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Mitja

von

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Das ist ja wie in so einer kranken Geschichte hier

Kommi: Entstand Ende letzten Jahres als Weihnachtsgeschenk für eine Freundin und wuchs dann weiter - ich habe für keine andere FF so viel Zusatzmaterial schreiben müssen ^^

Sie ist weder besonders tiefgehend noch irgendwie bedeutsam - ich habe einfach Spaß daran gehabt, sie zu schreiben, und sie entstand einzig und allein mit der Bestimmung, mich und andere zu unterhalten. Wer Spaß an lockerer Fantasy und einem Haufen niedlicher Charas hat, sollte wissen, was ich meine. Nach Monaten habe ich mich nun entschieden, sie zu posten. Es wäre zu schade um die viele tage- und nächtelange Arbeit, die darin steckt, auch wenn man es nicht auf den ersten Blick merken mag. Und vielleicht gefällt es jemandem gut ^_^

Bis jetzt stehen 115 Seiten; mal sehen, wo ich die Einschnitte für die verschiedenen Kaps mache ^^

Ich sag zu meinem Schreibstil dieses Mal nur:
 

I made my song a coat

Covered with embroideries

Out of old mythologies

From heel to throat;

But the fools caught it,

Wore it in the world’s eyes

As though they’d wrought it.

Song, let them take it.

For there’s more enterprise

In walking naked.

- W. B. Yeats: A Coat
 

Mitja
 

Prolog
 

“Der Gehängte.” Sacht wurde eine Karte auf den von grauem Staub bedeckten Holzdielen abgelegt. “Der Stern.” Eine weitere wurde liebevoll und achtsam daneben plaziert. Sonnenflecken tanzten auf dem Boden und ihr Licht verfing sich in dem Staub, der überall aufgewirbelt in der warmen Sommerluft hing. Das grüne Leuchten der Blätter in der Nachmittagssonne war durch die sorgsam mit dem Ärmel freigewischten kleinen Fensterscheiben zu sehen. Eine schmale Gestalt saß auf dem altersschwachen Holz des nach altem Staub riechenden Dachbodens, die aquamarinblauen Augen voller Ernsthaftigkeit auf die vor ihm liegenden Karten gerichtet. Sein wirres hellblondes Haar hing ihm ins Gesicht, als er sich im Schneidersitz vorbeugte und sie freudig betrachtete. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. Er lehnte sich zurück und wischte sich kichernd den feinen Staub von der schlichten weißen Kutte. Seufzend schloss er die Augen und genoss die spätsommerliche Ruhe, die er so liebte an diesem stillen Platz.

Er kam mit seinen Karten hierher, wenn er allein sein wollte. Seltsam geborgen fühlte er sich zwischen den verstaubten Möbelstücken, den wunderbar duftenden Büchern, dem großen, goldgerahmten Spiegel neben sich, der seine Lieblingsantiquität unter all den Schätzen auf dem weitläufigen Dachboden war und von ihm jedes Mal aufmerksam vom Staube befreit wurde, ehe er sich davor niederließ, auf den schimmernden Lichtflecken und unter dem uralten Gebälk in der Höhe, von der Falltür aus nicht sofort zu sehen. Dies war sein privates Reich.

Er zog eine weitere Karte vom Stapel neben sich. Er hatte nie ihre Bedeutungen gelernt, aber er liebte es, sie zu betrachten, ihre Motive zu kombinieren und ihre Welt um sich herum aufzubauen. Sie waren sein größter Schatz.

Der Junge lächelte, als er die soeben gezogene Karte hochhob. Das wohlvertraute Gesicht seines absoluten Lieblings sah ihn an. Mit der angemessenen Sorgfalt legte er die Karte auf einen Ehrenplatz, über den anderen. Glücklich sah er aus seinen verträumten Augen auf sein Werk hinab. Er lachte leise. “Mein Magier...”

Als er den zerzausten Kopf wieder hob, sah ihm plötzlich aus dem alten Spiegel die sardonisch grinsende Grimasse eines totenbleichen Narren in die Augen.
 

Kapitel I : Das ist ja wie in so einer kranken Geschichte hier
 

“Autsch, verdammt!”

Der Fluch war mir über die Lippen gekommen, ehe noch das scheppernde Klirren der zu Boden gerissenen Dessertschale die Luft zerriss. Ich stolperte und fand mich in einer ekelhaften Pfütze aus auf dem Küchenfußboden verteiltem Milchpudding wieder, der zum Glück noch nicht fertig gewesen war - falls doch, dann hätte mich Wilko, der Küchenchef, sicher umgebracht, denn das Gericht wäre dann bestimmt hundert Zolny wert gewesen. Trotzdem glaubte ich, er würde es doch tun, als er mich am Kragen packte, dass mir die Luft wegblieb, und mich vom Boden hochriss.

“Du verfluchter Idiot!”, heulte er in Rage. “Was hast du jetzt schon wieder angestellt!” Ich wollte es ihm gerade sagen, für den Fall, dass er es nicht bemerkt hatte, aber er ließ mich gar nicht zu Wort kommen, sondern knallte mir seine Hand ins Gesicht, so dass mir für einen Augenblick bunte Sterne vor den Augen flackerten. Die anderen Küchengehilfen hatten für einen unbeobachteten Augenblick in ihrer momentanen Arbeit innegehalten und sahen verstohlen zu, froh, dass nicht sie das Objekt von Wilkos Zorn waren.

“Du dummer Bengel!” schrie er und schüttelte mich wie einen jungen Hund. “Lass mich gefälligst los”, zeterte ich und versuchte, seine Hand von meinem Nacken zu lösen. Er tat mir den Gefallen und schleuderte mich zurück in die schmierige Pfütze, wo ich ausrutschte und mir einen Schnitt an einer der Scherben einhandelte bei dem Versuch, mich wieder zu meiner vollen Größe von einem Metron siebzig aufzurichten. “Au! Scheiße!”

“Du hast die längste Zeit in diesem Haus gearbeitet”, brüllte mir der Meisterkoch ins Gesicht. “Du hast mir ein Mal zu oft das Dessert ruiniert, du verdammter Straßenköter!” “Fein”, zischte ich. “Ich hab mich schon gefragt, wie viel ich noch zertrümmern muss, bis du mich endlich freigibst, du fetter Gockel!” “Raus!”, kreischte Wilko schrill. Sein teigiges Gesicht hatte sich mit roten Flecken bedeckt. Das sah vielleicht scheiße aus.

“So einen guten Küchengehilfen wie mich findest du so schnell nicht mehr; nur dass dir das klar ist!” Einer seiner bebenden Wurstfinger zeigte stracks zur Tür. Ohne ein weiteres Wort riss ich mir diese lächerliche Schürze vom Leib, nicht ohne mir vorher damit das Blut von der Hand zu wischen, und schmiss sie in die Puddinglache. Dann bahnte ich mir meinen Weg zur Tür. Hinter mir hörte ich noch Wilko keifend die anderen antreiben.

Dieses blöde Festmahl zuzubereiten hatte mir eh keinen Spaß gemacht. Ich bekam ja doch nichts ab, sondern nur all die fetten Bonzen hier oben im Patrizierviertel!

Als ich die Hand schon auf der Klinke hatte, hörte ich noch jemanden hinter mir meinen Namen rufen: “Hey! Mitja!”

Ich wandte mich um. Sergej, einer der anderen Gehilfen, grinste mich an. “War aber ‘ne geile Aktion.” Sein Freund Anton nickte zustimmend. Er konnte vor Lachen nicht mehr sprechen. “Ja”, knurrte ich. “Du kannst mich auch mal.”

Als ich den Raum verließ, hörte ich noch ihr schallendes Gelächter hinter mir herwehen, ehe die Tür quietschte und schwer ins Schloss fiel. Die Kälte hier kam so plötzlich nach der Hitze der Küche, dass ich erst einmal wie schockgefrostet stehen blieb und versuchte, mein Zähneklappern zu unterdrücken. Dann schob ich die Hände in die Taschen und stiefelte los.

Hier, im besseren Teil der Stadt, waren die Straßen vom tiefen Schnee befreit, durch den ich mich erst an diesem Morgen auf dem Weg von zuhause hatte kämpfen müssen und mir dabei gehörig nasse Füße geholt hatte, denn meine Stiefel waren nicht mehr das, was sie vor langer Zeit mal gewesen waren. Ich versuchte, trotz der beißenden Winterkälte den letzten Gang durch das bessere Viertel zu genießen, denn jetzt, wo ich meine Arbeit los war, war ich auch nicht mehr berechtigt, mich hier aufzuhalten. Ich hatte noch meinen Passierschein, aber der nützte mir nichts, wenn der Name darauf nicht mit einem der Namen auf der Liste der Gardisten übereinstimmte, und Wilko würde, wie ich ihn kannte, sofort jemanden losgeschickt haben, um mich streichen zu lassen. Wahrscheinlich Sergej. Die Garde kannte er gut genug, und in der Küche war er keine große Hilfe, sondern mehr so das Mädchen für alles.

Ich seufzte und wich einer von einem schön verzierten Dach herabrauschenden Schneelawine aus. Na ja. In meinen dreieinhalb Monaten in Wilkos Küche hatte ich mich im Bereich Desserts auch nur wenig bewährt, obwohl ich gut servieren konnte, wenn man mir erstmal das wirre pechschwarze Haar zurückgebunden und geordnet hatte, so dass ich, Sergejs Angaben nach, wenigstens sehen konnte, was ich auftrug. Es hing mir oft in die Augen. So mancher reichen Lady hätten meine Augen sicher gefallen - grün wie Smaragde, mit Sprenkeln von Gold. Nun, darum musste ich mir jetzt keine Sorgen mehr machen - immerhin war ich meine einzige Verdienstmöglichkeit los.

Verdammt! Ein Schwall Gossenflüche ergoss sich über einen wehrlosen Schneehaufen, und dann bekam das dumme weiße Zeug auch noch einen saftigen Tritt von mir ab. So! Wirklich besser fühlte ich mich dadurch aber nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich jetzt meinen Lebensunterhalt bestreiten sollte. Gut; ein wenig hatte ich gespart - für den Winter dürfte es noch reichen, selbst wenn er so hart blieb wie bisher. Aber dann? Es gab nicht viel, was ich in dieser Stadt tun konnte. Ich brachte keinerlei Voraussetzungen mit. Ich konnte nicht mal lesen. Das war hier in diesem Viertel schon die absolute Unterschicht. Ich hatte davon geträumt, hier wohnen zu können. Hier zu arbeiten schien mir ein Schritt in die richtige Richtung gewesen zu sein. Mit einem letzten, langen Blick zurück passierte ich das Tor in die Unterstadt, von einem Gardisten scharf beäugt. Ich konnte nicht einmal meinen Ausweis fälschen, um zurückzukommen. Ich kannte auch niemanden, der schreiben konnte; Wilko und die Köche ausgenommen.

Ab dem Moment, in dem ich das Tor durchquert hatte, reichte der klebrige Schnee mir wieder bis zu den Knien. Die unterste Schicht war festgefroren, und ich musste sehr vorsichtig sein, um nicht auszurutschen und mir unter diesen Bedingungen noch ein Bein zu brechen oder gleich beide. Als ich endlich das kleine, von außen an die Mauer geduckte Haus erreichte, in dessen oberem Stockwerk ich wohnte, zitterte ich vor Kälte. Es war ein klarer Tag, und die Luft war frostig wie zuletzt vorige Woche.

Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, meine Tür abzuschließen, obwohl ich wirklich nichts besaß, was die Mühe eines Einbruches wert war, aber so dauerte es eine Weile, bis meine tauben Finger endlich die stets in den Angeln verzogene Tür entriegelt hatten und ich sie mit einem Stoß meines Knies aufbrechen konnte. Ich gehörte zu den Glücklichen, die ein festes Haus mit Wänden aus Stein und Lehm bewohnten und nicht so ein klappriges Skelett aus Holzabfällen, wie so viele Familien, gerade noch weiter unten in der Stadt, Richtung Fluss. Allerdings war es natürlich auch hier drinnen kalt, nach fast einem ganzen Tag ohne ein wärmendes Feuer. Fröstelnd erklomm ich die schmale Stiege zu meinem kleinen Obergeschoss, das im Grunde aus einem einzigen Raum bestand. Der Abort war draußen, neben dem Haus. Oben angekommen, unter der schiefen Decke, unter der sich größere Menschen wohl hätten ducken müssen, war das erste, was ich tat, mir ein schönes Feuer mit dem teuer erworbenen Holz zu entzünden. Bis es eine annehmbare Größe erreicht hatte, kauerte ich mich, in meine bunt aus vielen verschiedenen Stücken zusammengesetzte Wolldecke gehüllt, eng davor, darauf bedacht, nicht mein wertvollstes Stück in diesem Winter den Flammen zu übergeben. Das wäre wahrlich schade um das gute Ding gewesen, das sogar die alte Frau von nebenan überlebt hatte, bevor es in meinen Besitz übergegangen war, und es leistete mir ebenso gute Dienste, wenn auch meine Knochen nicht so alt waren. Dann nahm ich ein frühes Abendbrot ein.

Draußen hatte bereits die schnelle Dämmerung eingesetzt, die in dieser Stadt das sichere Zeichen dafür war, dass man schon längst zuhause sein sollte, denn so rasch, wie die Nacht um diese Jahreszeit, dem langen, dunklen Winter, hereinbrach, war es zu spät, sich jetzt noch auf den Weg zu machen. Die Einheimischen wussten das, und die Fremden, die sich nachts außerhalb des Patrizierviertels aufhielten, wussten auf sich aufzupassen. Ebenso wie ich. Ich hatte keine Wahl.

Ich erblickte mein Gesicht in der scharfkantigen Scherbe, die ich meinen Spiegel nannte, und verabschiedete mich schon mal wieder von dem sorgenfreien Mitja, der eine Arbeit hatte. Dabei fielen mir wieder die Puddingflecken auf meiner Kleidung ein. Mein ganzes Hemd war eingesaut, und ich hatte nur zwei davon! Zudem stellte ich resigniert fest, dass das übrige Blut auf meiner Hand zu schmelzen begonnen hatte. Ich schmolz mir also meinerseits ein bisschen Schnee von der Fensterbank in einem zerbeulten Kessel über dem Feuer und machte mich an die verhasste Arbeit, wobei ich trotz um die Schultern geschlungener Decke heftig zitterte und diesen ewigen Winter verwünschte, der die Stadtbevölkerung jedes Jahr aufs neue völlig vergebens dezimierte. Die Gruben hinter der Stadt füllten sich bereits wieder, das musste ich nicht sehen, um es zu wissen. Götter, doch nicht vor der Stadt! Nicht, wo der ganze hohe Besuch einkehrte. Und die Bettler saßen; egal, wie oft man sie fortjagte. Ich konnte mir ein hämisches Grinsen nicht verkneifen, nachdem ich mein Hemd hoffentlich nahe genug an der Feuerstelle aufgehängt hatte, um am nächsten Tag nicht das Eis abbrechen zu müssen, und sichergestellt hatte, dass das Feuer nicht in der Nacht erlosch und ich versehentlich erfror. Dann kroch ich unter meine Decken, die Wolldecke obenauf, und baute mir auf der harten Strohmatratze so gut es ging ein warmes Nest, in das ich mich eng hineindrängte, um mein Zittern zu vertreiben. Ich konnte das Bett nicht so nah ans Feuer stellen, ohne meine Verbrennung zu riskieren, obwohl der Gedanke manchmal an Reiz gewann, aber nein.

Ich versuchte zu schlafen. Im Schlaf musste ich mir nicht so viele Sorgen machen. Um die Kälte. Um das Geld, das zur Neige gehen würde. Darum, dass ich wieder ganz für mich vollständig in der Unterstadt gelandet war. Darum, dass mein Leben ein einziger Krampf war, gegen den ich nichts unternehmen konnte.

Ich hatte einen äußerst eigenartigen Traum in dieser Winternacht.

Um mich herum war nichts als schnell vorüberziehende dunkelgraue Wolken, dick wie Gewitterwolken. Ich dachte erst, ich müsste fallen, aber ich tat es nicht. Einige Metra vor mir saß ein Junge in den Wolkenfetzen, die um seinen Schoß spielten. Seine Haare waren so blond, wie die meinen schwarz waren, und der dünne Regen glitzerte darin; der Sturm riss an seiner Kutte. Er war vollauf damit beschäftigt, eine Ansammlung Karten vor sich auszulegen - immer sieben Karten, dann begann er wieder von vorne. Die blasse Gestalt schien mich gar nicht zu bemerken; er war so versunken in sein Tun.

