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Chrysalis Soul

Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]
von

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C'est Les Meilleurs Temps

-"Das Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens wächst in den Seelen im gleichen Maße, als in ihnen die Vorstellung vom Wesen der Liebe entstellt worden ist."-

(Waldemar Bonsels)
 

~~
 

Tick. Tack. Tick. Tack.

Die große graue Uhr im Konferenzsaal tickte laut. Dabei ließ sie sich reichlich Zeit, so wie das Uhren nun einmal taten.

Gerade rückte der Minutenzeiger ein wenig weiter vor. Es war genau achtundzwanzig Minuten nach fünf.

Draußen wurde es bereits wieder dunkel. Im dichten, weißen Flockengestöber, das den nachtschwarzen Himmel und die Welt darunter erfüllte, wirkte sogar das graue, kahle Industriegebiet beinahe wie eine Malerei. Eine Momentaufnahme der Stille.

Im Inneren des Konferenzsaals ging es jedoch weitaus weniger friedlich zu.

"VERDAMMT NOCHMAL!!"

"Meine Güte, Joshua! Jetzt beruhigen Sie sich doch!"

"Wie soll ich mich da beruhigen?!"

Aufgebracht wie selten tigerte O'Connor unter den missbilligenden Blicken seines italienischstämmigen Vorgesetzten vor dem blankgewienerten Tischrondell in der Mitte des Saals schimpfend auf und ab, eine Seltenheit für seine Person.

Doch selbst Giuseppe Pantoliano, der wie üblich in dem gepolsterten, lakritzgrünen Bürosessel am Kopf des Rondells saß, wirkte nicht mehr wie ein fetter Kater, der gerade einen Käfig voller Kanarienvögel verschlungen hatte und nun zufrieden in seinem Körbchen schnurrte; ein leichter, zuckender Schatten hing zwischen seinen säuberlich gestutzten Augenbrauen.

"Wie wäre es, mein Guter, wenn Sie jetzt endlich mal die Liebenswürdigkeit besäßen, mir reinen Wein einzuschenken?", erkundigte er sich soeben pikiert und untersuchte nebenher seine manikürten Fingernägel auf eventuelle Mäkel, übrigens ein Prozess, den er alle zwei Minuten wiederholte.

"Sie hatten jetzt exakt eine Viertelstunde, um sich nach allen Regeln der Kunst auszukotzen, also kommen Sie gefälligst wieder auf den Teppich. Gut, bei uns ist eingebrochen worden, und das geradezu ekelhaft sauber, wir müssen die Medien und die Polizei raushalten, von mir aus- aber finden Sie nicht, dass Sie ein wenig übertrieben reagieren? Es läuft planmäßig! Ich hab alles im Griff!"

Der dunkelblonde Ministerialrat stöhnte nur und ließ sich wie ein Sack Zement auf den nächstbesten Stuhl fallen.

"So? Alles im Griff? Ich kenn da etwas, das Sie ganz und gar nicht im Griff haben!"

Pantoliano verdrehte die Augen. "Ach herrjemine. Lassen Sie mich raten- es gab schon wieder Diskrepanzen mit Kurogane, richtig?"

"Diskrepanz?!!", stieß O'Connor heftig hervor, "Diskrepanz ist gut! Er hat sich aufgeführt wie ein zweiter Godzilla! Ich schwöre Ihnen, noch nie bin ich so in meiner Menschenwürde erniedrigt worden wie heute, und ich bin nicht der einzige, dem es so ging!

Ich wurde zur Sau gemacht! In aller Öffentlichkeit! Mir ist, als wäre ich dreimal durch eine Kloake gezogen worden!"

Während sich sein Angestellter ganz dem neuralen Kollaps hingab, warf der Ratspräsident einen gelangweilten Blick auf seine Rolex.

Er war um sechs Uhr noch mit einem vielversprechenden Geschäftspartner zum Indoor-Golf verabredet und wollte sich nicht verspäten. Für Investitionen hatte man pünktlich zu sein.

"Aha. Und das ist schon der ganze Grund, weshalb Sie hier so einen Affentanz veranstalten?"

"Nein,das ist noch längst nicht der ganze!", gab O'Connor erregt zurück, "Das Beste kommt noch! Kurogane hat sich gewaltsam Zutritt zum ersten Planquadrat der Kerkerareale verschafft! Den Hauptschlüssel hatte er zwar von mir, aber nicht die zu den Aktenspeichern! Er hat fast sämtliche Türen zu den Archiven der letzten Jahre ohne Erlaubnis aufgebrochen! Wahrscheinlich hätte er das auch in den anderen Arealen gemacht, wenn ich nicht fünf Leute vom Wachpersonal runtergeschickt hätte! Und, bei Gott-- das war die wüsteste Schlägerei, die ich je gesehen habe! Diese armen Schweine waren nachher reif für die Intensivstation!"

Pantoliano merkte auf und hob seinen Blick von der Rolex. Nach fast zwanzig Jahren Ratspräsidentsschaft konnte er zwar durchaus von sich behaupten, dass ihn nichts so schnell aus dem Konzept brachte, doch jetzt schlugen alle seine inneren Sirenen Alarm.

"Wie bitte? Er hat die Archive aufgebrochen?"

"Ja! Genau das ist es ja!", stieß O'Connor hervor, "Er hat alles umgegraben, um nach Hinweisen auf den Einbrecher zu suchen! Von A bis Z, von Sodom bis Ghomorra! Und das war heute sicher erst der Anfang! Wenn er in diesem Maße weitermacht und alle Archive ohne Erlaubnis durchpflügt, dann-... dann findet er zum Schluss noch raus, dass-... dass wir seine--"

O'Connors Stimme versagte ihm den Dienst. Sein Herz flatterte angstverkrampft in seiner Brust.

"Ich will nicht von diesem, diesem-- Vieh umgebracht werden", stieß er schwach hervor.

"Vieh? Er ist das intelligenteste Vieh, das ich je gesehen habe. Beachtenswerte Vorgehensweise", bemerkte der Ratspräsident lediglich und legte bedächtig seine Fingerspitzen aneinander. Er bewunderte sich immer wieder selbst dafür, wie schnell er sich von Schocks aller Art erholen konnte. Wahrscheinlich italienisches Erbgut.

"Wie bitte? Haben Sie ihn schon einmal beim Töten beobachtet? Ich glaube nicht!", war die matte Antwort, "Das ist kein Mensch! Das ist eine Bestie, die in einen Menschenkörper eingesperrt wurde! Er wartet doch nur noch darauf, dass er an handfeste Beweise kommt und uns problemlos ans Messer liefern oder gleich selbst abschlachten kann! Und wir hatten ihn schon fast soweit, dass er alles vergisst! Weich wie Butter war er, völlig willenlos und starr, und sein ganzes verfaultes Inneres hätte so schön wegschlafen und wegsterben können! Aber dann-..."

"Oh, ich weiß, was Sie meinen", meinte Pantoliano mit einem Achselzucken, "Ich hab es ja selbst gesehen. Da ist wohl irgendetwas in sein Leben getreten, das ihn-... wie soll ich sagen? Das ihn wieder wachgeschüttelt hat. Und jetzt ist sein alter Zorn wieder gewaltig am Brodeln. Er bekam sozusagen einen mentalen Klaps mit dem Elektrostock", schloss er ironisch.

O'Connor jedoch schien keinen wirklichen Gefallen am Scherz seines Vorgesetzten zu finden. "Mr.Pantoliano! Verstehen Sie denn nicht, was diese ganze Geschichte an Auswirkungen mit sich bringen könnte?!", rief er, mittlerweile schon am Rande der Verzweiflung. Wieso musste sein Chef immer Gott spielen?

"Joshua, Joshua, Joshua ", seufzte der Italiener mit einem bemutternden Lächeln und stützte sein säuberlich rasiertes Kinn auf den linken Handteller, "Ich verstehe beim besten Willen nicht, warum Sie sich so aufregen! Lassen Sie mich doch erstmal rasch zusammenfassen. Also, wenn mich der Schein nicht trügt, ist unser lieber Kurogane zu unserem Sorgenkind Nummer eins avanciert. Das Biest in ihm ist aus tiefstem Winterschlaf aufgewacht und schlägt jetzt seine Krallen immer tiefer in unser Fleisch. Er handelt fast ausschließlich auf eigene Faust, und wenn man ihm Anweisungen erteilen will, läuft man Gefahr, mit dem Kopf unter dem Arm nach Hause torkeln zu müssen. Und zudem wird er uns bald endgültig in der Hand haben, wenn er noch weiter zwecks Informationsbeschaffung in die Archive vordringt. Soviel zu den schlechten Nachrichten. Aber Joshua, mein Lieber! Wir sind an der Spitze der Nationalregierung! Wieso suhlen wir uns hier im Selbstmitleid, wenn wir unseren kleinen Quälgeist doch auch ganz einfach vom Spielplatz schicken können?"

"Es wäre in der Tat das Vernünftigste, Mr.Pantoliano", sagte O'Connor mit deutlicher Erleichterung, "Jedenfalls hätten Sie hier meine vollste Zustimmung. Wir suspendieren ihn einfach wegen unverantwortlichen Verhaltens und tätlicher Beleidigung--..."

