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Pain of Loneliness

von

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Part One

Es war Winter, als die Welt um Jesse herum zusammenbrach.

Schnee bedeckte die Straßen und Häuser, verwischte alle Farben und ließ den Raureif an den Fenstern lecken. Eine schier unerträgliche Kälte hielt die Stadt in ihrem eisernen Griff und machte jeden Atemzug zur Qual. Die Gehwege waren vereist und spiegelglatt, während man, um zu den Geschäften zu kommen, durch eine fast kniehohe Schicht aus weißem Pulverschnee stapfen musste. Wer keine warme Kleidung besaß, die einen vor dem schneidenden Wind schützte, der suchte sich ein warmes Plätzchen und wartete sehnsüchtig auf die ersten Anzeichen des Frühlings. Überall kämpften sich dick vermummte Leute durch das verrückte Treiben und verschwanden in den Eingängen der umliegenden Läden.

Mit langsamen Schritten lief Jesse durch die dunkle Gasse, deren abweisendes Aussehen ihn nun seit langer Zeit zum ersten Mal wieder berührte. Seine abgenutzte Lederjacke hielt die eisige Kälte kaum von seinen Gliedern fern und schon begannen seine bloßen Finger in den reißenden Böen klamm zu werden. Doch all das war ihm nun egal. Es machte keinen Sinn mehr sich darüber Gedanken zu machen, wie ein heimatloser 19-Jähriger den gnadenlosen Winter überleben sollte. Das, was Jesse am meisten geliebt hatte, war ihm vor drei Tagen gewaltsam entrissen worden. Eine vereinzelte Träne lief ihm über die blasse Wange und gefror auf seinem Gesicht – Jesse bemerkte es nicht einmal. Oftmals versank er bis zu den Waden im Schnee, was dazu führte, dass er kaum vorwärts kam. „Was soll ich nur tun…?“, murmelte der junge Mann leise vor sich hin, seine Stimme klang heiser und rau. Mit gehetztem Blick sah er sich um, gewahrte jedoch kein ihm bekanntes Gesicht in dem weißen Chaos. ’Sue… Wieso? Wieso musstest du fort…?’ Dieser Gedanke wirbelte immer wieder wie eine Beschwörungsformel durch seinen Kopf. ’Ist es für deine Eltern denn wirklich so schrecklich, dass du mit einem „Straßenköter“ wie mir zusammen bist?’ Kraftlos sank Jesse gegen eine vereiste Laterne. Seine Beine fühlten sich schwach an und zitterten unkontrolliert, sein ganzer Körper war ausgemergelt und erschöpft. Seit drei Tagen hatte er nun nichts mehr gegessen und war nicht eine Sekunde lang im Warmen gewesen. Stattdessen drohte ihm jetzt ein Rückfall – er war kurz davor erneut zu den Drogen zu greifen, von denen Sue, das Mädchen, das ihm am meisten bedeutete, ihn befreit hatte. Sie hatte ihm im vorigen Jahr auch das Lesen und Schreiben beigebracht. Voriges Jahr… Da war zum ersten Mal in seinem Leben alles gut gewesen. Er war nicht mehr alleine und hatte Sue, die ihm Wärme, Geborgenheit und das Gefühl, ein Zuhause zu haben, vermittelt hatte. Doch all das schien nun endgültig verloren zu sein – die Erinnerungen an die gemeinsame, glückliche Zeit rückten in weite Ferne. Je mehr Jesse versuchte sich an ihnen festzuhalten, desto schneller entglitten sie ihm und hinterließen nichts als eine schmerzhafte Leere. Es fühlte sich an, als würde er in einem pechschwarzen See aus Einsamkeit und Trauer ertrinken. Und in dem Maße, in dem er in der brodelnden Masse aus Depressionen versank, kamen die Gedanken und Erinnerungen an die schrecklichen Zeiten, die dem Tod seiner Mutter folgten, zurück. Diese 12 Jahre waren die schlimmsten seines ganzen Lebens gewesen – bis heute. Nach den 17 Monaten, die er mit Sue verbracht hatte, traf ihn die Einsamkeit nun wie ein gewaltiger Faustschlag. Ächzend richtete Jesse sich auf. Der Schnee knirschte unter seinen groben Schuhen und haftete an seinen Kleidern. Mit einer müden Bewegung klopfte er sich die Hose ab und wankte weiter. Doch wohin sollte er gehen? Zu den anderen? Nein, die würden sich sicherlich nicht über ein weiteres Maul freuen, das es zu stopfen galt. Außerdem hatte Jesse die Jugendlichen ja quasi verlassen, als er Sue kennen lernte. Im Übrigen war er sich auch gar nicht sicher, wo er die jungen Dealer suchen sollte – die Stadt war riesig.
 