Auf mich wirkte er wie ein Windgeist aus einem Märchen; einer von den Naturgewalten, die über Regen und Sturm gebieten. Als ich näherkam, blickte er auf, und ich merkte, dass er nicht so unaufmerksam war, wie er tat. Seine großen Augen waren blau wie der Himmel im Hochsommer.

Sein verträumter Ausdruck verschwand, und seine blauen Augen weiteten sich, als er meiner gewahr wurde. Ich glaubte, etwas Bekanntes in ihnen zu entdecken, aber ich konnte es nicht benennen.

“Du bist es!” Seine Stimme war leise, und sie klang überrascht, aber nicht unfreundlich. Sie passte so gar nicht zu der Ausstrahlung von Macht, die sein seltsames Verhalten mir suggeriert hatte. Er war möglicherweise noch jünger als ich.

Ich war mir aber sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Er hatte etwas an sich, dass ich unter Garantie überall wiedererkannt hätte. “Tut mir leid; ich kenne dich nicht.” Er schüttelte den Kopf. “Aber ich kenne dich. Ich hätte nicht gedacht, dass du zu mir kommen würdest. Was willst du von mir?” “Ich?” Ich war verwirrt. “Ich hätte gedacht, dass du etwas von mir willst. Ich träume doch nur!” Er sah mich groß an. Dann: “Du weißt es gar nicht, oder?” “Was?”

Er hob die oberste Karte von seinem Stapel ab. “Du bist der Magier.”

Ich nahm sie aus seiner Hand entgegen. Der Mann darauf trug eine schwarze Robe und einen Stab, er war noch von anderen seltsamen Dingen umgeben; er wies mit einer Hand nach oben. Zwar war er eindeutig um Jahre älter als ich, aber der fremde Junge hatte recht: Er trug eindeutig meine Gesichtszüge. Es war, als sähe ich in einen Spiegel. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, und ich gab ihm die Karte schnell wieder zurück.

“Ich habe keine Ahnung, was ich auf dieser Karte mache”, antwortete ich ihm auf seinen fragenden Blick hin. “Ich bin nur eingeschlafen und jetzt bin ich hier, aber ich bin ganz gewiss kein Magier.” “Das musst du sein”, sagte der Junge voller Vertrauen. “Die Karten haben mich noch nie belogen.” Ich wollte das Thema nicht weiter vertiefen. “Was machst du eigentlich hier?”, fragte ich ihn. Er sah mich an wie ein Reh.

“Ich weiß es ehrlich gesagt nicht”, hauchte er. “Ich saß vor dem Spiegel, und auf einmal war ich dahinter; ich weiß nicht, wieso, oder warum ich plötzlich die Karten verstehen kann. Sie zeigen mir jetzt Dinge, aber ich weiß nicht, zu welchem Zweck ich hier bin. Es ist alles wie eine wiederbelebte Erinnerung in meinem Kopf. Aber ich weiß, dass du nicht hier sein sollst. Du kamst hierher, zu mir, auf mein Rufen hin. Mich hat der Narr geholt.” “Der Narr?”, fragte ich. “Welcher Narr?” Aber der Junge hatte seine Karten schon wieder ausgelegt und wieder eingesammelt. “Du musst gehen”, drängte er mich. “Er kommt!” “Was? Wer kommt? Und wo soll ich hin?” “Der Narr”, flüsterte er. “Der Herrscher über das Schattenreich. Wach einfach auf, Magier.” Ich merkte schon, wie der Traum mir entglitt. Eine letzte Frage stellte ich noch: “Wer bist du überhaupt?” Die Wolken um uns herum verschwanden. Wie aus weiter Ferne hörte ich noch seine kindliche Stimme hinter mir hergleiten: “...Elias...” Dann schlug ich endgültig die Augen auf.

Es war noch nicht einmal wieder hell, aber die in meinem Kopf umherwirbelnden Fetzen meines Traumes ließen mich für eine Weile vergessen, wo ich mich befand. Es war alles so real gewesen. Ich ertappte mich beim ernsthaften Nachgrübeln über den kleinen Kartenleger. So ein Unsinn. Ich konnte seine fragenden blauen Augen nicht vergessen, aber er war trotz allem immer noch eine Traumgestalt, und nicht mehr. Der Magier, so ein Unsinn, wirklich. Ich kannte nicht mal einen einzigen Magier. Hier oben im Norden gab es fast nur Menschen. Ich hatte mich nie nach magischen Kräften gesehnt.

Magier sollten reich sein. Vielleicht so eine Art verdrehter Wunschtraum... Wirklich, wenn jemand von uns beiden der Magier war, dann doch wohl der blonde Junge, Karten hin oder her! Vielleicht sollte er erstmal sehen, was er selbst war, ehe er sich in seine komischen Karten versenkte.

Aber wie dem auch sei - ein Traum war und blieb ein Traum. Wichtiger war, wie mir jetzt auffiel, dass das Feuer am Verlöschen war. Vermutlich hatte die Kälte mich geweckt. Ich wickelte mir die Decke eng um die nackten Schultern, ehe ich mich auf bloßen Füßen schaudernd zum Kamin begab, um ein wenig von dem duftenden Tannenholz nachzulegen. Als ich gerade in mein angewärmtes Bett zurückkehren wollte, krachte etwas unter lautem Getöse durch mein Dach, und riss unter wildem Gewirbel von Federn und eiskaltem Schnee einen Teil davon und einen Schwall frostiger Nachtluft mit, ehe es dumpf auf meinem Bett aufschlug und mit einem Aufstöhnen liegen blieb. Das Geschöpf, dass in der Unordnung lag, biss sich in die Hand, um nicht laut aufzuschreien, und biss so fest, dass es blutete. Ich starrte es nur an.

Ich war es nicht gewohnt, dass mitten in der Nacht Jungen mit schneeweißen Schwingen durch meine Zimmerdecke brachen.

Geflügelte verirrten sich so gut wie nie hierher; sie vertrugen die monatelangen Winter so hoch im Norden nicht. Dieser war auch nicht freiwillig hier; ich sah eine schwere Eisenkette, die um seinen linken Flügel geschlungen war und ihn herabgerissen hatte, als er zu fliegen versuchte. Er war verdreht und blutete, wo die Kette ihn wundgerieben hatte.

In diesem Moment sah er mich und starrte mich aus lavendelfarbenen Augen entsetzt an, ehe wir von oben - durch das Loch in meinem Dach! - laute Stimmen hörten und synchron den Kopf empor rissen. “Ich weiß doch auch nicht, wo er ist, verdammt! Lass doch; die nehmen ihn jenseits der Mauer auseinander!” Die Stimmen kamen aus dem Bonzenviertel und näherten sich der Mauer von der anderen Seite. Ohne lange darüber nachzudenken, nahm ich die schwere Wolldecke von meinen Schultern und warf sie über den geflügelten Jungen, der sich flach hinlegte und sich nicht rührte. Schnell sprang ich neben ihn aufs Bett, schnappte mir eine sackleinerne Decke und versuchte, sie unter lautem Fluchen über das soeben entstandene Loch zu spannen. Ich fiel fast vom Bett, in der Kälte mit freiem Oberkörper. Meine Zähne schlugen so heftig aufeinander, dass ich dachte, ich müsste die Bonzen drüben aufwecken. Es dauerte auch nicht lange, da tauchten drei Gesichter über der Mauer auf. Sie waren nicht von der Garde; ich konnte so etwas wie eine unglaublich dumme Phantasieuniform erkennen. “He, Junge! Was machst du da?”, brüllte einer von ihnen zu mir herunter. “Ja, lacht nur”, fauchte ich ihn an, obwohl er nicht einmal gelächelt hatte. “Euch kommt wohl nie das halbe Dach runter, wenn’s schneit draußen, was?” Ich bemühte mich, meiner Stimme einen angemessen zickigen Tonfall zu geben. Jetzt lachten die Männer doch; na gut. “Bist du alleine?”, fragte der erste dennoch misstrauisch. Ich baute mich beleidigt auf und reckte den Kopf zu ihnen empor. “Soweit kommt’s noch, dass ich euch die Namen aller meiner Kunden aufzähle! Wenn ihr was von mir wollt, hättet ihr eher kommen müssen; jetzt ist’s zu spät.” Dann ignorierte ich sie und fuhr fort, die Decke an dem Loch zu befestigen.

Wie erwartet zogen sie danach schnell ab und fragten nicht weiter nach. Als ich endlich das Loch verschlossen hatte, ließ ich mich seufzend aufs Bett fallen und nahm mir schnell die übrigen Decken.

Unter der Wolldecke tauchte der zerzauste weiße Haarschopf des Geflügelten auf. “Danke”, sagte er halb erstickt.

“Kein Ding; aber jetzt sag mir erst mal, warum ich für dich den Strichjungen gespielt habe! Wer bist du eigentlich? Ich kenne dich gar nicht; ich hoffe, du hast eine plausible Erklärung, warum du meine Wohnung zerstört hast!” Ich wies auf die überall herumliegenden Federn. “Entschuldigung...”, murmelte der Fremde, aber ich sah, dass er nicht in der Verfassung war, zu sprechen. Er kippte fast um vor Entkräftung. Seine wundervolle Schwinge hing nutzlos herab, und er hatte blaue Lippen vor Kälte. Schnell gab ich ihm noch eine Decke und rieb ihn durch den Stoff hindurch warm. Der geflügelte Junge stand kurz vor dem Zusammenbruch. Er zitterte noch, während ich versuchte, ihn wieder zu wärmen. Er musste lange in der Kälte gewesen sein.

Als es ihm ein wenig besser ging, stand ich auf und legte noch ein paar Scheite Holz nach, so dass die Flammen hoch aufloderten. Auf diese Weise würde es zwar nicht mehr so lange reichen, aber das Zimmer wurde wieder mit Wärme erfüllt. Ich steckte ein paar schrumplige Rüben und etwas Speck in einen Topf mit Schnee, und während ich wartete, dass das Wasser kochte, räumte ich die Federn ein wenig beiseite. Ich konnte später vielleicht meine karge Matratze damit füllen. Der Geflügelte sah mir die ganze Zeit über wortlos zu. Er schien zu verschüchtert zu sein, um etwas zu tun. Konnte ich aber durchaus verstehen. Der arme Kerl hatte ganz schön was mitgemacht.

Nachdem ich die Spuren des Einbruchs beseitigt hatte, kam ich zu ihm hinüber. “Zeig mir mal deinen Flügel”, forderte ich ihn energisch auf. Er zögerte, ließ dann aber die Decke von seinen Schultern gleiten. Ich hoffte sehr, dass seine Verletzungen nicht so schlimm waren, wie sie aussahen.

Der Flügelansatz, um den die Kette mehrfach gewickelt war, war wund und geschwollen, Blut lief aus der Wunde auf die schönen weißen Federn. Die Kettenglieder hingen an seinen langen Federn fest. Offensichtlich hatte sich die Kette, als er versucht hatte zu fliegen, fester um den Flügel gewickelt, und so war er abgestürzt. Ich berührte vorsichtig die aufgescheuerte Stelle, und der Junge sog scharf die Luft ein.

“Na gut”, sagte ich. “Ich kann versuchen, das wieder in Ordnung zu bringen, aber du darfst nicht schreien, okay?” “Von mir aus schon, das kommt ganz auf dich an”, stieß er hervor. Ich musste grinsen. “Wir hatten früher ein paar Gänse”, beruhigte ich ihn. Er stöhnte. “Na prächtig!” “Nicht wahr? Wir haben sie zum Jahreswechsel immer gegessen.” Ich ergriff vorsichtig das Ende der Kette. “In der Zwischenzeit ist das eine gute Gelegenheit für dich, mir zu erzählen, wer du bist und wer dich so gefesselt hat.”

Er begann stockend zu berichten, während ich die Kette so behutsam wie möglich aus seinen Federn löste, nur ab und zu unterbrochen von einem gedämpften Laut des Schmerzes.

Sein Name war Kijitaka. Er kam aus dem Süden, aus den Ländern der Geflügelten, die sie Nihon nannten. Ich war erstaunt über seine gute Aussprache, denn ich wusste, dass es schwer für Südländer war, unsere raue Sprache zu erlernen. Dennoch hatte er einen starken Akzent.

Er hatte seine Heimat verlassen, um den politischen Unruhen dort zu entgehen. Er wollte die Länder mit eigenen Augen sehen, deren Sprachen er in der Schule gelernt hatte. Seine Geschichte war kurz. Schon bald war er in irgendeiner götterverlassenen Schenke aufgegriffen worden, was natürlich offiziell verboten war, aber die Verständigung zwischen den Rassen war noch nicht so weit, dass man mit einem Geflügelten als Kuriosität für die, die sich eine private Vorführung leisten konnten, im Norden nicht gutes Geld machen könnte. Das führte zu laufenden Reibereien zwischen den Völkern, und ich schämte mich ein wenig für mein eigenes. Die einzigen, die aus dem Streit hätten führen können, wären die Magier gewesen, denn in deren Reihen waren so gut wie alle Völker vertreten, ob Menschen, Geflügelte, Elfen oder Kentauren, selbst noch seltenere Geschöpfe, von denen man in dieser Stadt noch nie etwas zu Gesicht bekommen hatte. Aber die Magier blieben für sich und hielten sich heraus aus den Angelegenheiten ihrer Welt. Deswegen hatte ich nicht viel für sie übrig. Meine eigene Familie war draußen auf dem Land bei Rassenunruhen getötet worden; ich war noch sehr klein gewesen. Meine Mutter und ich waren daraufhin in die Stadt gegangen, um hier sicher zu sein vor Übergriffen. Wir hatten nicht geahnt, dass uns das in Armut stürzen würde. Sie war vor zwei Wintern an einer Lungenentzündung gestorben.

“Du bist einfach so von zu Hause weggegangen?”, fragte ich den Geflügelten misstrauisch. Das klang mir nicht sehr plausibel. Er war etwas blass geworden um die Nase, während ich versuchte, die letzten Kettenglieder vorsichtig von seinem Flügel zu lösen. Durch das gerinnende Blut hingen sie sehr fest.

“Nein”, presste er unter Anstrengung hervor. “Ich habe schon lange nicht mehr zuhause gewohnt. Ich hatte ein Zimmer in einem Studentenheim, aber ich war nicht mehr an dem interessiert, was der Staat uns als die Wahrheit verkauft hat.” “Also bist du nicht gerade ein Freund deines Staates, oder? War das der Grund?” “Auch”, antwortete er zögernd. “Vor einigen Jahren wurde unser letzter Monarch gestürzt - ich weiß nicht, ob du hier davon gehört hast.” Ich verneinte. “Wie auch immer”, fuhr er fort, froh, sich durch seine Ausführungen von meinem Tun ablenken zu können. Ich musste ihm ziemlich weh tun, dennoch sagte er kein Wort dazu. “Mein Vater war einer seiner treuesten Gefolgsleute gewesen - wir waren sehr reich damals, und wir hatten ein großes Haus und einen riesigen Garten, und Bedienstete, und die Räume waren voller Samt und Gold und Marmor, selbst das meines Kindermädchens, daran kann mich noch gut erinnern. Sie haben uns das alles weggenommen im Zuge der folgenden Umbrüche, und wir mussten in ein viel kleineres Haus in der Stadt ziehen. Die neue Regierung fand keinen großen Anklang bei vielen meines Volkes, und mein Vater war einer von denen, die den ins Exil geflohenen Kronprinzen lieber an der Macht sehen würden; Watarigarasu ist sein Name.

Er ist ein guter Mann, der Prinz, aber er war damals vielleicht zu jung zum Herrschen, und selbst jetzt noch -”, er wischte sich über die Augen.

“Was auch immer sie damals unternahmen, es schlug fehl, weißt du? Mein Vater wurde draußen getötet, und noch am gleichen Abend kamen sie zu uns und nahmen meine Mutter mit. Ich kam in staatliche Obhut, wie sie sagten, was nichts anderes war als ein Waisenhaus, wo sie versuchten dir eine Gehirnwäsche zu verpassen, aber ich habe angefangen, eure Sprache und später auch andere zu lernen, denn ich wollte das Land verlassen und nach dem Kronprinzen suchen, sobald sie mich hinausließen; naiv, wie ich als kleiner Junge war.”