Der Ratspräsident hob nur in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen.

"Suspendierung?", fragte er amüsiert, "Mein lieber Joshua, Sie haben mich wohl nicht ganz verstanden. Ich will Kurogane nicht suspendieren, ich will ihn tot sehen."

Stille.

Genüsslich beobachtete Pantoliano, wie O'Connors Gesicht nach und nach die Farbe einer toten Elritze annahm.

"Ja-... ja, aber-- Mr.Pantoliano-..."

"Oh, ich verstehe Ihre Zweifel. Was ist denn bloß mit Pantoliano los, wird er auf seine alten Tage etwa zum Sadisten? Nun, Joshua, ich nenne es nicht Sadismus, ich nenne es schlichte Logik. Kurogane ist von hervorragender Arbeitskapazität und ein sehr dynamischer Mann, aber für meinen Geschmack übertreibt er's mittlerweile ziemlich. Er ist mir sozusagen lästig geworden. Extrem lästig. Ich kann diese egoistische, starrköpfige Existenz nicht mehr riechen. Bei seinem Anblick wird mir schlecht. Wäre es da nicht die galanteste Lösung, ihn abmurksen zu lassen, diesen Höhlenmann, bevor er uns an die Kehle springt?"

Es dauerte seine Zeit, bis O'Connor seine Spucke hinuntergewürgt hatte.

Das war Giuseppe Pantoliano, wie er leibte und lebte. Manchmal fragte er sich, ob sein Chef an der Stelle, wo bei anderen das Gewissen saß, möglicherweise nur ein Schild hatte, auf dem Außer Betrieb stand.

Nach zwei endlosen Minuten konnte er sich endlich zu einem Nicken zwingen.

Vermutlich das Nicken, das Kuroganes Schicksal endgültig besiegelte. Kinn hoch, Kinn runter für den Tod. Den Tod.

Mittlerweile wieder mehr an einen satten, zufriedenen Kater erinnernd lehnte sich Pantoliano in seinem Sessel zurück.

"Dann hier mein Vorschlag: in einer Viertelstunde habe ich einige Partien Indoor-Golf zu spielen und Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Und wenn das getan ist, gebe ich die notwendigen Anordnungen, um alles in die Wege zu leiten. Allerdings werde ich mir das kleine Vergnügen gönnen, Kurogane nicht einfach nur töten zu lassen, immerhin hat er noch Arbeit für uns zu erledigen, und er hat mich weiß Gott genügend Nerven gekostet. Am besten sollte ganz er qualvoll und elend krepieren, so wie er bereits innerlich krepiert ist, über Wochen und Monate hinweg. Erst soll sein Name sterben, dann seine Würde, und zum Schluss er selbst. Die perfekte Kettenreaktion! Geradezu originell!"

O'Connor versuchte vergeblich, den beklommenen Kloß in seinem Hals wegzuschlucken.

"Sie meinen also, wir sollten ihn runter in die-...?"

"Aber nein, Joshua! Schon wieder runter? Himmel, wäre das unkreativ, wir können doch nicht immer dasselbe machen! Neinnein, diesmal überlegen wir uns was Neues. Keine Sorge, mir wird schon was einfallen. Ach, wird das ein Spaß! Wir werden die große Ehre haben, Kurogane zum dritten und letzten Mal zu brechen!"

Der Ministerialrat fixierte seinen Chef mit einem starren Blick, bevor er sich zu einem Nicken zwingen konnte.

Der Italiener saß völlig entspannt und kregel in seinem Sessel und lächelte, als würde er gerade seinen Lieblingsneffen auf den Knien schaukeln und ihm bei Keksen und Kakao eine Geschichte vorlesen.

Wer nützlich ist, der lebt, wer lästig ist, der stirbt. Schöne, geordnete Welt.

Dann warf er einen weiteren Blick auf die Uhr, die mittlerweile dreiviertel sechs anzeigte. "Also schön, dann muss ich mich so langsam auf die Socken machen", erklärte er und erhob sich gemächlich, "Sie wissen gar nicht, in wievielen Läden ich schon nach einem passenden Geschenk für meine Frau gesucht habe. Dabei ist erst in zwei Wochen Heiligabend. Was denken Sie, was mögen Frauen als Weihnachtsgeschenk?"

"Ä-ähm-... ein-... ein Kleid?"

"Ah! Sehen Sie, daran habe ich noch gar nicht gedacht! Verbindlichsten Dank, Sie sind mein Lebensretter!"

O'Connor nickte brav, und der Italiener wollte sich auch schon auf den Weg begeben, als ihm noch etwas einzufallen schien.

Schwungvoll drehte er sich zu seinem Untergebenen um. "Ach, und- Joshua?"

"Was gibt es, Mr.Pantoliano?"

Der Ratspräsident lächelte wohlwollend.

"Kein Wort davon zu Kurogane. Sein Tod wird unsere Weihnachtsüberraschung für ihn. Und Überraschungen haben zu gelingen, finden Sie nicht auch?"
 

Punkt sechs Uhr am Abend.

Es schneite immer noch in winzigen, pudrigen Flöckchen. Die steinernen Engel, die sich in ätherischer Geste vom Stuck der imposanten Sankt Amadeus-Kirche von Kingstonville gen Himmel reckten, hatten allesamt hohe weiße Hauben auf.

Die mächtigen, bronzeisernen Glocken im Turm hoben soeben zum Sechs Uhr- Geläute an.

Die beiden Gestalten, die im winterlichen Dunkel auf einer verschneiten Bank im Park vor der Kirche saßen, lauschten andächtig den schwingenden Intervallen dieses mächtigen, erhaben nachhallenden Klangs.

Ein leises Schniefen unterbrach die Stille.

"Willst du 'n Taschentuch, Sakura?"

Das zierlich gebaute Mädchen mit dem kurzen, fuchsrötlichen Haar schüttelte den Kopf und lächelte ein bisschen.

"Geht schon, Shaolan. Ich-... mir ist nur kalt."

"Warte, ich geb dir meinen Schal."

Kurzerhand band sich der schlaksige Brünette den gelb-weiß gemusterten Schal ab, den Fye ihm vor einigen Wochen gestrickt hatte, und legte ihn seiner bibbernden Freundin um die Schultern. Diese schaute jedoch nur bedrückt auf den Boden.

"Hey- Sakura! Was hast du?"

"Ach, du Iddi", sagte das Mädchen verbittert und gab ihrem Freund einen kleinen Knuff gegen die Schulter, bevor sie sich wieder an ihn lehnte, "Sei nicht so verdammt lieb zu mir! Du machst es mir immer so schwer!"

"Warum denn, Mann? Du hast dich doch schon vorhin für alles entschuldigt!"

"Ja, aber-- ach, Mist! Das reicht mir eben nicht, bei allem, was ich getan hab! Ich bin einfach abgehauen, ich hab dich beschimpft, ich hab dich behandelt wie den letzten Dreck, ich hab mich aufgeführt wie eine hysterische--..."

"Hey! Komm runter!", versuchte Shaolan seine aufgeregte Freundin zu beruhigen, "So schlimm war's nun auch wieder nicht! Ich bin ja nicht dran gestorben, oder? War halt nur ziemlich schwierig, dich wieder zu finden, ich hätt nicht gedacht, dass du hier so im Dunkeln vor der Kirche rumhockst--"

"Hallo? Ich hab dich Bananenfresse und Knastersack genannt! Einfach so!"

Der jugendliche Brünette grinste ein bisschen. Wie süß. Sie denkt echt, dass sie mich damit gekränkt hat.

"Wenn du hören könntest, was Desmond manchmal zu mir sagt..."

"Schön, dann lassen wir das mit der Bananenfresse eben außen vor! Der Punkt ist, dass ich dich ungerecht behandelt hab! Ich hab einfach alles vergessen, alles, und das nur, weil-... weil mein Vater ..."

"Hat er dich etwa schon wieder geschlagen?", fragte Shaolan entgeistert.

Das Schweigen seiner Freundin war schon Antwort genug. Mit einem bitteren Seufzen legte er ihr einen Arm um die Schulter.

"Ich wünschte, ich könnte diesen Bastard mitsamt Desmond in den Knast bringen."

"Meinen Segen hättest du", war die halblaute Antwort, "Warum schlägt er mich eigentlich noch, wenn's ihm doch gar nichts bringt? Mama kommt dadurch nicht wieder. Vielleicht fehlt ihm einfach das Hirn dafür. Hat sich Fye-San große Sorgen gemacht?"

"Wie man's nimmt", meinte Shaolan, "Sagt oft, dass er dich vermisst. Scheint ihm sonst aber ganz gut zu gehen. Seit 'n paar Tagen erzählt er ständig von so 'nem komischen Typen, den er vor 'ner knappen Woche getroffen hat. Er heißt Ku-... Kuro... Kuro. Irgendwas mit Kuro. Fye-San redet über fast nix anderes mehr. Scheint sein neues Hobby zu sein."

