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Fear

Niemand kann der Furcht entkommen
von

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„So. Setzen Sie sich. Sie heißen Timothy Sneider, richtig?“

Kopfschütteln.

„Falsch. Ich bin Fear.“

„Jaja, im Internet nennen Sie sich Fear, aber im wirklichen Leben, auf der Straße, da heißen Sie Timothy Sneider.“

Süffisantes Lächeln, Aufblitzen schneeweißer Zähne.

„Nein. Ich bin auch auf der Straße Fear. Timothy Sneider heiße ich ausschließlich auf dieser Plastikkarte. Aber ich kann von so jemandem wie Ihnen nicht verlangen, das zu verstehen.“

„Ich soll Sie aber verstehen. Also, warum nennen sie ihren fiktiven vor ihrem wirklichen Namen?“

„Das tue ich nicht.“

„Aber dann sind sie ja doch Timothy Sneider.“

„Nein. Ich BIN Fear. Timothy Sneider sind ohne Sinn aneinander gereihte Buchstaben, die meine Erzeuger sich ausgesucht haben, um mich rufen zu können.“

„Und… der Name Fear hat einen Sinn?“

„Oh ja. Aber Fear ist kein Name. Namen sind nur Schall und Rauch. Fear ist ich.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Wie ich bereits sagte, ich kann von ihnen nicht verlangen, das zu verstehen. Aber vielleicht werden sie es irgendwann.“

„Wann? Können Sie es mir nicht einfach erklären? Wie sind sie auf den Namen gekommen?“

Schmunzeln.

„Sie verstehen es dann, wenn sie bereit sind, es zu verstehen. Und Fear ist kein Name.“

„Ich bin bereit, es zu verstehen!“

„Nein. Um bereit zu sein, müssen sie über den Tellerrand schauen.“

Geschocktes Schweigen.

„Ich…“

„Und um über den Tellerrand zu schauen, müssen sie ihre festgelegten Denkmuster ablegen. Ich versichere ihnen, dass sie mich ganz bestimmt nicht anhand dieser lächerlichen Tabelle verstehen können.“

Kurzes Rascheln von Papier, das über eine Holzplatte gezogen wird.

Abfälliges Schnauben.

„Nein, ganz sicher nicht… Wie lange machen Sie diesen Job schon?“

„Seit… ääh… einem halben Jahr.“

„Und da brauchen sie noch eine Liste, auf der sie Symptome abhaken? Und eine Tabelle, die die unterschiedlichen Kombinationen Namen zuordnet? Nein… Krankheiten. Nicht Namen. Ihr Mediziner seid gar nicht so unvernünftig. Ihr benennt das Wesen der Dinge.“

„Nun ja, ich…“

„Pschtpscht.“

Kopfschütteln.

„Sagen Sie ihrem Chef, dass er sich die Mühe mit der Wanze hätte sparen können. Er hätte das Diktiergerät gleich hierher auf den Tisch stellen können. Es hätte denselben Effekt gehabt.“

Das Knacken von zerbrechendem Leichtmetall. Ein erschrockener Japser.

Dumpfes Grollen in der Stimme.

„Nur wäre ich nicht so sauer gewesen, wie ich es jetzt bin. Und nehmen Sie den Knopf aus dem Ohr. Wir benötigen keine Anweisungen ihres Chefs.“

Resigniertes Seufzen. Das Krachen zersplitternden Plastiks.

„So. Jetzt sind wir ungestört. Sind Sie immer noch bereit, mir zuzuhören?“

„Ja, ja, selbstverständlich…“

Knacken einer Wirbelsäule.

„Gut. Als erstes möchte ich ihnen sagen, dass ihr Verdacht richtig ist. Ich habe den Rattenkönig getötet.“

Scharfes Luftholen.

„Sie… Sie haben Charles E. Garber umgebracht?! W-warum?“

„Charles E. Garber. Richtig. So stand es in seinem Ausweis. Aber er war der Rattenkönig.“

„Rattenkönig…?“

„So haben ihn seine Leute genannt.“

„Weiß ich, weiß ich…“

„Der Begriff beschreibt sein Innerstes perfekt, also habe ich ihn übernommen. Verstehen sie jetzt?“

„Was?“

„Also nein. Schön. Es hätte mich auch überrascht, wenn dem so gewesen wäre.“

„Aber warum?!“

„Nicht so hastig. Zu dem Warum kommen wir am Ende der Geschichte. Zuerst möchte ich Ihnen erzählen, wie ich Fear wurde. Denn ich war nicht immer der, der ich heute bin.“

„Häh?“

„Pschhhh… Ich erzähle es Ihnen.“

Tiefes Durchatmen.

