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Strangers in the Night

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Strangers in the Night

Der Wagen rollte mit gleichmäßiger Geschwindigkeit durch die Nacht. Die Straße war kurvig, der Wald erstreckte sich zwischen den Felsen, den ersten Ausläufern des nahen Gebirges, bis an den Horizont.
 

Die Kilometer rollten an Edgar vorbei. Seine Augen ruhten auf der Straße, auf dem schmalen Radius der Scheinwerfer, auf den weißen Straßenpfosten, die in monotonem Rhythmus an ihm vorbeizogen. Mit halbem Ohr lauschte er dem Radio. Melancholische Verse in österreichischem Akzent lösten die heißen südamerikanischen Rhythmen ab, die ihn eben noch zum mittanzen animiert hatten. Mittanzen – in diesem Fall hieß das, die Schultern federn zu lassen und leicht mit dem Fuß zu wippen. Das Rucken des Wagens kümmerte ihn dabei nicht. Mochte er doch in kurzen Sprüngen abbremsen und wieder nach vorne schnellen, je nachdem wie tief er das Gaspedal gerade durchdrückte. Der Wagen blieb dennoch stabil in seiner Spur, und andere Verkehrteilnehmer, die er hätte beirren können, gab es nicht.
 

Die österreichische Melancholie des neuen Liedes traf Edgar wie eine Welle kalten Wassers; der Bruch zwischen den beiden Liedern war zu schnell, zu abrupt. Er stellte das Radio kurz ab und fischte in der plötzlichen Stille eine Zigarette aus der Schachtel. Der Zigarettenanzünder des alten Wagens war schon kaputt gewesen als er ihn gekauft hatte und sein Feuerzeug gab langsam den Geist auf. Er hatte schon vor Stunden beschlossen, an der nächsten Tankstelle ein neues zu kaufen, hatte es dann aber wieder vergessen während der Wagen gleichmäßig vor sich hin rollte.
 

Die österreichische Melancholie klang erneut leise aus dem Radio während er die Zigarette rauchte, die Kippe schließlich brennend aus dem Fensterspalt warf. Bob Marley besang nun die Tränen, die es ohne die Frauen nicht gab, und Edgar ließ sich aufs neue mitreißen, hörte auf zu denken, konzentrierte sich nur mehr auf die Straße vor sich und das Lied in seinen Ohren.
 

Kilometer rollten an ihm vorbei und nirgends zeigten sich Spuren menschlicher Besiedlung. Die Voralpen waren in dieser Gegend nicht besonders dicht besiedelt, das wusste Edgar, aber er hatte nun schon seit über vierzig Kilometern kein Dorf mehr gesehen, keine Tankstelle, kein Straßenschild.
 

Das einzige Anzeichen dass Menschen je hier gewesen waren, abgesehen von der Straße und den weißen Straßenpfosten mit den schwarzen Querstreifen, war eine Turmruine die in der Ferne aus den Bäumen emporragte. Edgar schenkte ihr keine weitere Beachtung nachdem er sie einmal zur Kenntnis genommen hatte. Sie glitt an ihm vorbei ohne ihn zu berühren. Wie die Berge, wie der Wald. Die Straße bog erneut ab, überquerte eine steinerne Brücke, schlängelte sich an einem schmalen Flussbett vorbei, ehe sie einen plötzlichen Schlenker machte, und nun direkt auf den abgebrochenen Turmstumpf zuhielt.
 

Viel war nicht von dem Turm zu erkennen, auch nicht, als er langsam näher kam. Ein grauer Steinbau, glatt abfallenden Wände, eine gezackte Krone die aussah, als ob ein Stück einfach abgebrochen war. An zwei Stellen ragte das Mauerwerk noch mehrere Meter blind in den Nachthimmel.
 

Die Straße machte einen erneuten Knick, und der Turm verschwand kurzzeitig aus Edgars Blickfeld, nur um wenig später mit neuem Glanz zurückzukehren. Nun stand da nicht länger eine verfallene Turmspitze die zwischen den Bäumen hervorragte, sondern eine ganze Burg mit mehreren Türmen und Zwischenbauten, dem Anschein nach allesamt eingestürzt.
 

Der Anblick der Ruine war es aber nicht, die Edgar aus seinen Gedanken riss. Vor der Burg breitete sich ein Rastplatz aus, einer dieser herrenlosen, unpersönlichen Parkplätze, auf denen Bänke und Tische aus Holz und Stein den Jahren trotzen. Am Ende des Parkplatzes stand ein einsamer Wagen, ein kleiner roter Golf, und im Vorhof der Burg brannte ein loderndes Feuer um das herum Gestalten saßen.
 

Edgar überlegte nicht lange. Talk to Strangers – unter diesem Vorsatz stand das ganze Unternehmen. Diese Worte waren nicht unbedingt der Auslöser gewesen um diese Fahrt zu unternehmen, aber sie waren schnell zum Leitmotiv geworden. Spanien war noch fern und Edgar hatte nicht damit gerechnet, diesseits der Berge bereits im Wagen zu schlafen, aber das Feuer sah einladend aus und er hatte bereits seit Einbruch der Nacht keine Gaststätte mehr gesehen, kein Motel, nicht einmal einen Bauernhof an dem er anhalten und nach einer Unterkunft fragen konnte.
 

Mit gedrosselter Geschwindigkeit rollte er darum auf den Parkplatz, zu dem parkenden Wagen hin. Ohne sich irgendetwas dabei zu denken stellte er sich direkt neben ihn, was ein wenig den Eindruck erweckte die beiden Autos drängten sich in der Dunkelheit schutzsuchend zusammen.
 

Ohne Eile holte er seine beiden Decken von der Rückbank. Er hatte sie vor der Fahrt noch mal waschen wollen, war aber nicht mehr dazu gekommen, und dazu eine Flasche Wasser, eine halbe Flasche Wodka und das Brot und die Wurst die seine Großmutter ihm mitgegeben hatte. Nach kurzem Zögern holte er noch zwei Bierflaschen aus dem Fußraum hinter seinem Sitz und klemmte sie sich mit den Decken zusammen unter den Arm.
 

Die Nacht war unerwartet kalt. Tagsüber kletterte das Thermometer noch auf über zwanzig Grad, aber nachts näherte es sich bereits dem Gefrierpunkt. Das war immer so, um diese Jahreszeit, wenn der Sommer noch in der Luft hing, der Herbst aber bereits die Arme ausstreckte.
 

Edgar wurde wehmütig, als er sich seinen dünnen Pullover überzog und dabei an die Hitze dachte, die tagsüber noch heruntergebrannt hatte. Irgendwann mittags hatte er kurzerhand an einem See direkt neben der Straße angehalten. Die Gegend war ähnlich menschenleer gewesen wie diese hier, Thüringer Bergland oder so ähnlich, und er hatte sich einfach die Kleider vom Leib gerissen und war in Unterhosen über den See geschwommen. Danach hatte er gegessen, ein oder zwei Stunden im Schatten eines Baumes gedöst und war irgendwann weitergefahren. Der Weg war das Ziel; nichts drängte ihn, nichts erwartete ihn, außer dem sonderbaren Sagenland Spanien, über das er gar nichts wusste, wenn er ehrlich war.
 

Fröstelnd näherte er sich dem Feuer. Durch die Dunkelheit konnte er die Gestalten nun deutlicher erkennen. Ein junger Mann saß mit dem Rücken an einen verwitterten Torbogen gelehnt, dem die Spitze fehlte. Er hatte lange Haare und mochte vielleicht ein oder zwei Jahre älter sein als er. Edgar war sich nicht sicher woher er das wusste. Das Gesicht wirkte jung, war sehr schmal und er konnte keinen Bartwuchs erkennen. Aber irgendetwas an dem jungen Mann drücke Welterfahrenheit aus, Selbstsicherheit. Edgar beschloss, es auf die Art zu schieben, wie er dasaß, die Arme locker auf den angewinkelten Knien, den Kopf lässig im Nacken, gegen die Mauerreste gelehnt.
 

Ihm gegenüber saßen zwei Mädchen. Mädchen, junge Frauen – Edgar machte da keinen Unterschied. Beide saßen mit dem Rücken zu ihm, wodurch er nicht viel mehr erkennen konnte als ihren Rücke und ihre Köpfe. Beide wirkten klein und schlank und hatten braune Haare. Die eine trug ihre Haare offen und sie hingen ihr weit über den Rücken, die andere hatte sie mit glattpolierten Stäbchen hochgesteckt. Waren das ... chinesische Essstäbchen?
 

Edgar versuchte zu lauschen worüber sie sprachen, aber das leise Rascheln der Blätter im Wind übertönte die Stimmen der Mädchen. Er konnte jedoch erkennen, dass sie eine Strassenkarte aufgefaltet zwischen sich ausgebreitet hatten.

Plötzlich schlang sich irgendetwas um seinen Fuß. Edgar stolperte fast, schaffte es mit Mühe sich noch mal zu fangen. Sein Blick fiel dabei automatisch auf den Boden zu seinen Füßen. Dem Gefühl nach hätte er erwartet eine Wurzel zu sehen, aber da war nichts, nur ausgetretener Kies und ein wenig Farn. Dafür entdeckte er zwei winzige Augen, die ihn aus dem Dickicht neben dem Weg heraus anstarrten. Kaum dass er das Tier aber entdeckt hatte, drehte es sich schlagartig um und verschwand im Dickicht. Einen Moment lang sah Edgar noch den Schwanz davonhuschen, dann war die Ratte verschwunden. Wenn es denn eine Ratte war.
 

Sein ungeplantes Stolpern hatte derweilen die beiden Mädchen am Lagerfeuer aufgeschreckt. Sie standen jetzt und starrten ihn mit weit geöffneten Augen an.
 

Edgar wedelte daraufhin etwas unbeholfen mit den beiden Flaschen und dem Essen, das er mitgebracht hatte, und fragte:
 

"Ist es okay wenn ich mich zu euch setze? Ich such schon seit Kilometern nach einer Raststätte oder irgendwas und hab nichts gefunden."
 

