Zwang
Leise schleicht Zero durch die Nacht…Es ist windig und sein langes schwarzes Haar flattert im Wind. Man hört nur seine hallenden Schritte, die immer schneller zu werden scheinen.
Vor ihm fliegt ein rotes Glühen…Der rote Schmetterling führt ihn durch die finstere Nacht…
Er hat ein Ziel vor Augen, ein bestimmtes Ziel…und dieses Ziel versucht er so schnell wie nur möglich zu erreichen. Aus seinem Gehen, wird ein Laufen und aus seinem Laufen ein Rennen…
Er muss wissen, was los ist. Was hat es mit dem Mädchen bloß auf sich??
Endlich vernimmt er einen schattenhaften Umriss…das Haus. Er bleibt davor stehen und sieht wie der Schmetterling durch das große Loch in der Tür fliegt…Es ist so still hier…nicht einmal das Krächzen von Raben. Kein einziges Geräusch…Und er fühlt wie das Haus ihn zu sich zieht…Da öffnet sich die Tür knarrend wie von Geisterhand. Und eine übermenschliche Macht schleift ihn hinein…
Das Geständnis
Im Haus ist es dunkel und Zero tastet die Wand nach dem Lichtschalter ab. Als er ihn findet drückt er drauf, doch der Kristallleuchter geht nicht an. Komisch…am Tag ging es noch…und wo ist dieser verdammte Schmetterling?
Plötzlich wird er von jemand im Dunkeln hektisch an die Wand gedrückt.
„Was machst du hier??“
Karyu…
„Wieso bist du mir gefolgt, Karyu? Das ist meine Angelegenheit…“
Der Gitarrist sieht ihm tief in die Augen. Aber er weiß, dass Zero es ihm nicht sagen wird.
„Ich mache mir Sorgen um dich Zero…Was suchst du hier mitten in der Nacht?? Seit gestern bist du so seltsam…“
„Es geht mir gut. Bitte, geh wieder.“
„Ich will aber wissen, was…“ Zero legt dem anderen den Finger auf den Mund. Er will darüber nicht reden. Jetzt wo er mit Karyu ungestört und allein im Dunkeln steht, kommt ihm etwas ganz Anderes in den Sinn…
„Schhhh…“
Langsam zieht der Bassist Karyu an sich näher heran und leckt sanft über seine geschmeidigen Lippen. Karyu genießt es und öffnet leicht den Mund. So nutzt der andere die Chance für einen Zungenkuss. Dieser erwidert den Kuss sehnsüchtig. Sie küssen sich lange und werden immer leidenschaftlicher. Sie wollen gar nicht mehr aufhören…Wie lange wollten sie das schon? Schon seit dem ersten Mal, wo sie sich gesehen haben? Zu lange…
Zero braucht Luft und drückt den anderen leicht etwas weg. Erst jetzt, wo sie sich geküsst haben, erkennt er wie sehr er doch schon Karyu verfallen ist. Natürlich wusste er schon seit längerem insgeheim, dass er Gefühle für ihn hat…aber…vorher stand das nie so richtig fest. Doch jetzt ist es ihm glasklar und er würde am Liebsten seinen Freund gleich wieder küssen, aber es geht nicht…
„Karyu…geh jetzt bitte…sonst verliere ich mich noch. Ich bin hierher gekommen, weil ich etwas erledigen muss. Das ist sehr wichtig…“
Der Gitarrist streicht über Zeros Wange.
„Nein…ich will bei dir bleiben. Und jetzt sag mir bitte, was hier los ist.“
Zero kann es nicht….er kann ihm es nicht sagen…Was ist wenn Karyu dann in Gefahr gerät? Immerhin stimmt hier spürbar in diesem Haus etwas nicht…Außerdem will er nicht, dass er von Karyu aufgehalten werden könnte.
Klirr! Etwas ist in einem hinteren Zimmer zu Bruch gegangen. Ist hier etwa noch jemand im Haus? Nervös hebt Karyu seine Taschenlampe, die er mitgenommen hat, und leuchtet in die Richtung wo der Lärm kam.