"Und was macht seine Übermüdung?"

"Missis Robinson hat mir erzählt, dass er gestern Nacht wieder so 'nen Anfall hatte. Draußen in der Stadt. Wieder an der alten Stelle, bei diesem Herrenhaus. Er selber hat nichts gesagt, wie immer. Dachte sicher, dass ich eh schon genug Plack am Hals hab."

Shaolan schluckte. Wenn Fye-San so gemutmaßt hatte, lag er damit gar nicht so daneben.

An die bevorstehenden Schulabschlussprüfungen, an die Chemie-Arbeit am nächsten Montag und an die Tatsache, dass ihn sein Vormund Desmond Blackaway heute mittag um ein Haar beim Rückweg von der Schule erwischt hätte, mochte er jetzt gar nicht denken. Ich hasse diesen Bastard. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn.

Er lächelte Sakura ein wenig kläglich an, als sie sich enger an ihn kuschelte.

"Ich denke, damit hat Fye-San wohl auch Recht, was?", fragte sie leise und sah ihn mit einem ruhigen Blick an.

"Jepp", seufzte Shaolan nur. Manchmal bekam er den Eindruck, dass seine Freundin ihm geradewegs ins Hirn schauen konnte.

Hartnäckig schüttelte er all diese düsteren Gedanken von sich ab. Nicht dran denken. Einfach nicht dran denken.

"Also, was ist? Wollen wir wieder heimgehen? Vielleicht ist Fye-San ja auch gerade zuhause."

"Zuhause", wiederholte Sakura leise und blickte gedankenverloren zum warm beleuchteten Kirchturm hoch.

"Als ich bei euch eingezogen bin, hat Fye-San gesagt 'Man ist immer dort zuhause, wo man gerade ist.'. Ich find, er hat Recht. Aber bei euch beiden bin ich am liebsten zuhause, glaub ich."

"Sag doch nicht immer 'euch', sag 'wir', Mann! Du gehörst doch dazu! Ich glaub, Fye-San hätte nie mehr bunte Klamotten angezogen, wenn du nicht mehr zurückgekommen wärst. Nichtmal zu Weihnachten. Ich auch nicht", setzte er hinzu.

Sakura kicherte ein bisschen und kniff ihren Freund in die Nase.

"Na, da bin ich aber erleichtert."

Ein Schweigen verging.

"Shaolan?"

"Ja?"

"Ich hab dich lieb."

Ihre Stimme schwankte. Shaolan rieb die Schulter seiner Freundin. "Hey...", sagte er leise, "Ich hab dich doch auch lieb. So lieb, dass ich's kaum aushalte. Woran denkst du?"

"An unser erstes Date", sagte Sakura und lächelte ihn aus tränenverschleierten Augen an, "Weißt du noch? Ich erinner mich heut noch daran, was du für ein Gesicht gemacht hast, als ich dich gefragt hab, ob du Lust hättest. Heut noch."

"Echt? Und, was hab ich für ein Gesicht gemacht?", fragte der Teenager mit einem Lächeln.

"Du warst ganz rot. Ich aber wohl auch. Ich weiß, ich kling jetzt wie eine Oma, aber-... aber... das war die erste Entscheidung in meinem Leben, glaub ich. Mit dir auszugehen. Dad hat mich grün und blau geprügelt, als er's rausgefunden hat, aber ich hatte mich entschieden. Es tut mir leid Shaolan, dass ich so unfair zu dir war. Ehrlich."

"Ich war doch auch unfair, Mann. Ich hatte schon die ganze Woche über die Hosen voll."

"Ich auch. Aber-... aber ich hab nur so Angst, dass wir uns wieder streiten."

Shaolan lächelte das Mädchen, das schon seit fast fünf Jahren das Zentrum seines Lebens war, warm an.

"Wenn wir immer nur glücklich wären, wär das doch total öde! Streiten gehört einfach zum Leben dazu! Aber weißt du was? Jeder gute Streit und jede gute Versöhnung braucht auch ein gutes Schlusswort."

"Okay, Mister Regisseur. Dann mal raus damit."

"Sag ganz einfach: 'Ich hab dich lieb, Shaolan. Von diesem Bastard, der sich mein Vater schimpft, lässt sich eine Sakura nicht unterkriegen. Wir schaffen das schon.' "

"Ich hab dich lieb, Shaolan. Von diesem Bastard, der sich mein Vater schimpft, lässt sich eine Sakura nicht unterkriegen. Wir schaffen das schon", antwortete das fuchsfarben beschopfte Mädchen mit einem Lächeln.

"Na also. Du bist 'ne Kämpferin, okay? Du bist immer eine gewesen! Wir sind Bonnie und Clyde! Gegen dich ist dein Vater doch die, die-... die größte fette Null, die man je aufs Blatt geklatscht hat, kapiert?"

Sakura lächelte. Shaolan...

"Kapiert."

Als Shaolan Sakuras Hände nahm, lächelte er zurück, und diesmal meinte er es auch so.

"Okay. Komm, lass uns heimgehen. Fye-San freut sich sicher."

Das Mädchen grinste ein wenig. "So sehr, wie wenn er von seinem neuen Freund erzählt?"

"Hoffen wir's. Vielleicht braucht er das ja einfach."

Sakura nickte nachdenklich. "Stimmt. Vielleicht braucht er es", meinte sie gedankenverloren und griff nach Shaolans Hand, bevor sie von der Parkbank aufstand.

Im Kirchturm verhallte das Läuten der mächtigen Glocken nach und nach, und ließ noch einen einzigen nachschwebenden, langsam verklingenden Ton in der verschneiten winterlichen Dunkelheit zurück.

"Gehn wir heim, Clyde."

"Okay, Bonnie."
 

Madeleine Delnatte.

Fünfundfünfzig Jahre alt. Im Besitz einer karmesinroten Perücke, die vermutlich aus Wischmopfransen bestand.

Spenderin einer leider etwas zu groß geratenen Diabetikerniere.

Im Betriebsrat des Konzerns "Ovid Kunsthandel", der einigen Ratsvorsitzenden des Dezernats, die ebenfalls im Kunstunternehmen arbeiteten, leider Gotts ein Dorn im Auge gewesen war, was sichere Investitionen anbelangte.

Hm. Hm. Hm. Sonst noch was?

Ach ja, seit zirka einer Dreiviertelstunde war sie tot. Ziemlich tot sogar. Toter ging's sozusagen nicht mehr.

Nur zu blöd, dass ihr Mann heute früher als sonst von der Arbeit nach Hause gekommen war. Und weil just jener Mann beim Anblick seiner lieben toten Frau Gemahlin in ein Gekreisch ausgebrochen war, das man wohl nur noch mit einem Frettchen im Küchenmixer vergleichen konnte, hatte er eben etwas unternehmen müssen, um ihm endlich das Maul zu stopfen.

Naja, vielleicht bekamen sie ja ein gemeinsames Grab auf irgendeinem schicken Friedhof. Ihn brauchte es nicht mehr zu kümmern. Was er jetzt brauchte, waren ein ordentlicher Drink, ein Ballerfilm und mindestens zwanzig Stunden Schlaf. Also dann.

Gedankenverloren schlenderte Kurogane die Straße entlang, die zu seinem Haus führte.

Es schneite mal wieder, und es war bereits stockdunkel. Kein Wunder, immerhin war es schon nach sechs Uhr.

Dieses Scheißwetter zu ertragen war aber immerhin besser, als immer noch im Dezernat vor sich hinzugammeln. Wahrscheinlich würde er sogar 'ne Million zahlen, damit er so schnell nicht wieder dorthin zurückmusste. Die Arbeit, der ganze Stress, und vor allem die Umgebung hatten ihn mehr mitgenommen, als er es sich eingestehen wollte; außerdem schien O'Connor ziemlich sauer gewesen zu sein, dass er mal wieder das Hackhuhn für seine sämtlichen aufgestauten Agressionen hatte spielen müssen.

Hoffentlich würde das keine Nachwehen haben. Wobei, wahrscheinlich würde sich dieser Depp nur ein wenig bei Giuseppe Froschschenkelfresser Pantoliano ausheulen und es dabei bewenden lassen, wie immer.

Hauptsache, er würde für den Rest des Abends seine Ruhe haben- die Aussichten waren jedenfalls gut. Offenbar waren Schnee, Dunkelheit und klirrender Wind das einzige Zaubermittel gegen die Tratschclans sämtlicher domestizierter Hausglucken aus seiner Nachbarschaft. Diese ungewohnte Stille hatte fast schon etwas Heiliges.

Dennoch hielt der Killer es für angebracht, eine Gangart einzuschlagen, bei der nicht einmal eine Hausglucke auf die Idee kommen konnte, dass er ein blutbesudeltes Katana unter seinem Mantel spazierenführte. Manchmal konnte die Länge seines Schwerts auch durchaus etwas sein, das man 'unpraktisch' zu nennen pflegte.

Als der Schwarzhaarige jedoch das Gartentörchen seines Grundstücks öffnete und es hinter sich wieder zuschlug, passierte das allabendliche kleine- und einzige- Wunder in seinem Leben: er sperrte alle Gedanken, die gesamte Welt, mit einem Schlag aus.