Es brach jetzt alles aus ihm heraus. “Als es soweit war, schloss ich mich stattdessen einer monarchistischen Studentengruppe an, die natürlich verboten war, wie alles, was den Gedanken der neuen Republik widersprach. Im letzten Frühjahr wurden wir entdeckt. Alle wurden festgenommen, bis auf mich und zwei weitere Studenten, die auch nicht dem Treffen beigewohnt hatten. Ich habe von diesem Tag an nie wieder ein Wort mit ihnen gesprochen, denn wir alle wurden von da an scharf beobachtet, und schon kurze Zeit später brach ich mein Studium ab und verließ das Land. Ich dachte, meine Probleme wären vorüber, sobald ich die Grenze passiert hatte, aber ich kam ja nicht weit.

Irgendwo weiter nördlich, in einem Land, wo bereits der Schnee lag und ich nur Menschen sah, fingen sie an mich vorzuführen, und wären nicht die paar Gesichter in der Menge gewesen, die mich voll Mitleides oder Verstehens ansahen, hätte ich mir wohl schon längst das Leben genommen. Wie es aussah, bin ich aber dadurch wirkungsvoll meinem eigenen Volk entronnen. In dieser Stadt endlich - soweit ich es verstehen konnte, hatten sie vor, mich den reichen Menschen hier zu präsentieren; vielleicht hatte ja einer von denen vor, mich für einen guten Preis zu kaufen, ich weiß es nicht. Keiner wusste, dass ich ihre Worte verstehen kann, und so konnte ich besser einen Moment der Unaufmerksamkeit abpassen, auch wenn ich fast erfroren war nach einer Nacht in dem ungeheizten Planwagen. Sie hätten mich fast wieder eingefangen mit ihrer Kette, aber sie konnten mich nicht richtig halten, und ich stieß einen Mann um und versuchte, fortzufliegen.

Dieser Mann - sie hatten ihn in einem der Dörfer angeheuert. Er hatte Angst vor mir. Er hatte wirklich Angst. Wenn er in meine Nähe kommen musste, dann verhielt er sich, als würde ich ihn gleich anfallen. Wenn er mit mir oder über mich sprach, dann, als wäre ich ein wildes Tier. Kannst du dir das vorstellen? Ich verstehe es nicht. Was sind das für Leute, die solche Angst haben vor anderen Wesen, und nicht einmal wissen, dass ich nicht gefährlicher bin als sie? Glauben sie denn, sie seien alleine auf der Welt? Ich weiß es nicht. Aber es hat mir Angst gemacht. Ich dachte, draußen in der Welt sehen die Leute anders aus, und das war’s.” “Natürlich”, sagte ich, in dem lobenswerten, aber sinnlosen Versuch, mein Volk in Schutz zu nehmen. “Aber du musst sie verstehen: Es sind nur einfache Leute. Sie wissen wenig von der Welt jenseits ihres Ackers. Die Reichen mögen wie selbstverständlich mit jemandem von deiner Art umgehen, aber diese Menschen haben noch nie zuvor einen Geflügelten gesehen. Du darfst ihnen das nicht ankreiden. Sie haben halt Angst vor dem, was sie nicht kennen.” “Hm. Mag sein. Ich muss zugeben, ich war auch erschrocken, als ich das erste Mal einen Mann ohne Flügel sah. Er wirkte auf mich wie ein Krüppel... Oh, entschuldige!” Er wurde rot. Ich winkte ab.

“Jedenfalls”, er sah mich an, “warum hast du mir geholfen? Du bist anders als die anderen Menschen, die ich getroffen habe. Du behandelst mich nicht, als wäre ich eine Missgeburt.” “Ich weiß nicht”, erwiderte ich. “Du warst mir halt sympathischer als die widerlichen Bonzen da oben.” Das Wort kannte er nicht, und ich musste es ihm erklären. Er kicherte, als er merkte, dass es aus seiner eigenen Sprache stammte. Jetzt kehrte langsam wieder das Leben in seine Gestalt zurück, und ich sah, dass er durchaus ein intelligentes Gesicht hatte, und ein hübsches noch dazu. Nachdem ich seinen Flügel so gut es ging verbunden hatte, mit dem bisschen an sauberem Stoff, das ich noch da hatte, seufzte ich erschöpft und streckte mich. Meine Augen brannten vom langen Arbeiten in dem schlechten Licht. Im Osten würde in einigen Stunden die Sonne aufgehen, und ich war hundemüde und fror wie ein Schneider.

“Brauchst du deine Decke wieder?”, fragte mich der geflügelte Junge vorsichtig. “Was? Nein”, sagte ich. “Hör zu, wenn du willst, kannst du für eine Weile hier bleiben; solange, bis du weißt, wo du danach hingehen sollst.” Kijitaka seufzte erleichtert.

“Danke. Ich weiß nicht, wie ich mich jemals revanchieren soll. Du bist das freundlichste Wesen, dass mir seit Jahren über den Weg gelaufen ist.” “Kein Ding”, meinte ich. “Ich bin froh über ein bisschen Gesellschaft. Mein Leben ist gerade auch nicht so lustig.” Ich gab ihm etwas von der Suppe zu essen, die in der Zwischenzeit fertig war, und legte mich dann wieder hin. Es machte nichts, wenn ich verschlief. Ich hatte nichts weiter vor.

Als ich schon am Eindösen war, hörte ich die Stimme des Weißgeflügelten: “Mitja? Kann ich mich vielleicht zu dir legen? Mir ist kalt, und...” “Klar”, murmelte ich schläfrig. “Fühl dich wie zuhause.” Das war keinesfalls sarkastisch gemeint gewesen. Dazu war ich jetzt zu müde.

Ich spürte, wie er sich vorsichtig, mit einem schmerzvollen Keuchen, neben mich schob. Sein Körper strahlte zwar wieder eine gewisse Wärme ab, aber ich fror trotzdem. Verwundert merkte ich noch im Einschlafen, wie sich eine weitere Decke über mich schob. Als sie kurz über mein Gesicht strich, fühlte sie sich an wie feinster Samt. ‘Ach so’, dachte ich dann träge, schon im Wegdämmern. ‘Das ist sein Flügel.’ So schliefen wir ein, Mitja und Kijitaka.

Und ich hatte schon wieder den Traum von dem fremden Jungen in der weißen Kutte. Diesmal sah er sofort auf, als ich kam und schenkte mir trotz seiner müden Miene ein Lächeln. Er ordnete seinen Kartenstapel und bedeutete mir, näherzukommen.

“Das ist komisch”, meinte ich dabei staunend, “Ich hatte noch nie zuvor zwei Mal hintereinander den gleichen Traum.” “Das ist kein Traum”, sagte Elias, “zum Glück nicht; Glück für dich, möchte ich sagen. Setz dich bitte; ich möchte mit dir reden, Mitja.” Ich gehorchte und ließ mich neben ihm in den grauen Wolken nieder. “Hey, woher weißt du meinen Namen, wenn du keine Traumgestalt bist?”, fragte ich verwundert. “Ich hab ihn dir vorhin nicht gesagt.” “Das ist eben das, worüber ich mit dir sprechen wollte. Ich finde, du solltest es wissen, wenn ich dich beobachte.” “Was?!” “Mach mir bitte keinen Vorwurf! Ich tue das nicht freiwillig. Seit du das letzte Mal hier warst, kann ich dir mit meinem Geist in deine Welt folgen. Ich habe dich gesehen und ich habe gehört, wie du mit dem Vogelmenschen gesprochen hast. Deshalb weiß ich deinen Namen. Aber das ist nicht der Punkt.” Sein Gesicht wurde jetzt ernst.

“Ich glaube, dass irgendeine Absicht dahinter steckt. Es ist kein Zufall, dass wir uns begegnet sind.” Ich schauderte. Ich glaubte nicht an sowas wie das Schicksal.

“Und woher weißt du das? Steht das auch in deinen Karten?” Er schüttelte den Kopf. “Nein. Ich kann sie in diesem Punkt nicht verstehen. Aber ich bin mir ganz sicher, dass etwas das alles geplant hat. Vielleicht der Narr; vielleicht jemand viel Mächtigeres, ich weiß es nicht.” “Wer ist eigentlich dieser komische Narr?”, wollte ich jetzt wissen. “Und was hat er mit dir zu schaffen?” Elias schüttelte traurig den Kopf. “Ich weiß es nicht. Ich habe bis vor kurzem noch nie etwas von ihm gehört. Das ist auch nur der Name, den ich selbst ihm gebe.

Er hat mich durch den alten Spiegel hierher gebracht; ich habe nichts getan.

Ich wohne in einem Waisenhaus; ich saß auf dem Dachboden und wollte nur ein bisschen Ruhe mit meinen Karten haben, das ist alles. Ich hatte das schon hunderte Male vorher getan, und nie ist etwas passiert. Weder bin ich noch ist der Ort etwas Besonderes.”

Ich sah ihn betroffen an. “Und willst du denn nicht wieder zurück?” Er sah zu mir auf, übermüdet und mit tiefen Schatten im Gesicht. “Natürlich”, flüsterte er. “Natürlich will ich das.” Ich strich ihm tröstend über den Rücken. “Keine Sorge. Er lässt dich bestimmt wieder gehen, wenn alles vorbei ist. Du wirst schon sehen.” Er wischte sich über das Gesicht und war wieder ernst und gefasst. “Das dachte ich mir auch schon. Danke.

Ich muss dir sagen, dass du und Kijitaka nicht in der Stadt bleiben könnt. Ihr müsst weg; besser früher als später.” “Was? Wieso?” “Man sucht nach euch. Nach Kijitaka, und vielleicht auch nach dir; da bin ich mir nicht ganz sicher.” “Aber...warum?” Er seufzte. “Ich weiß es nicht. Ehrlich, ich kann es dir nicht sagen. Ich hoffe, dass ich bis zum nächsten Mal mehr Informationen für dich habe; tut mir leid.” Ich schwieg. Dann: “Aber...wohin sollen wir denn gehen?” Elias hob die Schultern. “Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung von deiner Welt. Alles, was ich kenne, ist dein Zimmer.” “Das ist nicht allzu viel... Du willst sagen, dass du...dass du aus einer anderen Welt stammst?” “So muss es wohl sein. Bis jetzt kannte ich geflügelte Menschen nur aus meinen Träumen. Verwundert dich das so? Immerhin befindest du dich gerade selbst in einer anderen Welt. Wenn es überhaupt eine ist. Ich weiß darüber auch nicht mehr als du. Ich kann nur raten. Vielleicht solltest du einen Magier fragen.” Ich schnaubte.

“Du glaubst, die könnten mir helfen, oder dir? Die sind doch nur an sich selbst interessiert. Im Ernst - ich wüsste nicht, wo ich hingehen sollte.” “Verlasst die Stadt.” Seine Augen waren jetzt groß. “So schnell wie möglich. Ich werde tun, was ich kann, um eine Lösung für euch zu finden, aber bis dahin solltest du dich schon auf den Weg gemacht haben, verstehst du?” Ich nickte, voller Fragen.

“Ich werde versuchen, die nächstgelegene Stadt zu erreichen, aber - sollten wir nicht besser nach Norden gehen?” “Noch weiter nach Norden? Auf keinen Fall.” Elias schüttelte energisch den blonden Kopf. “Soviel weiß ich: Was immer euch erwartet, ihr solltet es im Süden versuchen. Noch müsstet ihr ohne Gefahr reisen können. Auf offener Straße droht euch keine Gefahr. Versucht nur, Abstand zwischen euch und diese Stadt zu bringen. Etwas Böses lauert dort auf euch, aber noch ist es an einen festen Ort gebunden. Zu zweit solltet ihr leicht klarkommen können. Ich werde euch führen, so gut ich kann, aber auch ich kann keine Wunder wirken. Ich kann nur alles in meiner Macht Stehende tun, um die Umstände in den Karten zu erkennen.” Er seufzte erschöpft.

“Du musst gehen. Ich kann nicht länger mit dir sprechen. Gib Acht auf den Geflügelten. Er wird sich erholen, aber er ist auf dich angewiesen, bis ihr die Schneefallgrenze erreicht habt. Du kannst ihm unbedingt vertrauen.

Bis zum nächsten Mal, Mitja. Ich werde alles tun, was ich kann, ich verspreche es dir.”

Ich stand auf und sah zu ihm hinab. “Du solltest dich etwas ausruhen. Du siehst zu Tode erschöpft aus.” Er lächelte schwach. “Noch nicht.” Schon spürte ich, wie ich schon wieder aus dieser Schattenwelt schwand. “Danke”, sagte ich noch schnell. “Ich weiß ehrlich nicht, wie ich dir je dafür danken soll, dass du dich so aufopferst.” “Noch ist nichts gerettet”, hörte ich noch von ihm, bevor ich wie an einer Leine gezogen in meiner Kammer aufwachte.

Als ich den verwirrten Kopf hob, sah ich, dass der Platz neben mir bereits verlassen war. Kijitaka saß vor der Feuerstelle, so dicht, dass er fast hineingekrochen wäre. Er zitterte zum Erbarmen. Ich richtete mich vollends auf und ging zu ihm, während ich mir noch die letzten Reste von Müdigkeit aus den Augenwinkeln wischte. “Alles in Ordnung?”, fragte ich besorgt. “Du siehst nicht gut aus.” Das war noch eine Untertreibung. Er war wächsern bleich und seine Lippen waren nach wie vor bläulich. Sein Blick war fiebrig, und ich legte ihm prüfend die Hand auf die Stirn. “Wie hoch ist deine Körpertemperatur normalerweise?”, fragte ich. Er zuckte die Schultern. “Weiß...nicht”, stockte er. “Nicht...anders als deine, denke ich.” “Du verglühst gleich.” Ich war ziemlich erschrocken über seine hohe Temperatur. Klar; ich hätte mir vorher denken können, dass er das Wetter nicht gut vertragen hatte. Er hatte ja gestern Nacht schon krank ausgesehen. Elias hatte aber gesagt, er würde sich wieder erholen! Doch wie sollte ich so mit ihm die Stadt verlassen können?

Ich gab ihm etwas von der Medizin, die ich für solche Fälle aufbewahrt hatte, und wickelte ihn wieder in meine Decke. Wenigstens sein Flügel schien gut zu verheilen. “Kann ich noch irgendwas für dich tun?” Ich fühlte mich so hilflos. Er schüttelte den weißen Schopf. “Es geht schon. Ich muss mich nur eine Weile ausruhen. Es ist nicht so schlimm.” Ich seufzte voller Gram. “Ich fürchte, du wirst keine Zeit zum Ausruhen haben.” Ein kurzes Zögern. “Wir müssen die Stadt verlassen. Man sucht nach dir, und unter Umständen auch nach mir.” Kijitaka blickte überrascht auf und wurde noch blasser, als er es ohnehin schon war. “Was? Woher weißt du das?” Ich lachte nervös. “Na ja...” Ach, wieso nicht?, dachte ich mir. “Glaub es oder nicht, aber ein Junge in einem Traum hat es mir gesagt.” “Und du vertraust diesem Jungen?” “Absolut.” Er sah mir tief in die Augen; dann wandte er auf einmal den Blick ab. “...Ach so.” Er starrte wieder ins Feuer.

“Du hattest mir gar nicht gesagt, dass du ein Magier bist.” “Was?” Ich war empört. “Also wirklich; ich bin kein Magier!” “Aber du hast einen Daimon! Soweit ich weiß, haben nur Magier einen.” “Einen was bitte?” Von so was hatte ich ja noch nie gehört. “Einen Daimon. Einen Schutzgeist. Sie helfen dir.” Ich schüttelte den Kopf. “Elias ist kein Geist. Er wurde aus einer anderen Welt entführt.” “Dann...muss er trotz allem eine dir verwandte Seele sein, sonst könnte er keine Verbindung zu dir aufnehmen. Weiß er etwas Genaueres?” “Was? Nein. Er weiß nichts weiter. Er hat keine Ahnung, warum er überhaupt dort ist. Aber er sagte, wir müssen weg, so bald wie möglich.” “Und du bist sicher, dass es nicht nur ein Traum war?” “Ganz sicher. Solche Träume gibt es nicht. Aber...wie kommt es, dass du so viel darüber weißt, und dass du mich nicht gleich für spinnert hältst?” Der geflügelte Junge zuckte wieder die Schultern.

