Alte Erinnerungen
>Ich verstehe es nicht...
War es wegen mir? Was habe ich denn falsch gemacht? Ich war immer wie ein kaum wahrzunehmender Schatten an deiner Seite. Ich gab mir alle Mühe dir nicht zur Last zu werden. Oder war ich von Anfang an nur eine Last für dich?
Wenn es so wäre, verstehe ich nicht, wieso du mich damals nicht wieder weggeschickt hast, als du merktest, dass ich dir folgte. Du hättest mich einfach in dem nächsten Menschendorf zurücklassen können. Stattdessen hast du drei Jahre lang gewartet. Ganze drei Jahre! Konntest du meinen Gegenwart nicht mehr ertragen? Ich verstehe das alles nicht.
Bitte erkläre es mir...<
Die Sonne ging auf. Rin stand noch immer vor dem Fenster der kleinen Hütte, die sie bewohnte. Die ersten Sonnenstrahlen trafen auf ihre Haut. Sie spürte die angenehme Wärme und musste leicht lächeln.
Sie streckte sich einmal und ging dann auf ihr Bett zu, auf dem ihr roter Kimono lag, den sie sich überzog. Von draußen hörte man schon die ersten Stimmen. Die Dorfbewohner wurden munter.
Nach einem kurzen Blick in ihren Handspiegel, stand sie von ihrem Bett auf und ging hinaus, um frisches Wasser aus dem alten Brunnen zu holen.
Der kleine Brunnen stand etwas abseits des Dorfes auf einer Wiese, die mit bunten Blumen übersät war. Kein Wunder, es war Frühling.
Bei dem schönen Frühlingswetter hatte sie ihre trübseligen Gedanken von heute morgen schnell wieder vergessen. Sie setzte sich auf die blühende Wiese, dicht bei dem Brunnen, und sah sich um.
Das Dorf bestand aus schlichten Holzhütten. Einige Menschen waren dabei ihre Stände aufzubauen und ihre Läden zu öffnen, um Reisenden ihre Waren zu verkaufen. Ein kleiner Bach schlängelte sich durch das Dorf, über dem eine kleine Brücke gebaut war. Kinder spielten im Sommer gerne an dem Bach. Das Wasser kam von einem kleinen See, der hinter dem Wald lag. Durch den dichten Wald, der das Dorf umgab, war das Menschendorf besser geschützt als andere.
Rin seufzte und hob den Kopf gen Himmel. Die Sonne stand schon ziemlich hoch und lies diesen Tag wunderbar beginnen.
"Hallo Rin!" Ein junges Mädchen, etwa sechs Jahre alt mit dunklen langen Haaren, kam auf sie zugelaufen.
"Guten Morgen, Shiomi.", lächelte Rin ihr zu. "Wie geht es dir heute?"
"Schon viel besser als gestern. Mutter sagt aber, ich sollte lieber noch zu Hause bleiben."
"Dann solltest du lieber auf deine Mutter hören.", gab Rin freundlich zurück.
"Das werde ich!", strahlte die Kleine. "Ich wollte dir nur das hier geben." Shiomi hielt Rin ein kleines Bündel unter die Nase. "Ein kleines Geschenk von Mutter, Kokomi und mir, weil du dich um mich gekümmert hast, als ich so krank war und Mutter am Stand helfen musste. Und... weil du heute Geburtstag hast!"
Nachdem Aiko, die alte Miko, letztes Jahr verstorben war, konnte sich kaum jemand aus dem Dorf um die Kranken und Verletzten kümmern. Rin hatte sich zwar einiges davon merken können, was ihr die alte Miko gezeigt hatte, aber das war nur ein Minimum vom Ganzen und die Hälfte davon hatte sie eh schon wieder vergessen.
Rin nahm das Geschenk, zwar etwas verwirrt, aber dennoch angenehm überrascht, entgegen. "Vielen Dank...", sagte sie leise.
Das kleine Mädchen umarmte sie. "Ich muss wieder nach Hause, bevor Mutter sich Sorgen um mich macht." Shiomi drehte sich um und lief freudestrahlend wieder ins Dorf zurück.
