen, wo es mich gerade unter den Finger kitzelt, sie zu beenden - mal schauen, wie weit ich damit komme ;)

Dann hoffe ich, dass dieser Oneshot einigermaßen gefallen hat! Ich hatte den Charakter von Erinya schon vor einiger Zeit ausgearbeitet und hatte überlegt, ihn in "Vergeltung" zu verwenden, fand dann aber, dass er nicht so wirklich da rein passt. Zumindest nicht unbedingt als Hauptprotagonist. Ein Gastauftritt ist dennoch im Bereich des Möglichen ;p
 

So, euch dann noch einen schönen Sonntag!



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2014-10-03T16:24:02+00:00 03.10.2014 18:24
So, endlich zum Weiterlesen gekommen. Keinen Urlaub mehr zu haben, ist echt unpraktisch. |D
Und es hat sich mal wieder voll gelohnt. Man weiß zwar an sich schon mehr über Neyo als Erin hier erfahren hat, aber es war trotzdem schön, Alec dabei zuzusehen, wie er sich abmüht, da ein paar Informationen heraus zu rücken.
Dieses Verhältnis der beiden hast du auch super hinbekommen. Das wirkt sehr harmonisch und dynamisch. Sie scheint mit ihm auf Augenhöhe zu sein und so versteht man voll und ganz, warum es Alec so viel bedeuten würde, wenn er sie verwandeln dürfte.
Dass sie da bis zum Ende standhaft bleibt, spricht für sie.
Und dieser Abschiedskuss. Hach... wunderbar. Ich mag die Gute jedenfalls. Ihre Standhaftigkeit gegenüber ihm, obwohl er doch ein Vampir ist, der die Kunst des Verführens durchaus beherrscht. ;)
Sehr schön. Hat mir gefallen, schon die ganze Grundstimmung ist schön. *~*
Antwort von:  Nochnoi
04.10.2014 12:37
Ja, die Zeit zwischen Urlaub/Ferien ist immer nervig, nicht wahr? ;p

Aber freut mich, dass es dir gefallen hat ^^ Ich wollte einfach mal diverse Beziehungen außerhalb der Familie beleuchten und da kam mir dann die Geschichte um Erin gerade recht.
Von:  SamAzo
2013-03-06T23:08:52+00:00 07.03.2013 00:08
Oh nein... hier hatte ich vollkommen vergessen zu kommentieren.
Leider weiß ich auch gar nicht mehr, was ich schreiben wollte...
Aber es gefiel mir!
Mag es halt, wenn Neyo mal wieder ausgegraben wird, auch wenn der Grund kein so fröhlicher ist. Wobei er unter anderen Umständen sicher nicht so einfach*hust* davon erzählt hätte.

[Aber... wie eng kann Alec eigentlich seine Augen zusammen'schlitzen'? Weil... das macht er zweimal direkt hintereinander... ohne zwischendrin aufzuhören.]


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