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Wir sind verdammt zu weinen

von

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Die Quittung war der Tod

Wie jeden Morgen wurde ich von meinen Radiowecker aus dem Schaf gerissen. Nur langsam nahm ich die Stimme wahr, die mich mit penetranten Liebesschnulzen aus dem Traum verbannt hatte. Die letzten Tage kehrten zurück in meine Erinnerung, doch ich musste sie verdrängen so früh am Morgen musste ich mich nicht runtermachen lassen. Ich hatte keine Lust aufzustehen, denn das bedeutete, dass mich der Alltag mit seinen Problemen wieder einholte. Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht vor die Tür gehen und mich der Welt offenbaren. Dazu hatte ich nach den letzten paar Tagen nicht die Kraft.
 

Doch irgendwoher bekam ich die Kraft. Alles verlief für mich so unscheinbar. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich unter die Dusche gegangen war. Die Erinnerung kehrt erst ab dem Moment zurück, als ich meine eigenen Hände in meinen Haaren fühlte. Nur allmählich konnte ich den Geruch von Vanille wahrnehmen. Ich starrte auf die befließte Wand, die feucht von erkaltetem Wasserdampf war. Ich fühlte, dass mir das Wasser über den Rücken lief. Es war angenehm warm und glitt mir wie ein seidener Faden über die Haut. Meine Gedanken schweiften ab. Vor meinem inneren Auge sah ich meinen Körper, der von roten Linien durchzogen war. Manche dick, andere dünn. Sie pulsierten, verströmten Leben. Meine Adern. Im inneren, in meinen Gedanken zerschnitt ich jede einzelne. Meine Haut war getränkt von Blut. Es umschloss meinen Körper und trocknete. Es nahm diese angenehme rotbraune Farbe an und kleidete meinen Körper. Wie einen letzten Anzug umhüllte es meine nackte Haut. Ich sah, wie ich schlafend am Boden lag. Ruhig, friedlich, ohne Probleme. Doch dann… Sein Gesicht kam mir in den Sinn. Seine Worte schossen durch meine Gedanken, wie eine Pistolenkugel durch nacktes Fleisch.
 

Weinend sank ich gen Boden. Umspielt von warmem Wasser. Ich nahm die Tränen nicht wahr, obwohl sie salzig auf meinen Lippen lagen. Schon wieder ließ mich dieser Mann nicht sterben. Nicht einmal in meinen Gedanken. Er umgab mich mit den Erinnerungen an ihn. Seine Stimme hatte sich in meinen Kopf gebrannt und wütete dort zu jeder Stunde wie ein Virus. Und mit seiner Stimme erwachte die Erinnerung an sein Gesicht immer mehr zum Leben. Es faszinierte mich, wie er trotz dieses Jungenhaften Aussehens so ernst rüberkommen konnte. Er hatte sich in jede Faser meines Körpers gebrannt, dieser ernste Block, der meinen Körper lähmte.
 

Minuten vergingen, ehe ich mich wieder gesammelt hatte. Es dauerte seine Zeit, ehe ich sein Gesicht verdrängt hatte und wieder in eine Schublade meiner Erinnerungen verschließen konnte. Ich wusste, dass ich nun zu spät zur Probe kommen würde deswegen ließ ich mir erst Recht Zeit. Karyu und Tsukasa würden sowieso nur meckern, ob nun 2 Minuten, oder eine Stunde zu spät. Im Grunde war es doch egal. Wozu diese ganze Hektik und das Gerede von der Zeit? Wozu die Umwelt mit Zeitdruck belasten? Man sah doch was dabei rauskam. Mit all unserem Zeitdruck und Erfolgsgeplänkel trieben wir unsere eigene Jugend in den Selbstmord. Und am Ende… Am Ende gehörte ich zu denen, der die Jugend mit seinen Texten dazu trieb. Im Endeffekt machte man mich zum Mörder. Doch steht ein Mörder am Grab seines gleichaltrigen Cousins und vergießt Tränen?
 

Es fiel mir nicht leicht die Tränen in aller Öffentlichkeit zurückzuhalten. Doch ich schaffte es. So schwach war ich also doch noch nicht. Aber ich war schwach, denn in letzter Zeit weinte ich oft. Ob ich nun an meinen Cousin dachte, der vom Dach seiner Schule gesprungen war, oder an Karyu, den ich liebte, der aber nicht davon wusste und nun verlobt war. Wie sollte dieser ganze Wahnsinn nur weitergehen? War ich etwa verdammt zu weinen?
 

Ohne ein Wort zu sagen, betrat ich den Proberaum. Die anderen waren bereits da. Schön für sie. Doch die Strafpredigt von Karyu und Tsuka blieb aus. Das war merkwürdig, aber gut so. Mir ging es Stimmungsmäßig sowieso nicht so toll und die Strafpredigt unseres Leader-samas und unseres Motivators hätten mir vielleicht den Rest gegeben. Außerdem hätte es nichts mehr gebracht, denn die Zeit war unwiderruflich vergangen. “Na los. Lasst uns den neuen Song proben. Hizu, hast du den Text?” Ich erschrak. Den Text für den neuen Song hatte ich noch nicht fertig. Ich war momentan nicht in der Lage gewesen, irgendwas zu schreiben. Mir fehlte einfach das Gefühl zum schreiben, genauso wie mir momentan das Gefühl zum singen fehlte. Ich schüttelte mit dem Kopf, denn Karyu brauchte eine Antwort. Doch sagen konnte er es nicht. “Mmh… Ist schon Ok. Ist eigentlich gut so, dann können wir die anderen Songs proben.” Obwohl Karyus Worte vergebend klangen, spürte ich, dass er unzufrieden mit mir war. Ich hatte meine Aufgabe vernachlässigt. Das hätte nie passieren dürfen, doch es passierte. Mittlerweile vernachlässigte ich die Musik, genauso wie meinen Cousin, der tot war. Ich hatte ihn zu der Zeit vernachlässigt, als er mich am dringendsten gebraucht hatte. Zu sehr hatte ich mich von meinen eigenen Zeitdruck unterkriegen lassen und die Quittung dafür war der Tod. Ich war also doch ein Mörder.



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