Dracos Geheimnis, Part 1
Vor meinen Augen tanzten Bilder wie zusammenhanglose Filmausschnitte, hüpften auf und ab und wurden von immer wieder neuen abgelöst.
Ich schreckte luftschnappend aus meinen Träumen hoch.
„D-draco!“ brachte ich, noch immer heftig nach Atem ringend, hervor, dann schlich ich mich aus dem Bett und stürzte zu meinem Koffer, um den Tarnumhang daraus hervorzuziehen.
Plötzlich und aus völlig unerklärlichem Grund hatte mich eine Ahnung aus den wirren Träumen gerissen – eine Ahnung, die etwas mit Draco zu tun hatte. Er hatte sich seltsam mir gegenüber verhalten und ich hatte keinen blassen Schimmer, warum, aber das war es nicht. Ich hatte das Gefühl, ihn heute Nacht an einem anderen Ort aufzufinden als friedlich schlummernd im Kerker der Slytherins.
Ich kramte meinen Zauberstab unter den wahllos verteilten Klamotten hervor, aber etwas fehlte noch. Ich beugte mich erneut über meinen Koffer und begann zu suchen. Ich hatte sie lange nicht mehr benutzt, aber sie musste irgendwo hier sein...
Nacheinander flogen diverse Kleidungsstücke, Trankzutaten und Bücher aus dem aufgeklappten Inneren meines mit rotem Stoff ausgekleideten Koffers, dann – nachdem ich meine gesamten Zauberutensilien fein säuberlich auf dem Boden des Saals verteilt hatte – fand ich sie, die Karte der Rumtreiber.
Ich riss sie mit einer kraftvollen Bewegung unter meinem Besenpflegeset hervor und machte mich mit schnellen Schritten auf den Weg, ohne das Chaos, das ich in Minutenschnelle angerichtet hatte, auch nur ansatzweise wieder zu beheben.
Den Tarnumhang überschmeißend stolperte ich die Treppe der Jungenschlafsäle hinunter, schob rüde das Portrait der fetten Dame beiseite, die sich über meine Unhöflichkeit beschwerte, sie mitten in der Nacht einfach aufzuwecken, bis sie bemerkte, dass dort niemand stand, der ihr zuhörte. Ich konnte ihren erstaunten Blick im Nacken spüren, der das leise Rascheln meines Umhangs verfolgte, bis ich mich außer Hörweite befand.
Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich den nächsten Gang entlang schlich. Ich hatte nicht viel Zeit – auch das hatte ich unbestimmt im Gefühl.
„Lumos!“ wisperte ich nachdrücklich und starrte die Karte an.
Besonders viel zu erkennen war nicht in dem schwachen, flackernden Licht, das aus meiner Zauberstabspitze hervorgebrochen war, aber es reichte, um die kleinen, sich hektisch auf dem Papier bewegenden Punkte den Namen zuzuordnen, die über ihnen geschrieben standen. Der Punkt namens ‚Draco’ befand sich tatsächlich bereits einige Meter von den Räumen seines Hauses entfernt und raste nahezu durch die engen, dunklen Korridore des Hogwarts’schen Kerkers.
Den Blick starr auf das vergilbte Papier geheftet, rannte ich los, dem kleinen Punkt, der meinen Freund darstellte, entgegen. Draco verfolgend achtete ich nicht länger auf den Weg, den ich einschlug und so bemerkte ich auch die Treppe nicht, die auf der Karte plötzlich ihre Position zu ändern schien und sich etwa um 90° drehte. Es war genau die Treppe, auf die ich gerade zulief.
Dass sie verschwunden war, wurde mir erst bewusst, als mir von einem Moment auf den anderen der Boden unter den Füßen fehlte. Einen schier endlosen Augenblick hing ich in der Luft, dann fiel ich.
Geistesabwesend haspelte ich einen Spruch, den mir einst Hermine beigebracht hatte. Theoretisch sollte er meinen Sturz abfedern – wäre ich mir nicht so sicher gewesen, die falsche Formel erwischt zu haben. Doch als ich den Boden berührte, wunderte ich mich über die weiche Landung.
Zum Glück war es keine der Haupttreppen gewesen, die über den mehrstöckigen Flur miteinander verbunden waren und so war ich nicht besonders tief gefallen. Die Landung im Hauptflur hätte ich vermutlich nicht überlebt. Aber ich war mir so sicher gewesen, den falschen Spruch benutzt zu haben, also worauf-
Meine unbeendete Frage im Geiste wurde durch ein herzzerreißendes Jaulen beantwortet, begleitet von einem darunter gemischten Fauchen. Einen Sekundenbruchteil später sah ich eine lärmende Katze den Flur heruntersprinten, um ihrem Besitzer mit stummen Zeichen zu bedeuten, dass noch jemand im Schloss auf den Beinen war, der keinesfalls die Erlaubnis dazu besaß.
„Scheiße!“ stieß ich einen kurzen Fluch zwischen den Zähnen hervor, bevor ich mich wieder auf Draco und auf meine enorme Zeitnot, was seine Verfolgung anging, besann.
Ich hetzte weiter, in die Richtung, aus der Draco kam und die praktischerweise genau die war, in die ich vor dem sicherlich bereits herannahenden Filch flüchten konnte.
Ich behielt weiterhin gespannt den kleinen Punkt auf der gelblichen Karte im Auge, hatte allerdings begonnen, auch ein wenig darauf zu achten, wo ich hinsprintete. Noch eine solche Panne konnte ich mir auf keinen Fall erlauben, wenn ich Draco nicht aus den Augen verlieren wollte, der sich gerade einem altbekannten Korridor meiner Wenigkeit näherte.
Es war der Korridor, in dem wir im letzten Jahr regelmäßig die Treffen der ‚D.A.’ abgehalten hatten. Ich vergrößerte meine Schritte und erhöhte meine Laufgeschwindigkeit. Meine Knöchel mussten schon lange unter dem flatternden Umhang zu sehen sein, aber das war mir egal. Wenn meine Vermutung stimmte...
Ich befand mich etwa ein Stockwerk unter dem Korridor, den Draco inzwischen betreten hatte, als der Punkt auf der Karte abrupt stoppte, um sich danach sofort wieder in Bewegung zu setzen, dreimal ein paar Meter hin- und wieder zurück.
„Der Raum der Wünsche“, flüsterte ich, völlig außer Atem, „wusst ich’s doch!“
Ich sprang förmlich die Treppe hinauf und hätte mich fast schon zum zweiten Mal an diesem Abend auf die Fre...ähm...Nase gelegt, aber als ich in dem weitläufigen Gang ankam, dessen einzige Zierde der außerordentlich hässliche Trollteppich darstellte, war Draco bereits verschwunden.
Ich blieb vor dem Wandbehang stehen und dachte nach. In den letzten Wochen war Draco immer untersetzter geworden. Er war schon früher nicht gerade muskulös gewesen, aber irgendetwas schien ihm zuzusetzen. Auch schien ihm Schlaf zu fehlen, seine Noten wurden stetig schlechter und die Schatten unter seinen Augen tiefer.
Was auch immer ihm den Schlaf und sämtliche Kraft raubte, es schien sich in diesem Raum zu befinden.
Ich musste da rein, verdammt nochmal!