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Falke im Käfig

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So, ich habs also tatsächlich fertig gebracht, meine erste eigene Geschichte zu schreiben - ganz alleine. Ich bin ja so stolz auf mich! ^_^

Nein im ernst, ich hoffe das ist einigermaßen akzeptabel. Ich kann meine eigene Schreibarbeit nie besonders gut einschätzen also fänd ich es ganz toll wenn ihr kritisch an die Sache herangeht und mir ein paar Kommis schreibt. Aber nich zu hart bewerten, is ja schließlich mein ersten Versuch. ^.~

Na dann red ich nich weiter, viel Spaß beim Lesen...

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Falke im Käfig
 

Ewigkeit. Dieser Begriff ist mir sehr wohl geläufig. Denn ich durchlebe sie, Tag für Tag, Jahr für Jahr, Jahrtausend für Jahrtausend. Aber ich durchlebe sie nicht nur, ich bin Ewigkeit. Es gibt mich schon sehr lange. Zu lange. Ich möchte sagen können, ich wurde am 3. Februar 1348 geboren, oder am 28. November 1586. Doch das kann ich nicht. Ich kann mich nicht entsinnen, wann oder wie oder ob ich überhaupt geboren wurde. Wahrscheinlich ist es mir nicht vergönnt, etwas über mich oder meine Vergangenheit zu wissen. Im Grunde weiß ich rein gar nichts über mich. Ich lebe nicht einmal. Ich bin nur da. Ich bin einfach nur da. Seit ich denken kann wandle ich schon umher. Jeden Tag das gleiche Spiel. Jeden Tag das gleiche Desaster. Und es nimmt kein Ende. Solange es Menschen auf der Erde geben wird, solange wird es auch mich geben. Ich bin dazu verdammt, bis zum Ende der Menschheit meiner Aufgabe nachzugehen. Ich habe keine andere Wahl, als mich meinem Schicksal zu fügen und jeden verfluchten neuen Morgen abzuwarten. Ich kann nicht entkommen. Geschaffen, um den Seelen den Weg zu weisen, gefangen in der Zeit, halte ich die Fäden in der Hand.
 

Nicht mehr lange, und die ersten Lichter werden angehen, die Laternen eingeschaltet und die Türen verschlossen werden. Die Luft ist heiß und stickig. Seit Wochen ist kein Regen mehr gefallen. Staubtrockene Straßen und Häuser versperren die Sicht. Ein paar letzte Vögel lassen den Tag mit einem Lied ausklingen. Doch die Mauer aus Friedlichkeit und idyllischer Harmonie soll von dem ablenken, was sich tatsächlich hinter dieser scheinheiligen Fassade verbirgt, von dem niemand glauben will, dass es existiert, was jeder einfach übersieht.
 

Ja, hinter diesen Mauern, die mit wunderschönen Bilder versehen sind um uns abzulenken und zu täuschen, hinter ihnen gibt es so etwas wie Fröhlichkeit nicht. Die Realität sieht anders aus, sie ist dreckig und abstoßend hässlich. So viel Leid, dass man es nicht ertragen kann. Man wird innerlich zerfressen und zerfällt letztendlich in sich selbst.
 

Doch das alles interessiert mich nicht. Es ist mir gleichgültig, denn ich fühle nichts. Ich weiß weder, was Schmerz noch was Liebe ist. Ich kenne keine Freude und keine Hass. Ein gefühlloses Monster, das Erlösung bringt, das bin ich. Eine leere Hülle, nein, noch nicht einmal das. Ich bestehe nicht aus Fleisch und Blut und Knochen. Aber was bin ich dann? Je länger ich darüber nachdenke, desto verwirrter werde ich. Je verwirrter ich werde, desto weniger konzentriere ich mich auf meine Aufgabe.
 

Wieso tue ich das eigentlich? Wieso überlasse ich den verzweifelten Menschen nicht sich selbst? Was geht es mich an, ob sie sich nun zu Tode quälen und innerlich zerfetzt werden?

Ich weiß es nicht. Aber ich tue es trotzdem. Immer und immer wieder.
 

Jetzt ist es endgültig Nacht. Der Mond schimmert durch die dünnen Wolkenfäden und verbreitet sein schwaches Licht, jedoch gelangt es nicht in die kleinen verfallenen Ecken, in denen es so schrecklich dunkel ist.

Da, wieder rieche ich eine weitere kranke Seele. Ein bis zum Bersten mit Trauer gefülltes Herz schreit nach mir.