„Als kleiner Junge lebte ich mit meinen Eltern in einem wunderschönen kleinen Vorort. Damals war ich Dove. Denn mein Heim zog mich an, wie eine Taube von ihrem Schlag angezogen wird. Und ich war unschuldig, von reinstem Weiß. Doch eines Abends kam ich vom Fußball nach Hause, und meine Eltern riefen mich ins Wohnzimmer. Wir hätten einen Gast, sagten sie. Da saß er, auf unserem Sofa. Und unterhielt sich mit meinen Eltern. Ich setzte mich zu ihnen, wollte mitreden, verstand aber nicht, worum es ging. Nach einigen Minuten wurde mein Vater laut und knallte sein Bierglas auf den Tisch, dass es in tausend Scherben zersprang. Der kalte Gerstensaft breitete sich rasch über die gläserne Tischplatte aus. Mein Vater stand auf, meine Mutter fasste ihn zaghaft am Arm, um ihn zurückzuhalten. Doch er reagierte nicht, sondern beleidigte den Besucher. Der erhob sich wutschnaubend und verließ ohne eine Erwiderung das Haus.

Meine Mutter räumte die Scherben weg und wischte den Biersee auf, mein Vater ging duschen. Ich wurde von meiner Mutter ins Bett gebracht. Doch ich spürte, dass der heutige Tag für mich noch nicht zu Ende war. So lag ich wach, und wartete, bis ich spürte, dass ich genau jetzt aufstehen musste. Ich ging zum Schlafzimmer meiner Eltern, die Tür stand offen, und Mondlicht fiel auf mich, als ich im Rahmen stehen blieb. Der Besucher stand am Fußende des Bettes, mit dem Rücken zu mir. In seiner Hand ruhte eine Smith & Wesson 686, 7-Schuss-Trommel und Schalldämpfer. Mein Vater starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Meine Mutter schüttelte stumm flehend den Kopf. Der Besucher krümmt den Finger, und meine Mutter warf sich mit einem kurzen Schrei vor meinen Vater. Es gab keinen lauten Knall, nur ein leises Zischen. Das Projektil durchschlug die Kehle meiner Mutter. Sie verblutete in meines Vaters Schoß, ohne die Chance, ihre unglaublichen Schmerzen herauszuschreien. Der Besucher jagte meinem Vater drei Kugeln ins Gesicht. Dann schoss er auf die Brust meiner Mutter, doch sie zuckte in exakt jenem Moment, und er traf das Herz nicht. So zielte er nun auf ihre Stirn, drückte ab und traf. Einem Moment starrte er sie zufrieden an, dann wandte er sich um und erschrak, als er mich sah. Ich sah ihm in die Augen. Er grinste und hob seine Waffe. Sein letzter Schuss traf meinen Bauch. Ich sah an mir herunter. Es blutete, doch nicht stark. Langsam zog ich das Projektil mit meinen Fingernägeln aus meinem Körper uns betrachtete es, wie sich das Mondlicht auf seiner blutverschmierten Spitze brach. Dann sah ich ihn an. Und sah die Furcht in seinem Blick. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, und er floh durch die hinter ihm liegende Balkontür.“

Grinsen.

„An jenem Abend wurde ich zu Fear. Ich hatte erkannt, dass er mich fürchtete. Und ich wollte, dass er von nun an keine Ruhe mehr finden würde.

Ich wuchs von nun an in einem Heim auf. Behauptete, den Mörder nicht erkannt zu haben. Ich achtete darauf, dass ich mindestens einmal in jeder Woche zufällig seinen Weg kreuzte. Und ich sah ihm die Angst an, wenn mein Blick hin und wieder seinen traf. Ich schlich mich in seinen Gesellschaftskreis ein. Blieb aber unwichtig genug, um harmlos zu erscheinen. Ich war nur ein Hehler und ein Dieb, der für Menschen mit höheren Positionen in seiner Hierarchie arbeitete. Und doch sah ich immer die Angst in seinem Blick. Eines Tages bekam ich den Auftrag, einen meinen Nebenbuhler auszuschalten. Ich versenkte ihn, gefesselt an einen Amboss, mit dem ich ihn vorher bewusstlos geschlagen hatte, im Hafen. Er wurde nie gefunden, warum auch immer. Zwei Tage später wurde ein Killer auf mich angesetzt. Ich stellte mich ihm in einer Seitengasse. Er starb durch sein eigenes Messer. Nach jenem Tag belästigte er mich nicht mehr. Inzwischen kannte ich seinen Namen, aber auch, dass er der Rattenkönig war.