Die gesamte böse, hässliche Welt, wie sie langsam in ihrer eigenen Scheiße erstickte.

Spuckend und fluchend blieb sie am Gartenzaun hängen und gaffte ihm fauchend hinterher, wie er erleichtert in seine gedanklichen Gefilde entschwebte. Hier war er sicher. Vor allem. Vor jedem.

Jetzt gab es nur ihn, sein Katana, und Stille. Auf diese Weise so gut wie blind für seine Umwelt stapfte Kurogane den schneebedeckten, in der Dunkelheit gespenstisch glänzenden Weg durch seinen Garten entlang. In Gedanken war er längst entschwunden, verschollen in sich selbst.

So bemerkte er auch die helle, schlanke Gestalt nicht, die in etwa zehn Metern Entfernung wie angeklebt vor seiner Haustür stand, ohne sich zu rühren. Sie drehte sich mit einem Ruck zu ihm um, als sie seine im Schnee knirschenden Stiefel hinter sich hörte.

"Kuuurooogaaaneee!!"

Der Killer zuckte zusammen und starrte perplex Richtung Hauseingang, während er innerlich schmerzhaft aus allen Wolken fiel.

Sein erster Gedanke war, dass Satan bei ihm auf der Fußmatte stand, um Rechenschaft für diese peinliche Geschichte mit dem geklauten Napfkuchen vor zwei Wochen zu fordern. Vielleicht auch wegen den ganzen Morden. Keine Ahnung.

Aber etwas stimmte bei der Sache eindeutig nicht.

Seit wann ist Satan denn blo--... OH NEIN.

Sofort stand die Zeit still. Wenn man ein Soldatenhirn besaß wie seins, ignorierte man im Fall eines Gefechts automatisch alles an unwichtigen Details und konzentrierte sich ausschließlich auf die wesentlichsten Dinge, mit denen man konfrontiert wurde.

Und in diesem Fall waren das drei. Erstens: es war nicht Satan, der da vor seiner Tür gestanden war, sondern schon wieder dieser verdammte blonde Konditorlehrling. Zweitens: er hatte eine riesige, bis obenhin mit Zeug vollgestopfte Papptüte auf dem Arm.

Und drittens: er kam in voller Geschwindigkeit auf ihn zugeschlittert wie eine Bombe auf Schlittschuhen. Dabei jubilierte er, als hätte sich der Messias nach über zweitausend Jahren endlich dazu überreden können, mal auf der Erde vorbeizuschauen.

"Hallooo, Kuuroogaaneee!"

Kaum, dass der Killer diese drei Dinge realisiert hatte, schaltete das wenige an Energie, das nach seinem Arbeitstag noch in seinen Knochen hängengeblieben war, sofort auf Defensivstrategie um.

"Bleiben Sie stehen!! HALT!! Keinen Schritt weiter!! STEHENBLEIBEN!!"

"Ich denke gar nicht dran! Hihihi! Ich bin der große böse Wolf! Grrroahr, ich springe Sie an!"

"UNTERSTEHEN SIE SICH!!"

"Grrruwaaah, der blonde Wolf und das Schwarzkäppchen! Es- gibt- kein- Entkommeeen!!"

"Wenn Sie es noch EINMAL wagen, mich so zu--"

Doch leider war es bereits zu spät. Mit einem Satz kam sein ungebetener Gast vor ihm zum Stehen und stieß ihm mit triumphierender Miene einen Zeigefinger vor die Brust. "So, Sie so überaus schwarzes Schwarzkäppchen! Jetzt hab ich Sie!"

Die einzige Antwort war ein angenervtes Seufzen. Was für 'ne Todsünde hab ich bloß begangen?

Kurogane ließ seine Arme in einer müden Grazie herabhängen, die ein wenig an Botticelli erinnerte und stellte mit einigem Unbehagen fest, dass der sehnlichst erwartete Brüllkrampf ausblieb, den er zweifellos spätestens an dieser Stelle erlitten hätte.

Aber offenbar war seine Wut nach diesem knochenbrechenden Arbeitstag einfach in einem Meer der Frustration abgesoffen und würde sich nun für die nächsten Stunden nicht mehr einfach so herbeizaubern lassen.

"Sie?", fragte er deswegen nur lahm und starrte den mit Schnee bepuderten Eindringling unter gehobenen Augenbrauen an.

"Jepp!", erwiderte der Blondling fröhlich und schlug neckisch die Hacken zusammen, "Ich persönlich! Nicht zuviel Beifall, bitte!"

"Keine Sorge, von mir kriegen Sie keinen. Kommen Sie mich also schon wieder besuchen?"

"Naja, es sieht danach aus, oder? Warum fragen Sie?"

"Weil Sie gestern schon hier waren. Oder ich hab Alzheimer, das kann auch eine Option sein."

"Wenn Sie Alzheimer hätten, dann hätten Sie's doch schon längst wieder vergessen!"

"Das hätte mich nicht wirklich gestört", grollte der Schwarzhaarige vergrätzt und setzte seinen Weg Richtung Haus fort.

Wie erwartet heftete sich sein ungebetener Gast augenblicklich an seine Fersen.

"Sie sind fast noch fieser als Käpt'n Hook", quengelte er, "Haben Sie sich denn gar nicht gefreut?"

"Mmhm", brummte Kurogane nur halblaut und wühlte in den Tiefen seines Mantels nach seinem Hausschlüssel, "Was haben Sie überhaupt schon wieder hier zu suchen? Ich komme gerade von der Arbeit! Ich brauch meine Ruhe!"

Der Blondling senkte den Kopf.

"Naja, wissen Sie, ich hab mir halt Sorgen um Sie gemacht."

"Wozu das denn?"

"So eben. Heut morgen, wissen Sie noch? Als Sie so wie Darth Vader geatmet haben! Da hab ich gedacht, Sie sterben."

"So schnell sterb ich nicht."

"Das sagt jeder! Aber ehe man sich versieht, liegt man auf dem Rücken! Ich hab jedenfalls zwei Stunden geschlafen, und als ich aufgewacht bin, hab ich mich gefragt, wie's Ihnen geht. Und dann bin ich hergekommen!"

"Na, das ist ja rührend. Wer in aller Welt hat Sie bloß zum Schlafen gebracht? Der Totengräber?", fragte der Schwarzhaarige nur zurück und knipste im Hausflur das Licht an, um sich erstmal den ganzen Schnee von den Schuhen zu treten. Der Konditorlehrling schlüpfte behende hinterdrein und schloss die Türe hinter sich, bevor er unter zahllosen Verrenkungen aus seinen Stiefeln stieg und sich aus seinem hellen Mantel herauskämpfte wie eine Ringelnatter aus ihrer Eierschale.

"Das waren Sie. Glaub ich zumindest."

"Oh ja, natürlich", antwortete der Killer geistesabwesend und befreite sein vorsorglich mit schwarzem Stoff umwickeltes Katana aus seinem Mantel. Hoffentlich sah dieser Vollspinner wenigstens das ganze Blut nicht.

"Also schön", ächzte er schließlich, "Und wieder einmal haben Sie es geschafft, sich auf niederträchtige Weise in mein trautes Heim zu schmuggeln. Was wollen Sie heute für Mist bauen? Sagen Sie's mir besser gleich, ich hab heut Nerven wie Katzendärme."

Der Blondling lächelte sein älteres Gegenüber strahlend an.

"Mist bauen? Wieso Mist bauen? Ich möchte nur mit Ihnen reden! Außerdem hab ich Ihnen etwas mitgebracht!"

"Was, schon wieder?"

"Jawoll! Wissen Sie, ich bin ein überzeugter Anhänger der Lebenseinstellung von Lukullus, und-..."

"Lukull-... wer?"

"Lucius Licinius Lukullus. Ein römischer Feldherr! Er hat sehr viel Wert auf Gastronomie und gutes Essen gelegt! Seine Devise war: wenn du was Gutes isst, geht's dir automatisch auch gut!", erklärte der Konditorlehrling fröhlich, "Ich dachte mir: wenn Sie heute ein tolles Abendessen bekommen, wird's Ihnen sicher auch gleich viel besser gehen! Und deswegen hab ich bei meinem Weg hierher noch einen Umweg ins Saucisson d'Or gemacht und hab Zutaten für ein leckeres Essen besorgt!"

Kurogane hob skeptisch die Augenbrauen. Das Saucisson d'Or - 'die goldene Wurst' auf französisch, seiner Meinung nach kein Name, bei dem man sich vor Neid über soviel Kreativität die Kugel gab- war ein kleines Feinkostgeschäft in der Altstadt.

"Sie sind also erst in die Altstadt und dann ins Reichenviertel gelaufen."

"Ja! Das reinste Forest Gump-Feeling!"

"Und was sagt Ihr Arzt dazu?"

"Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß."