Die Mädchen starrten ihn weiterhin unruhig an, setzten sich dann aber wieder.
 

"Ist okay" meine die Rechte, die mit den offenen Haaren. Sie schienen beide gleichfalls in seinem Alter zu sein und waren eigentlich ganz hübsch, wie er spontan beschloss.
 

"Wollt ihr was?", fragte er, Essen und Getränke in die Runde reichend, als er das Feuer errichte.
 

Die Mädchen zögerten, aber der langhaarige Mann streckte ihm ganz selbstverständlich die Hand entgegen. Als Edgar ihm das Brot reichte, brach er davon ein großzügiges Stück ab von dem er sogleich abbiss, ehe er den Rest an den Rand der Feuerstelle legte. Edgar breitete derweilen seine Decken sorgsam zwischen den Mädchen und dem Mann aus und ließ sich darauf nieder.
 

"Hi", sagte er dann selbstsicherer als er sich fühlte. "Ich bin Edgar."

"Ich bin Sophia", erwiderte das Mädchen mit den hochgesteckten Haaren freundlich, "und das hier ist meine Freundin Katrin."

"Salve", erwiderte der Langhaarige ohne aufzublicken, während er Edgar den Arm mit minimaler Mühe entgegen reichte; er hob den Ellbogen dabei keinee Handbreit von dem Knie auf dem er lag. Edgar bekam langsam den Eindruck, dass er sich nicht gerne bewegte, und der Name "Müder Joe" stieg von irgendwo aus seinem Gedächtnis empor.

"Terence", fügte der Müde Joe an den kurzen Gruß an, als Edgar seine Hand nahm.

"Weißt du vielleicht, wo wir hier genau sind?", wandte sich da Katrin an Edgar, das Mädchen mit den offenen Haaren, den Blick etwas ratlos auf die Karte in ihren Händen gerichtet.

"Tut mir leid, kein Plan", erwiderte er. "Ich komm nicht aus der Gegend, komm hier das erste mal vorbei. Ich fahr einfach, immer nach Südwesten, und schau wo mich die Straße hinträgt."
 

Katrin schien die Antwort nicht sonderlich zu interessieren. Sie war noch immer in ihre Karte vertieft. Sophia sah ihn dafür umso aufmerksamer an.
 

"Wie, du fährst einfach so Richtung Südwesten?", fragte sie. "Wo willst du denn hin?"

"Wo immer ich lande. Der Weg ist das Ziel."

"Und was machst du da?"

"Urlaub. Ich hab bis Oktober Zeit, bis die Uni losgeht, und fahr jetzt einfach zu. In den Sonnenuntergang! Nach Spanien, und dann vielleicht weiter nach Portugal, wohin immer es mich verschlägt."

"Das ist so cool!", erklärte sie ganz verzückt. "Wir besuchen lediglich meine Tante. Die hat einen Reiterhof, und wir können eine Woche bei ihr bleiben. Ausreiten!"

"Wenn wir endlich rausfinden, wo wir sind", unterbrach ihre Freundin schroff, noch immer über ihre Karte gebeugt.

"Wir sind heute schon dreimal an dieser komischen Ruine vorbeigekommen!", erzählte Sophia begeistert. "Dabei sind wir nie irgendwo abgebogen, haben nicht mal eine Abzweigung irgendwo gesehen. Wir sind einfach immer geradeaus gefahren, der Straße nach, und sind immer wieder hier gelandet. Beim dritten mal haben wir dann das Feuer hier gesehen und beschlossen hier anzuhalten und rauszufinden, was los ist."
 

Edgar warf dem Müden Joe einen kurzen Blick zu, vergewisserte sich, dass er nach wie vor mit dem Rücken an die Wand gelehnt war, den Kopf nach hinten gelegt. Edgar konnte nicht erkennen, ob er ihnen überhaupt zuhörte, oder ob er gar schlief.
 

"Ihr seid immer der selben Straße nachgefahren und immer wieder hier vorbeigekommen?", fragte er ungläubig. "Seid ihr sicher, dass ihr nicht an drei verschiedenen Ruinen vorbeigekommen seid?"

"Ja!" Katrin hatte den Blick von der Karte erhoben und sah Edgar nun direkt an. "Es war dreimal die selbe Burg. Die übrigens nirgends auf dieser Karte eingezeichnet ist. Was dafür eingezeichnet ist, sind eine Vielzahl von kleinen Dörfern und Rastplätzen und Tankstellen, die wir alle nicht gesehen haben. Stattdessen immerzu der selbe Wald, über Kilometer hinweg."
 

Dem musste Edgar natürlich zustimmen. Er selbst hatte sich schon über den vollkommen unbewohnten Wald gewundert.
 

"Gib mir mal die Karte!", sagte er bestimmt.

Katrin gab sie ihm, mit einer Geste, die deutlich machte, dass sie nicht damit rechnete, dass er mehr darauf erkennen würde als sie.

Und sie hatte recht. Edgar wusste nicht genau wo er entlang gekommen war, wo er abgebogen war, aber es gab definitiv keine Strecke in der Gegend in der er sich gerade befinden musste, an der überhaupt nichts lag.
 

"Das hat keinen Sinn", erklang da Terences müde Stimme. Er hatte mittlerweile eine offene Bierflasche in der Hand, die er kraftlos neben seinem angewinkelten Knie herunterhängen ließ.

"Ihr braucht gar nicht zu suchen. Wir sind nicht mehr auf der Karte."

"Was meinst du?", fragte Katrin skeptisch.

"Das ist die Nacht der Ratten. Wir sind nicht mehr auf irgend einer von Menschen gezeichneten Karte."

"Was soll das denn heißen?!"

"Das Tal das du hier siehst, das ganze Gebirge, ist Teil der Zwischenwelt. Ein Ort, der die Welten verbindet, ohne Teil irgendeiner davon zu sein."
 

Terences Stimme verklang in der Dunkelheit. Das Knacken des Feuers und das Rauschen der Blätter über ihnen waren die einzigen Geräusche. Edgar merkte, wie ihm eine Gänsehaut den Rücken herunter lief.

Katrin spürte wohl die selbe Spannung, denn sie sah von weiteren Einwänden ab.
 

"Und was geschieht jetzt?", fragte Sophie mit leuchtenden Augen.

"Wir warten", erwiderte der müde Terence. "Sobald der Morgen graut könnt ihr alle in eure eigenen Welten zurückkehren. Bis dahin können wir nur warten, und hoffen das die Tiefen nicht erwachen und uns finden."

"Wer sind die Tiefen?", fragte Sophia wie gebannt, aber der müde Terence hob anstelle einer Antwort die Flasche und tat einen tiefen Schluck.
 

Über ihnen erklangen heisere Schreie. "Sturmkrähen", erklärte Sophia bestimmt. Edgar konnte dazu nichts sagen. Er wusste nicht, ob es in dieser Gegend Sturmkrähen gab. Oder wie eine Sturmkrähe überhaupt klang, wenn er ehrlich war.
 

Die Schreie dauerten noch eine ganze Weile an und zehrten dabei weiter an ihren bereits gespannten Nerven. Sich selbst dafür scheltend, dass er nicht schon früher darauf gekommen war, holte Edgar sein Handy heraus. Die Hoffnung wurde jedoch schnell zerschlagen als ihm das Display zeigte, dass er hier ohne Empfang war. Langsam begann er sich doch unwohl zu fühlen. Probeweise stand er auf und lief einige Schritte, in der Hoffnung, doch wieder Empfang zu bekommen. Es war sinnlos. In gedrücktem Schweigen setzte er sich wieder an seinen Platz am Feuer.
 

"Üblicherweise verbringt man die Nacht der Ratten damit, Geschichten zu erzählen."

Terences Stimme ließ sie alle aufschrecken.

"Was für Geschichten?", fragte Sophie.

"Was für Geschichten auch immer. Kleine Geschichten, große Geschichten, persönliche Geschichten oder epische Geschichten. Es spielt keine Rolle. Jeder erzählt, was ihm in den Sinn kommt, und jeder hört zu und nimmt etwas mit zurück in seine Welt, in sein weiteres Leben."

"Du hast das schon öfter gemacht?", fragte Sophie. Edgar war sich nicht sicher, ob sie Terences Worten tatsächlich glauben schenkte oder ob sie nur so tat.

"Immer wieder", erwiderte er gleichgültig. "Es ist die einzige Art, ohne hohe Magie zwischen den Welten zu reisen, und die hohe Magie ist mir versperrt."

"Magie!", rief Sophie ganz begeistert aus. "Erzähl du als erstes, ich will mehr davon hören!"
 

Nun kam etwas Leben in den müden Terence, als er sich nach Vorne beugte, dem Feuer zu. In diesem Moment fiel Edgar seine Kleidung das erste mal bewusst auf, grobes Leder, schwarz gefärbt, mit Riemen und rauen Nähten zusammengehalten. Das verschnörkelte helle Linienmuster auf dem dunklen Leder verstärkte den befremdlichen Eindruck noch. Edgar fühlte sich an Ritterfilme erinnert, und an den Mittelaltermarkt auf dem er vor Jahren mal war.
 

Neben dem nun wachen Terence lehnte ein Schwert an der bröckligen Mauer, wie Edgar plötzlich bemerkte.
 

Mit welchem Wagen war Terence eigentlich gekommen?, ging es ihm durch den Kopf. Er hatte nur den kleinen Golf gesehen, und die beiden Mädchen schienen ihn auch nicht zu kennen.
 