Dann war er verschwunden. Ich erfuhr, dass er wegen Paranoia in eine Nervenheilanstalt gebracht worden war. Vier lange Jahre wartete ich auf ihn. Als er entlassen wurde, stand ich auf der anderen Straßenseite. Er sah mich, und die Furcht überzog sein Gesicht. Doch er schaffte es bis zu dem Taxi, das ihn abholen sollte. Am Abend brach ich durch die offene Balkontür in sein Haus ein. Dort stand ich, bis er durch die Tür trat. Er ließ sein Bierglas fallen, als er mich sah. Es zersprang in tausend Scherben. Ich sagte ihm, er solle sich ins Bett legen. Er tat es, zitternd vor Furcht. Ich zog eine Smith & Wesson 686 mit einer 7-Schuss-Trommel aus der Manteltasche und schraubte den Schalldämpfer auf den kurzen Lauf. Eine Kugel zog ich aus der Hosentasche. Ich fragte ihn, ob er sie kenne. Er war zu keiner Antwort fähig. Ich erklärte es ihm. Es war dieselbe Kugel, die er mir damals in den Bauch geschossen hatte. Ich schob sie in die Trommel und schoss sie ihm in den Bauch. Eine Kugel in die Kehle. Eine neben das Herz. Drei ins Gesicht. Eine in die Stirn.“

Lächeln.

„Haben Sie noch Fragen?“

Geschocktes Keuchen.

„D-der Zettel… wa-warum…?“

„Ah, der Zettel. ‚Niemand kann der Furcht entkommen.’ Die Angst ist die stärkste Waffe, die dem Feind gegeben ist. Und er muss noch nicht einmal einen Finger krumm machen. Sie wirkt von ganz allein.“

Knarzen eines Stuhls.

„Verstehen Sie mich jetzt?“

„N-nein…“

„Sagen Sie, glauben Sie, dass ich ein Verrückter bin?“

„Nein, um Himmels Willen, niemals!“

„Soso. Schade.“

Würgen. Keuchen.

Stille.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2008-03-07T16:37:48+00:00 07.03.2008 17:37
Ich bin beim stöbern zufällig auf diese Geschichte gestoßen und finde es wirklich schade, das hier bisher nur ein Kommentar geschrieben wurde. Du hast wirklich mehr verdient.
Die Geschichte hat mich vom ersten Augenbhlick an gefessselt, du hast einen wunderbar fesselnden Schreibstil. Auch wenn es im Grunde nur der Dialog zwischen zwei Personen war, konnte man nicht vom Text ablassen, bis er zu Ende war.
Es war wirklich interessant "Fear" beim erzählen zuzuhören und auch die REaktion des Psychoanalytikers war durchaus nachvollziehbar. Auch wenn die Situation nicht wörtlich beschrieben wurde, hatte ich sie deutlich vor Augen: Einen zunehmend verstörten Psychoanalytiker und einen völlig gelassenen Mörder.
Zu bemängeln habe ich eigentlich nichts, mir sind nur ab und an kleine Tippfehler aufgefallen, die aber nicht weiter stören. Eine wirklich gelungene Kurzgeschichte.
Von:  Duke_Poem
2007-10-15T20:27:31+00:00 15.10.2007 22:27
Wow, das ist wirklich psycho. Keine schöne Geschichte, also ich mein die Vergangenheit des Mörders und dass er sie ohne Gefühl erzählt. Als ich es mir durchgelesen hab, hatte ich so ein nervenaufreibendes Gefühl im Nacken gehabt. Der arme Psychoanalytiker tut mir leid, man kann deutlich lesen, dass er geschockt und auch etwas verängstigt ist. Der Schreibstil passt exzellent zu der Geschichte, knapp, nicht zu ausschweifend und immer auf das Wichtigste bezogen. Hehe, mal eine andere Seite meiner lieben Elfe, nech? *knuff*
Ich wüsste gern, wie es weitergehen könnte, wenn dieser Fear seine jetzige Umwelt so verunsichern kann. *brrr*


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