"Dann muss er aber frieren", meinte Kurogane trocken und schlüpfte aus seinen schwarzen Slippern, "Ich frag mich nur, was Sie ihm wohl schon alles verschwiegen haben. Sie rennen in der Stadt rum, obwohl Sie jeden Moment vor Übermüdung abkratzen könnten, Sie veranstalten Stunteinlagen und schleppen kiloschwere Tüten... vermutlich weiß er Ihren Namen auch nicht, oder, Mister Billray?"

Stille. Bis der Blondling wieder lächelte. "Ich hab doch bereits gesagt, dass ich Fye heiße! Außerdem verschweige ich meinem Arzt nicht viel. Höchstens die Farbe meiner Unterhose. Und wenn wir schon beim Namen sind, wieso sagen Sie nicht einfach Fye zu mir?"

"Weil ich mir nicht vorstellen kann, warum Sie gerade mir Ihren 'echten' Namen sagen sollten. Darf ich wissen, wozu dieses ganze Geplänkel dient, Mister Billray?"

Der Blondling grinste. Seine Kinnmuskeln traten für einige Momente hart hervor, als würde er sich auf die Zähne beißen.

Er grinste über beide Ohren hinauf und sagte kein Wort.

Kein. Einziges. Wort. Kurogane seufzte.

"Also gut. Von mir aus. Dann sagen Sie mir wenigstens, wer Ihnen dieses blaue Auge geschlagen hat."

Wieder Stille. Fye blinzelte und fasste an sein linkes Auge, das ganz blutunterlaufen und verschwollen war.

"Oh... Sie haben's bemerkt, was?"

"War nicht schwer. Also, raus damit, und zwar ein bisschen dalli. Ich will heute Nacht nicht von 'ner Bande desorientierter Fetischklub-Anhänger im Schlaf niedergestochen werden."

"Ach, keine Sorge, das war bloß mein Chef", erklärte der Blondling gutmütig, "Er mag es nicht, wenn ich nicht zur Arbeit komme. Eben ein Arsch mit Ohren. Sagen Sie mir dann im Gegenzug, warum Sie Ihr Schwert unter dem Mantel hatten?"

Kuroganes Kinn zuckte ein wenig. Erwischt.

"Mein Gott, Sie und Ihre Fragen. Ich hatte es auf der Arbeit dabei."

Das war noch nichtmal gelogen. Der Konditorlehrling grinste schief.

"Schon schade, dass wir so viele Geheimnisse voreinander haben, finden Sie nicht auch?"

"An mir allein liegt das nicht, mein Bester", war die eisige Antwort, während der Schwarzhaarige in seine Hausschuhe schlüpfte und sich auf den Weg in die Küche machte, "Und jetzt bewegen Sie Ihren Hintern, das Tor zur Salmonellenhölle öffnet sich."

"Salmellen? Salaminellen? Sardellen?"

"SALMONELLEN!!"

"Achsooo! Ich kenne nur einen fiesen Verbrecher namens Sal Monella, der den Leuten Gift ins Essen gemischt hat!"

"Bei Salmonellen läuft's aufs selbe raus. Was wollen Sie mir heute überhaupt wieder an Trendzeug vorsetzen?"

"Wieso Trendzeug? Hat Ihnen der Kuchen von gestern nicht geschmeckt?", fragte Fye blinzelnd, während sie die Küche betraten und der Schwarzhaarige das Licht einschaltete.

"Hab ihn weggeworfen. Hätten Sie eben auf mich gehört! Ich sagte doch, dass ich Süßigkeiten nicht leiden kann!"

"Puah! Wie fies! Dann haben Sie aber was verpasst, das kann ich Ihnen flüstern! Mögen Sie wenigstens Hähnchen?"

"Ich mag tote Menschen mehr. Aber 'ne Alternative wär's."

"Na wunderbar!", meinte Fye und strahlte wie auf Knopfdruck, "Dann wird Ihnen das Essen ganz sicher schmecken! Wir können ja gemeinsam kochen, dann lernen Sie bestimmt noch was dazu! Nichts ist spaßiger als zusammen kochen! Ich habe nämlich ein echtfranzösisches Menü für uns zusammengestellt!"

Mit diesen Worten wuchtete er die enorme Papptüte auf den Tisch und begann, auszupacken. Die gute Hälfte der Zutaten, die da ans Tageslicht geholt wurden, kannte Kurogane noch nicht, aber sein jüngeres Gegenüber sparte nicht an Erklärungen.

"Hier, schauen Sie! Ein Gruyère aus der Provence!", erläuterte er, wieder einmal ganz das personifizierte Glück, und deutete auf ein großes Stück reifen, saftig gelben Käse, "Béthuner Hähnchenkeulen! Schalotten aus Gascogne, noch ganz fest und mit grünen Trieben, so sind sie nämlich am besten! Und hier haben wir einen Dubonnet, Maraschino, späten Cointreau aus der Basse-Normandie und vor allem einen zwanzigjährigen Armagnac!"

Das hätte Kurogane nicht gedacht- ausgerechnet die Königin der französischen Weine wurde ihm hier aufgetischt!

"Aaah... Teufel nochmal", seufzte er und löste den Korken von der sepiafarbenen Flasche, um eine Probe aufs Exempel zu machen. Prüfend schnupperte er an dem Dufthauch, der aus den Tiefen des kühlen Flaschenhalses zu seiner Nase empordrang, und kam sich dabei ein wenig vor wie Jean-Baptiste Grenouille.

Der Blondling hatte Geschmack, das musste man ihm leider Gotts zugestehen.

"Teufel nochmal!", wiederholte er, "Haben Sie den wirklich aus diesem Irrenhaus in der Altstadt?!"

"Der Ladenbesitzer wohnt in meiner Nachbarschaft", erklärte Fye munter, "Den werden wir für den Aperitif brauchen!"

"Den Ladenbesitzer oder den Armagnac?"

"Wenn Sie Ihren Aperitif gerne mit toten Menschen drin trinken, kann ich ja nochmal zu dem Ladenbesitzer gehen, Sie müssten mir nur Ihren Cutter leihen, ich hab grad keine Mordwaffe dabei--"

"Es heißt Katana, und nicht Cutter!"

" 'tschuldigung. Würden Sie mir mal zeigen, wie man so einen Cut-... ähh, Katana benutzt?"

"Besser nicht. Meine Vorhänge sind jedenfalls schon futsch, ich weiß nicht, was Sie noch alles damit kaputtschlagen würden. Trinkt man einen Aperitif nicht vor dem Essen?"

"Japp, ein Aperitif ist dazu gedacht, den Apettit anzuregen, daher macht man ihn auch oft mit Tomatensaft oder Gemüse", erläuterte der Blondling und stellte einige Gläser nebst einem Shaker auf die Arbeitsplatte, "Und dann gibt's noch den sogenannten Digestif."

"Und was gibt's zum Essen selbst?", fragte Kurogane misstrauisch und sah dem Blondling dabei zu, wie er geschäftig in der Küche umherflatterte und eine Unzahl von Töpfen, Pfannen und Tiegeln auf den freistehenden Herd klatschte.

"Überbackene Zwiebelsuppe als Vorspeise, mit südfranzösischen Cébettes, das sind diese weißen Zwiebeln da, dann Hähnchen in Weißwein, und zum Nachttisch Crème Citronée! Na, klingt das nicht verdammt originell?"

"Fast so originell wie Elvis the Belvis on the Memphis. Sie stehen wohl auf Französisches aller Art?"

Fye lachte und krempelte sich die Ärmel hoch. "So kann man's nennen! Vor allem auf die französische Küche! Ich sag Ihnen, Kurogane, es gibt fast nichts Besseres als das!"

Argwöhnisch beobachtete Kurogane, wie das Lächeln des Blonden etwas Traumverlorenes bekam, wie er all die Zutaten, die auf der Arbeitsplatte ausgebreitet lagen, allein mit den Augen liebkoste, während er ein Messer zur Hand nahm und eine der beiden Packungen mit geräuchertem Speck aufschnitt.

"Wissen Sie, einmal hatte ich das große Glück, von einem wirklich guten Koch ein paar Kniffe zu lernen. Ein einziges Mal. Von ihm hab ich auch gelernt, dass es nichts Schöneres gibt, als seinen Mitmenschen auf diese Art eine Freude zu machen. Finden Sie nicht auch, dass es etwas Wunderbares sein kann, die Menschen um sich herum zu erfreuen?"

Etwas in dem Killer verkrampfte sich schmerzhaft als Reaktion auf Fyes Worte.

"Schon. Denke ich."

"Denken Sie?"

"Wie haben Sie erraten, dass ich aus Japan komme?", wechselte er das Thema.

"Oh... das..."

Wieder lächelte der Konditorlehring. Schnipp, schnipp, schnipp, zerteilte das Messer den Speck.

"Ich weiß es wirklich nicht. Es war nur eine idée fixe , verstehen Sie? Es ist schwer zu sagen."

Er hob den Blick, und Kurogane spürte, wie sich ein Paar hell glasblauer Augen an seinem Gesicht festhefteten

"Ich glaub, es war Ihr Gesicht, das mich draufgebracht hat. Es hat sowas-... ja, sowas Strenges. Hier, helfen Sie mir bei den Zwiebeln?"