"Meine Geschichte?", begann Terence. "Doch, ich habe eine Geschichte, die dem Anlass angemessen ist. Das war vor etlichen Jahren, genau kann ich es nicht mehr sagen. Der Orden, dem ich angehöre, suchte damals nach dem Schlüssel von Atlantis. Warum ist nicht wichtig, und ich kann Euch auch gar nicht mehr darüber erzählen. Wir mussten jedenfalls in die alte Stadt, und so schwärmten wir aus, alleine oder zu zweit, in hundert Welten, auf der Suche nach dem Schlüssel. Wir waren Monate unterwegs, fast zwei Jahre, bis wir ihn fanden. Mich führte der Weg damals in die Stadt Gondor. Mein Weg hatte mich erst in ein verlassenes Kloster geführt, das vor Tausenden von Jahren aufgegeben worden war, und in den alten Schriften hatte ich eine Spur entdeckt, die mich weiter in die Weiße Stadt führte, wie ihre Bewohner sie stolz nennen.

Mit dem Schlüssel, den ich für diese Suche bekommen hatte, gelangte ich auf direktem Weg dorthin, und kam gerade an als ein großer Krieg drohte die Stadt zu verschlingen. Eine finstere Armee drängte unter der Führung von schwarzen Reitern von Osten her gegen die Stadt an. Ich war einer der letzten, die überhaupt noch in die Stadt hineinkamen, ehe die Tore dicht gemacht und verriegelt wurden.

Der Schlüssel von Atlantis war natürlich nicht dort, das hatte ich auch nicht zu hoffen gewagt, aber ich verschaffte mir Zutritt zu den alten Archiven des Königs und erfuhr dort wohin ich mich als nächstes wenden konnte. Aber darum geht es in dieser Geschichte gar nicht.

Als ich die Archive wieder verschlossen und die Leichen der Wachen verborgen hatte und mich eben daran machen wollte, einen Weg aus der belagerten Stadt heraus zu suchen damit ich meine Suche fortsetzen konnte, traf ich unerwartet einen alten Freund wieder. Wir hatten Seite an Seite in Troja gekämpft, also dem zweiten Troja, das niemals eingenommen wurde, das niemals fiel. Und da standen wir uns plötzlich erneut gegenüber, in den schmalen Straßenschluchten einer belagerten Stadt. Ganz verschiedene Wege hatten uns dorthin geführt, über die wir natürlich nicht sprechen konnten, ich nicht über meine Suche, er nicht über seine. Stattdessen begannen wir, über die alten Zeiten zu sprechen, in einer kleinern Taverne, während draußen aufgeregte Soldaten in schwarzen Uniformen vorbeieilten, beim verzweifelten Versuch, ihre Stadt zu verteidigen.

Es war schon merkwürdig. Wir saßen da, bereits die dritte Flasche guten Rotwein zwischen uns, trockenes Weißbrot und gedörrtes Fleisch teilend, und erinnerten uns der Nächte, in denen wir selbst aufgescheucht von Mauerstück zu Mauerstück geeilt waren, immerzu bemüht die Feinde aufzuhalten, ehe sie die Mauer überwinden konnten. Vor dem Fenster eilten derweilen die aufgescheuchten Soldaten dieser Stadt vorbei, genau wie wir damals."
 

"Und wieso habt ihr ihnen nicht geholfen?", platzte Sophia plötzlich in die Geschichte hinein.
 

Ihre Worte rissen Edgar aus seiner Trance. Bis eben hatte er selbst jedes Wort geglaubt, war wie gebannt an den Lippen des sonderbaren Langhaarigen gehangen. Erst die plötzliche Unterbrechung hatte ihn zurück in die Realität geholt, und ihm wurde klar, dass er einem Märchen lauschte, einer Sage, einer erfundenen Heldengeschichte.
 

Beunruhigt beäugte er den Fremden in seinem sonderbaren Gewand, unsicher ob er einen phantasievollen Träumer vor sich hatte, oder einen Verrückten mit einem Schwert.
 

Was von beiden Terence auch sein mochte, auf den plötzlichen Einwand wusste er nichts zu erwidern. Es war als ob der Zauber gebrochen wäre, in den er sie mit seinen Worten eingehüllt hatte. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern und sagte:

"Es gab keinen Grund dazu. Die Stadt hatte für uns keine Bedeutung. Ob sie stand oder fiel, es machte weder für mich noch für meinen Orden einen Unterschied, und Timur ging es offenbar genauso."
 

Eine betretene Stille trat ein. Terence setzte die angebrochene Flasche Wodka, die Edgar mitgebracht hatte, an und nahm einen tiefen Schluck. Von den anderen wusste niemand etwas zu erwidern. Katrin sah ebenso unberührt drein wie Edgar selbst. Lediglich Sophia schien der Geschichte eine tiefere Bedeutung zuzumessen. Ihr schien die Wendung der Geschichte deutlich zu widerstreben, wie man in ihrem Gesicht lesen konnte, auch wenn ihr offenbar die Worte fehlten.
 

"Man muss es wahrscheinlich erlebt haben, damit man es versteht", sagte Terence ruppig, während er sich wieder zurücklehnte und den Kopf in den Nacken legte.

Die Stille wurde tiefer, schwerer. Das Rauschen der Blätter drückte schwer auf sie herab, das Knacken des Feuers erschien ungeheuerlich, bedeutungsschwanger.

Edgar nahm selbst einen tiefen Schluck aus der Flasche, reichte sie an Katrin weiter.
 

Mit einem Mal wurde Edgar bewusst, dass er eine Melodie hörte. Eine leise, geheimnisvolle Melodie, die aus dem Wald zu kommen schien. Er war offenbar nicht der einzige, der sie vernahm. Katrin sah sich nun ebenfalls suchend um. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass Nebel aufgezogen war. Dicke weiße Schwaden hingen in der Luft, zwischen den Zweigen der Bäume und den Steinen des alten Mauerwerks.
 

"Sollen wir nachsehen?", fragte Katrin. Edgar konnte die Furcht in ihrer Stimme hören.

"Ich würde es bleiben lassen", sagte der müde Terence gleichgültig. "Es lohnt sich nicht, in der Nacht der Ratten den Schutz des Feuerkreises zu verlassen."
 

Edgar maß seinen Worten keine Bedeutung zu. "Hier!", sagte er während er Katrin einen brennenden Ast als Fackel reichte. Selbst griff er sich einen stabilen Knüppel aus dem Stapel Holz, der neben dem Feuer aufgeschichtet war.

Zu dritt machten sie sich auf die Suche nach sonderbaren Musiker, den sie tatsächlich bald fanden. Auf einem niedrigen Mauerrest, vielleicht hundert Meter von ihrem Feuer entfernt, auf der anderen Seite der Burgruine von wo aus man den Feuerschein nicht sehen konnte, saß ein Mann und spielte Gitarre. Edgar schätzte ihn auf Mitte bis Ende zwanzig. Er war groß und kräftig gebaut, unrasiert, und hatte einen langen Pferdeschwanz. Irgendwie erinnerte er auf den ersten Blick an Terence, obgleich er ihm mit seiner einfachen Jeans und seine schwarze Lederjacke von der Stange überhaupt nicht ähnlich sah.
 

Äste knackten laut bei jedem Schritt, den die drei unternahmen, und als sie ihn endlich fanden, blickte er ihnen bereits mit wachsamen Augen entgegen.
 

"Ich wusste nicht, dass hier irgendjemand ist", begrüßte er sie.

"Wir sitzen auf der anderen Seite der Burg, an einem Feuer", erwiderte Edgar. "Willst du dich zu uns setzen? Du kannst uns ja was vorspielen."
 

Hinter Edgar flüstere Sophie leise ihrer Freundin zu: "Vielleicht sollten wir ihn nicht einladen. Terence hat doch eben was von schützendem Feuerkreis gesagt. Vielleicht kann er uns nichts tun, solange wir ihn nicht an unser Feuer einladen."
 

Ihre Freundin erwiderte darauf gar nichts, sondern hielt die Fackel ruhig, und beäugte den Neuankömmling abschätzend.
 

"Ich bin Edgar", sagte Edgar, als sie gemeinsam zum Lagerfeuer zurückgingen. "Ich bin eigentlich auf dem Weg nach Spanien, aber irgendwie hat es uns alle hier heute Nacht zusammengetrieben, und jetzt sitzen wir am Feuer und erzählen Geschichten."

"Luis", erwiderte der Mann mit der Gitarre. "Ihr könnt mich Luis nennen. Um die Zeit im Jahr zieht es mich immer hier raus, in die Wälder. Es ist irgendwie eine magische Zeit im Jahr, nicht?"
 

Edgar konnte das nicht beurteilen, wenngleich ihm der ganze Abend zunehmend magisch vorkam.
 

Als sie zurückkamen, war Terence nicht mehr alleine. Neben ihm lag ein großer schwarzer Kater zusammengerollt am Feuer.
 

"Wir haben noch mehr Gesellschaft bekommen", sagte er, als sie sich wieder zu ihm setzten.
 

"Ich seh's", erwiderte Edgar kühl. Die Art des müden Terence begann ihn zunehmend zu reizen. "Das hier ist Luis. Er spielt Gitarre."
 

Der Wodka machte die Runde und sie begannen das Brot und die Wurst zu essen, die Edgar mitgebracht hatte. Terence steuerte selbst ebenfalls Brot bei, und er hatte frisches Fleisch in einem Lederbeutel, den er am Gürtel trug. Das schnitt er mit einem langen Messer in Streifen, die sie über dem Feuer brieten. Luis steuerte noch eine Flasche Whisky bei, die er bei sich hatte, und sie aßen und tranken schweigend.
 

"Willst du keine Geschichte erzählen, Barde?", fragte Terence dann.

"Ich kann keine Geschichten erzählen", erwiderte Luis. "Aber ich kann etwas spielen, wenn ihr wollt."
 

Niemand erhob Einwände, und er begann zu spielen. Es war eine leise Melodie, die Edgar an einen Bach erinnerte, und nachdem er sich eingespielt hatte begann Luis zu singen.
 

Er hatte eine unerwartet hohe Singstimme, und er sang leise in einer fremden Sprache die Keltisch sein mochte, oder auch nicht.
 