„Ich glaub im hinteren Teil des Hauses ist jemand, vielleicht ein Einbrecher…ich geh nachsehen. Hier nimm die Taschenlampe und sei vorsichtig.“
Karyu drückt Zero eine zweite Taschenlampe in die Hand und gibt ihm bevor er geht noch ein Kuss auf die Wange.
„Gib Acht, Karyu…“
Da hört er wieder das Flattern von Flügeln. Oben am Geländer des 1. Stockes kann er den leuchtend roten Schmetterling erkennen. Er will also, dass er da hochgeht…Das heißt, dass der Lärm in dem anderen Zimmer nur ein Ablenkungsmanöver für Karyu sein sollte…
Er beeilt sich und läuft die alte zerbrechliche Treppe hoch. Hinter sich bemerkt er, wie die Treppenstufen in sich zusammenbrechen. Das ist wahrscheinlich Hizumis und Tsukasas Rumgetrampel am Vortag zu verdanken…aber wie soll er denn wieder runterkommen?
Oben angelangt, sieht er es. Das Mädchen steht mitten im Gang und starrt ihn wie üblich an.
„Hi…“, bringt Zero leise hervor.
„Hey wo bist du??!!“ Panisch rennt unten Karyu umher und sucht nach Zero.
Das Mädchen dreht kurz ihren Kopf in die Richtung von Karyus Rufen und starrt dann wieder hartnäckig Zero an.
Dieser dreht sich um und huscht zum Geländer.
„Hier oben bin ich, Karyu!“
Karyu rennt in den Hauptraum und schaut nach oben. Gerade will er die Treppe nehmen, als er erkennt, dass sie zerstört ist.
„Aber wie willst du denn wieder runterkommen??! Die Treppe ist kaputt!“
„Mach dir keine Sorgen ich bleibe noch etwas oben und dann komme ich wieder runter zu dir! Wir werden schon einen Weg finden! Und wenn ich wieder bei dir bin, werde ich dir alles erzählen! Vertrau mir!“
„Na gut…aber…beeil dich und pass auf dich auf...und ähm…ich liebe dich, Zero.“
„Ich liebe dich auch, Karyu.“
Zero lächelt ihn strahlend an und zwinkert ihm zu…am liebsten würde er sofort über das Geländer springen und den Gitarristen umarmen. Er ist so glücklich…endlich haben sie es sich gesagt…und ihm ist es jetzt völlig egal, dass Karyu ein Mann ist…aber er muss jetzt herausfinden was es mit dem Mädchen auf sich hat. Nachher kann er solange an den Gitarristen denken wie er will, aber er muss erst das hier erledigen.
Glücklich lächelt Karyu mit hochrotem Kopf zurück und bekommt Bauchkribbeln…Er hat es gesagt….Er hat sich nach langer Zeit endlich getraut…Er könnte einen Luftsprung machen und die ganze Welt umarmen und wartet unten schon ganz hibbelig auf Zeros Rückkehr…
Ein Spiel
Zero wendet sich wieder dem Mädchen zu…aber es hat sich in Luft aufgelöst. Wo ist es jetzt? Halt…da ist etwas. An der Stelle, wo das Kind stand, liegt der Plüschhase. Hat sie ihn etwa vergessen? Zögernd geht Zero zu der Stelle und hebt den Hasen auf. Er klammert ihn fest an seinen Körper. Das arme Mädchen…wie es wohl so jung gestorben ist?
Da taucht das Mädchen wieder an dem Eingang zu einem anderen Zimmer auf und beobachtet ihn schüchtern halb hinter dem Türrahmen versteckend. Als Zero aber vorsichtig zu ihr geht, rennt sie weg. Dasselbe spielt sich im nächsten Zimmer ab. Entweder es hat Angst vor ihm oder es will ihn irgendwo hin führen…Beim viertem Raum sieht er nur noch den Saum des Kleides die Treppe zum 2. Stock huschen. Es will also, dass er nach oben geht…
Während Zero mit dem kleinen Mädchen Fangen spielt, wartet Karyu immer noch ungeduldig unten. Wie lange muss er denn noch warten? Plötzlich ertönt im Nebenzimmer eine traurige beruhigende Melodie…Was ist das? Der Gitarrist geht in das Zimmer und leuchtet mit der Taschenlampe zu einer Musikdose. Die Musikdose ist schön verziert und in der Mitte tanzt eine kleine Ballerina. Das sie nach so langer Zeit noch funktioniert? Entspannt setzt sich Karyu auf einen Sessel, schließt die Augen und lauscht der unheimlichen Melodie…
Im 2. Stock folgt Zero das Mädchen noch ein bisschen weiter bis es irgendwann stehen bleibt. Es schaut ihn und dann das Plüschtier an. So geht Zero zu ihr und kniet sich vor ihr hin.