"Von mir aus. Ich kann's aber nicht. Warum streng?"

"Keine Sorge, es ist ganz leicht. Man muss die Zwiebeln nur unter fließendem Wasser schälen und dabei durch den Mund atmen, damit einem nicht das Heulen kommt. Also bestreiten Sie's nicht?"

"Nein, wieso auch?"

Der Konditorlehrling lächelte freundlich und griff sich eine Baguettestange aus der Tüte, um sie in Scheiben zu schneiden.

"Sie gönnen sich nicht viel, oder?"

"Kommt drauf an."

"Naja, ich glaube jedenfalls, dass Sie was erlebt haben, und seitdem sind Sie sehr streng mit sich selbst."

Der Schwarzhaarige hob abschätzig die Augenbrauen, während er erfolglos versuchte, die Zwiebeln zu schälen, ohne sie dabei komplett zu verstümmeln. Offenbar war es mit Zwiebeln anders als mit Opfern.

"Und Sie, was sind Sie?"

Ein kleines Lachen ertönte. Schnipp, schnipp, schnipp, zerteilte das Messer das Baguette.

"Ach, ich ... das tut kaum was zur Sache. Ich bin ganz einfach da. Geben Sie mir mal eben die Butter?"

Während Kurogane das tat, musterte er seinen ungebetenen Gast aufmerksam. Wo hab ich ihn bloß schon mal gesehen...

"Sie lieben sich selbst bis ins Abgöttische hinein, kann das sein?"

Der Blondling kicherte amüsiert. "Na, abgöttisch vielleicht nicht. Ich liebe mich mehr als... als--... Cornflakes, sagen wir mal so."

Der Killer verdrehte die Augen.

"Wunderbar. Sie lieben sich mehr als Cornflakes. Ihr Moralverständnis will ich haben."

"Naja, ich kann immerhin Treppen fegen. Das können Cornflakes nicht. Lieben Sie sich denn?"

"Offen gestanden nein."

"Gibt es dafür Gründe?"

"Sie nennen mir Ihre ja auch nicht."

Stille. Kurogane hielt beim Zwiebelschälen seinem jüngeren Gegenüber den Rücken zugedreht, doch er konnte förmlich fühlen, dass dieses immer noch lächelte.

"Sind Sie mit den Zwiebeln fertig?"

"Fast. Ich hab noch nie Zwiebeln geschält."

Fye grinste gewitzt und stützte amüsiert die Hände in die Hüften. "Meine Güte, was haben die auf der Arbeit nur mit Ihnen gemacht? Gehirnwäsche? Sie schreien mich heute ja gar nicht an!"

"Es war halt anstrengend", knurrte Kurogane unwillig, "Hier sind Ihre Zwiebeln."

"Wuaaah!", entfuhr es dem Blondling unwillkürlich, als er die verstümmelten Leichen in Augenschein nahm, die ihm sein Gastgeber auf dem Hackbrettchen servierte, "Was soll das sein, Dreharbeiten von Saw im Miniformat?"

"Ich kann's nunmal nicht besser", grollte der Killer.

Der Konditorlehrling grinste breit. "Also gut. Wissen Sie was? Dann machen wir jetzt eine Arbeitsteilung, damit's schneller geht! Sie kümmern sich um die Töpfe, um die Pfannen und ums Öl, ich schnippel sämtliche Zutaten, solange können Sie auch die Lauch-Gruyère-Cébettes-Mischung anrühren, die wir für die Suppe brauchen, und--..."

"Moooment mal, nicht so schnell! Was jetzt?"

"Machen Sie einfach alles so, wie ich's Ihnen zeige, okay? Hey, und gucken Sie doch nicht so miesepetrig! Es gibt noch eine Menge vorzubereiten, also zeigen Sie mal ein bisschen mehr Schwung! Stellen Sie sich vor, Sie dürften Ihren Vorgesetzten töten!"

"Juppidu", gab Kurogane tonlos zur Antwort, "Ich warne Sie, das alles läuft jetzt auf Ihre Verantwortung. Wenn ich sterbe, dann bring ich Sie um!"

"Ihre Logik ist bewundernswert. Nur keine Sorge! Das wird sicher ein toller Spaß!"

Der Killer seufzte wie ein unseliger Geist und ergab sich damit in sein unausweichliches Schicksal.

Was den Spaß anbelangte, hatte er so seine gewissen Zweifel. Aber wie sagte man so schön?

Erst schauen, dann sehen.
 

Später Abend.

In Haus Nummer fünf war fast alles still, doch diesmal war es nicht die übliche Totenstille.

Im Erdgeschoss brannte noch Licht. Weiches, angenehmes Flackern von Kerzen erfüllte die Küche und warf sanfte Schatten an die gekachelten Wände. Im Radio über der Spüle lief leise Ta P'tite Flamme .

Ein wohltuender Duft lag in der Luft des weitläufigen Raums und umhüllte einen wie ein unsichtbarer, warmer Schleier.

"Aaah!", rief Fye überglücklich aus, "Ich kann nicht mehr! War das vielleicht köstlich!"

"Ausnahmsweise kann ich Ihnen nicht widersprechen", gab Kurogane zurück und tupfte sich den Mund mit einer seiner Lieblingsservietten den Mund ab, "Auf den Kitsch mit den Kerzen hätte ich allerdings verzichten können."

"Hey, bei 'nem schicken Abendessen gehört das Kerzenlicht einfach dazu! Das ist wie bei Bonanza: ohne Schießereien, massenweise ungesunden Päriestaub und zusammengekniffene Augen läuft da auch nichts! Hat es Ihnen denn geschmeckt?"

"Hm. War jedenfalls mal was anderes, als irgendeine sterbenskranke Kuh in Steaksoße zu ersäufen."

Der Blondling lächelte und stützte sein Kinn auf den linken Handteller, nachdem er seinen Teller von sich geschoben hatte.

"Sehen Sie? Es gibt einfach nichts Besseres als gemeinsam zu kochen und nachher gemeinsam zu essen. Und Sie haben sich fürs erste Mal wirklich wacker geschlagen! Nichtmal die Küche ist explodiert!"

"Von mir aus."

Fye musterte seinen Gastgeber für einige schweigende Momente von der Seite. "Wissen Sie, Sie sehen jetzt nämlich viel entspannter aus als vorher. Hat Ihnen das Essen gutgetan? Geht's Ihnen besser?"

Der Schwarzhaarige legte gedankenverloren die Serviette zur Seite und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um die Arme hinter dem Kopf zu verschränken und den Blick ins Unbestimmte zu richten.

Eine gute Frage- ging es ihm jetzt eigentlich besser?

Hmm. Ziemlich schwierig. Erstmal vergewissern. Mit gehobenen Augenbrauen ließ er seinen Blick schweifen. Über die schlanken, weißen Kerzen, die mit ihrem Licht den ganzen Raum in warmen, weichen Schein tauchten, und von denen das Wachs in glanzhellen Tropfen herabperlte. Über den Tisch, auf dem nur noch einige wenige Überreste all der Köstlichkeiten standen, die sie sich vor wenigen Stunden gemeinsam einverleibt hatten. Über das glänzende Geschirr, über ihre beiden Cocktailgläser, in denen noch einige, vom Kerzenschein burgunderrot angehauchte Tropfen des Digestifs an den Glaswänden verblieben waren.

Über das Radio, aus dem leise die Töne des Liedes von Amélie-les-Crayons drangen.

Y a quelque chose de la vie dans tes yeux qui rient, y a cette p'tite flamme qui rit, qui brûle et qui brille...

"Möglich", sagte er.

Fye lächelte, und diesmal lächelten seine Augen mit. "Das freut mich. Ehrlich."

Ein Schweigen verging, in denen beide nur ihren Gedanken nachhingen und der rieselnden Musik lauschten.

"Sie quasseln mich ja gar nicht mehr voll", bemerkte Kurogane nach einer Weile.

"Und Sie schreien mich ja gar nicht mehr an", war die belustigte Antwort.

"Hmhm", brummte der Schwarzhaarige dumpf, "Stimmt. Vielleicht werde ich ja krank."

"Ich denke nicht."

Der Blondling sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den glasblauen Augen an.

Sein Veilchen war mittlerweile aufs Löblichste abgeschwollen.

"Wer weiß, Kurogane... das klingt zwar jetzt verrückt, aber vielleicht fühlen wir uns beide gerade wohl."

"Wohl?! Woran würden Sie das denn bitteschön festmachen?"

"Na, daran, dass wir nichts sagen. Wohlbefinden lässt sich eben am besten schweigend genießen. Warum muss man dieses gute Gefühl auch durch Worte kaputtmachen?"

Der Schwarzhaarige musterte seinen Gast mit einem abschätzigen Blick.

Wie er so dasaß, behaglich in seinem Stuhl zurückgelehnt und mit verschränkten Händen, wirkte er auf merkwürdige Weise anders als sonst. All das Zittrige, die Nervosität und diese Ruhelosigkeit, die Kurogane schon die ganze Zeit bei seinem Gast hatte beobachten können, schienen nun auf seltsame Weise von ihm abgefallen zu sein und hatten einer stillen Zufriedenheit Platz gemacht.