“Ich hab ein bisschen darüber in der Schule gelernt”, antwortete er dann. “Außerdem...hatte ich selber so ein Gefühl.” Seine Stimme wurde jetzt leiser. Ich lachte nervös auf. “Dann bist du ein Magier, oder was?” “Nein, natürlich bin ich das nicht! Aber ich...ich weiß halt, dass du nicht lügst, okay?” Er verschwieg mir eindeutig etwas, und es war ihm unangenehm. Aber Elias hatte gesagt, ich könnte ihm vertrauen, und außerdem war das jetzt nicht wichtig. “Du kannst es mir ruhig sagen”, meinte ich trotzdem noch leise. “So oder so, wir sitzen im selben Boot.” Aber er schwieg . Ich war es, der die Stille brach.

“Wie auch immer”, meinte ich. “Glaubst du, du schaffst den Weg? Es sind etwa anderthalb Tagesmärsche bis zur nächsten Stadt; in deinem Zustand würde ich sagen, eher zwei. Dort werden wir schon einen Arzt für dich finden - wenn es dir bis dahin noch nicht besser gehen sollte. Traust du dir das zu?” Er nickte mit ernstem Gesicht. “Gut. Ich bin ja auch noch da. Du packst das schon; ich werd dir helfen.” Kijitaka nickte wieder. “Danke. Danke, Mitja.” “Ja, schon okay. Wir sollten aufbrechen.

Wenn du dir die Decke überhängst, wird dich jeder mit deinen weißen Haaren für eine alte Frau halten; solange du den Kopf nicht hebst, bis wir aus der Stadt hinaus sind.”

Er war schwach, aber er hielt sich tapfer aufrecht, als ich die letzten Vorbereitungen traf, und ich begann, mir immer sicherer zu werden, dass er es trotz seines Fiebers schaffen würde. Dennoch lag etwas erschreckend Endgültiges in der Aussicht, meine Heimat zu verlassen; alles, was ich kannte, und das Zimmer, in dem meine Mutter gestorben war.

Ich merkte, dass ich sehr langsam die wenigen Dinge packte, die ich mitnehmen wollte. Reiß dich zusammen, du Idiot, schalt ich mich. Ich warf nur noch schnell etwas Proviant in meinen hastig aus einer leinernen Decke zusammengeknoteten Beutel und warf dann Kijitaka die Wolldecke über und drapierte sie so, dass man ihn auf den ersten Blick nicht erkennen würde. Um aus der Stadt hinauszukommen, musste es genügen. “Wohin gehen wir?”, wollte der Geflügelte wissen. “Kein Plan. Nach Süden halt. Erstmal nach Torsberg, das ist eine kleinere Stadt. Elias hat gesagt, dass er sich meldet, wenn er mehr Informationen hat.” “Was! Nach Süden? Spinnst du? Da komme ich doch gerade her!” “Also wenn du glaubst, dass wir es bis zu dir nach Hause schaffen, dann hast du dich sowieso geschnitten; keine Sorge! Ich hab dir doch gesagt, dass Elias uns führen wird. Und wir werden bestimmt nicht irgendwo in einem Polizeistaat landen. Nee, da mach ich nicht mit.” “Da muss sich dein sauberer Elias aber was einfallen lassen. Er ist mir bis jetzt nicht gerade sympathisch.” “Muss er auch nicht, immerhin ist er mein Geist. Solange du an ihn glaubst.” Der Junge plusterte sich entrüstet auf.

“Jetzt ist er plötzlich doch ein Geist? Spiel dich bloß nicht so auf, Mitja! So selten, wie du denkst, ist das gar nicht. Du hattest nur Glück.” “Neidisch, oder was? Hör zu; du kannst froh sein, dass ich dich überhaupt mitnehme, von Rechts wegen hätte ich dich nämlich auch letzte Nacht schon deinen Dompteuren übergeben können, also sei besser dankbar, dass ich mich überhaupt mit einem respektlosen Kerl wie dir...”

Ich wurde unterbrochen, als von der Treppe her schwere Schritte zu hören waren und ein Rufen einer lauten Stimme. Kijitaka riss erschrocken die violetten Augen auf, und ich ebenfalls die Grünen. “Verdammt! Jetzt schon??”

Als die Tür aufflog, schnellte ich herum und packte den Geflügelten am Arm. Ein großer Gardist stand im Türrahmen und sah sich verächtlich um. Ich begann, auf den Weißhaarigen einzureden. “Hör mal, Omi, ich hab dir schon gesagt, dass ich nicht mit dir rausgehen werde! Ich hab auch Besseres zu tun! Und schon gar nicht bei der Kälte!” Kijitaka ging schnell darauf ein und keifte: “Ich will aber spazierengehen; als ich so alt war wie du, bin ich jeden Tag spazierengegangen, und zwar nicht nur ein Mal! Ich habe praktisch gar nichts anderes mehr getan! Abends musste meine Mutter mich in die Wohnung prügeln, und das waren noch richtige Prügel damals...” Ich tat so, als hätte ich den Bewaffneten erst jetzt bemerkt, während Kijitaka weiter herumkeifte und uns beiden erzählte, dass die Winter damals doppelt so lange waren und die Kartoffeln größer und das Spazierengehen das Wunderbarste auf der Welt überhaupt.

“Was wollen Sie denn?”, fauchte ich den Gardisten scharf an, während mir die Knie zum Erbarmen zitterten. Er sah mich hochmütig an. Hielt sich für was Besseres.

“Wurde hier gestern gegen Mitternacht ein Wesen mit weißen Flügeln gesehen? Es gehört dem Großkanzler und er hätte es gerne zurück.” “Sehen sie nicht, dass ich keine Zeit habe, um auf fliegende Tiere zu achten? Ich wünschte, dem Wesen hier würde ein Paar Flügel wachsen!”, rief ich, gefolgt von einer Strafpredigt meiner neuen Omi, dass die Jugend heutzutage keinen Respekt mehr vor dem Alter hätte. Daraufhin wandte sie/er sich zur Tür.

“Wenn du eine alte Frau nicht begleiten willst, Junge, dann gehe ich eben alleine”, krächzte er. Der Gardist verstellte ihr den Weg. “Halt, Weib!”, rief er drohend. “Dies ist eine offizielle Untersuchung!” Kijitaka schnappte sich einen Holzscheit vom Stapel und fuchtelte ihm damit vor der Nase herum, während mir dahinter das Herz stehen blieb.

“Sprich nicht so mit einer Dame, mein Junge! Hat dir deine Mutter denn keine Manieren beigebracht?”, keifte er weiter. “Wenn sie dich jetzt sehen könnte, wie würde sie sich schämen!” Er reckte sich, um sich ein wenig aufzudrängen. “An deiner Stelle würde ich es mir gut überlegen, ehe ich einer armen alten Frau ihren wohlverdienten Lebensabend verderbe! Entschuldige dich!”

“Entschuldigung, Ma’am”, murmelte der Mann perplex. “Na also”, schnaubte Kijitaka zufrieden. “Und jetzt lass mich durch!” Was jener tatsächlich tat. Ich nahm mein Bündel unauffällig und versuchte, ihm zu folgen.

Als ich an dem Gardisten vorbei wollte, beugte er sich herab und flüsterte mitleidig: “Mein Beileid, Junge! Deine Oma hat ganz schön Feuer. Kommt aus dem Süden, was?” Ich nickte nur. Er seufzte verständnisvoll. “Ach ja, diese Südländerinnen. Dein armer Großvater muss ganz schön ausgelaugt gewesen sein, was?” Er zwinkerte anzüglich. “Ich weiß nicht”, sagte ich artig. “Er starb früh an Auszehrung.” “Armer Kerl.”

“Das habe ich gehört!”, schrie eine Stimme von draußen. “Pass bloß auf, so schlecht sind die Ohren deiner alten Oma noch nicht!”

Dann endlich ließ er mich gehen und ich trat zu Kijitaka auf die Straße. Erst einige Straßen weiter wagten wir wieder miteinander zu sprechen. Der Geflügelte jedoch war sichtlich aufgeblüht, obwohl er immer noch krank aussah. “Was meinst du?”, fragte er mich grinsend. “Hätte dein Opa mich gemocht?” Dann jedoch schüttelte ihn ein Hustenanfall, und ich seufzte. “Auf jeden Fall hätte er ordentlich Respekt vor dir gehabt.” Ich wickelte dem Jungen eine zweite Decke um. “Jetzt reiß dich halt zusammen. Schlimmer kann es nicht mehr werden. Weißt du, ich glaub diese Männer haben deinen Wert als Attraktion nicht mal erkannt! Mir wäre da drinnen fast das Herz stehen geblieben.” Ich fing an zu lachen vor Erleichterung, und Kijitaka fiel ein.

“O Mann. Das war das Lustigste was ich seit Langem erlebt habe. Hast du gesehen, wie er sich vor mir gefürchtet hat? ‘Entschuldigung, Ma’am’! Und noch nicht mal am Akzent hat er mich erkannt.” “Na ja, wir hatten Glück, dass er so schlecht informiert gewesen war. Er hatte halt nur nach den Flügeln gesucht.” “Und nicht gefunden. Und dann fragt er noch, ob ich aus dem Süden komme. Ich wär zu gern noch länger geblieben.” “Du bist verrückt, Kijitaka. Du spinnst total. Außerdem bist du noch krank. Komm, da vorne ist schon das Stadttor, wir kommen noch gut durch.”

Als wir uns in die Schlange der Leute einreihen wollten, die von ihrem Ein- oder Verkauf auf dem Markt in der Stadt wieder nach Hause wollten, begegnete uns noch einmal der Gardist. Ich dachte erst, er hätte uns doch erkannt, aber das hatte er nicht. Als er uns sah, grüßte er die “alte Dame” neben mir, die den Kopf unter dem Tuch gesenkt hatte und gebeugt ging unter ihrem Buckel, wie ein vollendeter Gentleman, ehe er sich der Überprüfung der Bauern widmete. Meine Omi wurde ganz plötzlich von einem weiteren keuchenden Hustenanfall geschüttelt.

Dann waren wir endlich aus der Stadt draußen. Oder ist endlich das falsche Wort? Es kam jetzt alles sehr plötzlich.

Ich traute Elias zwar irgendwie, aber ich hatte seit Jahren keinen Fuß mehr aus der Stadt gesetzt, und jetzt würde ich vielleicht sogar das Land verlassen müssen, und ich wusste noch nicht einmal, warum. Nicht, dass ich das alles hier vermissen würde - aber so von heute auf morgen ging mir das doch alles zu schnell. Für einen Moment erwog ich, wieder zurückzugehen. Aber ich ließ den Gedanken schnell fallen.

Wer wusste denn schon, wie lange ich dort noch in Ruhe leben könnte. Die Anweisungen meines sonderbaren Ratgebers waren eindeutig gewesen. Das Seltsame war, dass ich, obwohl ich ihn nur zwei Mal im Traum gesehen hatte, ihm so sehr vertraute, als wenn er ein lebenslanger Freund von mir wäre.

Ich hatte nicht mal lebenslange Freunde. Ich hatte jahrelange Kumpel, so wie Sergej, aber auf die konnte ich notfalls auch verzichten, so wie jetzt. Ob ich sie wiedersehen würde? Meine Güte. Das war wie in einer Geschichte hier.

Bis wir endlich auf freier Straße waren, verging noch eine Weile, aber wir verließen den Weg, den all die Bauern nahmen, und waren plötzlich ganz alleine. Das war insofern seltsam, als dass ich in meinem ganzen Leben noch nicht weit von anderen Menschen entfernt gewesen war. Manchmal hatte ich sie zwar nicht gesehen, aber sie waren immer da gewesen, und jetzt waren sie es auf einmal nicht mehr. Aber der Geflügelte ging nach wie vor an meiner Seite. “Kann ich das Kopftuch jetzt abnehmen?”, fragte er und musste heftig niesen. “Gesundheit. Ja, nimm’s ab. Aber die Decke behältst du um! Alle beide, meine ich! Kijitaka!” “Du hast gut reden”, nörgelte er. “Dir zerrupft die Wolle ja auch nicht die Federn. Bist du meine Mutter?” “Nein, aber ich bin dein Arzt, und ich sage, die Decke bleibt um, bis du wieder ganz gesund bist, und wann das soweit ist, entscheide ich.”

Ich versuchte, den Ton anzuschlagen, den meine Mutter immer benutzt hatte, wenn ich als kleiner Junge meine Medizin nicht hatte nehmen wollen, und zog ihm die Decke wieder über die Schultern. “Sieh dich an. Du frierst wie ein Schneider.” “Ich würd sagen, ich frier wie einer, der das abartige Wetter hier nicht gewohnt ist. Ist es hier immer so kalt im Winter?” “Klar. Immer. Ach, vergiss es, das war ein blöder Scherz. Nee, letztes Jahr war es lange nicht so schlimm. Du hast dir einen blöden Zeitpunkt ausgesucht, um hier hoch zu kommen. Mach dir keine Sorgen. Elias hat gesagt, du wirst dich wieder erholen.” “Na dann”, murmelte der Geflügelte, dessen Schwingen nach wie vor unter der dicken Decke verborgen waren, aber dann schien sich seine Laune ein wenig zu bessern.

“Hat er sonst noch was über mich gesagt?” “Nein”, antwortete ich. “Wieso?” “Weiß nicht. Nur so.” Ich schwieg eine Weile. “Elias weiß auch nicht viel mehr als du und ich”, sagte ich dann. “Er erschöpft sich halb zu Tode, um uns zu helfen.” “Ja, schon gut! Hab ich was gegen deinen Elias gesagt?” “Nein; aber warum musst du immer so abfällig von ihm reden? Er hat dir nichts getan!” “Ja, vergiss es einfach! Warum nimmst du ihn eigentlich so in Schutz? Du kennst ihn doch kaum.” “Ich weiß nicht.” Meine Stimme wurde leise und verlor sich fast im Winterwind. “Frag mich was, das ich mir selber erklären kann.”

Es tat mir leid, dass unsere Gespräche über Elias immer in Verstimmung enden mussten.

“Tut mir leid”, sagte Kijitaka nach einer Weile Stille, während das einzige Geräusch das des knirschenden, verharschten Schnees unter unseren Füßen war. Es war ein klarer Tag, und hoffentlich würde sich das Wetter halten. “Ich wollte dich nicht beleidigen. Und Elias auch nicht. Ehrlich; ich weiß ja gar nicht, wo ich ohne dich wäre. Und ich bin dir wirklich dankbar; ich werde mich eines Tages noch revanchieren. Es ist nur...sieh mal, es fällt mir nicht gerade leicht, mein Leben in die Hände eines Geistes zu legen, der aus einer anderen Welt stammt und dem ich selbst noch nie begegnet bin. Alles, worauf ich mich stützen kann, ist schließlich dein Wort. Tut mir leid, Mitja. Wenn wir es schaffen, diese Queste hier zu überstehen, dann werde ich nicht mehr an ihm zweifeln; Ehrenwort, ich versprech’s.” Er hob feierlich die Hand, aber ich sah den Schalk in seinen Augen glitzern und grinste. “Ja klar, Kiji. Verarschen kann ich mich alleine.” Der Geflügelte kicherte.

“Keine Sorge, ich glaub dir; ob du nun wirklich einen kleinen Mann im Ohr hast oder bloß ‘ne Sturzgeburt warst.” Ich zweifelte nicht daran, dass das Wort Sturzgeburt im Sprachgebrauch des Geflügelten eine dramatischere Bedeutung hatte. Jedenfalls war ich froh, von dem leidigen Thema weg zu sein.