Rin schaute ihr noch nach, bis sie in einer der Hütten verschwand. Dann galt ihre Neugierde aber dem kleinen Bündel, das Shiomi ihr gegeben hatte.
>Riecht lecker...<, dachte sie.
Wie kaum anders zu erwarten, war der Inhalt des Bündels ein selbstgebackenes Maisbrot. "Das werde ich mir für heute Abend aufheben.", grinste sie. Rin wollte das leckere Brot gerade wieder in dem weißen Stofftuch einpacken, als noch etwas anderes heraus fiel.
"Oh..." Eine zierliche Kette lag vor ihr auf dem Boden. Winzig kleine Steinchen waren bunt bemalt und mit dünnem Garn zu einer Kette verknotet worden. Rin fand zwar, dass die Farben grün und lila überhaupt nicht zueinander passten, aber es war eben ein Geschenk, gemacht von einem Kind. >Früher habe ich so etwas auch gerne gemacht.< Sie lächelte wieder leicht.
Schließlich legte sie die Kette wieder, zusammen mit dem Brot, auf das Stofftuch und wickelte es ein. Sie atmete einmal tief durch und stand dann auf. Wie schnell doch die Zeit verflogen war. Sie ging zu dem Brunnen und holte mit dem Eimer, der daneben stand, das Wasser heraus, das sie eigentlich schon vor einer knappen Stunde tun wollte. Bepackt mit dem Eimer und dem kleinen Bündel ging sie langsam wieder zurück zu ihrer Hütte.
Sie betrat die Hütte und stellte den Eimer ab. Dann ging sie auf den kleinen Tisch zu, der in der Mitte der Hütte stand. Um ihn herum waren 3 Stühle aufgestellt. Eine blaue Vase mit kleinen gelben Verzierungen schmückte den Tisch. Rin legte das Brotbündel auf den Tisch und entnahm dem nur die Kette von Shiomi. Sie versuchte sich die Kette ihrer kleinen Freundin umzulegen.
"Schade, sie ist zu klein. Shiomi wird enttäuscht sein, wenn ich sie nicht trage." Rin überlegte einen Moment. "Wenn ich sie nicht umhängen kann, werde ich sie eben so bei mir tragen, als Talisman." Sie band sich die kleine Kette einmal um ihr Handgelenk. "So geht es auch.", lachte sie und ging wieder zu dem Eimer. Sie schüttete das Wasser in eine Schale. Als sich das Wasser beruhigt hatte, sah Rin ihr Spiegelbild. Sie betrachtete es eine Weile. Dann wusch sie sich. Ein bisschen Wasser lief ihr über das Kinn den Hals hinunter. Rin nahm ein Handtuch und trocknete sich ab.
In diesem Moment klopfte jemand an die Tür. Rin schaute auf. Ein junger Mann, in ihrem Alter, steckte seinen Kopf durch den Türspalt und grinste.
"Guten Morgen, Rin!" Er trat ein, ohne das die Schwarzhaarige ihn dazu aufgefordert hatte. Das tat er immer und Rin ging das ziemlich auf die Nerven.
"Alles Gute zum Geburtstag.", sagte er, während er auf sie zuging, und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange.
"Danke, Yazuma." Sie hasste es, wenn er dies tat.
Es war niemandem im Dorf entgangen, dass Yazuma Rin verehrte. Er würde alles für sie tun. "Setz dich doch.", meinte Rin schließlich und wies ihn mit einer Handbewegung hin, sich an den Tisch zu setzten. Yazuma näherte sich ihr wieder.
"Ich würde aber viel lieber..." Doch weiter kam er nicht.
Rin legte das Handtuch, das sie immer noch in den Händen gehalten hatte, beiseite und ging an Yazuma, ohne in anzusehen, vorbei.
Yazuma nahm es nicht besonders schwer. Er war es gewohnt, dass Rin seine Annäherungsversuche abblockte.
Zugegeben, er sah nicht schlecht aus mit seinen schwarzen langen Haaren und den tiefgrünen Augen. Auch seine Art hätte Rin ertragen können. Er war mutig, zuverlässig, treu, hielt stets sein Wort und er konnte Rin jederzeit zum Lachen bringen.