„Den hier hast du wohl vergessen.“, sagt Zero fürsorglich und reicht ihr den Hasen.
Sie nimmt den Hasen mit einem dankenden Nicken zu sich und hält ihn in den Armen.
„Ich bin Zero…und wie ist dein Name?“
Er wartet vergeblich auf eine Antwort und bewundert ihre roten Augen. Er hat vorhin noch gar nicht diese roten Augen gesehen, da er noch nie so nah bei ihr war. Schöne Augen…ob sie wie Karyu rote Kontaktlinsen trägt oder haben das Geister so an sich?
„Ich sehe in deiner Gegenwart oft einen roten Schmetterling. Ist er ein Freund von dir oder bist du der hübsche Schmetterling?“
Wieder keine Reaktion…
„Bitte rede mit mir…Wieso verfolgst du mich? Was willst du von mir?“
Flehend schaut er das Mädchen an, doch statt eine Antwort zu bekommen, geht es auf ihn zu. Was hat es vor? Das Kind umarmt ihn und er nimmt es väterlich entgegen. Sie ist als Geist bestimmt sehr einsam in diesem verlassenden Haus…ohne Eltern und Freunde…Deshalb ist sie immer so traurig…kleines trauriges Mädchen…Aber komisch, dass sie sich so warm und lebendig anfüllt. Er dachte, Geister wären ganz anders…
In Gedanken versunken bemerkt Zero nicht, wie das kleine Mädchen seinen Rollkragen vorsichtig runterzieht und er bemerkt auch nicht, wie sie ihren Mund öffnet und ihre Eckzähne länger werden…Er bemerkt erst etwas, als es zu spät ist.
Auf einmal spürt er einen starken fast unerträglichen Schmerz am Hals. Was ist denn jetzt los?? Was macht das Mädchen?? Er will sich losreizen und schreien, aber der Schmerz ist zu stark und seine Kräfte schwinden. Nein…er hätte nicht herkommen sollen. Er hätte niemals…herkommen sollen…
Nach einer halben Minute lässt das etwas ihn los und er fällt rücklings zu Boden. Am Hals fühlt er eine warme Flüssigkeit runterlaufen. Verstört schaut er in das Gesicht des Mädchens und sieht ihren Mund voller Blut…seinem Blut…und nicht nur auf ihrem Mund, auch auf ihrer weißen Bluse. Natürlich…wieso…wieso ist er nicht früher draufgekommen...? Genau in die Falle getappt…Und er dachte, es wäre ein harmloser kleiner Geist…wie dumm. Sie ist ein Monster, ein Vampir!
Zero gerät in Panik und will weg von ihr. Nur weg von diesem kleinen Monster. Geschwächt zieht er sich am Boden zum nächsten Raum. Er muss weg hier…schnell…immer den Blick auf das Mädchen gerichtet…
Und zum ersten Mal verändert sich der Gesichtsausdruck des Kindes. Es lächelt…es folgt ihm und lächelt ihn an…Er kann die spitzen Eckzähne erkennen und überall auf ihren Zähnen ist sein Blut…es ist so viel das es sogar aus ihrem Mund tropft…Oh mein Gott…Wie viel Blut hat sie getrunken??
Beim Voranziehen tastet er mit einer Hand seinen Hals ab und als er seine Hand wieder zurückzieht ist sie voll von Blut. Sein Rollkragen ist schon ganz durchnässt. Mist…die Blutung hört nicht auf…er wird verbluten…
Total ausgelaugt, keuchend und schon ganz vernebelt kommt er in den Raum mit dem Geländer an. Er zieht sich mit letzter Kraft daran hoch, dreht sich um und stützt sich halb. Sehen kann er fast nichts mehr…nur noch verschwommene Bilder. Ein paar Meter von ihm entfernt erkennt er einen weißen Fleck…das Mädchen.