Sie lauschten seinen Versen schweigend, ohne sie zu verstehen. Nach einer Weile musste Edgar jedoch an weitläufige Seen denken, und an schöne Frauen, die in teuren Gewändern aus dem Nebel heraustraten, um kostbare Gaben zu überreichen. Irgendetwas an dem Lied sprach wohl tief vergrabene Bilder in seiner Seele an. Als Luis verstummte und seine Gitarre beiseite legte, war Edgar ganz wehmütig zu Mute.
 

"Das war schön, irgendwie traurig, und fast magisch", sagte Sophia begeistert. "Du bist ein echter Poet!"
 

"Leider nur um diese Zeit des Jahres", erwiderte Luis traurig. "In Nächten wie dieser, zwischen Sommer und Herbst, nicht mehr das eine, noch nicht das andere, kommt es einfach über mich, und es ist, als ob die Musik in mir steckt und aus mir herausdrängt. Ansonsten bin ich ein lausiger Spielmann."
 

"Auf den Spätsommerpoeten", sagte Terence da feierlich, und erhob die inzwischen schon fast leere Whiskeyflasche im Gruß.
 

"Ich will jetzt auch eine Geschichte erzählen", sagte Sophia mit leuchtenden Augen, als sie auf das schwere Los des verhinderten Spielmanns angestoßen hatten.

"Meine Geschichte", begann sie, während sie die schwere Katze auf den Schoß nahm, die dies gnädig geschehen ließ, "ist die Geschichte eines grauen Wolfs, der ein Engel ist."
 

Während sie sprach, begann sie die Katze hingebungsvoll zu streicheln. Ein genussvollen Schnurren begleitete ihre weiteren Worte.
 

"Ich hab die Geschichte noch nicht ganz fertig und hab erst die ersten zwei Kapitel aufgeschrieben. Bisher erfahren die Leser nur, dass ein Mädchen aus unserer Welt sich im Traum verirrt und schließlich in der Welt Chi'Nan erwacht. Sie ist natürlich völlig verwirrt, und weiß nicht, was sie hier soll, oder was sie als nächstes machen soll. Sie erfährt dann aber in dem Kloster, wo sie erwacht ist, dass es eine alte Prophezeiung gibt. Genau in dem kleinen Felsgarten, in dem sie aufgewacht ist, soll die Sternträgerin erscheinen, wenn die Welt in Gefahr ist, und sie retten!

Miriam zweifelt zunächst an der Prophezeiung, aber weil sie nicht weiß, was sie sonst machen soll, folgt sie dem jungen Mönch Quin'Shu in die Berge, zum Orakel von Tibeth, wo sie beide erfahren, wo sie als nächstes hin müssen. So weit hab ich aber noch nicht geschrieben. In Wirklichkeit geht's in der Geschichte aber um Minh, den Engel, der aus dem Himmel herabgeschickt wurde, um den Aufstieg des schwarzen Drachen Lophir zu verhindern. Engel dürfen eigentlich gar nicht mehr auf Chi'Nan sein, und darum musste sie sich verwandeln, und sie hat sich dann in den großen grauen Nebelwolf Minh'Gir verwandelt. Miriam und Quin'Shu treffen sie dann später zufällig, und sie rettet ihnen das Leben, und die drei ziehen von da ab gemeinsam umher. Miriam und Quin'Shu müssen den 'Lichtboten' finden, um Lophir zu stoppen, und ziehen immer weiter auf der Suche nach ihm durch das Land, ohne zu wissen, dass er sie schon lange gefunden hat und die ganze Zeit an ihrer Seite ist. Und ganz zum Schluss kommen sie dann an den Hof des schwarzen Königs Rahman, der über die gesamte Welt herrscht, oder zumindest den bekannten Teil davon, das weiß ich noch nicht so genau. Sie übernachten dann an dem Hof, und werden nachts von Minh'Gir geweckt, die furchtbar winselt und an der Wand kratzt. Sie finden dann eine Geheimtüre, und gelangen durch einen Geheimgang auf ein Felsplateau außerhalb der Burg, drei Kilometer über dem Talboden, wo Rahman seine Tochter opfert, um zum Gott aufzusteigen. Die Opferung können sie nicht mehr verhindern, und der Körper des bösen Königs verbrennt und ein schwarzer Drache schlängelt sich daraus hervor, bestimmt zweihundert Meter lang. Er breitet die Flügel auf, und will gen Himmel aufsteigen, aber da enthüllt Minh'Gir seine wahre Gestalt. Bisher weiß noch niemand, dass sie überhaupt sprechen kann, denn das hat sie immer geheim gehalten, aber jetzt ruft sie den beiden Kindern zu, sie sollen zurück in den Gang gehen, aus dem sie gekommen sind, und dann verwandelt sie sich in ihre wahre Form zurück, in einen weiß strahlenden Engel, und fliegt dem schwarzen Drachen hinterher. Die beiden bekämpfen sich in der Luft, es kommt zu einem wilden Kampf zwischen dem weiß leuchtenden Engel aus purem Licht und dem riesigen schwarzen Drachen mit den langen schattengleichen Flügeln. Schließlich besiegt der Engel den Drachen, wird aber selbst tödlich verwundet und stürzt auf das Plateau nieder, wo die Kinder wieder zu ihm hinlaufen. Sie spricht noch ein paar Worte, Miriam umarmt sie, drückt sie eng an sich, die ersten Tränen laufen ihr herunter, und dann stirbt Minh. Die beiden Kinder beerdigen sie, Miriam nimmt den silbernen Ohrring mit dem grauen Nebeledelstein mit, den Minh schon als Wolf immer im linken Ohr hatte, und sie kehren in das Kloster zurück, wo Miriam sich wieder in dem Steingarten zum Schlafen legt, und im Traum findet sie dann den Weg zurück in ihre eigene Welt."
 

Der Höhepunkt der Erzählung war mit dem Tod des Engels erreicht. Sophias Augen leuchteten richtiggehend, und ihre Stimme zog alle in ihren Bann. Aber dann, als dieser Höhepunkt überschritten war, als der Engel begraben war, verflog der Zauber, ganz so als fühle sie sich dazu verpflichtet, den Schluss zu erzählen, auch wenn es sie nicht mehr wirklich berührte.
 

Stille setzte ein, nachdem sie geendet hatte. Das Feuer knackte, die Blätter rauschten. Und dann hob der Kater, der die ganze Zeit schnurrend auf Sophias Schoß gelegen war, den Kopf und sah sie direkt an. Sein rechtes Auge war milchig weiß, drei Narben zogen ihre Spur durch das pechschwarze Fell, direkt über das Auge hinweg. Das andere Auge leuchtete geisterhaft grün. Seine Zähne glitzerten elfenbeinfarben in der Dunkelheit, als er das Maul öffnete. Sie waren lang und Spitz, wie kleine Dolche.
 

"Wieso hat Minh den beiden Menschen nicht von Anfang an verraten, dass sie ihn schon gefunden haben?", fragte er.
 

Es störte sich niemand daran, den Kater sprechen zu hören. Die Zweifel kamen erst später, nach der Nacht, als sie voller Staunen, einige auch mit Schaudern, zurückdachten und überlegten, ob das alles tatsächlich geschehen war. Für den Moment genügte es, dass der Kater mit ihnen am Feuer saß. Also durfte er sich auch am Gespräch beteiligen.
 

"Minh wusste ja nicht, was die beiden Kinder suchen, daher hatte sie auch keinen Grund!"

"Und wieso folgt sie ihnen dann, wenn sie doch eigentlich eine dringende Ausgabe hat?"

"Weil sie nicht weiß, wo sie den schwarzen Drachen finden soll, und es daher egal ist, ob sie mit den Kindern gemeinsam loszieht oder alleine."

"Und was wäre geschehen, wenn der Drache den Himmel erreicht hätte?"

"Dann hätte er die ganze Welt beherrscht, als schwarzer Gott!"

"Aber er war doch bereits der Herrscher der ganzen Welt, der König, wenn ich mich nicht verhört habe."

"Ja, aber er war kein schwarzer Gott!"

"Und wo ist der Unterschied?", fragte der Kater.

"Als schwarzer Gott würde er die Welt in die Dunkelheit stürzen, während er so lediglich egoistische Anordnungen erlassen konnte."

"Und wieso konnte Minh nicht einfach im Himmel auf ihn warten, und ihn bekämpfen, sobald er hochgestiegen kommt?"

"Weil die Prophezeiung sagt, dass die Sternträgerin kommen muss, damit der schwarze Drache vernichtet werden kann."

"Und was hat die Sternträgerin im Endeffekt gemacht?"

"Sie hat den Engel, also das Licht im übertragenen Sinn, in die Burg des Königs gebracht, 'getragen'."

"Die Aufgabe der Sternenträgerin war also", fasste der Kater noch einmal zusammen, "das Licht, also den Engel, in die Burg des bösen Königs zu bringen, damit der Engel gegen den Drachen kämpfen konnte. Und wegen der Prophezeiung konnte der Engel den Drachen nur so besiegen."

"Genau", erklärte Sophia etwas verlegen.

"Und woher kommt die Prophezeiung dann?", fragte der Kater, mit selbstgefälligem Triumph in der Stimme.

"Die war einfach da."

"Wie, einfach da? Hat sie niemand aufgeschrieben, niemand das erste mal prophezeit?"

"Doch, schon", gestand Sophia ein, "aber das war vor langer Zeit.."
 

"Lass sie in Ruhe!", fuhr Katrin da den Kater an. "Sie hat sich viel Mühe gegeben mit der Geschichte, und auch wenn ein paar Sachen nicht so gut sind, dann ist sie immer noch besser als das, was die anderen Leute in ihrem Schreibkurs produzieren!"

"Davon musst du mich erst überzeugen", sagte der Kater selbstgefällig. "Das ist keine leichte Aufgabe, der sie sich da stellen müssen!"
 