Sie steht an einem weit geöffneten Fenster. Ihr langes glattes Haar weht ihr um die Hüften. Tränen laufen ihre roten Wangen hinunter und tropfen unaufhörlich auf den Boden. Sie ertrinkt in Hass und Schmerz und Leid. Ihre Fäuste trommeln gegen die Wand. Dann rennt sie los, die Treppen des Hochhauses hinauf und aufs Dach. Sie klettert über das Eisengitter, bis sie auf dem dünnen Mauervorsprung steht. Mit zitternden Händen hält sie sich an den Maschen der Absperrung fest und sieht über die Dächer der Stadt. Noch mehr Tränen rinnen über ihr schönes Gesicht. Angst mischt sich in ihre Verzweiflung, sie ist aber nicht stark genug, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Der kalte Wind zerrt stärker am ihrem befleckten Kleid und lässt sie noch mehr zittern. Ich kann ihr Herz spüren, welches wild in ihrer Brust schlägt. Für einen Augenblick will ich es ihr herausreißen und sie endlich zum schweigen bringen. Aber ich muss mich gedulden. Bald ist alles vorbei.
 

Wie erwartet stürzt sie sich von Dach und fällt in die Tiefe. Ein gellender Schrei.

Dann halte ich sie in meinen Armen. Ihre Augen sind geschlossen. Das ist der Moment, in dem ich für den Bruchteil einer Sekunde weiß, dass ich gebraucht werde. Und sie weiß, dass sie mich braucht. Ich lasse sie alles vergessen, alles Leid, was ihr angetan wurde und allen Schmerz, den sie nicht mehr ertragen hat. Sie lächelt. Ihr Körper schwindet und sie steigt hinauf gen Himmel, den Sternen entgegen. Ihre Seele ist erlöst und kann sich nun schlafen legen, weit, weit weg von diesem Elend, das sie einst umgab.
 

Je länger ich umherirre, desto weiter entferne ich mich von der Realität. Aber lange kann ich meinen Traum nicht mehr aufrechterhalten. Er wird blasser, je mehr ich versuche, mich ihm zu nähern. Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Warum muss ich das alles tun? Ich habe keine Kraft mehr, mich den Sterbenden zu stellen und ihnen meine Hand zu reichen.

Mein Leben ist eintönig und leer. Ich finde keine Befriedigung in meinen Handlungen. Ich will leben, ich will fühlen, leiden und lieben. Ein Traum, der so weit entfernt ist, dass ich ihn nicht erreiche ...
 

Wolken ziehen auf. Ich kann den Mond nicht mehr sehen. Sogar die Straßen werden immer unklarer vor meinen Augen, denn schleichend bahnt sich Nebel durch die unbeleuchteten Gassen. Nicht mehr lange, und mein Sichtfeld besteht nur noch aus einer dichten grauen Wand. Aber ich verlasse mich voll und ganz auf meine anderen Sinne, die mich schon unzählige Male zum Ziel geführt haben. Denn das nächste Opfer lauert hier irgendwo. Ich kann es spüren. Ich höre es. Ich rieche es. Ja, der süßliche Duft von Krankheit und Leid steigt mir in die Nase, wie schon so oft zuvor. Doch diesmal ist es anders. Tief sauge ich die Luft ein und nehme den Geruch in mich auf. Und ich kann nicht genug davon kriegen. Plötzlich interessiert es mich brennend, was sich hinter dieser eigenartigen Fassade verbirgt. Ich schließe meine Augen und lausche.
 

Der Wind rauscht an den Hauswänden entlang und wirbelt Staub auf, der sich auftürmt und dann wieder verstreut. Ratten laufen über kalten Asphalt. Papier- und Plastikfetzen rascheln am Boden. In den Häusern drehen sich die Menschen in ihren Betten hin und her. Tausende von Uhren ticken im selben Rhythmus. Es sind noch zu viele Geräusche, die mich ablenken. Die ganze Stadt ist so laut, viel zu laut, so dass ich nicht weiß, woher die Rufe kommen. Ich höre jedes noch so leise Knistern am anderen Ende der Straße so laut, als würde jemand direkt neben meinem Ohr auf ein Schlagzeug einhämmern. Alles dreht sich, die Laute mischen sich mit Farben, die sich vor mir auftürmen und mich in ihrem Wirbel mitreißen. Alles stürzt auf mich ein. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich sehe nichts mehr. Es ist so laut, so ohrenbetäubend, so schrecklich. Dieser Krach ist unerträglich. Es soll aufhören. Es soll endlich aufhören!
 

Vorsichtig öffne ich die Augen. Und tatsächlich ist jetzt alles gespenstisch still, als hätte jemand ganz plötzlich den Ton abgestellt. Nein, vollkommen still ist es nicht. Ich vernehme ein Schluchzen. Ein klägliches verzerrtes Wimmern. Es kommt von dort vorne. Ich höre es immer deutlicher, je weiter ich mich nach vorne wage. Ich habe das Gefühl, der Nebelschleier wird immer dichter, als wollte er mich von dieser Kreatur fernhalten. Aber mein Entschluss steht fest. Ich will es haben, um jeden Preis. Mein Verlangen wird immer größer. Wieder ein paar Schritte, das Jammern wird lauter. Jetzt kann ich es sogar riechen, den süßlichen Duft von jungem zartem Fleisch. Ja, gleich bin ich bei dir. Gleich kann ich dich in meinen schmutzigen Händen halten. Hab noch etwas Geduld.
 