Obwohl sogar ich vor Kälte schon taube Finger hatte, schien er sich wirklich auf dem Wege der Besserung zu befinden; trotz des abartigen Wetters. Kijitaka stieß mich grinsend an. “ Ich höre, wir sind schon bei Kiji angelangt. Pass nur auf; in ‘ner Woche fragst du mich, ob ich dich heiraten will.” Ich schnaubte trocken. “Glaubst du etwa, ich brech mir jedes Mal die Zunge, wenn ich dich anspreche? Nee, Kiji reicht schon.” Er hob die Hände. “O Gott, höre ich da Emotionalität in deiner Stimme? Meinst du am Ende verhalten wir uns auch noch freundschaftlich zueinander? Das ist der Anfang vom Ende! Wenn das meine arme alte Mutter wüsste! Ein Mensch ist nett zu mir, eins dieser niederen Wesen...” Er wich aus, als ich einen Schneeball nach ihm warf. “Pass bloß auf, du! Wer ist hier grad mal körperlich behindert?” Der Nächste saß. “Ha!”

Er spuckte Schnee aus. “Bah! Das ist ja hart!” “Klar. Du solltest mal die ganzen fiesen kleinen Kinder sehen, die Steine mit einbacken. Das ist hart. Sag bloß, ihr habt keine Schneebälle bei euch?” Kijitaka schüttelte den Kopf. “Woher denn? Wir haben ja nicht mal Schnee.” “Was? Kein Schnee?” Ich war erstaunt. “Wir haben hier mehr als das halbe Jahr lang Schnee.” “O nein!” Er stöhnte. “Siehst du, genau das habe ich befürchtet!”

“Na also.” Ich nickte zufrieden. “Und du wolltest nach Norden gehen, du...Dussel.” “Hä?” Kijitakas Stirn legte sich in Falten. “Was ist denn ein Dussel? Und lüg mich nicht an, ich merk das.” “Sowas wie ein Dummkopf”, klärte ich ihn freundlicherweise auf. Wieso, hätte ich ja nicht machen müssen.

Er verengte die violetten Augen. “He! Baka.” “Was...übersetz das sofort! Ich kann kein...was auch immer.” “Ungefähr dasselbe.” Er strahlte mich an. “Gib’s zu, in Wirklichkeit liebst du mich.” “Wie jetzt? Hey, du spinnst.”

“Ich weiß.” Der weißhaarige Junge sog fröstelnd die Luft ein. “Ich versuche, mich davon abzulenken, dass es so verdammt kalt ist. Ich erfriere gleich.” “Quatsch, so schnell erfriert man nicht.” Er hatte mich aber trotzdem daran erinnert, dass wir vor Einbruch der Nacht eine Unterkunft würden finden müssen, sonst würden wir höchstwahrscheinlich beide erfrieren. Und wie sich herausstellte, kamen wir an diesem Tag nicht so weit, wie ich es gerne gehabt hätte. Ich kannte mich so weit von der Stadt entfernt nicht mehr im Geringsten aus, aber wir fragten uns an den Bauernhäusern, die manchmal verstreut abseits des Weges lagen, durch, und erfuhren somit, dass es tatsächlich eine Art Gasthaus eine Wegstunde weiter gab; oder besser einen Bauern, der gegen eine geringe Entlohnung Gäste für eine Nacht beherbergte. Aber trotz meines umwerfenden Augenaufschlags, wie Kijitaka mich danach lobte, wollte uns der Mann, der uns die Information gegeben hatte, nicht in seinem Haus bleiben lassen; nicht einmal gegen ein geringes Entgelt.

Das war nicht so gut, wie ich es Kijitaka dann auch wieder auf der Straße sagte. Jener hatte nämlich etwa dreißig Minuten zuvor um eine Pause gebeten, und jetzt kroch er nur noch so dahin. Mir ging es gut; aber der Geflügelte war völlig erschöpft. Seine Beine wollten ihn kaum noch tragen. Selbstverständlich war er nicht gut zu Fuß, erst recht nicht nach seiner langen Gefangenschaft, aber außerdem war er immer noch krank, egal wie munter er wirkte. Ich trieb ihn an, weiterzugehen - welche Wahl hatte er denn schon, immerhin kam er noch immer vorwärts - aber er tat mir irgendwie leid. Schließlich war es nicht seine Schuld, dass er so gehandicapt war. Aber einen warmen Platz zum Schlafen brauchten wir; so oder so.

“Geht’s noch”, erkundigte ich mich bei dem Jungen, nachdem er gerade zum dritten Mal in fünf Minuten tief geseufzt hatte. Als ob er mich noch darauf aufmerksam machen müsste, dass es sowieso schon dunkel zu werden begann. “Ich breche gleich zusammen, Mitja”, klagte er ehrlich. “In ein paar Minuten schaffe ich keinen Schritt mehr.” “Das hast du schon vor ein paar Minuten gesagt”, belehrte ich ihn wenig mitleidig. “Nun komm; es ist nicht mehr so weit.” “Ach, die Menschheit ist ja so grausam”, murrte er, während er langsam wieder zu mir aufschloss. Der knöcheltiefe Schnee war nicht gerade hilfreich. Unser beider Hosen waren feucht davon. Ein paar Metra weiter jedoch ließ er sich wirklich zu Boden fallen und atmete schwer.

Ich kam zu ihm zurück. “Jetzt steh auf! So schlimm ist es wirklich nicht.” Er schüttelte wortlos den Kopf.

“Ich bin müde”, murmelte er dann. “Lass mich nur eine Weile hier ausruhen.” “Nichts ist mit einer Weile! Steh auf!” Er reagierte nicht. “Kiji, wenn du nicht weitergehst, dann wirst du heute Nacht erfrieren.” “Nein. Morgen schaff ich die Strecke eh nicht nochmal. Warum mach ich das eigentlich mit.” “Weil du blöd wärst, wenn du jetzt aufgibst, wo wir doch nicht mal wirklich in Schwierigkeiten stecken!”, rief ich ärgerlich. Das durfte doch nicht wahr sein!

“Sag das meinen Beinen. Ach nein, warte - sie haben sich gerade verabschiedet. Tschüss, Beine.” Der Geflügelte ließ sich rücklings in den Schnee fallen. “Kiji!” Langsam machte er mir Angst. Offensichtlich glaubte er nicht an die Geschichte vom Erfrieren.

Nicht genug, um sich davon seine Atempause nehmen zu lassen. Dummer, verzogener Südländer! “Weißt du was?”, meinte ich kurzentschlossen. “Wenn du nicht mehr gehen kannst, dann trag ich dich eben das letzte Stück.” “Was?” Ich kniete mich neben ihm nieder. “Steig auf. Wenn wir uns jetzt ranhalten, bekommen wir vielleicht noch was Warmes zu essen.” “Mitja, nein...so hab ich das nicht gemeint...” “Was also? Kannst du jetzt gehen oder nicht?” “Nein. Beim besten Willen nicht. Tut mir leid.” “Braucht es nicht; aber steig auf. Ich lass dich nicht fallen, keine Angst.”

Ich war erstaunt, wie leicht der Weißhaarige war, als er sich auf meinen Rücken zog, obwohl er größer war als ich. “Hast du’s?” Ich spürte sein Kopfnicken mehr, als dass ich es sah. “Okay. Keine Sorge, wir haben’s bald. Und das war dann auch schon die Hälfte; die andere schaffst du morgen schon, wenn es dir etwas besser geht.” “Sicher”, murmelte er, die Arme um mich geschlungen. Er war wirklich kalt. Vielleicht hätte ich noch irgendwo eine Decke organisieren sollen. “Ich hasse es, mich zu wiederholen, aber danke, Mitja. Ich revanchiere mich. Ich finde schon was. Tut mir leid, dass ich dir so viel Probleme bereite.” “Ich bin schon ganz froh, dass ich ein bisschen Gesellschaft habe. Und man muss die Sache positiv sehen: So komme ich wenigstens auch mal an die frische Luft.” Er lachte; nicht begeistert, aber es war ein Lachen, und das flößte mir wieder etwas Zuversicht ein. Ich war zu gespannt, was Elias mir eröffnen würde.

Mit dem kranken Kiji auf dem Rücken legte ich die letzten Kilometra zurück. “Wusste ich es doch”, fiel mir ein. “Kaum erfüllt man dir deinen Wunsch, Omi, schon packst du’s nicht mehr.” Kiji kicherte atemlos. “Jetzt mach schon, Junge! Lass deine alte Oma hier oben nicht versauern. In deinem Alter hab ich ganz andere Lasten getragen!”

Trotz Kijis Leichtgewicht stellte sich das letzte Stück doch als eine elende Plackerei heraus. Ein bisschen Angst hatte ich auch, dass er mir doch da oben abkratzen könnte, und etwa alle zehn, zwanzig Metra erkundigte ich mich nach seinem Befinden, worauf er mir jedes Mal leise zu verstehen gab, dass er noch lebte, von Mal zu Mal genervter. Trotzdem konnte ich noch durch meine Kleidung hindurch sein Zittern spüren. Oder war es meines, oder beides? Ich weiß es nicht. Jedenfalls war ich mehr als glücklich, als ich endlich die Lichter eines Hauses durch die Abenddämmerung hindurch sah. Ich setzte den geflügelten Jungen ab und wollte gerade klopfen, als mir die Tür auch schon von innen geöffnet wurde. Eine rauhe Stimme schallte uns entgegen: “Meine Güte! Kommt rein, Jungs! Ihr seid ja halb erfroren!”

Ein Mann in den mittleren Jahren mit Halbglatze zog uns über die Schwelle. Seinem enormen Bierbauch nach zu urteilen, ging das Geschäft mit Reisenden besser als die Landwirtschaft.

“Er ist halb. Ich bin dreiviertel”, erklärte Kiji schlapp und ließ sich mit mir widerstandslos an einen Tisch führen. Ich bezahlte die Unterkunft; bei weitem nicht so viel wie ich befürchtet hatte, aber immer noch ein guter Teil meiner Ersparnisse. Ich hoffte sehr auf eine gute Idee von Elias. Wir saßen direkt an einem Kamin, und hier drin war es so schön warm, dass ich mich am Liebsten wie eine Katze zusammengerollt und zu schnurren angefangen hätte.

Der Geflügelte schloss glücklich seufzend die Augen und nieste, während er wieder auftaute. Er sah wirklich dreiviertel erfroren aus. Das tat mir leid; aber was hätte ich denn machen sollen? Der Gastwirt brachte uns etwas zu essen; ein wenig Fleisch, aber hauptsächlich Rüben und Kartoffeln. Egal - es war warm. Ich hätte nie gedacht, dass Kiji so schnell essen könnte. Nach dem zweiten Schlucken und gleichzeitig der Beendigung seiner Mahlzeit sagte er mit leuchtenden Augen zu mir: “Mitja, ich folge dir wohin immer du willst, wenn wir nur in regelmäßigen Abständen in ein Gasthaus gehen.” Ich grinste. “Das lässt sich sicher einrichten. Aber ich hoffe doch, dass es weiter im Süden etwas wärmer ist.” Er nickte und lehnte sich zufrieden zurück. “Schon. Aber bis wir zu Fuß dort sind, dauert es doch eine Weile. Da hat es mehr Sinn, auf den Sommer zu warten.” “Ach so....”

Ich sah mich ein bisschen um. Der Raum, in dem wir saßen, ursprünglich wohl die Wohnküche des Bauernhauses, war vollständig als Gaststube umfunktioniert worden. Ein Feuer loderte im Kamin, und es roch nach Essen. Einige Tische standen an den Wänden, aber außer unserem waren nur noch zwei andere besetzt. Klar, dass man bei diesem Wetter nicht gerne reiste, wenn man nicht musste.

“Meinst du, ich kann die Decke endlich ablegen?”, fragte mich Kijitaka, der meinem Blick gefolgt war. Ich nickte. “Bestimmt. Wir sind so weit von der Stadt entfernt; hier wird keiner mehr auf dich achten.”

Mit einem glücklichen Gesichtsausdruck ließ er sich die Decke von den schmalen Schultern gleiten und reckte seine verspannten Flügel, soweit es der Platz zuließ. Dann begann er umgehend damit, seine schneeweißen Federn zu ordnen. “Die sind ja wirklich total zerzaust”, staunte ich.

“Ja, vielen Dank, du siehst auch zum Anbeißen aus heute Abend. Denkst du etwa, ich habe dich angelogen?” “Nein, aber ich dachte, du könntest besser Ordnung halten”, was mir sofort einen strafenden Blick eintrug. “Soll ich dir helfen?” “Nein, danke. Wenn ich das selbst mache, geht es glaube ich schneller.” Er fuhr mit den Fingern so flink durch sein Gefieder, dass sich die Federn unter ihnen fast von selbst zu glätten schienen. Ich sah fasziniert zu. Dann ließ ich verstohlen meinen Blick durch die Gaststube wandern. Die Menschen an dem einen Tisch waren nach wie vor über eine Karte gebeugt in ihre Wegplanung vertieft, aber die zwei Reisenden am anderen Tisch hatten ihr Gespräch unterbrochen und starrten auf meinen Freund, bis sie meinen Blick bemerkten, woraufhin sie die Köpfe über die Teller senkten und ihre Unterhaltung in gemurmeltem Tonfall wieder aufnahmen. In der Zwischenzeit hatte Kiji seine Reorganisation beendet, und mir fiel mein schlampig gemachter Verband ins Auge, der noch immer um seine linke Schwinge gebunden war. “Soll ich mal nach deinem Flügel sehen?”, fragte ich ihn. “Würdest du das tun? Ich kann selbst wenig erkennen über die Schulter .”

Ich kam um den Tisch und setzte mich auf die Bank neben ihn, so dass er mir den Rücken zuwenden konnte. Ich knotete vorsichtig das Tuch auf, während ich zu ihm meinte: “Die zwei da drüben sehen die ganze Zeit zu dir rüber, Kiji.” “Eifersüchtig? Ja, hab ich auch schon bemerkt. Lass sie doch. Wenn sie nichts Besseres zu tun haben.”

Das Tuch war dreckig, und die schönen Federn um die Wunde herum ebenso, und die Kälte hatte diese wieder ein wenig mehr aufbrechen lassen, aber dennoch verheilte sie in erstaunlichem Maße, ebenso wie auch Kijis Fieber jetzt verschwand wie Schnee in der Sommersonne. Ich konnte mir das nur so erklären, dass es die lange Gefangenschaft war, die ihn so krank gemacht hatte; ich kannte ihn jetzt gut genug, um mir ausmalen zu können, wie er leiden musste, wenn man ihn einsperrte. Was immer es auch war; jedenfalls blühte Kijitaka förmlich auf - wenn er nicht gerade auf dem Rücken im Schnee lag; aber gut.

“Ich lasse den Verband jetzt weg”, sagte ich zu ihm. “Ich glaube nämlich nicht, dass er dir noch groß was nützt.” “So schlimm”, neckte er mich. Ich nickte ernst und antwortete mit Grabesstimme: “Herr Vogeljunge, Sie müssen jetzt sehr stark sein...” “...denn Sie haben nur noch eine Nacht im Warmen, und sie bekommen heute keine Suppe mehr. O neeeeiiiin!” Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Die beiden Männer sahen jetzt auch ebenso empört zu mir. Meine Güte; solche wie die gehen aber auch zum Lachen in den Keller, oder?

Ich bürstete das getrocknete Blut von Kijis Flügel, so gut ich es konnte, ohne ihm die Federn mit auszureißen, was mich sicher diverse Körperteile gekostet hätte, auf die ich nicht verzichten wollte. Man wusste nie, wozu man sie noch einmal brauchen konnte.

Nach einer Weile kam auch der Wirt wieder an unseren Tisch; ich sah, dass seine Frau Kijitaka aus einer Ecke heraus förmlich anhimmelte. Meine Güte. Ich sah auch gut aus; also bitte!

Wir wurden die Treppe hinauf geführt; auf den warmen, mit duftendem Heu gefüllten Dachboden, der von dem Ehepaar als Gästeunterkunft genutzt wurde. Gegen eine Nacht im Heu hatte ich nichts einzuwenden, besonders nicht, wenn es hier so herrlich behaglich war. Mit Mäusen hatte ich kein Problem; daran war ich gewöhnt.