"Sophias Schreibkurs", begann Katrin daraufhin. "Sie hat mich einmal mitgenommen, und wenn es irgendwo auf der Welt, in irgendeiner Welt, einen Raum gibt, wo die klügsten, gebildetsten Köpfe des ganzen Planeten vereint sitzen, dann ist dieser Raum wahrscheinlich auf der anderen Seite des Planeten!

Tut mir leid, Sophia, wenn ich das so direkt sage, aber ich fand den Kurs furchtbar!

Das ging mit dem Professor los. Der Kurs ist bei uns an der Uni, irgend so ein Germanist macht das, entweder in seiner Freizeit oder als Teil seines normalen Kursprogramms. Es ist auch egal. Dieser Typ kommt also rein, drei Minuten zu spät, stellt seine braune Ledertasche vor sich auf den Tisch und fängt erst mal an, minutenlang darin rumzukramen. Über dem ganzen Raum liegt eine angespannte Stimmung, alle warten darauf, dass der Professor uns bemerkt, dass er unsere unwürdige Existenz zur Kenntnis nimmt. Schließlich schließt er die Tasche, stellt sie umständlich neben sich auf den Boden und sieht uns alle der Reihe nach an. Zumindest wenn man nach seinen Kopfbewegungen geht. Seine Augen sieht man nämlich nicht. Die verschwinden komplett unter dichten, buschigen Augenbrauen. Genau wie der Mund, der hinter einem dicken Schnauzbart verborgen liegt.

Offenbar hat er uns nun lange genug angestarrt, denn er beginnt zu sprechen. Oder vielmehr zu nuscheln. Ich war zwei Stunden in diesem komischen Seminar, und ich hab ehrlich gesagt kein einziges Wort von dem verstanden, was er gesagt hat. Wobei, das stimmt nicht! Ein Wort hab ich klar und deutlich verstanden: Hölderlin. Ungefähr hundert mal. Wir haben dann angefangen die Texte zu besprechen, die die einzelnen 'Autoren' produziert haben, und egal worum es ging, dieser merkwürdige Professor hat in jedem einzelnen Satz mindestens zwei mal auf Hölderlin verwiesen!"

"Hey!", rief Sophia ihr da zu, während sie ihr freundschaftlich gegen die Schulter boxte. "Das ist gemein!"

"Aber wahr!", erwiderte Katrin, bevor sie sich wieder an alle richtete.

"Professor beiseite, die anderen 'Autoren' waren auch nicht besser. Wir hatten da einen unsicheren Jungen, der total verklemmt war und wahrscheinlich noch nie näher als fünf Meter an ein Mädchen rangekommen ist, der eine Geschichte über einen unsicheren jungen Mann geschrieben hat, der wahrscheinlich noch nie näher als fünf Meter an eine Frau rangekommen ist. Aus dem nichts kamen dann plötzlich irgendwelche Nixen, die im Schwimmbad um ihn herum geschwommen sind, und alle mit ihm schlafen wollten, auch wenn sie es nie so direkt gesagt haben.

Und dann war da noch der Dichter: Wüllsten schwülse wülstesuchend, wühlte schwüllend wüllste wollen! Bevor ihr mich jetzt alle blöd anstarrt" – (und das taten sie durchaus) – "das ist ein Originalzitat aus seinem Meerzyklus. Wortwörtlich! Sophia hat mir ihre Kopie nach dem Kurs gegeben, und ich hab's mir ausgeschnitten und aufs Klo gehängt, weil ich einfach nicht riskieren wollte, das nochmal zu verlieren!

Und dann war da noch der Eremit. Stellt euch folgende Situation vor: Auf einem Betonpfeiler über einer Autobahn lebt seit hundert Jahren ein Eremit. Er kann sich nicht bewegen, ist schon vor langer Zeit wahnsinnig geworden, und verflucht die moderne Zivilisation, die in Gestalt des niemals abbrechenden Stroms von Autos der Grund für sein tragisches Prometheusleben ist.

In Rückblenden erfahren wir dann, wie er auf die Brücke gekommen ist, vor hundert Jahren, vor einem Lebensalter. Er war damals nach vielen Jahren in der Stadt, in der er als Kind gelebt hatte. Er kam zufällig in die Gegend und hat beschlossen, einen ausgedehnten Spaziergang zu machen, in alten Erinnerungen zu schwelgen. Anfangs war auch alles ganz natsukashii, er hat sich daran erinnert, wie seine Kindergärtnerin ihn verhauen hat, weil er ein Fahrrad gestohlen hat, irgendwelche belanglosen Kindheitsdetails halt – entweder schlecht erfunden, oder der Autor hatte selbst die langweiligste Kindheit, die je ein Mensch hatte. Das wird dann wieder in Rückblenden erzählt, also praktisch Rückblenden aus der Rückblende heraus. Schließlich klettert er auf diesen Betonsteg, auf dem er als Kind wohl immer über die Autobahn geklettert ist, um hundert Meter Weg zu sparen, und stolpert, bricht sich das Bein. Er liegt stundenlang da, kann nicht aufstehen, nicht zurück an den Rand robben, und seine Schreie verklingen ungehört ob des unaufhörlichen Lärms der Autos. Die Zivilisation als Ausdruck kaltherziger Gleichgültigkeit und Unmenschlichkeit, oder so ähnlich. Und folgerichtig tut ihm die Natur dann auch nichts, denn er bleibt ja am Leben, hundert Jahre lang. Er friert, erfriert aber nicht, hungert, verhungert aber nicht, und dann kommen noch zehn Seiten absolut sinnlosen Philosophierens, die unser gescheiterter Eremit in den Stunden nach seinem Unfall betreibt, bevor die Geschichte irgendwann wieder zu dem mittlerweile vollkommen wahnsinnigen Wrack zurückspringt, das er mittlerweile geworden ist, dessen Denken auf basale Körperfunktionen reduziert wurde: Würmer essen, Regenwasser trinken, und, sobald ein Leser vorbeikommt, sich in einem Moment plötzlicher Klarheit demonstrativ an die Zeit erinnern, als sein Exil begann..."
 

"Nun, das ist eine Geschichte, dir mir gefällt", schnurrte der Kater, der mittlerweile wieder auf dem Boden saß. Sophia empfand offenbar kein Bedürfnis mehr, ihn auf dem Schoß zu halten oder ihn zu streicheln. "Eine Geschichte voller feinstem Spott, die die Dummheit und Unfähigkeit der Dummen und Unfähigen beschreibt, offenbart, vor allen sichtbar ausbreitet! Du bist eine echte Geschichtenerzählerin, Menschin!"
 

Katrin ignorierte den Kater, der ihr offenbar zunehmend unsympathisch wurde.

"Wobei", sagte sie stattdessen, den Kopf nachdenklich zur Seite geneigt. "Eins muss ich allerdings eingestehen. Es gibt einen Teil des Meerzyklus, der mir wirklich etwas gegeben hat. Damals in dem Kurs hab ich das letzte Gedicht gar nicht richtig bemerkt. Die wüllsenden Schwüllsten haben alles andere einfach verdrängt. Den Abschnitt hab ich dann ja ausgeschnitten und bei uns zuhause im Klo aufgehängt. Den Rest hab ich einfach weggeschmissen. Leider. Das letzte Gedicht war nämlich wirklich gut. Ich kann mich leider überhaupt nicht mehr daran erinnern, an keine einzige Zeile, und Sophia hat auch keinen Kontakt mehr mit dem Autor. Ich weiß nicht, was genau drin gestanden ist, aber ich hab die Bilder immer noch in meinem Kopf, die es bei mir geweckt hat. Kristallklares Wasser, keine Hand tief, über wunderschönen Kieselsteinen. Weißen Sonnenlicht, das auf die Wasseroberfläche trifft, und alles darunter in ein weiß strahlendes Paradies verwandelt. Wellen, einfach nur Wellen, die auf zerklüftete Felsen prallen, wogend, wallend. Doch, ich wünschte, ich hätte den Teil des Blattes auch aufgehoben!"
 

"Langweilig!", erklang die gelangweilte Stimme des Katers, noch ehe sie fertig gesprochen hatte. "Du hast so gut angefangen, wunderschöne Ironie, bester Sarkasmus – für einen Menschen, versteht sich – und jetzt diese Gefühlsduselei. Wenn's wenig echte Gefühle wären, authentische Gefühle, aber dazu seid ihr Menschen ja offenbar nicht in der Lage!

Ich denke, ich bin dran, eine Geschichte zu erzählen."
 

Der müde Terence nahm einen weiteren tiefen Schluck aus Whiskeyflasche, ohne sich dabei mehr zu bewegen, als notwendig war, indem er die Flasche mit einer Hand an den Mund legte, und dann senkrecht aufstellte. Luis öffnete die letzte Bierflasche, die Edgar mitgebracht hatte. Von einem leisen Zischen begleitet sprang der Kronkorken ins hohe Gras. Edgar brach ein Stück Brot ab und steckte es auf einen Stecken, um es ins Feuer zu halten.
 

"Ich werde euch nun eine Geschichte erzählen, die Menschen niemals zu hören bekamen. Es ist eine Geschichte meines eigenen Volkes, und eine wahre Geschichte.

Irgendwo da draußen, zwischen den Welten, hinter dem breiten Fluss, liegt die verlorene Stadt. Das ist den Menschen gleichfalls bekannt. Was die Menschen jedoch nicht wissen ist, dass die verlorene Stadt noch einen zweiten Namen trägt: Die Stadt der Katzen!

Keiner weiß genau, wie diese Stadt aussieht, oder wo sie liegt, denn niemand kehrte jemals von dort zurück. Wir wissen lediglich, dass sie hinter dem breiten Fluss liegt, und diesen Fluss suchen wir, unsere ganzen sieben Leben lang. Denn der, der diese Stadt einmal gefunden hat, wird sie nie wieder verlassen wollen.