Die Spieldose hört auf zu spielen und Karyu steht mühsam vom Sessel auf. Er wäre beinahe eingenickt…Wo bleibt Zero nur? Er dreht die Dose auf, aber sie geht wohl nicht mehr. Komm schon, blödes Ding…
Immer noch an dem Geländer lehnend probiert Zero etwas zu sagen. Doch er muss erstmal Blut husten. Dann fängt er an angestrengt zu flüstern.
„Ok…mich hast du erwischt…gewonnen…aber…bitte…bitte. Ich flehe dich an…Karyu…tu Karyu nichts…du hattest schon deine Mahlzeit…“
Nach diesen gestammelten Worten fängt das Mädchen an zu kichern.
„Armer, armer kleiner Zero…sind das wirklich deine letzten bemitleidenswerten Worte? Du tust mir echt Leid.“
Da spürt Zero wie das Geländer hinter ihm nachlässt und wie er fällt…und fällt…und fällt… immer tiefer in seinen besiegelten Tod…
Karyu legt die kaputte Spieldose wütend wieder auf das Regal. Nichts mehr zu machen…Da hört er auf einmal ein Krachen im Hauptraum. Aber nicht nur ein Krachen vernimmt er, es war auch das Knacken von Knochen zu hören…Das Geräusch hörte sich schrecklich an…unmenschlich schrecklich…und dann diese Stille…
Widerwillig und schockiert und mit Tränen in den Augen geht Karyu stockend in den Raum. Und da sieht er ihn…Zero liegt reglos auf den Boden…mit geöffneten Augen…und…viel…sehr viel Blut. Zero…
Schnell dreht sich Karyu um und hält die Hand vorm Gesicht. Diesen Blick kann er nicht ertragen…kein Mensch kann das ertragen…nein…nein…nein…Dann bricht er zusammen und sinkt auf den Boden. Nein…das kann nicht ein…Er muss sich erstmal übergeben und lehnt sich kraftlos an die Wand. Zero…es tut ihm Leid…so unendlich Leid…
...
„Karyu…wieso hast du es nicht selber getan?“
Das Mädchen beobachtet Karyu, wie er sich endlich nach einiger Zeit beruhigt hat und nun nachdenklich an der Wand hockt.
„Ich…bin zu schwach für so was…Ich hätte es nie tun können…Niemals hätte ich Zero umbringen können…niemals im Leben und niemals nach dem Tod.“
Er hatte es schon öfters versucht, wie im Kunstzimmer, aber die anderen Bandmitglieder waren immer in der Nähe. Und auch wenn sie nicht in der Nähe waren…er konnte es einfach nicht…
„Du bist eine Schande, Karyu. Seine eigene Schwester auffordern, jemanden umzubringen…“, sagt das Kind verächtlich und setzt sich neben Karyu.
„Ich weiß…ein Vampir darf kein Mitleid und keine Schwäche für Menschen zeigen…aber…ich liebe ihn nun mal.“
„Wieso muss ich bloß einen Bruder haben, der so ein Versager ist? Gefühle für einen Menschen entwickeln…so ein Unsinn!“ Das Mädchen steht wieder auf und sieht sich Zeros Leiche an.
„Weißt du was? Du hast echt was verpasst, Brüderchen. Er war richtig…lecker.“ Demonstrierend leckt sich Karyus Schwester den Mund sauber.
„Ach, hau doch ab! Lass mich in Ruhe!“ Zornig wirft Karyu ein Kerzenständer auf das Mädchen. Dieses verwandelt sich beleidigt in den roten Schmetterling und flattert weg.
Manchmal hasst er seine Schwester richtig...Wieso hat sie ihn früher verwandelt? Er hätte viel lieber ein normales Menschenleben gehabt…
Dann schleicht er zu Zero und legt eine Hand auf seine blasse Wange. Armer Zero…es tut ihm Leid…es ist alles seine Schuld. Er ist an Zeros Tod schuld…nur er…aber es ist andererseits auch gut so. Denn morgen…können sie wieder zusammen sein…endlich wieder zusammen…aber nicht für eine kurze Lebensdauer…nein…für ewig. Für ewig und immer.
Ja…und dann…
…und dann sind die anderen Zwei dran.
ENDE