’Hm… Sue hat gesagt, dass die Stadt, in die sie ziehen wird, noch viel größer ist. Verdammt… Wenn ich nur etwas Geld hätte, dann könnte ich sie suchen gehen.’, dachte er entmutigt und unterdrückte ein Frösteln. Den Namen der Stadt wusste er noch und auch Sue’s Nachname war ihm bekannt, allerdings müsste er – um dorthin zu kommen – wohl mehr als eine Stunde schwarzfahren, was sich besonders im Winter als unmöglich erwies. Sollte er es trotzdem versuchen? Nein, selbst wenn er ihr Haus finden würde, dann wären da ja immer noch ihre Eltern. Und die hätten bestimmt keine Hemmungen davor ihn schnurstracks vor die Tür zu setzen… Jesse seufzte leise und starrte auf den weißen Weg vor seinen Füßen. Ihm war kalt, seine Finger konnte er kaum noch spüren. Mit zittrigen Händen tastete er nach dem kleinen Päckchen in seiner Tasche, zog es heraus und musterte seinen Inhalt. Das Zeug würde höchstens noch für zwei Tage reichen. Es war ein Gemisch aus weichen und härteren Drogen, das er eigentlich nie mehr hatte anrühren wollen. Doch nun hatte er es getan. Gestern waren es drei Pillen gewesen, heute schon vier – morgen würden es dann vielleicht fünf sein. Und dann wäre es zu spät, das wusste Jesse. Für jemanden, der jetzt schon solange clean war, konnte eine solch hohe Dosis schreckliche Folgen haben. ’Was spielt das schon für eine Rolle…? Mein Leben begann in einer Gosse und wird in einer enden…’ Hastig schüttelte er eine der weiß-gelben Tabletten auf seine Handfläche und schob sie in den Mund. Nur noch einen kurzen Moment, dann würde er wenigstens die körperliche Kälte nicht mehr spüren… Mit schleppenden Schritten lief er weiter. Wohin jetzt? Jesse sah sich um, seine Pupillen waren bereits jetzt ungewohnt geweitet. Ihm war schwindelig, sein Kopf dröhnte. Die Farben um ihn herum verschwammen zu einer stetigen Flut aus Licht und Schatten. Ein Auto fuhr vorüber, die grellen Scheinwerfer blendeten ihn. „Hngh…“ Mit einem Stöhnen hob er die Hand vor die Augen. Schnee spritzte auf, dann war es vorbei. Die Straße lag wieder völlig ruhig da, kein Auto war zu sehen. Wieder taumelte Jesse weiter, hinein in eine der vielen Seitengassen. Eine wohlige Wärme breitete sich in seinem Körper aus. War das nun eine Illusion der Droge oder war es Wirklichkeit? …Weiter! Er kam zu einer großen Steintreppe, die von schwarzen Löwen bewacht wurde – natürlich waren auch diese aus Stein. Und doch war Jesse für einen Moment so, als hätte ihn eine der Raubkatzen angestarrt. ’Verdammt, ich dreh noch völlig durch…’, dachte er matt, bevor er sich unter die grauen Stufen kauerte. Hier war er oft mit Sue gewesen – im Sommer war am oberen Ende der Treppe ein Brunnen voller klarem Wasser. Viele Fabelwesen umsäumten ihn. Sue liebte diese Statuen, sie hatte Jesse jeden Namen genannt und jede Geschichte, die sie kannte. Auch er mochte sie nun, die Wesen faszinierten ihn. Doch jetzt lag der Brunnen unter einer dicken Schneeschicht vergraben und sein Wasser war versiegt. Jesse zog die Knie eng an den Körper heran und schüttelte die kleinen weißen Kristalle aus seinen Haaren. Es war auch unter der Treppe kalt und nass, aber immerhin fiel hier keine einzige Schneeflocke. Mit einem leisen Ächzen ließ er den Kopf nach hinten sinken und lehnte sich an das graue Gestein. Wieder verschwammen die Bilder vor seinen Augen, er glaubte Dinge zu sehen, die nicht wirklich existierten. Es war, als sähe er sich selbst aus der Sicht eines Unbeteiligten – so, als wäre es nicht sein Leben, das hier zu Bruch ging, sondern das eines anderen. Mit einem müden Seufzen schloss er die Augen. Er wollte das alles nicht mehr sehen, wollte einfach nur vergessen. ’Vielleicht…’, dachte er dabei, ’…ist es ja sogar besser so… Wen interessiert es schon, was aus mir wird? Hauptsache ihr geht es gut… Ob ich sie wieder sehe, wenn ich sterbe?’ Mit einem freudlosen Lachen beantwortete er sich diese Frage selbst. ’Wie soll das denn gehen, alter Spinner?! Nach dem Tod ist nichts mehr. Was sollte da auch sein…?’
 