Diese Stadt, müsst ihr wissen, ist das Paradies. Menschen haben sie einst gegründet, in grauer Vorzeit. (Euer Volk ist durchaus zu etwas gut, das will ich keinesfalls abstreiten!) Wir wissen nicht, was aus diesen Menschen wurde. Vielleicht starben sie alle, fielen einer Krankheit zum Opfer. Oder sie gingen weg. Eine Dürre traf das Land, oder eine Hungersnot, oder eine jener Krankheiten, die ihr Menschen auf diese Welt getragen habt, seit es euch gibt: Pest, Cholera, Aids.

Wie dem auch sei, die Menschen verschwanden, aber die Stadt blieb bestehen. Es war der perfekte Ort, das Paradies auf Erden. Zuerst kamen die Mäuse, dann die Ratten, und schließlich die Vögel. Erst waren es nur wenige, aber sie wurden immer mehr, binnen weniger Jahre. Wir wissen nicht, woher sie alle kamen, aber sie wurden immer mehr. Es war ein perfektes Leben. Wann immer wir Hunger bekamen, wann immer wir etwas zum Spielen suchten, wir fanden es stets ohne Mühe. Zugleich blieben wir jedoch vor all den Grausamkeiten verschont, die ihr uns anzutun pflegt, kurz nachdem ihr uns streichelt und drückt. Kein Mensch lebte mehr, der unsere Jungen in bunten Beuteln ertränken konnte, keine eurer sogenannten Autos fuhren mehr, die so viele von uns überrollen und genüsslich zerquetschen! Wir waren die Herrscher, wir waren die Könige, wir waren die Götter!

Seit dreihundert Jahren bin ich nun schon auf der Suche nach diesem Paradies! Ich bin durch die Kammern vergessener Pyramiden geschlichen, war in den nebelverhangenen Hintergassen jener legendären Stadt, die niemals war und niemals wirklich sein wird, des wahren London. Ich habe den Styx überquert, den Rubikon, den Jordan, all jene Flüsse, denen ihr Menschen so viel Gewicht beimesst, und habe nichts gefunden, was sich zu suchen lohnte. Zara'Dum stellte sich aus Enttäuschung heraus, genau wie jenes mythische Land hinter dem Wandschrank. Hinter den Spiegeln war ich, und bin durch den Hasenbau gekrochen. Mehr als saftiges, köstliches Hasenfleisch, jung und zart, fand ich auch dort jedoch nicht. Atlantis ward eine Sackgasse, und die Stadt Nod genauso.

Mein siebtes Leben ist nun bereits angebrochen, und ich bin noch keinen Schritt weiter. Der Traum entzieht sich mir wie zuvor, wenige Schritte nur hinter dem Horizont, den zu erreichen mir nicht gelingt.

Das stimmt nicht! Einmal schaffte ich sogar das, mit Mühe nur, vor der Küste Ceylons. Das Meer erstreckte sich in alle Ewigkeiten, und der Horizont schien mir weiter als je zuvor. Doch je weiter du dich von etwas entfernst, umso näher kommst du ihm. Ihr Menschen werdet das nicht begreifen können, in eurem einfältigen Denken, seid ihr doch auf Hilfsmittel angewiesen, wie Stöcke, Bücher, oder dieses mysteriöse Konzept des Geldes. Wie funktioniert das bloß?! Ihr einigt euch auf eine Lüge. Ein Klumpen gelben Metalls, das jeder finden kann, der nur tief genug in der Erde buddelt, bekommt den Wert kostbaren Fleischs und wunderbaren Bieres. (Nebenbei, könnt ihr mir mal etwas davon hier auf den flachen Stein gießen? Meine Kehle wird langsam trocken vom sprechen.) Das kann ich noch verstehen! Hör zu, sagt ihr, ich gebe dir diesen wertvollen Stein und du gibst mir das junge Kaninchen, das du da hast. Listig ist der, der sich gegen die Schwachen und Tumben durchzusetzen vermag! Aber wieso seid ihr alle so dumm, das Metall oder die bunten Zettel anzunehmen, die man euch anbietet?! Was macht ihr denn, wenn niemand sie mehr will? Dann habt ihr gutes Fleisch hergegeben, und leckeres Bier, und habt nichts mehr! Wollt ihr dann das Metall essen? Nicht dass man Metall nicht essen kann, das freilich, aber schmeckt es denn irgendjemandem außer den Steingolems von Dir'Daraith?! Verzeiht, aber eure Spezies macht mich wahnsinnig, und ich kann es kaum erwarten die Stadt gefunden zu haben, die ihr verloren habt!"
 

Der Kater hatte sich in Rage geredet, und atmete heftig, nachdem er verstummt war. Luis hatte ihm tatsächlich etwas Bier auf den flachen Stein vor ihm gegossen, wo es in Rillen und Rinnen hängen geblieben war. Begierig leckte der Kater das thürische Schwarzbier nun auf.
 

"Du warst in Nod?", erklang die Stimme des müden Terence, nun hellwach. Seine Augen musterten den Kater wachsam unter den gesenkten Lieder.

Der Kater ließ sich nicht in seiner Ruhe stören, trank genüsslich sein Bier zu Ende, und erwiderte dann den Blick des Menschen mit seinem grün leuchtenden Auge.
 

"Da war ich in der Tat. Dort, und noch an vielen anderen Orten."

"Kannst du mir den Weg weißen?", fragte der wachsame Terence. "Ich möchte dorthin gelangen."

"Das könnte ich in der Tat tun", erwiderte der Kater gelangweilt. "Aber warum sollte ich? Was haben Menschen jemals für mich getan?!"

"Wir haben das Bier gebraut, das du eben trinkst", schlug der wache Terence vor. "Wir haben die Stadt gebaut, die du so sehnsüchtig suchst..."

"Weißt du etwa, wo sie liegt", fragte der Kater, nun ebenso aufmerksam wie sein Gegenüber.

"Wie sollte ich das?", erwiderte der spöttisch. "Hast du nicht eben selbst gesagt, kein Mensch wüsste wo diese Stadt liegt.."

Der Kater wandte den Blick gelangweilt ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Stein vor ihm.

"Kann ich noch etwas Bier haben?", fragte er.

"Nein", erwiderte Terence und packte, so schnell, dass niemand außer dem Kater die Bewegung überhaupt sah, den Arm von Luis. Dieser begann schmerzhaft aufzustöhnen. Der Arm sah aus, als würde er jeden Moment brechen.

"Du bekommst Bier soviel du willst, und frisches Kaninchen, wenn du mir den Weg nach Nod weißt!"

Der Kater sah ihn an, zunächst feindselig, dann gelangweilt.

"Na gut", gähnte er. "Findest du den Weg nach Cahaleth?"

"Das erste Cahaleth, oder das wahre Cahaleth?"

"Das erste, das von den Morgonen zerstört wurde."

Der wachsame Terence nickte.

"Geh dorthin, und suche den Magier Cerebroth. Er lebt in der Regierungszeit von König Salathmot. Er trägt den Schlüssel, und er weiß den Weg zum Tor. Aber du musst früh sein, denn er stirbt wenige Jahre nach seiner Initiation, nachdem Salathmot erfährt, dass er der Geliebte seiner Frau ist!"

Die Hand des wachsamen Terence löste sich von Luis' Arm, woraufhin dieser zitternd Bier auf den Stein vor dem Kater goss. Sein Gesicht war kreidebleich. Der wache Terence schenkte ihm keine weitere Aufmerksamkeit, sondern kramte ein großes Stück rohes Fleisch aus der Tasche an seinem Gürtel hervor und warf es dem Kater zu, der es in der Luft fing und dann vor sich ablegte. Dort drückte er es mit beiden Pfoten fest zu Boden, als fürchtete er, es könnte noch einmal entkommen, und begann es genüsslich zu kauen.

"Braver Kater!"
 

"Du hast mir fast die Hand gebrochen!", brauste da Luis auf. Er hatte den Schock offenbar überwunden, und kochte jetzt vor Wut.

"Krieg dich wieder ein!", erwiderte Terence gelassen, nun wieder müde an das Mauerwerk in seinem Rücken gelehnt, den Kopf im Nacken, den Blick unter halb geschlossenen Lidern hervor den Sternen zugewandt. "Ich hab getan, was ich tun musste. Dir ist nichts passiert, also trink noch was, und vergiss es einfach. Glaub mir, du willst keinen Streit mit mir anfangen!"

Neben dem müden Terence lehnte noch immer das Schwert. Es war ein einfaches Schwert, ein handlicher Griff ohne Schnörkel, eine einfache Holzscheide, die einzige Verzierung ein paar geschwungene Linien, ähnlich denen auf seiner Lederkleidung. Dieses Schwert war kein Schmuck, sondern Werkzeug. Luis schluckte seinen Zorn hinunter und verstummte.
 

"Soll ich dir sagen", erklang da plötzlich Katrins helle Stimme, "warum du die verlorene Stadt nicht gefunden hast, und auch niemals finden wirst?"

Der Kater kaute genüsslich weiter. Das Zucken seines linken Ohrs war der einzige Hinweiß, dass er sie gehört hatte. Es kümmerte sie nicht. Sie sprach einfach weiter:

"Du suchst keinen Ort, sondern einen Traum. Ein Ideal. Du suchst Gott, Atlantis, den heiligen Gral, die blaue Blume. Du suchst etwas, das nicht existieren kann, denn es ist edler als der Mensch, der danach sucht! Du bist die Ausgeburt der Niedertracht, des Egoismus, der Rücksichtslosigkeit, und sehnst dich nach einem Ort, der dir alles schenkt, wovon du jemals geträumt hast, weil dir das was du hast nicht reicht. Und glaube mir, du hast genug gehabt. Du bist eine Katze. Katzen haben leichte Leben! Was war das schlimmste, das du gegen die Menschen anführen konntest? Dass sie gelegentlich junge Katzen ertränken, und dass ihre Autos gefährlich sind, wenn man nicht aufpasst. Wir furchtbar, das arme Kätzchen muss in einer Welt leben, in der solche Dinge geschehen, dabei will es doch nur in Ruhe töten und grausame Spielchen spielen. Du, mein Freund, bist es nicht wert, dass man sich über dich ärgert. Aber eines kann ich dir hoch und heilig versprechen: Die Stadt, die du suchst, wirst du nicht finden, denn es gibt sie nicht!"