Und dennoch... Yazuma war nicht Sesshoumaru.
Wie gerne würde sie ihn jetzt bei sich haben. Heute, an ihrem 22. Geburtstag. Es ist nun schon 12 Jahre her. >Ob er sich verändert hat?<
Yazuma riss sie aus ihren Gedanken.
"Worüber denkst du wieder nach?"
Rin setzte sich auf einen Stuhl, ihr Besuch tat es ihr gleich.
"Dies und das... Du weißt schon.", antwortete sie ihm. Yazuma nahm sich ein Stück von dem Maisbrot, das immer noch auf dem Tisch lag.
"Hey! Das wollte ich heute Abend essen!", fuhr sie ihn an.
"Keine Sorge. Heute Abend bekommst du was viel besseres als Maisbrot. Zu Ehren deines 21. Geburtstags..." "22.!", unterbrach sie ihn.
"Ach ja, deines 22. Geburtstags, veranstalten wir ein Festessen für dich."
Rin war über diese Neuigkeiten nicht sehr begeistert. Der Ablauf war eh immer der selbe wie jedes Jahr.
Rin sagte kein Wort. Irgendwie war sie heute nicht sie selbst.
Nach einigen Minuten des Schweigens stand Yazuma auf.
"Ich gehe dann jetzt besser. Wir sehen und heute Abend." Er gab ihr noch einen Kuss auf die Wange und ging dann zur Tür raus.
>Idiot!<, dachte Rin.
Sie seufzte und sah auf ihr angeknabbertes Maisbrot. "So ein Vielfrass!"
Der Tag kroch vor sich hin. Obwohl das Wetter herrlich war, hoffte Rin, dass dieser Tag bald ein Ende finden würde. Fast den ganzen Nachmittag saß sie gedankenverloren in ihrer Hütte.
Am frühen Abend hörte sie bekannte Kinderstimmen. Sie wurden immer lauter, bis sie plötzlich verstummten.
"Rin?" Ein Mädchen, mit orangefarbenen Haaren schaute durch das Fenster. Als sie Rin entdeckte, stupste sie das andere, jüngere Mädchen an, das sie begleitete. "Sie ist da. Lass uns reingehen.", sagte die Größere.
Kurz darauf betraten die beiden Kinder die Hütte.
"Hallo, Rin."
"Hallo ihr Zwei.", begrüßte Rin die beiden Geschwister. "Ich dachte, du solltest heute noch zu Hause bleiben, Shiomi."
"Mutter hat es mir erlaubt, ausnahmsweise.", lächelte das Mädchen verlegen.
Nun standen Kokomi und Shiomi vor ihr und schauten Rin erwartungsvoll an.
"Was ist denn?", wollte Rin wissen.
"Wir sind hier um dich abzuholen. Yazuma sagt, wir sollen zusehen, dass wir... ähm, dass wir... wir sollen... Was hat er noch mal gesagt?", fragte Shiomi ihre ältere Schwester.
"Die genaue Wortwahl möchte ich jetzt nicht wiederholen, aber er sagte, du sollst dich beeilen.", sagte Kokomi und wurde leicht rot im Gesicht.
Kokomi war für ihre 10 Jahre ein ziemlich cleveres Mädchen. Ihre kleine Schwester bewunderte sie dafür und erzählte Rin immer, dass sie auch mal so werden wolle.
"So, Yazuma hat das gesagt?", antwortete Rin in einem gelangweilten Ton, den die Kinder aber nicht bemerkten. "Gut, wenn das so ist, dann komme ich jetzt mit euch."
Die beiden Kinder freuten sich und zogen Rin an den Armen stürmisch nach draußen.
Die Sonne ging schon langsam unter. Die Dorfbewohner hatten ein großes Lagerfeuer angezündet. Die roten Flammen loderten gen Himmel. Einige Männer brachten Wild, welches sie zuvor im Wald erlegt hatten. Rin setzte sich auf eine Holzbank, dicht am Feuer. Kokomi und Shiomi waren schon längst wieder bei den anderen Kindern und spielten noch, bevor sie zu Bett gebracht wurden.