Nach einer wahren Flut solcher Gedanken blinzelte Jesse und öffnete die Augen schließlich ganz. Sein Kopf schmerzte nun wirklich schrecklich, sein Atem ging stockend – so als würde ihm jemand die Brust zusammenschnüren. Mit zittrigen Fingern fuhr er sich über das Gesicht, es glühte trotz der Kälte. ’Uh, mein Körper tut so weh… Sind das die Drogen…?’, fragte er sich matt. Langsam hob er die rechte Hand vor Augen, die Fingernägel verfärbten sich bereits blau. „Verdammt, was soll der Mist?!“, rief der junge Mann aufgebracht, seine Stimme klang schwach, wie die eines alten Mannes. „Warum ist es nur so kalt…?“ Mit einem schmerzvollen Stöhnen schlang er die Arme um seine Knie und starrte mit leerem Blick unter der Treppe hervor in den grau-weißen Schnee vor sich. ’Wenn Sue da wäre, dann wäre das jetzt alles anders. Alles…’ Verzweifelt kniff Jesse die Augen zusammen – jeder seiner Gedanken führte schließlich zu dem braunhaarigen Mädchen mit dem sanften Lächeln zurück. „Hngh…“ Immer stärker fing sein ausgemergelter Körper an zu beben, die Kälte schlich sich in jeden einzelnen Knochen und Muskel. Wenn das so weiterging, dann würde er den morgigen Tag womöglich wirklich nicht mehr erleben. Aber was machte das schon? Es gab niemanden, der sein Ableben bedauern würde. Wieder verwischten die Farben um ihn herum. Aus Weiß und Schwarz wurde ein unsauberes Grau, das Licht, das sich seinen Weg durch die Wolken brach, wurde unangenehm und brannte auf seiner Haut, als er vorsichtig eine Hand aus seinem Versteck hervorstreckte. Hastig zog er den Arm zurück, seine Finger zitterten nun unkontrolliert. ’Na super, jetzt geht’s ja endgültig bergab mit mir…’, dachte Jesse resigniert und wischte sich abermals seufzend über das blasse Gesicht. Er tastete erneut nach dem kleinen Päckchen in seiner Jackentasche – es konnte ja nicht schaden, noch eine Tablette zu nehmen, oder? Jesse wusste es besser. Aber dennoch schüttelte er eine Pille heraus und legte sie auf seine Zunge. Sie schmeckte bitter, ekelhaft chemisch. „Uh…“, machte der junge Mann ächzend und schluckte die Droge eilig hinunter. ’Haben die Dinger schon immer so widerlich geschmeckt…?’, fragte er sich verwirrt, sein Atem stockte. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte seinen Körper, ließ ihn mit einem Aufschrei nach vorne fallen. Arme und Beine bebten, er krümmte sich qualvoll. Dann war es vorbei. So plötzlich, wie es begonnen hatte, war es zu Ende. „Hah, hah…“, keuchte Jesse und schnappte panisch nach Luft. Einen Moment lang war es ihm nicht einmal möglich gewesen, zu atmen. „W- was war das…?“ Verstört richtete er sich auf, sein Körper fühlte sich unglaublich schwach an. Die Bewegung kostete ihn all seine Kraft. Ein Stöhnen kam über die blassen Lippen, das jugendliche Gesicht wirkte noch weißer als sonst. Kalter Schweiß perlte ihm über die Stirn und gefror auf seinem Weg nach unten auf seiner Wange. Ächzend richtete Jesse sich auf, sein Kopf dröhnte, als hätte ihm jemand mit einem Vorschlaghammer dagegen geschlagen. „Ah…“, machte er leise, seine Stimme war heiser und rau. Dunkle Augenringe zeichneten sich nun überdeutlich von seinen blassen Gesichtszügen ab. ’Scheiße… Sue… Ich… Ich sterbe ohne dich…’, dachte der junge Mann verzweifelt, während er sich auf beide Hände stützte und sich auf das kalte Gestein kniete. Wie konnte das verdammte Schicksal nur so grausam sein? Ihm erst einen Engel schenken und ihn ihm dann nur ein Jahr später wieder zu entreißen und ihn so in einen Abgrund ohne Boden zu stürzen? Das war doch nicht fair! Konnte das Leben wirklich so ungerecht sein? Ja, scheinbar konnte es das wirklich. Jesse ließ resigniert die Schultern sinken, seine Gedanken verschleierten, ebenso wie sein Blick. Die Drogen entfalteten ihre ganze Wirkung.
 