“Du hast noch nie im Heu geschlafen, oder?”, fragte ich Kiji, als der Bauer wieder gegangen war. “Ich hatte Stroh im Wagen nach Norden”, verteidigte er sich. “Oho! Glauben Majestät dennoch, dass es hier angemessen ist für Majestät?”“Baka! Lass das!” Kiji warf mit einer Handvoll Heu nach mir. “Ach; mit Schnee werfen kannst du nicht, aber mit Heu traust du dich?” “Du hast es doch gar nicht verdient, dass man mit dem guten Schnee nach dir wirft, du Bauer!” “Ach ja?” Ich stieß ihn rücklings ins Heu. “Sag das nochmal, du Bonze!” “Bauer!” Er wehrte lachend die nächste Ladung Heu ab, die auf ihm landete. “Arrogantes Bonzenkind!” Er zog mich mit einer Beinschere von den Füßen, so dass ich neben ihn ins Heu fiel. “Uff! Das zählte jetzt nicht!” Er lachte atemlos weiter. “Baka!” Ich seufzte und rollte mich ein wenig zusammen. Jetzt, wo ich schon einmal lag, wollte ich auch gar nicht mehr aufstehen. Meine Beine waren schwer, und ich lag herrlich weich und warm.

“Was Besseres als Heu zum drin Schlafen gibt es gar nicht”, erklärte ich dem Geflügelten, als wir einzuschlafen versuchten. “Du als geborener Bonze weißt das gar nicht.” “Ich hab auch dann und wann nichts gegen ein schönes samtenes Kissen einzuwenden, aber gerade jetzt im Moment möchte ich nirgendwo anders sein”, murmelte er, schon halb weggetreten. Ich atmete tief den würzigen Geruch meiner Kindheit ein. Früher hatte ich oft mit meinen Freunden von den Nachbarhöfen im Heu übernachtet. “Schlaf gut, Kiji.” Aber das tat er schon. Ich brauchte ebenfalls nicht sehr lange, um in tiefen Schlummer zu fallen.

Diesmal ging ich gleich zu Elias, der an der selben Stelle saß wie gewöhnlich - oder war es eine andere? In diesem Wolkenmeer sah alles gleich aus. Ich machte mir ein bisschen Sorgen um ihn, als ich ihn so sah. Er war furchtbar blass, und seine Augen waren gerötet. Aber er wirkte sehr erleichtert, mich zu sehen. “Gut, dass du da bist. Ich habe was für euch gefunden”, begrüßte er mich gleich. Er war ganz offensichtlich nicht in der Verfassung für ein langes Vorgespräch. Der Junge brauchte dringend mal eine Mütze Schlaf. “Ich hab ununterbrochen Karten gelegt, seit du weg warst, und ich bin jetzt erst fertig geworden”, verteidigte er sich gegen meinen mütterlich anklagenden Blick. “Ich ruhe mich nachher aus.” Ich sah ein, dass es keinen Sinn hatte, darüber mit ihm zu diskutieren. Elias mochte ja aussehen wie ein Träumer, aber er hatte sich ganz schön in diese Sache verbissen. Ich hoffte nur, dass er sich daran nicht kaputtmachen würde. “Na schön. Was hast du erfahren?” Er ordnete kurz seine Karten, während er gleichzeitig einen Anfang suchte. “Also, zuerst einmal: Gibt es ein Stück weiter südlich eine Stadt, die um einen Hügel oder einen kleinen Berg herum gebaut ist?” “Klar; das ist Torsberg. Die ist um eine Klippe herum gebaut. Aber das ist nur eine kleine Handelsstadt.” “Das macht nichts. Glaubst du, ihr könnt bis morgen am späten Nachmittag dort sein?” “Später Nachmittag?!”

Ich war entsetzt. “Das ist unmöglich! Ich bin froh, dass Kiji es bis hierher geschafft hat. Falls du es nicht gemerkt hast: Ich musste ihn das letzte Stück tragen!” “Ich weiß, ich weiß.” Der Hellblonde fuhr sich müde über die Augen. “Aber könntet ihr es nicht versuchen? Ich weiß, dass Kijitaka mich sowieso schon nicht mag, aber danach ist es vielleicht zu spät. Geht es nicht vielleicht, wenn ihr früh genug aufbrecht?” Ich schüttelte den Kopf. “Keine Chance. Wir haben den Schlaf beide bitter nötig, und Kiji ist immer noch krank. Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst.” Elias versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. “Ich weiß, es ist knapp. Wenn ihr es also absolut nicht schaffen könnt, dann werde ich nach einer Alternative suchen. Tut mir leid; ich dachte, es wäre nicht so weit. Gib mir noch ein paar Stunden, dann such ich euch was anderes.” “Bist du verrückt? Du kannst ja nicht mal mehr geradeaus gucken vor Müdigkeit!” “Ihr habt jetzt aber wenig Zeit. Ich finde eine Lösung, und dann ruhe ich mich aus. Komm morgen früh zurück, wenn...” Er verstummte und seine Augen wurden wieder groß.

“Was ist?”, fragte ich. “Kommt er wieder?” “Ja. Du musst gehen. Wir sehen uns später.” “Nein, ich...” Elias beugte sich vor und strich mir mit kalten Fingern über die Augen, und ich merkte, wie ich aufwachte. “Hey, warte mal, das kannst du nicht....” Dann merkte ich auf einmal, dass ich nur noch ins Heu murmelte.

Verdammter Idiot! Er machte sich wirklich kaputt. Sollte ich mich jetzt etwa entscheiden, ob ich Elias oder Kiji zu Tode hetzte? Perfekt!

Ich unterdrückte selbst mühsam ein Gähnen. So plötzlich aus dem Schlaf geschoben zu werden, war nie eine angenehme Erfahrung. Ich hörte die anderen Reisenden, die gerade nach oben gekommen waren. Als ich merkte, dass sie über uns sprachen, horchte ich auf. “...dass es doch viel zu kalt ist!”, hörte ich eine Männerstimme, die die Treppe herauf kam, wo die anderen schon warteten. “Ich nehme doch an, dass sie auch auf dem Weg nach Süden sind. Der Geflügelte sieht auch nicht mehr ganz gesund aus.” “Wieso?”, fragte eine zweite Stimme, näher an uns heran. “Er sieht doch ganz normal aus.” Es war eine Weile Pause, dann erwiderte die erste Stimme: “Du hast noch nie einen Geflügelten gesehen, oder?” “Na, wo denn? Ich war nie zuvor südlich von Haskefalls, und das weißt du verdammt genau!” Eine Frauenstimme lachte. Der erste Mann fing an zu erklären: “Weißt du, es hat dann auch keinen Sinn, es dir beschreiben zu wollen. Seine Flügel hängen an ihm herab wie zwei nutzlose Auswüchse; nicht nur, weil er verletzt ist, meine ich. Das ist schon ein trauriger Anblick, wenn du sie ausgebreitet zu sehen gewohnt bist!”

“So alt sind sie beide noch nicht”, meinte die Frau nachdenklich. Anscheinend sah sie zu uns herüber. Ich hielt die Augen geschlossen. Ich wollte hören, was sie noch zu sagen hatten.

“Ich frage mich, was sie hier auf die Straße führt. Sie geben doch ein ungleiches Paar ab.” “Wieso? Ich bin auch schon mit Geflügelten gereist!” “Armin, du bist ein Söldner! Das hier sind ja noch Jungen! Die sind grad mal so keine Kinder mehr!” “Ja, toll”, meinte Armin trocken. “Was denkst du, warum sie alleine unterwegs sind? Ist doch schön; so entwickeln sie keine Vorurteile!” “Was mich viel mehr wundert”, meinte der erste Mann nachdenklich, “der Mensch sieht aus, als käme er hier aus der Gegend, und wenn ihr euch mal seine Kleidung anseht - ich frage mich, wie es kommt, dass er einen Geflügelten zum Freund hat? Und gerade so weit im Norden! Ich meine, wo hat er ihn getroffen?” “Vielleicht hat er ihn im Süden getroffen, und sie sind auf dem Rückweg. Was weiß ich”, meinte Armin.

“Was, mitten im Winter? Wie blöd! Warum sollten sie so etwas tun?” “Warum fragst du ihn nicht selbst?”, fragte die Frau. “Der Junge ist schon lange wach. Ihr macht einfach viel zu viel Lärm.”

Ich setzte mich errötend auf. “Tut mir leid, ich wollte nicht lauschen...” “Kein Problem”, meinte die dunkelhaarige Frau. Sie trug einen Lederharnisch und Beinschienen. “Immerhin haben wir über euch gesprochen. Also - Süden oder Norden?” “Süden”, meinte ich entschieden. “Blöd sind wir ja nun nicht.” Sie grinste und streckte mir die Hand entgegen. “Ich bin Maria.” “Freut mich. Mitja.” Im Flüsterton wurden mir die beiden anderen vorgestellt. Armin war ein breitschultriger, bärtiger Kerl, der eher schweigsam mir gegenüber war. Der dritte und wohl jüngste im Bunde hieß Björn und kam auch aus der Umgebung. Ich erfuhr, dass die drei Söldner waren. Sie waren auf dem Weg nach Torsberg, um sich dort mit einigen Freunden zu treffen. Maria deutete auf Kiji, der noch immer mit leisen Atemzügen schlief. Der arme Kerl war total fertig. Seine Flügel wirkten wirklich ziemlich schlaff. Ich kannte sie ja nicht anders. “Und wer ist dein Freund?” “Oh! Entschuldigung. Das ist Kijitaka.” Offensichtlich wartete sie auf eine weitere Erklärung, aber ich sagte nichts. Sie seufzte. “Okay, schon gut. Ihr wollt nicht darüber sprechen, vor was ihr abhaut. Ist in Ordnung. Und wohin genau soll’s gehen?” Ich hob die Schultern. “Wissen wir noch nicht.”

“Ihr geht los, ohne zu wissen, wohin”, grinste Armin sarkastisch. “Großartig. Das mach ich auch gerne. Im Ernst, so was überlegt man sich doch vorher!” “Wir hatten nicht wirklich viel Zeit zum Überlegen”, meinte ich scharf. “Eigentlich sollten wir bis morgen Nachmittag in Torsberg sein, aber das schaffen wir beim besten Willen nicht!” “Wieso?”, fragte Maria erstaunt. “Das ist doch nur sechs Wegstunden entfernt!” “Sechs Wegstunden?”, ächzte ich. “Das ist mindestens einen Tagesmarsch entfernt, und Kiji ist nicht so gut zu Fuß. Vor übermorgen Mittag sind wir kaum da!” “Stimmt, dein Freund ist ja verletzt.” Sie schürzte die Lippen. “Wir können euch mitnehmen.” “Maria!”, beschwerte sich Björn. “Was denn? Wenn man wochenlang nur mit euch Griesgramen unterwegs ist, freut man sich über jede Gesellschaft! Außerdem hast du hier von allen am wenigsten zu melden, also halt dich raus.”

Ich starrte die Söldnerin angenehm überrascht an. “Würdet ihr das tun?” “Klar.” “Also...”, ich zögerte eine Weile. “Was verlangt ihr dafür? Weil wir nämlich nicht mehr so viel haben und...” “Ach, halt die Klappe! Das ist gratis.” “Ernsthaft?” “Sicher. Wir bauen die Vorurteile gegen Söldner ab.” Sie zwinkerte mir zu. Björn schien nicht so begeistert von der Idee; Armin zeigte keine Regung. Dann aber drehte er sich zu mir um, nachdem er eine Weile Kiji betrachtet hatte. “War er damit schon bei einem Arzt, oder läuft er die ganze Zeit so rum?”, erkundigte er sich. “Nein, das war ich...ich meine, ich habe mich gestern Nacht darum gekümmert. Wieso? Es verheilt doch gut.” Armin seufzte. “Von außen betrachtet; ja. Hat er denn nichts gesagt?” Ich schüttelte den Kopf. Der schwarzhaarige Söldner fuhr sich durch das Haar. “Mensch, Jungs, wie wollt ihr denn so weit kommen? Wenn das so bleibt, dürft ihr euch nicht wundern, wenn er nicht wird fliegen können.” “Was? Wieso?”

“Kriegst du das nicht hin, Armin?”, fragte Maria. “Klar. Dafür bin ich doch da.” “Ach, halt doch die Klappe, du alter...” Sie biss sich pikiert auf die Lippe.

Armin beugte sich zu Kiji hinüber. “Hey. Aufwachen.” Der Geflügelte öffnete verschlafen die schimmernden Augen und schrak dann wie angestochen hoch. “Wow! Wer seid ihr denn?”

Maria wiederholte die Vorstellungszeremonie und fügte zu Björns großer Freude hinzu, dass sie uns bis nach Torsberg mitnehmen würden. Kiji wusste zwar noch gar nicht, dass wir bis zum folgenden Nachmittag da sein mussten, aber er hielt zu meiner Dankbarkeit die Klappe. Armin wandte sich an den neben ihm sehr jung und verletzlich aussehenden Kijitaka: “Eine Frage: Warum hast du deinem Freund nicht gesagt, dass du das Gefühl hast, dein Flügel wäre ausgerissen?” Kiji wurde rot und sah gleichzeitig erstaunt und ertappt aus. “Ich dachte, es heilt”, verteidigte er sich. Jetzt war ich empört. “Kiji! Warum sagst du nichts? Bist du blöd?” “Ich sagte doch, ich dachte, es heilt wieder! Und überhaupt, was hättest du denn machen wollen?” “Du verdammter Bonze, zufällig hab ich dir die Haut gerettet, und...” “Seid ruhig!”, rief Armin mit seiner Donnerstimme. “Einigt euch einfach darauf, dass ihr euch so was das nächste Mal sagt, ja? Schlimmer als meine alten Eltern! Es ist ja nicht so übel, wie es sich anfühlt. Aber aufs Fliegen wirst du auf diese Weise lange warten können. Hast du was dagegen, wenn ich mich darum kümmere? Ich verstehe nicht, wie du das nicht kennen kannst, das sind doch nur verdrehte Muskeln, das passiert doch praktisch ständig...” “Ständig?”, keuchte Kiji. “Zum Glück nicht!” “Ach, jetzt tut’s dir weh, was?” “Mitja, sei ruhig, es tut schon die ganze Zeit weh! Ich wusste halt nicht, dass es noch was anderes war als das, worum du dich schon gekümmert hast...”

Armin betastete vorsichtig seinen Flügelansatz. “Okay, alles klar. Pass auf, ich zähl bis drei, klar?” “Was? Was haben Sie...” “Eins...Zwei...” Der breitschultrige Söldner drückte ihm ohne Vorwarnung seine Daumen auf die Schwinge und zog gleichzeitig etwas zurecht. Kijitaka schrie und heulte auf. Armin ließ ihn wieder los. “Fertig.” “Kuso”, zischte Kiji unter Tränen und begann auf eine für mich unverständliche Weise heftigst zu fluchen. Er schien zwischen den Worten kaum Luft zu holen. Armin hob die Augenbrauen. “Whoa! Mach mal langsam! Hier ist einer, der alles verstehen kann, was du sagst!” “Weil das die Worte sind, die Geflügelte normalerweise von sich geben, wenn du in der Nähe bist”, meinte Maria trocken.

“Halt’s Maul, Weib!” Aber sie kicherte nur.

“Hey, Kijitaka”, meinte ich besorgt. “Alles in Ordnung?” Er stöhnte und holte tief Luft. Dann stieß er sie langsam wieder aus. “Komisch, aber jetzt, wo du’s erwähnst; ja.” Vorsichtig streckte er seinen Flügel. “Götter; das hab ich seit Tagen nicht mehr tun können...” Gut; eine leichte Übertreibung. Er hätte mir so nie das halbe Dach runterreißen können.

“Ich würd damit noch nicht wieder fliegen”, meinte Armin geschäftsmäßig. “Warte noch einen Tag oder so. Es heilt ja schnell bei dir.” Kiji nickte. “Danke. Vielen Dank.” “Keine Ursache. Ich mach so was öfters.” “Übrigens...”, meinte der Geflügelte vorsichtig.

“Sie kommen doch sicher viel herum...weiß zufällig einer von Ihnen, wie es in Nihon aussieht...von der Republik her, meine ich.” Armin runzelte die Stirn.

“Also...nichts gegen dein Volk, aber wenn die sich nicht bald einig werden, würde ich sagen, das gibt bald noch einen Bürgerkrieg. Aber die neue Republik kann sich ganz gut behaupten; ich hab in den letzten Jahren so viele Geflügelte gesehen wie noch nie zuvor. Die ganzen Königstreuen verlassen das Land und werden Söldner; das ist es nämlich.” Eine Weile kehrte Stille ein. “Ach so...”, murmelte Kijitaka in sich versunken. Dann ergriff Maria das Wort.

