Zwischenspiel: Wer bin ich?
Wieso?
Wieso ist sich niemand seines Privilegs bewusst, aus freiem Willen still sein zu können?
Wieso ist sich niemand seines Privilegs bewusst, aus freiem Willen NICHT still sein zu müssen?
Wieso bin ich so anders, obwohl mich nur diese kleine Fähigkeit von jedem anderen unterscheidet?
Es gab eine Zeit, da war ich wie alle. Ich konnte mich mitteilen oder ich konnte es sein lassen. Ich konnte mit jedem reden, den ich sprechen wollte, ich konnte Smalltalk führen oder einfach lärmen. Ich konnte zuhören und das Gefühl vermitteln, zu verstehen.
Heute kann ich immer noch zuhören, nur beschäftigt sich niemand mehr mit mir, weil man sich unverstanden fühlt. Unverstanden von dem dummen Stummen, der nichts außer Starren und Schweigen kann. Der irgendwann einfach nicht mehr zuhören konnte, weil er wusste, was dann passieren würde. Dem aber irgendwann niemand mehr etwas erzählte.
Ein Teufelskreis? Mein Leben!
Ich erwarte nicht, dass man mich versteht oder erkennt, was alles in mir steckt. Ich erwarte bloß, dass man es versucht.
Man sagt, jeder Mensch ist gleich.
Man sagt, Minderheiten hätten Rechte.
Man sagt, man wolle niemanden ausgrenzen aus der schönen, neuen Gesellschaft ohne Makel.
Nur wer ist „man“?
Niemand ist „man“, denn jeder ist „irgendjemand“ und weil „man“ mich sicherlich beachtet, schaut immer „irgendjemand“ weg.
Ich will nicht jammern und ich will niemanden ändern. Wer wäre ich, um etwas fordern zu dürfen? Ich bin ja nicht einmal mehr in der Lage, von meinem Leid zu erzählen. Geschweige denn, aus eigenem Antrieb etwas zu ändern.
Hast du schon einmal das Bild „der Schrei“ von Edvard Munch gesehen?
Eine verschwommene Gestalt steht in einer lebensfeindlichen Welt unter brennend rotem Himmel. Sie scheint zu schreien, aber das Bild bleibt stumm. Ein für die Ewigkeit konservierter stummer Schrei nach Beachtung. Er wird niemals erhört werden, denn niemand kümmert sich um die verlassene Gestalt. Niemand ist in ihrer Nähe und niemand wird jemals in ihre Nähe kommen.
Man sagt, wenn man wirklich einsam ist, wenn man diesen tiefen stechenden Schmerz in seinem Inneren spürt, wenn niemand mehr zu existieren scheint... Man sagt, man fängt dann an, Ameisen zu sehen. Stumme Ameisen, die lautlos in ihrer unpersönlichen Gesellschaft verschwimmen.
Jede Ameise ist austauschbar. Fehlerhafte Ameisen werden einfach ausgetauscht und keine Ameise wird jemals etwas gegen ihre Austauschbarkeit sagen. Wie auch, ohne reden zu können. Sie fügen sich einfach ihrem Schicksal.
Bin ich fehlbar, weil ich nicht sprechen kann? Bin ich austauschbar, weil jeder Mensch das kann, was ich nicht kann? Und warum rebelliere ich nicht gegen mein Schicksal?
Man sagt, Sprache definiere den Menschen.
Ich glaube, man verliert seinen Lebenswillen, wenn man das verliert, was einen Menschen ausmacht.
Habe ich meinen Lebenswillen verloren?
Vor ein paar Minuten hätte ich sicherlich mit „ja“ geantwortet.
Vor ein paar Minuten war mein Leben aber noch ohne Ziel.