"Fühlen Sie sich denn nicht wohl, Kurogane?"

"Keine Ahnung. Heute weiß ich gar nichts mehr. Mir scheint, ich hätte Sie schon längst rauswerfen müssen, mein Bester. Es muss Ihnen ja wirklich Spaß zu machen, in meine Privatsphäre einzudringen, mich auszuquetschen wie 'ne arthrosekranke Birne und dabei selbst kein Wort über sich zu verlieren..."

"Wieso denn? Ich erzähle Ihnen doch ständig von mir!"

Geistesabwesend ließ Kurogane seine Halssehnen knacken und schluckte ein herzhaftes Gähnen hinunter.

"Nein, tun Sie nicht. Man könnte meinen, Sie hätten mindestens schon zwanzig Minderjährige vergewaltigt, fünfzig Großjuweliere ausgeraubt und mehrere Präsidenten ermordet. Wie kommt das?"

Stille. Der Schwarzhaarige starrte sein jüngeres Gegenüber abwartend an.

"Mein Leben ist kein Romanstoff, wenn Sie das erwarten", meinte dieser schließlich mit einem Grinsen.

"Meins auch nicht. Aber wessen Leben war schon Romanstoff? Haben Sie's schon mal so betrachtet?"

Der Blondling schüttelte den Kopf und streckte sich mit einem genüsslichen Ächzen von oben bis unten durch.

"Nein, hab ich noch nicht. Aber es gab doch bereits einige sehr bedeutende Menschen? Und man hat Bücher über sie geschrieben. Gandhi, Martin Luther King, Napoleon, Hitler, Caesar..."

Kurogane zuckte die Achseln.

"Meinetwegen. Aber was verstehen Sie unter 'bedeutend' ? Wann ist ein Mensch 'bedeutend'? Ich hab drei Jahre mit meiner Ausbildung zum Kadetten zugebracht, und ich weiß es heute immer noch nicht. So ist nunmal der Lauf der Welt."

"Sie sind ein Kadett?", fragte der Hilfswicht neugierig, "Einer dieser Elitekämpfer für die nationale Sicherheit?"

Der Killer starrte bewegungslos an die Decke. "Nein. Ein Spielzeugsoldat. Ein verdammter Spielzeugsoldat."

"Was?"

"Schon gut. Wer von uns kann schon etwas leisten, das Zeit und Raum für immer verändern würde? Die Welt dreht sich langsam, und wir wissen immer noch fast gar nichts. Das Leben ist ein einziger Lernprozess. Gab es je 'den' weisen Menschen? Man kann gar nicht genug Weisheit erlangen, wenn man auf dieser verfluchten Welt lebt."

Fye beobachtete seinen Gastgeber aufmerksam. "Möglich. Wer hatte noch nie den Wunsch, 'weise' zu sein? Oder etwas 'bedeutendes' zu vollbringen? Etwas, woran man sich erinnert und zu den Leuten sagt: Mann, das war vielleicht 'ne großartige Sache. Aber wenn man sich umsieht, muss man feststellen, dass die Zeit nicht stehenbleibt. Die Welt dreht sich immer weiter."

"Allerdings. Deswegen ist es auch Stuss, von den Leuten verlangen zu wollen, dass sie aus der Vergangenheit lernen sollen. Krieg, Gehaltserhöhung, Sex, Politik- im Endeffekt alles dasselbe. Der Mensch ist egozentrisch."

"Naja", meinte Fye mit einem belustigten Funkeln in den Augen, "Vielleicht ist der Mensch gar nicht so egozentrisch. Er will möglicherweise nur nicht in Vergessenheit geraten. Haben Sie sich umgesehen? Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Mensch ersetzlich geworden ist, und das ist traurig genug. Man will jemand Besonderes sein, und nicht nur irgendjemand."

"Klar", erwiderte Kurogane abfällig, "Man will nicht übergangen werden. Man will nicht nur ein Sandkorn an einem Strand sein."

Fye nickte. Die friedfertige Ruhe auf seinem hellhäutigen Gesicht wich einem ein kleinen, seltsam bekümmerten Lächeln.

"Stimmt. Jeder lebt in seiner eigenen kleinen Welt und hofft, irgendwo da draußen eine verwandte Seele zu finden."

"Genauso sinnlos wie der Mensch selbst", merkte der Schwarzhaarige geringschätzig an und gähnte herzhaft.

Der Hilfswicht zuckte die Achseln. "Kann sein. Aber wer weiß, vielleicht steckt auch hinter diesem Verhalten der Menschen ein-... nun ja, ein Wunsch? Ein Wunsch nach besseren Zeiten? Möglicherweise ist das das einzige, woran sich die Menschen klammern. Die Hoffnung auf bessere Zeiten."

"Ah ja? Und wenn sie endlich da sind, diese besseren Zeiten?"

Die Finger des Blondlings zuckten fahrig. "Dann empfindet man nichts als Schmerzen, weil man weiß, dass diese Zeit irgendwann vorbei sein wird. Es sind die besseren Zeiten, die sich der Mensch wünscht, Kurogane, finden Sie nicht auch?"

Der Schwarzhaarige schluckte. Da war es wieder, dieses Stechen in der Brust.

"Kann sein. Keine Ahnung."

"Was, nur so eine vage Antwort auf diesen tollen philosophischen Disput, den wir bisher hatten?"

"Sie können mich auch mal kreuzweise", war die halb geknurrte, halb gegähnte Antwort.

Fye kicherte ein wenig und legte mit einem Lächeln den Kopf schief.

Stille.

"Wissen Sie was, Kurogane?"

"Hm?"

"Es war ein schöner Abend. Ein so richtig schöner Abend. Und ich bin Ihnen dankbar, dass Sie dabei waren."

"Aha."

"In so einem Fall sagt man 'gerngeschehen' ",witzelte der Blondling.

"Mein Gott, immer dieser scheiß Floskelzwang! Dann bittesehr: gerngeschehen."

"Vielen Dank. Hey, das war ja fast filmreif! Wir hätten irgendwo 'ne Kamera aufstellen müssen, das hätte uns mindestens fünf Oscars, einen Jahresvorrat an Flanellpyjamas und zahllose Gratisbiere eingebracht!"

"Pah! Diesen schäbigen Oscar hätte ich höchstens eingeschmolzen!"

"Und dann?"

Der Schwarzhaarige schluckte nur mühsam ein weiteres Gähnen hinunter, bevor er sich mit einem Zeigefinger an die Stirn tippte.

"Und dann hätte ich mir einen goldenen Kochlöffel draus gegossen, wissen Sie."

Der Blondling schüttelte sich kichernd. "Wirklich praktisch! Ihren Ordnungssinn hätte ich gerne! Und wenn wir schon beim Ordnungssinn sind: wollen Sie nicht so langsam mal schlafen gehen? Anständige Leute gehören um diese Uhrzeit längst ins Bett!"

Abrupt hielt der Killer in einem herzhaften Gähner inne.

"Bitte was?"

"Na, schlafen gehen! Bettzeit!"

Wie zur Unterstreichung warf der Blondling einen Blick auf die Uhr. "Es ist schon fast halb zwölf! Und Sie sind doch sicher müde von der Arbeit, oder? Wollen Sie sich nicht hinlegen?"

"Und Sie unbeaufsichtigt in meinem Haus lassen? Dann kann ich ja gleich das Unfallkommando anrufen."

Fye lächelte. "Keine Sorge. Ich hab weder vor, Sie zu auszurauben, noch will ich Ihnen Hassparolen auf die Stirn schreiben oder über Ihre Adresse Pornobestellungen im Internet machen. Und Ihr Katana benutzen werd ich auch nicht."

"Was dann?", fauchte der Schwarzhaarige ungeduldig.

"Hmm... wie wär's, wenn ich hier noch den Abwasch mache und ein wenig aufräume?", schlug der Hilfswicht schließlich vor, "In der Spüle sieht's nämlich aus wie beim Grafen von Montechristo. Und Sie können sich's solange bequem machen und versuchen, ein wenig zu schlafen, ist das kein Vorschlag?"

"Vergessen Sie's, ich tue keinen Schritt in den ersten Stock, solange Sie unter meinem Dach sind. Womöglich krieg ich noch über Nacht Wahnvorstellungen, dass mir ein blonder Sandmann im Schlaf den Kopf abreißt."

"Soll ich dann vielleicht auch hier schlafen, wenn Sie sich fürchten? Ich schlafe in der Spüle und Sie auf dem Küchentisch."

"WAAAS?!!"

"War doch nur ein kleiner Scherz. Kommen Sie schon, wieso tun Sie sich nicht einfach den Gefallen? Sie kriegen ja vor lauter Gähnen den Mund kaum mehr zu. Ich hab so meine Erfahrungen mit Übermüdung gemacht, wissen Sie."

"Ist nur schwer zu übersehen", kam es grollend und gähnend zurück. "Also schön, dann schlaf ich eben. Aber ich geh nicht hoch in mein Bett, ich leg mich aufs Sofa im Wohnzimmer, dann höre ich wenigstens rechtzeitig, wenn Sie Scheiße bauen."