Von jedem bekam Rin Glückwünsche zugerufen und einige gaben ihr sogar kleine Geschenke. Rin interessierte das recht wenig. Geistesabwesend starrte sie in das lodernde Feuer, bis ihr der Geruch von leckerem Braten in die Nase stieg.
"Hier, iss ein Stück. Das ist gut.", sagte jemand und setzte sich neben sie. Sie blickte auf und sah in Yazumas Gesicht, der ihr ein Stück Fleisch anbot. Rin nahm es etwas zögernd entgegen. "Und? Wie gefällt es dir? Ist doch richtig gut geworden, nicht wahr?"
"Ja, es ist... toll.", log Rin. In Wirklichkeit fand sie es langweilig. Es wurde geredet, dann wurde gegessen. Anschließend betranken sich die Männer und die Frauen durften die Reste beseitigen. Es war immer dasselbe.
Rin kaute auf dem Stück Fleisch herum, das Yazuma ihr gegeben hatte.
"Was bedrückt dich?", fragte er schließlich. "Du bist schon den ganzen Tag so komisch."
"Es ist nichts weiter.", sagte sie knapp.
"Nichts weiter? Komm schon, du kannst es mir ruhig sagen. Vielleicht kann ich dir ja helfen."
"Mir helfen? Das kann niemand." Sie machte eine kleine Pause. "Jedenfalls nicht diese Art von Hilfe, die ich benötige, um..."
"Um? Um was?", stocherte Yazuma weiter.
"Vergiss es. Ich habe wirres Zeug geredet. Ist nicht wichtig.", gab Rin zurück.
"Das glaube ich dir nicht. Es scheint für dich sehr wichtig zu sein. Rin, was hast du? Hat es was mit vergangenen Zeiten zu tun?"
"Hör auf damit!", schrie sie in an. "Hör auf zu fragen und lass mich allein!" Sie schmiss das Fleisch auf den Boden und stand auf. "Lass mich einfach in Ruhe!" Dann ging sie mit schnellen Schritten in den Wald. Yazuma saß immer noch auf der Bank und starrte der jungen Frau nach. Einige andere Leute hatten das Ereignis auch mitbekommen, nahmen aber nicht weiter Kenntnis davon.
Rin lief auf eine Lichtung zu. Sie brauchte etwas Abstand. Zeit für sich selbst. Zeit zum nachdenken. Sie lehnte sich an einen großen Baum und lies sich an diesem hinuntergleiten. Eine Weile saß sie regungslos da, bis ihr Blick auf etwas helles am Himmel fiel.
Der Mond stand hoch oben am Firmament. Es war Vollmond und er leuchtete so hell, dass es schon fast blendete. So groß hatte Rin den Mond schon lange nicht mehr gesehen. Sie sah jeden einzelnen Krater und die vielen kleinen Sterne, die den Mond umgaben. Es sah wunderschön aus. Sie betrachtete gerne den Vollmond. Das weckte alte Erinnerungen. Rin schloss kurz die Augen und schluckte. >Warum?<
Sie öffnete wieder ihre Augen und starrte die helle Scheibe an, die über ihr stand.
Sesshoumarus Gesicht erschien vor dem hellen Himmelskörper und blickte auf sie herab. In diesem Moment konnte sie ihre Gefühle nicht länger zurückhalten. Es ging nicht mehr. Tränen flossen über ihre Wangen und tropften am Kinn hinunter. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte. So elend hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Eigentlich noch nie. >Was ist der Grund dafür? Warum bin ich in letzter Zeit so anfällig?< Diese Frage konnte sie sich selbst nicht beantworten. Sie wusste keine Antwort. Vielleicht gab es gar keine...
>Sesshoumaru, wo bist du jetzt? Denkst du auch hin und wieder an mich?<
Tief in Gedanken versunken merkte sie nicht, wie sich ihr jemand näherte. Erst durch das Rascheln der Büsche wurde sie aufmerksam. Erschrocken fuhr sie herum.