“Wir müssen morgen früh raus; also ist es besser, wenn wir jetzt alle schlafen gehen. Ach, Björn schläft schon. Umso besser. Gute Nacht dann.” Sie verzog sich in eine andere Ecke des Heubodens, wo sie sich zusammenrollte und fast auf der Stelle einschlief. Armin tat es ihr wortlos gleich.

Ich hörte noch die beiden Männer in der Gaststube diskutieren.

“Sprichst du noch mit Elias?”, flüsterte Kiji mir zu. Ich nickte. “Dann sag ihm, dass er, was auch immer er plant, uns aus diesen verdammten Kriegen überall raushalten soll! Es gibt, glaube ich, kein Volk, dass grad nicht einen Hass auf ein anderes hat.” Ich seufzte.

Er hatte nur zu recht. Mein eigenes Volk lag im Clinch mit den Salamandern im Osten und den alten Vampirclans im Norden, von den hier und da aufflackernden Feindseligkeiten mit Werwölfen gar nicht erst zu sprechen. Das waren alles die kleinen Strohfeuer unter der Oberfläche der Friedenszeit. Von den wirklich großen Kriegen waren wir im Norden verschont geblieben, so wie dem seit Urzeiten andauernden Streit der Elfen untereinander. Das war der Nachteil der Langlebigkeit: Nahezu unsterbliche Feindschaften, ihre Anfänge noch immer eingeprägt im Gedächtnis der ganz Alten.

Es dauerte eine Weile, bis ich wieder einschlief, umso mehr, als dass ich so schnell wie möglich wieder mit Elias sprechen wollte. Dann konnte er endlich schlafen. Hoffentlich tat er das auch. Halbtot konnte er uns auch nicht mehr helfen. Als ich ihn sah, erwartete er mich schon.

“Na endlich”, seufzte er. “Ich hatte schon befürchtet, wir würden uns nicht mehr sehen. Ihr kommt doch nach Torsberg!” “Ja”, meinte ich, “ich weiß; aber was ich immer noch nicht weiß, ist: Was sollen wir da?” Er nickte. “Alles klar. Ich hab nicht viel Zeit, weil du gleich wieder geweckt werden wirst, also hör gut zu, denn du wirst morgen kaum zum Schlafen kommen: Ihr müsst zum Marktplatz gehen. Der Wochenmarkt ist gerade vorbei, und ihr müsst zu einem angrenzenden Platz gehen; ziemlich zentral gelegen. Dort steht ein großes Zelt, aber sie fangen nachmittags schon an, es abzubauen. Das ist eine Art...Wandervorstellung; kein Zirkus in dem Sinne. Recht bekannt weiter südlich. Sie werden euch eine Arbeit geben können und euch weiter zurück nach Süden mitnehmen, wo ihr sie dann theoretisch verlassen könntet. Das ist eure Chance! Ihr müsst Ausschau halten nach einem Jungen mit roten Augen. Dann sollte eigentlich nichts schiefgehen, und ihr kommt schnell und sicher außer Gefahr.” “Und du bist sicher, dass sie uns einstellen?”, hakte ich nach. “Ziemlich sicher.” “Und welcher Mensch verdammt noch mal hat rote Augen?!” Elias hob die Schultern. “Das weiß ich nicht. Aber ich habe ihn ziemlich deutlich gesehen; ihr werdet ihn erkennen, wenn ihr ihn seht. Euer Schicksal und seines hängen zusammen.” “Ich glaube nicht an das Schicksal!” “Ich weiß. Aber...Mitja...was immer es ist - irgend etwas da draußen glaubt an dich.

Geht zu dem Zelt. Haltet euch an den rotäugigen Jungen; er ist wichtig für euch.

Es wird etwas geschehen; etwas Großes, ich bin mir dessen immer sicherer. Und ihr drei gehört zu den Leuten im Mittelpunkt. Vielleicht dauert es noch Jahre, vielleicht geschieht es auch schon morgen; aber ihr gehört zusammen. Es tut mir leid. Ich kann es nicht erklären. Aber du wirst es sehen. Jedenfalls wünsche ich dir alles Gute.” Mir lief ein Schauer über den Rücken. “Du machst mir Angst. Sei das nächste Mal nicht so prophetisch, wenn wir uns sehen!” Elias seufzte traurig.

“Ich weiß nicht. Manchmal glaube ich, dass jedes Mal, wenn wir uns sehen, das letzte Mal sein könnte. Ich weiß ja nicht, was ich für eine Rolle zu spielen habe. Oder ob sie schon erfüllt ist. Ich habe das Gefühl, als könnte jede Hilfe, die ich dir gebe, die letzte sein.” Der Junge klang gefasst, aber ich sah die Angst in seinen Augen, mit der er seit seiner Entführung leben musste. “Ich hole dich hier raus, sobald wir in Sicherheit sind”, sagte ich fest. “Ich versprech’s dir. Ich finde schon einen Weg.” “Danke”, meinte Elias mit gesenktem Kopf.

“Was ist? Glaubst du etwa nicht, dass ich das schaffen kann?” “Doch”, flüsterte der Blonde, “doch. Ich weiß schon seit Jahren, dass...dass der Magier alles schaffen kann.

Mach’s gut, Mitja. Maria kommt.”

“Was?! Jetzt schon?” “Ja, du Trantüte. Wir müssen los. Oder willst du doch nicht mehr mit? Dein Freund wartet schon unten. Wir haben dich noch ein bisschen schlafen lassen, aber jetzt ist endgültig Schluss. Steh auf.” Als ich die Augen öffnete, sah ich direkt in Marias hübsches Amazonengesicht. Ihre dunklen Augen glitzerten. “Wie sagt man bei euch im Norden? Schlafsack?” “Faulpelz”, murmelte ich und stemmte mich hoch. “Echt? Dann hat Björn mir Schwachsinn erzählt. Na, der kriegt was zu hören.” Sie zog mich auf die müden Beine. Die Gespräche mit Elias schafften mich wohl doch mehr, als ich hatte wahrhaben wollen. Natürlich waren sie nicht so erholsam wie ein entspannter Schlaf; klar.

Ich hatte noch das ganze Heu in der Kleidung hängen, und ich versuchte, es aus der Wolle zu zupfen, während ich hinter der dunkelhaarigen Söldnerin die schmale Treppe hinabstieg. Es hing fest wie angewachsen. Dennoch war ich anscheinend noch ganz gut dran, denn als ich unten in der Gaststube ankam, fiel mein Blick zuerst auf Kijitaka, der sich fluchend mit fliegenden Fingern das trockene Gras aus dem Gefieder rupfte. Die beiden Männer vom Vortag waren anscheinend schon am Vorabend weitergezogen.

Der Junge sah auf und schenkte mir einen Blick, der die Hölle hätte gefrieren lassen. “Wenn du mir noch einmal was von den Vorzügen von Heu zum drin Schlafen erzählst, dann schwöre ich, dass ich dir persönlich den Hals umdrehen werde.”

Aber er nahm es zurück und reduzierte seine Todesdrohung auf die einer simplen Prügelstrafe, als ich ihm den hartnäckigen Rest entfernte; so schnell wie möglich und nebenbei essend, weil die drei Söldner zum Aufbruch drängten. Maria hatte uns zwei Pferdedecken geholt, die wir als Umhänge tragen konnten, bis wir die Stadt erreicht hatten, damit wir nicht doch noch erfroren.

Als wir nach draußen traten, kondensierte der Atem vor unseren Gesichtern, aber es war ein klarer Tag, und der Himmel war blau. Die Sonne war gerade aufgegangen und hing wie eine glimmende Scheibe über den weißen, stillen Feldern. Es war sehr schön. Selbst Kiji musste das zugeben. Eingehüllt in die Decke fror er nicht so arg wie am Vortag.

Maria hatte gerötete Wangen; Kiji auch, wie ich entzückt feststellte. Er war so blass gewesen, als ich ihn kennengelernt hatte, aber seine helle Haut war jetzt nicht mehr von diesem kränklichen Schimmer überzogen.

Armin kam hinter dem Bauernhaus hervor, mit dem rundgesichtigen Björn an seiner Seite. Hinter sich führten sie am Zügel drei Pferde; grobknochige, schwere Tiere. Der Geflügelte ächzte, als er die stämmigen, mit Lederplatten gepanzerten Vierbeiner sah. Alle drei waren gut gepflegt und kräftig. Eines schnaubte und riss am Zügel, ehe Armin es wieder zur Ordnung riss.

“Was schaust du denn so?”, fragte Björn, der Kijis Blick bemerkt hatte. “Los, rauf mit dir!” Er schwang sich selbst in den Sattel des breitschultrigen Wallachs. “Nein”, entschied der geflügelte Junge. “Da kriegt ihr mich nicht hoch!”

Armin runzelte die Stirn. “Was soll das jetzt heißen? Entweder du steigst auf, oder du bleibst hier, so einfach ist das.” “Komm schon”, drängte ich ihn. “Wir müssen bis heute Nachmittag da sein! Du musst aufsteigen!” “Spinnst du? Was ist, wenn so ein Ding mich abwirft? Weißt du, was dann nämlich passiert? Da kannst du mir die Flügel auch gleich amputieren!” “Keine Angst, du fällst nicht runter”, beruhigte Maria ihn, die ihren schwarzen Wallach hielt, welcher unruhig hin- und hertänzelte. “Du kannst bei Armin mitreiten. Sein Pferd wirft dich nicht ab. Das wagt es gar nicht”, fügte sie mit einem schelmischen Grinsen hinzu. “Sollte sie auch nicht, wenn sie weiß, was gut für sie ist”, brummte der Söldner, der auf seiner braunen Stute saß und ein Schild im Gesicht zu haben schien mit der Aufschrift: ‘Ich warte eh schon, treib es nicht zu weit.’ Aber er wirkte noch gutmütig.

“Los”, meinte Maria plötzlich hinter mir, “Mitja zeigt dir, wie’s geht.” Und sie packte mich um die Hüfte und hob mich hoch. Ich war so überrascht, dass es mir nicht einmal in den Sinn kam, mich zu wehren. Ich hätte nicht von ihr erwartet, dass sie mich so ohne weiteres hochheben konnte! Wahrscheinlich war ich doch etwas zu schmal geworden. Ehe ich mich versah, saß ich schon auf dem riesigen Tier, das unter mir scheute und von der Söldnerin festgehalten werden musste. Ich habe keine Ahnung, wie groß es war, aber von oben war es mindestens doppelt so hoch wie von unten betrachtet. Und ich konnte im Gegensatz zu gewissen anderen Anwesenden nicht fliegen. Was stellte er sich eigentlich so an? Okay, Armin hatte ihm verboten, seine Flügel zu benutzen, aber er könnte es theoretisch doch sicher.

Ich hielt mich krampfhaft an der Mähne fest, als das schwarze Untier zur Seite tänzelte. Alles Blut war mir aus dem Gesicht gewichen.

“Mitja will auch nicht!” “Doch, natürlich will ich”, entgegnete ich käsebleich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. “Jetzt mach schon, je schneller wir loskommen, desto schneller bin ich wieder unten so halt es doch fest!” Maria hatte das Tier ernsthaft los- und mich auf ihm alleine gelassen. Ich lag darauf, hielt mich mit Armen und Beinen fest und versuchte, mich nicht zu bewegen, in der Hoffnung, dass es nur ja stehenblieb. Aber das verdammte Vieh bewegte sich die ganze Zeit! “Hey! Hey, wo gehst du hin? Es wird mich abwerfen!” “Sei nicht dumm. Er wirft dich nicht ab, wenn du aufhörst, zu schreien!” Sie ging zu Kijitaka und hob ihn auf den Rücken von Armins Pferd, wo er sich an dem muskulösen Söldner mit dessen gebrummter Erlaubnis festhielt. Er schien kein Problem mit der Höhe zu haben, aber er überwachte mit Adleraugen jede Bewegung des Tieres und schnürte Armin nur ein wenig die Luft ab.

Maria kam zurück. “Rutsch mal nach hinten.” Sie schwang sich vor mir aufs Pferd. Ich hielt mich irgendwo um ihren Bauch fest. Ich war so erleichtert, dass jetzt ein Kapitän an Bord war. “Na also. So schlimm ist es doch nicht, oder?”

Armins Pferd trabte an uns vorbei zum Weg. “He, Junge, mach einfach die Augen wieder auf!” “Mir wird schlecht”, wisperte Kiji, als er an uns vorbeikam. Aber er öffnete die violetten Augen wirklich wieder. Schade; er hatte das bisschen gewonnene Farbe schon wieder verloren. “Aber wenn du mich erstickst, kann ich nicht reiten!”

Marias Pferd setzte sich Armins Stute hinterher in Bewegung, und ich nahm mir auf dessen Rücken erbleichend vor, noch einmal in aller Ruhe mit Elias zu sprechen.

“Warum haben wir die zwei Witzfiguren überhaupt mitgenommen?”, zeterte Björn. “Halt die Klappe”, kam es von Armin und Maria wie aus einem Mund. Als hätten sie das oft geprobt. “Er ist sehr stolz darauf, mit uns unterwegs zu sein”, flüsterte Maria mir laut über die Schulter hinweg zu. “Vor nur ‘nem Jahr kannte er Pferde nur vom Sehen von Weitem und geritten ist er höchstens auf Pflugochsen. Er hat bei seinem allerersten Ritt letztes Jahr sogar eine noch bemitleidenswertere Figur gemacht als du gerade, obwohl du dich auch mal hättest sehen sollen. Ihr tatet mir beide fast leid. Nachdem Armin ihn hochgehoben hatte, hing er dem armen Tier um den Hals und jammerte, er wolle wieder runter. Ich dachte nur: ‘Und sowas sollen wir mitnehmen?’ ” Björn ritt vorbei und tat mit erhobenem Kopf so, als hätte er nichts gehört.

Als er außer Hörweite war, fügte die Söldnerin hinzu: “Er ist trotzdem ein guter Kerl. Bildet sich nur ein, er wäre was Besseres als ihr zwei Jungs. Na ja, wenn man sonst immer nur der arme Bauer war und immer von oben herab betrachtet wurde...Ich kenne das ja selbst.

Er muss manchmal ein bisschen zurechtgewiesen werden, aber er ist ein netter Junge, wenn man sich erstmal auf ihn eingelassen hat. Bisschen naiv.”

Sie grinste; ich sah es selbst von hinten. “Sonst hätte Armin ihn auch schon längst irgendwo am Wegrand ausgesetzt.”

Es war mir klar, dass sie so viel redete, um mich ein bisschen abzulenken. Ich hatte in meinem Leben schließlich noch nicht einmal auf einem Pony gesessen; kein Wunder, dass ich angespannt war. Echte Reiter können das gar nicht verstehen.

Nach einer Weile begann ich zwar, mich ein wenig zu entspannen, aber ich lebte trotzdem in der ständigen Angst, dass das Tier auf dem vereisten Boden ausrutschen könnte.

Ich konnte nicht sehen, wie es Kiji erging, weil er wieder hinter mir war, und selbst wenn Armins breiter Körper nicht den Blick versperrt hätte, hätte ich mich auch nicht auf dem Pferd umdrehen wollen. So weit war ich noch nicht.

“Ihr scheint euch schon lange zu kennen, du und Armin”, versuchte ich nach einer Weile Weges ein bisschen Konversation zu machen. Sie nickte; ihre dunklen Locken wehten in ihrem Pferdeschwanz.

“Fast sieben Jahre lang jetzt. ...Es kommt mir trotzdem länger vor. Ich hab ihn kennengelernt, als ich noch so ein Anfänger war wie Björn jetzt.

Er ist übrigens ein sehr lieber Mann, wenn er es nur mal zeigt. Sehr sensibel”, rief sie über die Schulter nach hinten. “Ich geb dir gleich was von wegen sensibel”, tönte es zurück. Sie lachte. “Und absolut zuverlässig in seinen Reaktionen.”

Wir ritten ohne Pause den ganzen Vormittag hindurch, und nach einigen Stunden begann ich, auf dem Pferderücken hin- und herzurutschen, weil einige Körperteile meiner subjektiven Ansicht nach zu sehr belastet wurden. Wenn Maria es bemerkte, wessen ich mir fast sicher war, so sagte sie nichts, wofür ich ihr äußerst verbunden war.