Der Blondling strahlte. "Na also, sehen Sie! Wieso denn nicht gleich so? Sie schlafen sich ordentlich aus, ich erledige den Abwasch, und wenn ich fertig bin, mach ich mich gleich vom Acker. Keine Sorge, spätestens um viertel nach zwölf sind Sie mich los."

"Jawohl, Mama", brummte der Killer angeödet und stapfte ohne viel weiteres Palaver auf den Flur, Richtung Wohnzimmer.

"Soll ich Ihnen vielleicht ein Schlaflied vorsingen?", rief sein ungebetener Gast ihm noch hinterher.

"NAIEN!!", brüllte Kurogane gereizt zurück, während er sich auf sein mit schwarzem Leder bezogenes Sofa fallenließ und in den Ritzen nach seiner schwarzen Fleecedecke wühlte, "Ich schau mir einen dieser alten, geschmacklosen Rambostreifen an! Dann kann ich immer exzellent einschlafen!"

"Sie Glücklicher! Tun Sie sich keinen Zwang an!"

"Bah! Ich doch nicht!"

Mit diesen Worten wälzten sich der Schwarzhaarige kopfschüttelnd auf seinem Sofa ein Stück vorwärts, um an den Korb mit den DVDs zu kommen, der immer am Fußteil lehnte, und suchte sich den billigsten Ballerstreifen heraus, den er auf Lager hatte.

Klick, Fach auf, DVD rein, klick, Fach zu, Fernseher an, Kissen zurechtgerückt, Decke ausgebreitet, Beine ausgestreckt.

Nichts leichter als das.

Nicht sonderlich interessiert beobachtete Kurogane Rambo, wie er mit irgendeiner Riesenkalaschnikov durch die Gegend rannte und alles umballerte, was sich bewegte, während in der Küche allmählich die Teller und Töpfe zu klappern begannen.

Diesem Frieden traute er jedoch nicht- dieser Hilfswicht heckte garantiert etwas aus, garantiert! Womöglich wachte er am nächsten Morgen auf und musste feststellen, dass sich sein gesamtes Haus über Nacht in eine Blaue-Elefäntchen-Hölle verwandelt hatte.

Ihm wollten zwar bereits die Augen zufallen, doch er schwor er sich felsenfest, dass er solange wachbleiben würde, bis sich dieser blonde Idiot endlich aus dem Staub gemacht hatte. Auf keinen Fall würde er auch nur eine Sekunde eher wegpennen.

Auf keinen Fall.
 

Viertel nach zwölf in der Nacht.

Hochzufrieden putzte sich Fye am Geschirrhandtuch die Hände ab und stellte, auf äußerste Lautlosigkeit bedacht, den letzten Teller in den Geschirrschrank zurück, bevor er noch schnell die leere Papptüte entsorgte und den letzten Rest der nicht verwendeten Zutaten in den Kühlschrank stellte.

Schließlich löschte er alle Lichter in der Küche, schlich sich auf Zehenspitzen auf den Flur und zog sich rasch Mantel und Stiefel an, bevor er einen vorsichtigen Blick ins Wohnzimmer riskierte.

Von Rambos Gebrüll und Rumgeballer auf dem Bildschirm mal abgesehen war alles ruhig.

"Kurogane?", flüsterte er fragend in die Dunkelheit hinein, die allein vom trüben Flimmerlicht der Glotze erhellt wurde.

Keine Antwort. Neugierig geworden lehnte sich der Blonde ein wenig weiter ins finstere Zimmer. Sein Blick schweifte suchend umher und schließlich fand er, was er suchte.

Sein Gastgeber lag halb versteckt unter einer dunklen Fleecedecke auf dem Sofa, beide Arme und Beine weit von sich gestreckt und mit halb offenem Mund. Er schlief wie ein Stein.

Wenn man ihm ein wenig länger zusah, kam man irgendwie auf den Gedanken, dass er möglicherweise tot sein könnte, doch zum Glück konnte man gerade noch erkennen, wie sich die Decke unter seinen Atemzügen hob und senkte.

Fye gestattete sich ein Grinsen und trippelte vorsichtig zu dem kleinen Glastisch vor der Flimmerkiste, auf dem die Fernbedienung lag, und drehte Rambo kurzerhand den Saft ab. Angenehme Stille legte sich über den dunklen Raum.

Mit schief gelegtem Kopf betrachtete der Konditorlehrling den schwarzhaarigen jungen Mann noch für eine Weile.

Seltsam- jetzt, wo er schlief, wirkte er gar nicht mehr so angespannt und gereizt wie sonst.

Denn obwohl seine körperliche Präsenz immer noch einen Eindruck ungebrochener Kraft vermittelte, ging nun eine tiefe Aura der Ruhe von ihm aus. Innere und äußere Ruhe.

So ruhig.

Fye lächelte und zog die Decke ein wenig zurecht, damit Kurogane am Rücken nicht kalt werden konnte.

"Schlafen Sie gut, Kurogane."

Draußen stand eine bleiche, silbrige Mondsichel am sternenübersprenkelten Nachthimmel, als er sich auf den Weg machte.

Ein kalter Wind kam auf und trug den Lärm der Stadt sanft mit sich fort.

Die knorrigen, schneebepuderten Zweige der Bäume begannen, ganz leise zu rauschen, als wollten sie ein Schlaflied für die Menschen singen.

Alles war still.



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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  Bito
2008-10-02T17:05:41+00:00 02.10.2008 19:05
xDDD
Das war wirklich sweet.
Zusammen kochen xD
Klang fast wie ein Date. x3
Einfach wieder super geschrieben.
*__________*
Von: abgemeldet
2008-09-19T20:17:49+00:00 19.09.2008 22:17
~Miauuu~ das war sooo schön. Zumindest der Teil mit Shaolan/ Sakura und Kurogane/ Fye^^ Wer hätte gedacht, dass die Beiden allen Ernstes friedlich miteinander umgehen können?? XD Und das sich Kuro beim Zwiebelschneiden absolut ungeschickt angestellt hat, fand ich irgendwie total süß *kicher*

Was mir allerdings nicht gefällt, ist dieser italienische Oberboss- der hat sein Gewissen echt zu einem Spottpreis auf der Müllhalde entsorgt. Wenn er überhaupt was gezahlt hat...
O'Connor scheint der ach so tolle Plan seines Vorgesetzten ja nicht zu gefallen, sodass vielleicht doch noch Hoffnung besteht, dass er Kuro warnt??
Wehe, du bringst Kuro, Fye, Shaolan oder Sakura um!!!

Grüssle, Ildi
Von:  Loveless
2007-03-15T11:47:37+00:00 15.03.2007 12:47
*freu*
Mal wieder ein klasse Kapitel!
Du machst einen wirklich süchtig nach dieser FF!!!
Aber wie kannst du so fies sein und deine ff so spannend machen????
Ich hoffe du lässt uns nicht allzu lange auf ein weiteres Kapitel warten!!!
Also schreib schnell weiter!!!!! Büttttteeee!!!!!!

Lieben Gruß und bis zum nächsten Kapitel
Loveless

@Flyinglamb: Saw-Zwiebel?!?!?!...XDDDDD lol
Von:  CptJH
2007-03-10T19:42:33+00:00 10.03.2007 20:42
Whaha~
Der Obermatze vom Dezernat wird mir sympathisch, irgendwie~
*lol*
Das mit dem Außer-Betrieb-Schild~
*weggeier*
Aber am besten fand ich das mit der goldenen Wurst und der Saw-Zwiebel~
*fast wieder anfang zu heulen vor Lachen*
Schreib weiter~ XD
Von:  BabyTunNinjaDrac
2007-03-09T18:08:10+00:00 09.03.2007 19:08
Das ist einfach nur niedlich *_* Das Kochen uns die Szene zwischen Sakura und Syaoran *__* Echt toll *fangirlz*
Aber sie wollen ihn töten? O__o
Chuu~
Von:  J-Silas
2007-03-08T18:50:13+00:00 08.03.2007 19:50
Schon wieder so ein klasse Kapitel x)
Ich kann gar nicht genug kriegen von dieser FF *schmunzel*
Aber schon krass, dass die Kurogane um die Ecke bringen wollen oO'
Das mit Fye war richtig süß, wie sie da zusammen gekocht und anschließend gegessen haben~
"Dreharbeiten von Saw im Miniformat?" wie geil xDD
Schreib schnell weiter, freu mich schon ^.~

Natzu~
Von:  _kuromoko-chan_
2007-03-08T15:19:00+00:00 08.03.2007 16:19
nyaa, endlich geht's weiter ~
Des kapi is ma wieder klasse geworden
armer kuro die wollen ihn um-bring-en! *kraisch*
wer meinem kuro was antut... *messer wetz*
mir is nur aufgefallen, dass fye den mantel irgendwie 2 mal auszieht als er in kuros haus geht xD
boah irgendwie hab ich jetzt hunger... geh dann ma wieder... französisches essen kaufen =3


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