Und dann sagte sie übergangslos, um zu zeigen, dass der Kater tatsächlich keiner weiteren Aufmerksamkeit wert war:

"Und nun bin ich dran, eine Geschichte zu erzählen."
 

Der Wodka begann Edgar in den Kopf zu steigen. Die Welt um ihn herum wurde undeutlich, er bekam nicht mehr alles mit, brauchte bisweilen einige Sekunden, bis die Dinge die er hörte und sah Sinn ergaben. So auch jetzt. Irgendetwas störte ihn, ohne dass er genau sagen konnte was es war. Irgendetwas war falsch, und er erwartete, dass einer der anderen Einspruch erheben würde. Aber niemand sagte etwas, und Katrin beugte sich vor, um mit ihrer Geschichte zu beginnen.

"Aber du hast doch schon eine Geschichte erzählt!", platzte es da aus ihm heraus.

Die anderen sahen ihn unbewegt an.

"Oder ist das okay?", fragte er verlegen, "Noch eine zweite Geschichte zu erzählen?"

Der müde Terence erwiderte, nachdem klar wurde, dass sonst niemand etwas dazu sagen würde, gelangweilt:

"Du kannst so viele Geschichten erzählen, wie du möchtest, so die anderen sie hören wollen. Die Geschichten sind nur da, um die Nacht zu verkürzen, und um die Dummen und die Unvorsichtigen am Feuer zu halten."

"Warum ist es denn so wichtig, am Feuer zu bleiben?", fragte Luis.

"Die Nacht der Ratten ist voller Geheimnisse, voller Fallstricke, und mancher, der den schützenden Feuerkreis verließ, kehrte nicht mehr zurück. Die Glücklichen fallen Räubern zum Opfer, Schatten, Aha'Zith. Den Tiefen."

"Und die weniger Glücklichen?", fragte Sophie gebannt.

Terence blieb still. Sie alle warteten auf eine Antwort, und die Stille wurde so laut, dass sogar das Rauschen der Bäume an ihren Nerven zu zehren begann. Plötzlich erklang ein Schrei in der Dunkelheit, nicht von einem Tier, aber auch nicht von einem Menschen – zumindest nicht ganz.

"Die Unglücklichen", antwortete Terence schließlich, "finden den Weg zurück nicht mehr, und verirren sich im Nichtraum zwischen den Welten, in dem kein Leben existieren kann."
 

Das Schweigen der anderen dauerte fort, aber der müde Terence machte keine Anstalten, noch mehr zu verraten, Stattdessen setzte er die Whiskyflasche erneut an und nahm einen langen, gurgelnden Schluck.
 

"Erzähl deine Geschichte!", bat Luis schließlich Katrin, als die Stille unerträglich wurde.

Sie nickte, schluckte, rang nach Worten.

"Ich wollte euch die Geschichte dieses Steins erzählen", begann sie schließlich. Mit der Hand griff sie in ihren Kragen und förderte ein Lederband zu Tage. Am Ende des Bandes hing ein flacher Stein, kreisrund, mit einem Loch in der Mitte. Das Ende des Lederbands war um den Stein herum geschlungen, durch das Loch hindurch und dann erneut um das Band herum. Sie hielt den Stein so, dass sie ihn alle sehen konnten, zeigte ihn in der Runde herum, ohne das Band vom Hals zu nehmen. Der Stein war vollkommen rund, die blaugraugrüne Oberfläche glatt geschliffen. Es war schwer zu sagen, wo die eine Farbe aufhörte und die nächste begann, obgleich hellere und dunklere Adern den Stein durchliefen.

"Ich hab diese Geschichte noch nicht oft erzählt, aber das hier scheint mir der richtige Ort und die richtige Zeit dafür zu sein. Und vielleicht" – ein Blick auf Terence, der ihn aber überhaupt nicht zur Kenntnis nahm – "könnt ihr mir ja helfen, die ganze Geschichte zu verstehen.

Der Tag, an dem ich den Stein gefunden habe .. ich war damals im Haus meiner Großeltern. Meine Urgroßeltern haben es nach de Krieg gebaut. Sie haben ihre Kriegsrente damals genommen, um ein Grundstück zu kaufen. Das Grundstück lag damals total abgelegen – heute immer noch, ein ganzes Stück außerhalb von München. Es gehörte vor dem Krieg irgendjemand anderem, und dort stand wohl mal ein Herrenhaus, oder eine Villa, oder ein kleines Schloss. Ich weiß es nicht genau. Das Gebäude wurde im Krieg zerstört, zerbombt, wenn ich mich nicht irre, und es standen nur noch ein paar Teile, eine Halle hier, ein Turm da. Sie haben das dann stehen lassen, und einfach dran gebaut. Die alten Gebäudeteile wurden dann Ställe und Scheunen, ich weiß es nicht genau. Meine Großeltern haben dann nochmal dran gebaut, jedenfalls ist das Haus praktisch gewachsen. Die Werkstatt von meinem Opa stößt direkt an einen halb eingestürzten Turm mit einer steilen Wendeltreppe, die ins nichts führt. Ihr könnt es euch halbwegs vorstellen, hoffe ich. Heute sind die alten Teile alle dicht. Mein Vater hat schwere Metallplatten vor alle Löcher und Eingänge gemacht, weil das Gebäude mittlerweile stark einsturzgefährdet ist, und er Angst hatte irgendjemand würde sich da drin noch was tun. Früher, als ich ein Kind war, war das noch nicht so. Da konnte man überall hin, durch alte morsche Holztüren durch, die in braunes Mauerwerk eingelassen waren, durch ein Loch in der Mauer in den Keller runter, wo man dann an einem Regal mit alten, eingestaubten Einweckgläsern auf den feuchten Lehmboden runterklettern konnte, und von da ging es dann in einen merkwürdigen Stollen, zu klein für Erwachsene, aber groß genug für ein kleines Kind. Ganz am Ende ist eine Mauer, das weiß ich noch. Irgendjemand ist irgendwie in diesen Schacht gerobbt, ich weiß nicht wie, und hat eine Mauer eingezogen. Warum auch immer!

Irgendwo auf dem Dachboden, auf den ich nicht gehen durfte, war eine kleine Holzklappe. Das Holz war schon so morsch, dass es von alleine zersplitterte, total rissig und alles. Die eisernen Beschläge waren verrostet, so richtig alt. Auf dem Dachboden wusste ich nie genau, wo ich mich gerade befinde, und wie alt alles war, aber diese Luke und die Mauer, in der sie eingelassen war – eine unverputzte Backsteinmauer, das weiß ich noch! – gehörten offenbar zu dem Teil des Hauses, das schon vor dem Krieg gestanden war. Zumindest glaube ich das. Damals war ich noch zu klein, um über sowas nachzudenken..

Eines Nachmittags, es war ein schwülwarmer Sommertag, so wie wir sie jetzt erst hatten, und ein Gewitter hing in der Luft. Ich war wie immer, wenn wir zu meinen Großeltern gefahren sind, am erkunden, und mein Weg hat mich auf den Dachboden und vor diese Luke geführt. Ich wollte unbedingt durch. Ich habe gezogen, und gezerrt, und plötzlich ging sie auf.

Und dahinter war eine Puppenstube. Sie war vielleicht einen Meter hoch, und fein säuberlich mit blankpoliertem Holz verkleidet. Auf winzigen Stühlen saßen Stofftiere um ein kleines Tischchen herum, auf dem eine einzelne Kerze brannte."

Katrin legte eine kurze Pause ein, trank einen Schluck.

"Ich krieg heute schon Gänsehaut, wenn ich nur an die Kerze denke, die da herrenlos vor sich hin brennt, in diesem Raum voller Stofftiere, ohne jemals auszugehen. Damals hab ich mir überhaupt nichts dabei gedacht. Als Kind überlegt man nicht, dass eine Kerze von jemandem angezündet werden muss. Ich bin voller Freude über meinen Fund in diesen Raum gekrochen, durch die Luke, durch die mir keiner der Erwachsenen hätte folgen können, selbst wenn sie gewusst hätten, wo ich war. Das wusste damals natürlich keiner, wenn ich alleine auf Erkundungstour ging. An den Wänden standen kleine Spielzeugkommoden und winzige Schränkchen. Auf dem Tisch stand vergoldetes Kaffeegeschirr, blitzblank, als wäre es eben erst poliert worden. Ich kann mich an keine Spinnwegen erinnern, an keinen Staub, an nichts. Und dann lag da noch dieser Stein. Ich hatte noch nie etwas vergleichbares gesehen und hab ihn in kindlichem Eifer genommen. Plötzlich erklingt ein knarrendes Knirschen, als ob ein verrostetes Scharnier sich bewegt. Ich reiß also den Kopf hoch, und seh wie der größte Teddybär langsam, ruckend, im Einklang mit dem Knarzen, seinen Kopf in meine Richtung dreht!

Ich sag euch, ich wäre fast gestorben in dem Moment. Ich hab panisch gestrampelt und gekreischt und bin mit größter Eile aus dem Zimmerchen geflohen und hab die Luke hinter mir zugeschlagen. Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ich bin weinend zu meinen Eltern gelaufen, und meine Mama hat mich dann wahrscheinlich in den Arm genommen und getröstet.