Er wurde von Krämpfen geschüttelt, sein Herz raste als wolle es seine Brust sprengen, die Augen waren weit aufgerissen und konnten doch nichts erkennen außer Schemen, wo keine waren. Mit vor Schmerz verzerrten Zügen versuchte er sich zu erheben um in Gebiete zu gelangen, in denen Menschen umherliefen, doch er schaffte es nicht. Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr, stattdessen krallte sich seine Hand so fest in das abgenutzte Leder der schwarzen Jacke, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Ah…“ Jesse keuchte leise und qualvoll, das Atmen fiel ihm immer schwerer. Vor seinem inneren Auge sah er immer wieder, wie Sue von ihrem Vater in das Familienauto gezerrt wurde und seinen Blicken entschwand. „N - nein!!!“, schrie er verzweifelt auf, nicht mehr fähig Realität und Fiktion zu unterscheiden. „Lass sie los! Bitte… Sie will nicht gehen… Sue!“, aus dem Schreien wurde ein heiseres Schluchzen. Der Schmerz steigerte sich ins Unerträgliche, bunte Farben tanzten vor seinen Augen. „Nein… Lass mich nicht alleine hier zurück…“ Mit einem letzten Aufbäumen stürzte er erneut zu Boden, wo er mit zuckenden Gliedern liegen blieb und sich krümmte. „Aaah…“ Seine Stimme erstarb, während sich seine Kehle anfühlte, als hätte er heißen Wüstensand verschluckt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  SaRiku
2007-02-21T17:02:09+00:00 21.02.2007 18:02
Es ist immer wieder ziemlich traurig, deine Geschichten zu lesen. Aber du schreibst so schön, dass man gar nicht mehr aufhören kann.
Ich würde mir wünschen, dass es im nächsten Kapitel jemand schafft, Jesse zu helfen, denn er tut mir so furchtbar Leid. Wenn ich mir vorstelle, meine Mutter würde sterben, dann wäre ich auch am Boden zerstört.

Du kannst die Situationen, die Umgebung und die Gefühle, die jemand hat, sehr gut beschreiben. Kritik kann ich dir leider keine liefern.
Aber ich les erst einmal weiter. (diesmal schickte ich meine Ens auch nur ein einziges Mal ab, versprochen ^^°)
Von:  NeRi
2006-10-09T13:41:27+00:00 09.10.2006 15:41
WAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHNSINN!!!!!!


O.O
Boah! GEIL!!!!


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