Die Landschaft um uns herum war mit einer glitzernden Kruste überzogen, auf der sich das Sonnenlicht brach und die frostige Welt in einen gleißenden Glanz tauchte. Die Pferde trabten durch den Schnee, ohne ein einziges Mal zu stolpern.

Zwar war es kalt, und wir alle hatten nach einer Weile taube Finger, besonders die drei Reiter, und gerötete Gesichter, aber es war trotz allem eine Spaziertour im Vergleich zum Tag davor. Dadurch, dass das Wetter so gut blieb, hatte das Ganze etwas von einem Ausflug zur Jahreswende. Vielleicht konnte Elias doch ein bisschen das Wetter beeinflussen.

Um uns herum war die Welt in winterlichem Schweigen erstarrt, und wir hätten die einzigen Lebewesen im ganzen Land sein können, bis wir in die nähere Umgebung Torsbergs kamen.

Dann begegneten uns hier und da einige Bauern und Händler mit Karren, die den Markt bereits verlassen hatten. Ich begann, mir besorgt ein bisschen Gedanken darüber zu machen, dass wir vielleicht zu spät sein könnten, obwohl Elias versichert hatte, dass das beschriebene Zelt erst am Ende des Nachmittages abgebaut werden würde.

Torsberg war eine kleine, schneebedeckte Handelsstadt, in die auch Händler von jenseits der einige Tagesreisen entfernten Grenze kamen. Die Stadt war noch nicht sehr alt und reich geworden durch Silberfunde im Berg, um den sie herum gebaut worden war und der ihr den Namen gab. Das Silber war inzwischen fast verschwunden, aber Torsberg war nach wie vor ein wichtiger Umschlagplatz für Waren aus dem Norden, wie vor allem Pelze und bearbeitetes wie unbearbeitetes Metall.

Als wir durch das Stadttor ritten, blieben wir fast stecken in einer Masse von Wagen, die alle die Stadt verlassen wollten. Die Söldner verschafften sich durch die Autorität ihrer bloßen Anwesenheit Durchgang, und die massigen Pferdeleiber schoben sich durch das Gewühl ins Innere hinter die Stadtmauer.

Ich hatte noch nie in meinem Leben eine andere Stadt gesehen als Haskefalls, eines der wichtigsten Regierungszentren des Nordens und ehemaliger Königssitz; das jetzt aber rapide an Bedeutung verlor, wo nur noch einige der alten Adelsfamilien dort einen Wohnsitz hatten; und dementsprechend verkam mein Zuhause von Jahr zu Jahr mehr. Daher war ich gleichermaßen überrascht wie entzückt, eine pittoreske Stadt wie Torsberg zu sehen, in der die Menschen alle fröhlich und rotwangig zwischen dem Gewimmel der Händler und Handwerker von einem hübschen, schneebedeckten Haus zum nächsten huschten. So ganz anders, als ich es gewohnt war von meiner Stadt her, wo die mageren Bettler am Tor erfroren! Es ließ sich nicht anders sagen: Torsberg war hübsch, und ganz offensichtlich mitten in der Blüte seiner Jahre. Und die Straßen waren gefüllt mit Menschen.

Unsere drei neuen Bekannten ritten durch die Straßen, mit uns beiden hinten als Gepäck, von einigen der Passanten ebenso interessiert beäugt wie wir, die wir mit Söldnern reisten, noch dazu einer von uns geflügelt. Wir drei Jüngeren und weniger Weitgereisten warfen neugierige Blicke um uns. Ich war beeindruckt; Björn versuchte, sich unbeeindruckt zu geben; und Kiji war wirklich unbeeindruckt.

Die Söldner bahnten sich ihren Weg zu einem Gasthaus, das an einer belebten Straße gelegen war. Sie stiegen ab, und Maria und Armin halfen uns vom Pferd. Mir wären fast die Beine unter dem Körper eingebrochen vom langen Sitzen, wenn Maria mich nicht am Arm festgehalten hätte. “Hoppla”, meinte sie, vergnügt wie stets. “Fall nicht.” Ich glaube, dass sie sich insgeheim über mein elend schmerzendes Hinterteil lustig machte, aber ich war mir todsicher, dass sie nur froh war, diese Zeit selbst hinter sich zu haben. Kijitaka streckte sich, dass seine leichten Knochen in den Gelenken knackten. Er hatte sich die ganze Zeit über noch an Armins breitem Rücken festgehalten.

“Wollt ihr noch auf was zu essen mit reinkommen?”, fragte Maria an. “Es ist gerade mal Mittag. Ich lade euch ein.” Wir nahmen nach einem kurzen Blickwechsel das Angebot gerne an.

Drinnen war es warm und um diese Zeit gut mit Menschen gefüllt, so dass wir gerade noch einen Tisch in einer Ecke neben der Tür kriegten. Durch die kleinen, mit Eisblumen bedeckten Fenster hinter der an der Wand stehenden Bank konnte man die Straße sehen. Die anwesenden Leute drehten sich zum Großteil nach Kijitaka um. Er fiel auf in dieser Stadt, in die sich wenige Geflügelte verliefen. Er tat so, als kümmere es ihn nicht, so angestarrt zu werden, aber ich sah es in seinen sich verdunkelnden lavendelfarbenen Augen, dass es ihm unangenehm war, und er ließ unbewusst die weißen Schwingen ein wenig hängen, als versuche er, ihre schneeige Herrlichkeit unauffälliger zu machen.

Ich war versucht, wieder aufzustehen und diesen Menschen zu sagen, sie sollten aufhören, meinen Freund anzugaffen, als wäre er ein seltenes Tier. Er war auch für mich der erste Geflügelte, den ich je gesehen hatte, und für mich war er trotzdem nicht mehr als ein Junge wie ich auch. Die Söldner, die neben ihm völlig in den Hintergrund traten, konnten ihn auch behandeln wie jeden anderen, und nicht einmal Björn hatte auch nur eine einzige Anspielung auf Kijis anderes Aussehen gemacht, ganz als hätte er es nicht bemerkt. Diese Menschen hier wussten alle, dass das nicht wichtig war, und dennoch verhielten sie sich auf diese Weise. Am liebsten hätte ich ihn mal meine Meinung gesagt, denn ich sah, wie sehr Kiji darunter litt, von lauter glotzenden Fremden umgeben zu sein, die ihn spüren ließen, dass er anders war, und weit weg von zuhause. Und dabei hatte er gedacht, er wäre den Vorführungen entkommen.

Aber ich hielt den Mund, denn ich war nicht so blöd, dass mir nicht klar war, dass ich damit erst recht die Aufmerksamkeit auf uns ziehen würde.

Der geflügelte Junge ließ sich aber so schnell nicht unterkriegen; er ließ sich mit dem Gesicht zur Schankstube gewandt auf der Bank nieder und erwiderte ohne zu blinzeln die Blicke derer, die ihn anstarrten, woraufhin sie sich alle sehr schnell wieder ihren eigenen Angelegenheiten zuwandten. Zwar musste der Geflügelte seine Schwingen leicht abspreizen, um überhaupt dort sitzen zu können, aber das schien es ihm wert, seinem grimmig befriedigten Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Es machte mich auf eine seltsame Weise stolz, dass er meiner Hilfe nicht bedurfte, aber dennoch war mein Beschützerinstinkt geweckt. Da Kijitaka auf sich selbst aufpasste, blieb er unerfüllt.

Die Söldner bestellten das Mittagessen des Tages, gewissermaßen; also das Gericht, dass es an diesem Tag gab, was sich als Kanincheneintopf herausstellte; wissen die Götter, wo sie um diese Jahreszeit genug Kaninchen für das ganze Gasthaus herbekommen hatten. Ich hatte seit Monaten kein richtiges Fleisch mehr gegessen, vielleicht länger. Ich hatte mein Geld zusammenhalten müssen, und in unserer wildarmen Gegend war das Fleisch teuer gewesen und hauptsächlich für die Bonzen bestimmt. Nicht mal während meiner Arbeit in Wilkos Küche hatte ich etwas von der begehrten Nahrung ergattern können. Als Bauernkind war ich mit wenig Fleisch und viel Rüben aufgewachsen, daher war es von der Gewöhnung her nicht so übel. Trotzdem schlug ich nun mit gesundem Appetit zu, und Kiji ebenso, denn wenn man schon einmal eingeladen war, sollte man sich auch nicht zurückhalten müssen. Zum Glück waren auch die Söldner hungrig, daher fiel es nicht so auf. Jene spülten das Mahl mit reichlich von dem guten Bier der Nordländer hinunter, nur Björns Ration wurde gekürzt, eine Prozedur, der er sich widerstrebend fügte. Armin wurde ausnehmend entspannt, als er dermaßen gesättigt war, und machte es sich auf seinem Stuhl gemütlich. Maria schien ebenso zufrieden.

Sie erklärte uns kurz, dass das hier die Schenke wäre, in der sie mit ihren Freunden verabredet waren, und dass sie daher den restlichen Tag hier verbringen wollten. Armin bestellte noch ein Bier und verbot Björn, das gleiche zu tun, mehr aus Schadenfreude als aus Prinzip. Bei ihm schien es weniger auf das Alter anzukommen als vielmehr auf in seinen Augen geistige Reife. Es war klar, dass Kiji und ich für ihn immer Kinder bleiben würden.

“Und was habt ihr jetzt vor?”, wollte Maria wissen, nachdem wir müßig über Verschiedenes gesprochen hatten. Ich zuckte die Schultern. “Ein Freund von mir hat uns den Tipp gegeben, dass hier in der Stadt ein Wanderzirkus gastiert, bei dem wir eine Arbeit finden können. Auf diese Weise können wir sicher weiter nach Süden reisen. Und danach - ich weiß noch nicht.” Wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich mir überhaupt noch nicht überlegt, wohin wir eigentlich gingen und was wir dort vorhatten, sollten wir je ankommen. Ich hatte angenommen, dass Elias mir schon etwas vorschlagen würde.

Aber wenn ich noch ein bisschen mehr darüber nachdachte, hatte ich mir noch nie viele Gedanken über meine mehr als eine Woche entfernte Zukunft gemacht, und bis jetzt war ich auch immer zurechtgekommen.

Vielleicht hatte Kijitaka ja auch eine gute Idee.

Ich war immer offen für Vorschläge.

Verdammt, was waren wir doch mal wieder planlos.

Die Dunkelhaarige zwinkerte mir zu. “Wie wär’s, wollt ihr nicht mit uns kommen? Das Leben als Söldner ist gar nicht so übel.” Kiji und Björn schnaubten gleichzeitig auf, und Armin und ich fingen an zu lachen.

“Maria, bis diese Jungs soweit sind, eine Waffe in der Hand zu halten, fließt noch viel Wasser den Berg hinab.” “Stimmt”, meinte ich. “Nein danke, ich glaube, das wäre nichts für mich.” “Die zwei zerbrechen ja beim Angucken, zart, wie die sind”, sagte Björn verächtlich. “Hey! Ich bin nicht zart! Nur weil ich nicht so ein Schrank bin wie du...”, warf ich dem jungen Söldner in sein derbes Gesicht. Er war wirklich massig, ein grobschlächtiger Junge von der Sorte, die dir in deiner Kindheit auflauerten, um dich zu verprügeln.

“Du siehst aus wie ein Mädchen!”, meinte er verächtlich. “Bitte was? Hast du irgendein Problem, Björn, mein Lieber?”, mischte sich die sehr weiblich gebaute Maria mit zuckersüßer Stimme ein. Armin lachte schallend. “Junge, das ist ein Mädchen, mit dem du dich lieber nicht anlegen solltest; nur ein guter Rat von einem mit mehr Erfahrung. Und hör auf, über die zwei zu lästern! Es ist nun mal nicht jeder für den Kampf geschaffen.

Wobei ich sagen muss: Ich habe an der Seite von Kampfmagiern gestanden, die ihre Feinde wie Getreide niedermähten, während kräftige Kämpfer wie du und ich die Beine in die Hand nahmen und davonliefen wie die Hasen, und diese Magier waren zum Teil zierlich und sanft wie keiner von uns, von diesen großäugigen Elfen bis hin zu den Geflügelten, deren Knochen beim Anhusten zerbrechen - nichts für ungut, Junge - und unter diesen waren die besten Kämpfer, die ich je gesehen habe, und du hättest das auf den ersten Blick nie von ihnen gedacht, bis du im Kampf den kalten Stahl in ihren Augen gesehen hast. Ich habe einen getroffen - er war einer von elfischer Abstammung, so süß wie unser Mitja hier”, er grinste mir ins Gesicht, “und jünger als Maria jetzt, ein wirklich intelligenter und feinsinniger junger Mann, der einst in einer dunklen Nacht ein Rudel von sechs Werwölfen, das uns überfallen hatte, ganz alleine auslöschte. Er verließ uns kurz nach diesem Ereignis; er wollte zurück an die Akademie, um dort zu unterrichten, aber so etwas wie seine Macht habe ich nie wieder gesehen. Er war unglaublich talentiert; es war schade, dass wir ihn verloren haben. Aber von so etwas weißt du nichts, Kleiner.” Er versank in Schweigen und seinen Gedanken.

Ich schätzte ihn gleich viel höher ein, denn was er gesagt hatte, zeugte von einem Herzen ohne Vorurteile, obgleich ich Magier nicht mochte. Aber er schien tief von ihnen beeindruckt worden zu sein. Ich hatte nicht gewusst, dass Magier kämpften. Ich hatte gedacht, dass sie Gelehrte waren. Wie es aussah, hatte ich noch viel zu lernen.

“Ich bin im waffenlosen Kampf unterrichtet worden.” Kiji wollte nicht zurückstehen. Armin nickte anerkennend. “Ah ja, das habe ich schon oft gesehen. Das ist eine Sache, für die ich euch wirklich bewundere. Eine großartige Technik. Wie nennt ihr es noch mal?” “Bujutsu.” “Ja, richtig. Aber ich nehme nicht an, dass du in einem dieser Elite-Dojos warst?” Kijitaka schüttelte seufzend sein weißes Haupt. “Nein. Ich war in Yamahana, dort legte man mehr Wert auf sprachliche und politische Bildung; und Kalligraphie und so. Ich habe das Elementare gelernt; ich war auch kein herausragender Schüler. Aber für den Unterricht hat es gereicht.”

Ehe die beiden sich in einem Fachgespräch verlieren konnten, wandte sich die Söldnerin an uns beide.

“Ich hätte auch nicht wirklich erwartet, dass ihr mitkommen wollt. Aber ich finde es trotzdem schade, dass unsere Wege sich schon so früh trennen. Es hat wirklich Spaß gemacht, euch kennenzulernen, ihr seid echt ein sympathisches Paar.” Mir war die Zeit ganz entfallen. “Oh nein! Wir müssen ja schon gehen, wenn wir noch rechtzeitig da sein wollen!” Kiji seufzte. Gerade hatte er angefangen, sich gut mit dem großen Söldner zu verstehen. Er nickte ihm zu und stand auf; ich ebenfalls. Armin erwiderte den Gruß; aus irgendeinem Grund schien der Mensch meinen Freund Kiji ins Herz geschlossen zu haben. Wir standen neben dem Tisch, und irgendwie wusste keiner, was er zum Abschied sagen sollte. Es tat mir leid; ich hätte auch noch mehr Zeit mit den Söldnern verbringen können. Aber wir waren keine Kämpfer, und wir konnten nicht mit den dreien in den Krieg ziehen. “Vielleicht sehen wir uns noch mal irgendwo wieder”, meinte ich schließlich. Maria zwinkerte mir zu. “Bestimmt. Wir kommen ja viel herum.”

“Jetzt hört auf mit dem Gejammer! Wenn ihr euch nicht bald auf die Socken macht, war die ganze Schererei mit den Pferden für euch umsonst. Dann seid ihr doch zu spät, und das wäre jetzt ärgerlich, wo ihr schon seit Ewigkeiten in der Stadt seid”, warf Armin ein und nahm noch einen großen Schluck von seinem Bier.

Wir seufzten und wandten uns um. Er hatte ja recht. “Hey”, rief er uns noch hinterher. Wir drehten uns noch einmal zu ihm um. “Passt auf euch auf, Jungs. Es wär’ schade um euch.” “Ja, ihr auf euch auch.”

Als wir das Gasthaus verließen, spürten wir die Blicke der Leute auf uns ungleichem Paar und dem seltsamen Trio unter Waffen ruhen.
 

~Owari



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