Ich war später nie wieder auf dem Dachboden. Ich hatte immer Angst davor. Ich kann mir bis heute nichts Schrecklicheres vorstellen, als die Art, wie sich der Kopf dieses Teddybären gedreht hat. Viel später, als ich schon fünfzehn war, wollte ich es dann doch nochmal wissen, und wollte nochmal hoch klettern und nachsehen, ob die Luke tatsächlich da ist. Komisch eigentlich, die Luke an sich hätte mir vollends gereicht. Als ob ich daran gezweifelt habe, dass es sie überhaupt gibt. Aber da hatte mein Vater schon lange die Metallplatten angebracht und alles dicht gemacht. Ich hab irgendwann mal die alten Baupläne in die Hand bekommen und hab versucht herauszufinden, wo genau die Luke überhaupt sein müsste, aber es ist komisch: Meine Erinnerungen an das alte Haus decken sich überhaupt nicht mit den Bauplänen..."

Sie machte eine kurze Pause, blickte nachdenklich ins Feuer, fuhr dann fort:

"Wenn der Stein nicht wäre, würde ich sagen es war ein Alptraum. Es kommt mir heute so unwirklich vor, auch wenn ich immer noch Gänsehaut davon kriege, und manchmal träume ich von dem Bären, der mir langsam und knarrend den Kopf zudreht. Es fühlt sich mittlerweile wie ein Alptraum an, aber das ist es nicht! Ich hab den Stein! Hier, ihr könnt ihn sehen! Ich hab versucht herauszufinden, was für ein Stein das ist, und hab nichts gefunden. Es gibt scheinbar auf unserer Erde keinen Stein, der so aussieht!"
 

Sie verstummte, schwer atmend. Sie hatte zum Ende hin zunehmend erregt gesprochen.
 

"Und du hast den Stein seitdem nie mehr aus den Augen gelassen?", fragte Luis.

"Nein!", bestätigte sie.

"Kann ich den Stein mal sehen?", fragte der müde Terence gelangweilt.

Katrin nickte und beugte sich zu ihm rüber, so dass er den Stein vor sein Gesicht halten konnte ohne dass sie ihn abnehmen musste.

Er musterte ihn genau, drehte ihn mehrfach, sah ihn genau von allen Seiten an.

"Und?", fragte sie aufgeregt, als er den Stein losgelassen hatte.

Er zuckte mit den Schultern, so schwach, dass man es kaum sehen konnte. Auch weiterhin vermied er alle unnötigen Bewegung.

"Und, was sagst du?!", fragte sie erneut.

"Ich würde ihn an deiner Stelle nicht mehr abnehmen", sagte er kühl.

"Warum?", fragte Kartin, aber sie bekam keine Antwort.

Terence lehnte den Kopf zurück an die Wand, und beachtete sie nicht länger.

"Warum, habe ich gesagt!", forderte sie energisch. "Antworte mir gefälligst, wenn du etwas weißt!"

Die Stille wurde tiefer, schwerer. Edgar fand sie zunehmend unerträglich.

"Nimm ihn mit ins Grab!", erklang die raue Stimme des müden Terence schließlich. "Wenn dir irgendetwas an deiner Seele liegt, dann nimm ihn dein Leben lang nicht mehr ab. Und wenn dir irgendetwas an den Seelen deiner Mitmenschen liegt, dann lass ihn nicht in dieser Welt zurück. Nimm ihn mit ins Grab, dass er deine Welt wieder verlässt!"

Damit war das Thema für ihn abgeschlossen. Er setzte die Whiskyflasche erneut an und hob das Ende steil nach oben.

Katrins bohrende Blicke ignorierte er völlig.
 

"Du hast noch keine Geschichte erzählt", brach Luis das Schweigen nach einer Weile, wobei er Edgar ansah.

Edgar war mittlerweile schon ziemlich schummrig zumute. Der Alkohol war ihm zu Kopf gestiegen. Er brauchte einen Moment, bis er überhaupt Worte fand.

"Ich? ... Ich hab keinen Schimmer, was ich erzählen soll. Ich kenn keine Geschichten."

Er blickte lange verloren in die Dunkelheit.

"Um diese Jahreszeit muss ich immer an meinem Opa denken. Er ist da gestorben, an den letzten warmen Tagen, wenn es abends schon kalt wird. Wir hatten Nebel, damals, sobald es Abend wurde. Weißen Bodennebel, dicke weiße Schwaden, die aus den Bächen herausgekrochen sind. Wir sind jeden Tag ins Krankenhaus gefahren. Mein Opa war immer mein Held. Er konnte alles bauen, in seiner Werkstatt, Möbel, Spielzeug, Holzschwerter und Holzgewehre. Ein paar davon hab ich noch immer, die hängen in meinem Zimmer an der Wand. Und ein paar andere sind noch irgendwo in Kisten bei uns auf dem Dachboden. In der Grundschule hab ich meinem Opa immer geholfen. Ich bin bei ihm in der Werkstatt gesessen, und hab genau gemacht, was er gesagt hat. Wir haben zusammen den großen Eckschrank von meiner Cousine gemacht, und er hat mir geholfen, mein Fahrrad herzurichten. Ich hab damals ein kaputtes Fahrrad am See gefunden, das irgendjemand weggeworfen hat, und das haben wir zu zweit wieder hergerichtet. Er ist jeden Tag mit mir in den Baumarkt gefahren, und hat Schrauben und Metallstangen und eine neue Kette gekauft, und die hab ich dann unter seiner Anleitung zusammengebaut. Wir haben damals wahrscheinlich mehr für Einzelteile ausgegeben, als ein neues Fahrrad gekostet hätte, und als wir fertig waren war von dem Rad, das ich am See gefunden hab, nicht mehr viel übrig. Eigentlich nur noch der Gepäckträger und die Plastikabdeckung über der Kette.

Aber es war mein eigenes Rad, das ich mit meinen eigenen Händen gebaut habe.

Die Hände von meinem Opa haben dann angefangen zu zittern und er konnte nichts mehr machen. Ich glaube, dass das für ihn schrecklich war. Er ist dann nur noch im Wohnzimmer gesessen, den ganzen Tag über, und hat ungeduldig vor sich hin gepfiffen, oder auf der Tischplatte geklopft. Ich denke, er hat nur noch Zeit totgeschlagen, gewartet dass es Mittagessen gibt, oder darauf dass er und meine Oma abends den Fernseher eingeschaltet haben.

Ich bin dann immer gekommen, wenn irgendwas an meinem Fahrrad kaputt war, oder wenn ich irgendwas richten wollte. Er ist dann mit mir runter und hat ganz feierlich die Werkstatt aufgesperrt, als wäre es etwas ganz besonderes, und da sind wir dann gesessen, ich mit dem Werkzeug in der Hand, und er hat mir gesagt, was ich machen sollte. Meine Mama hat immer gesagt, ich soll Opa doch in Ruhe lassen und ihn nicht schon wieder belästigen, aber ich weiß, dass er sich darüber gefreut hat. Ich denke, dass diese gemeinsamen Nachmittage in seiner Werkstadt für ihn so was wie der Höhepunkt des Tages war, der Moment in dem er nicht mehr trommelnd am Tisch gesessen ist und Zeit totgeschlagen hat."

Edgar bemerkte die anderen schon gar nicht mehr. Seine Erinnerung hatte ihn zurückgetragen in die Tage seiner Kindheit, und er hatte die Gegenwart vergessen. Er schwelgte in sehnsüchtiger Wärme – in jenem Zustand, den Katrin "natsukashii" nannte. Er kehrte in die Werkstatt seiner Kindheit zurück. Er erinnerte sich daran, wie grau sein Opa gewesen war, an jenen langen warmen Sommernachmittagen bevor er starb, daran wie er selbst weinend an dem Abend in seinem Bett gelegen hatte ohne so recht zu verstehen was geschehen war. Der Tod – wie begriff man ihn, als Zwölfjähriger?

Und dann nahm die Müdigkeit überhand, und ohne es selbst zu bemerken rollte er sich in seiner Decke zusammen, nahe dem Feuer, wo es warm war.
 


 

Zittern kam er wieder zu sich. Das Feuer war runtergebrannt, die großen Steine, die halb aus der Asche herausragten, gaben noch letzte Reste Wärme ab. Dünne graue Nebelschwaden krochen aus den Senken hervor. Das Gras war feucht. Und dann kam die Sonne über den Horizont, und das Glitzern des Taus verwandelte die Wiesen in silberne Zauberbilder.

Edgar streckte sich, rollte die Decke zusammen. Neben ihm lagen seine Wasserflasche und die beiden leeren Bierflaschen, auf der anderen Seite des Feuers die leere Wodkaflasche. Sie war offen, der Deckel musste irgendwo im Gras verschwunden sein. Edgar sammelte die Flaschen ein, und sah sich dabei nach Spuren der anderen um. Er fand nichts. Das Gras war nur an der Stelle niedergedrückt, an der er gesessen hatte, und zwei Fußspuren führten ins Dickicht, wo sie sich verliefen, die eine hin, die andere zurück.

Die Ruine war gleichsam verschwunden. Gewöhnliche Bäume umgaben den Parkplatz.

Edgar zuckte mit den Schultern, warf die Flaschen in den Metallmülleimer am Rand des Parkplatzes und die noch immer feuchten Decken auf den Rücksitz seines Autos. Spanien wartete auf ihn.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  traumfresserchen
2010-06-11T15:51:07+00:00 11.06.2010 17:51
seltsamerweise liebe ich diese atmosphäre ... leider kommen fanfics meistens viel zu kurz auf mexx, deswegen freut es mich umso mehr, eine wirklich schöne geschichte zum träumen gefunden zu haben :)
Von:  Loettchen1989
2010-06-07T10:37:26+00:00 07.06.2010 12:37
Eine sehr schöne Geschichte. Ich hab sie sehr gebannt gelesen. Mir hat gefallen, dass jeder eine Geschichte erzählt hat und das dabei viel offen blieb. Viel Platz für die eigene Fantasie und Vorstellungskraft. Der Schreibstil hat mir auch sehr gut gefallen. :-)
Von: abgemeldet
2008-02-24T10:08:37+00:00 24.02.2008 11:08
Die Geschichte ist schön geschrieben keine (oder wenig) Rechtschreib- und Grammatikfehler, sehr ausführlich... Gefällt mir gut!


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