Die Steine unter meinen Füßen sind kalt. Sie sind tatsächlich kalt. Noch nie hat mich so etwas auch nur annähernd gestört, doch jetzt empfinde ich es als lästig. Diese Kälte steigt durch meine Fußsohlen die Beine hinauf bis in meine Fingerspitzen. Ich blicke auf meine Hände und sehe, wie das Blut durch die blauen Adern rauscht. Viele feine Linien zieren die weiße Haut und bahnen sich einen Weg durch das faserige Gewebe.

Dann greife ich nach vorn, durchbreche die dichte Nebelwand und bekomme zwei schwache Schultern zu greifen. Ich ziehe die zitternde Gestalt an mich. Wie lange muss dieser kleine Junge schon hier draußen gelegen haben? Bestimmt schon mehr als ein paar Tage, denke ich mir, denn seine Kleider sind verdreckt und zerrissen. Überall am Körper hat er Schürfwunden und Kratzer. Er sieht wirklich mitgenommen und ausgehungert aus. Und genauso fühlt er sich an. Er besteht nur noch aus Haut und Knochen, und je mehr ich den bebenden Leib an mich presse, je mehr ich ihn umschlinge und mit meinen Armen fessele, desto mehr habe ich Angst, dass er unter mir zerbricht. Aber ich kann nicht aufhören. Ich halte seinen Kopf an meine Brust gedrückt und fahre ihm dabei zärtlich durch die Haare. Das habe ich vorher noch nie gemacht. Es ist ein ganz neues und fremdartiges Gefühl, jemandem so nahe zu sein, einem meiner Opfer so nah zu sein, noch bevor die Seele den Körper verlässt. Ich spüre sein kleines Herz rasen. Ich spüre seinen rauhen Atem auf meiner Haut. Ja, tatsächlich kann ich alles haargenau wahrnehmen. All die Wärme, die von ihm ausgeht und mich berührt. Die weiche Haut seiner Finger, die meine Seite streift. Ich fühle ihn. Ich halte ihn fest und fühle ihn.
 

Ich muss nun schon einige Stunden umherlaufen, denn die Dämmerung ist nah. Nicht mehr lange, und die ersten Sonnenstrahlen werden der Stadt den Morgen ankündigen. Sie werden über die Dächer hinweg fliegen, ihre Arme ausbreiten und alles in helles, fröhliches Licht tauchen, bis kein dunkler Schatten mehr eine Chance hat, böse Träume mit ihrer Schwärze zu nähren. Alles wird hell im Glanz erstrahlen. Der frische Tau wird das Licht wie funkelnde kleine Sterne reflektieren und als Glitzermeer in die weite Welt senden, sodass sich ein jeder an diesem herrlichen Bild erfreuen kann.

Aber noch ist es nicht so weit. Noch verweilt die Sonne hinter dem Horizont und wartet auf ihren Auftritt. In schnellem Schritt fege ich lautlos durch das Gewirr aus Seitenstraßen. Das große Stadtviertel, die Wohngebiete, den Friedhof, die Hauptstraße und den kleinen Bach, der die verschmutzen Teile des Ortes von der unberührten Natur trennt, das alles lasse ich hinter mir. Die kleine Gestalt, dessen bloße Existenz meine Aufmerksamkeit gewaltsam auf sich zog, liegt in meinen Armen eingekauert. Sein Atem geht flach und schnell. Mit der einen Hand stütze ich seinen gebrechlichen Hals, mit der anderen halte ich die kleinen dünnen Beine. Sein Gesicht hat er schützend in dem weißen Stoff meines Hemdes vergraben, dass ich eigentlich nicht brauche, aber ich trage es trotzdem, einfach aus Gewohnheit, oder weil jeder mit irgendwelchen Kleidungstücken seinen Körper bedeckt.

Mit seinen zierlichen Hände klammert sich das wehrlose Kind fest an mich, als hätte es Angst, ich würde es fallen lassen. Und umso fester halte ich ihn noch, als er einen wehklagenden Laut ausstößt und anfängt, noch mehr zu zittern.
 

Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Da ist irgendwo in mir dieser sehnliche Wunsch nach Zweisamkeit. Der Drang, nicht mehr alleine zu sein, meine Zeit mit jemandem zu verbringen, mich endlich geborgen, beschützt und geliebt zu fühlen und zu wissen, dass ich gebraucht werde, dieser Drang wächst von Minute zu Minute. Er wird stetig größer und es ist unerträglich. Ich sehne mich plötzlich nach Körpernähe und Wärme. Ich will jemanden in die Arme schließen können, ihn streicheln und zärtliche Worte in sein Ohr flüstern. Wieso jetzt auf einmal? All die Jahrtausende bin ich einfach nur vor mich hin vegetiert, habe Seele um Seele in den ewigen Frieden begleitet und nie auf die Welt um mich herum geachtet. Doch jetzt kommt mir alles so seltsam klar vor. Ich achte, bewusst oder unbewusst, auf junge Pärchen, die Hand in Hand am Wasser entlang spazieren und sich verliebt in die Augen sehen. Und dann will ich sie auseinanderreißen und jedem von ihnen am liebsten das Genick brechen. Ganz schnell und schmerzlos. Niemand würde etwas mitkriegen. Doch ich kann mich beherrschen. Ich muss mich beherrschen. Warum habe ich die ganze Zeit nicht mitbekommen, was mir so sehr fehlt? Oder wieso fange ich jetzt aus heiterem Himmel an, Gefühle zu entwickeln? Ich will das nicht. Ich will einfach so weiter machen wie zuvor, ohne von lästigen Emotionen gestört zu werden. Aber dann denke ich wieder, warum eigentlich nicht?
 

Vorsichtig fahre ich mit meinen Fingern durch die zerzausten Haare des Kleinen. Seit ich mir mit ihm auf den Armen den Weg durch die vielen alten, knorrigen Bäume den Hügel hinauf gebahnt habe, ist er halb weggetreten. Und trotzdem sitze ich hier auf der Lichtung und hoffe, ich kann ihm die letzten Augenblicke seines Lebens so schön wie möglich machen. Von hier oben hat man einen fantastischen Ausblick. Unter einem erstrecken sich die endlosen Häuser der Stadt, und in der Ferne kann man die Berge sehen. Einige Wolkenschleier zieren den Horizont, der nun langsam von Dunkelblau ins Violette übergeht. Die ersten Sterne werden blasser und blasser, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen sind.

Meine Hand streift sachte seine Wange, und er öffnet seine unschuldigen Augen. Den Blick auf den nun rot leuchtenden Himmel gerichtet sitzt er in meinem Schoß, den Kopf an meine Brust gelegt, und meine Arme umhüllen ihn schützend. Obwohl er noch so klein ist, weiß er, dass das heute der letzte Sonnenaufgang ist, den er sehen wird. Aber er hat keine Angst. Nein, er ist froh, dass er nun nicht mehr allein sein wird, wo er doch nie jemanden hatte, der sich um ihn gekümmert hat. Und ich kann ihn gut verstehen.
 

Ein winziger tief roter Streifen zeigt sich, klettert die Bergspitzen empor, wird immer größer und taucht alles in ein beruhigend warmes Licht. Um uns herum ist es ganz still. Nur eine kleine Brise raschelt durch die Blätter der alten Kastanien, die langsam ihr Grün verlieren und dafür Platz für neue Farben schaffen, die den Herbst ankündigen. Es ist wunderschön. Das ist das erste Mal, dass ich mir einen Sonnenaufgang so genau ansehe. Es ist einfach faszinierend. Wieso ist mir diese Herrlichkeit nicht schon viel früher aufgefallen? Dieser endlose Farbwechsel, das kräftige Orangerot, das alles ist atemberaubend. Ich komme mir vor wie in einer ganz anderen Welt, in einer anderen Sphäre.

Auf einmal werde ich wieder in das Hier und Jetzt gerufen. Eine kleine Hand zieht unruhig an meinem Ärmel. Ich blicke in zwei große glänzende Augen, die mich fixieren. Er kommt mir plötzlich ganz nahe und zuerst will ich ihn erschrocken wegstoßen, doch dann begreife ich. Er flüstert mir ins Ohr, ganz leise, als hätte er Angst, ihn könnte jemand hören.

>>Es ist Zeit. Die Sonne ist jetzt aufgegangen. Bringst du mich jetzt zu Mama?<< Ich lächle ihn sanft an und nicke. Dann lege ich meinen Zeigefinger auf die Lippen und bedeute ihm, zu lauschen. >>Ja, ich kann sie hören. Sie ruft nach mir.<< sagt er und legt den Kopf schief, um genau zu lauschen. >>Sie ruft ... mich...<<

Sein lebloser Körper fällt zurück in meinen Schoß. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich glaube einen kurzen Lufthauch auf meinem Gesicht, auf meinen Lippen zu spüren. Ich sehen hinauf in den Himmel. Die vielen Wolken ziehen langsam vorüber. Einige vereinzelte Vögel machen sich auf den Weg in den Süden. Und weit oben über dem Ganzen, da bin ich mir sicher, schließt eine verzweifelte Mutter mit Freudentränen in den Augen ihren Sohn in die Arme.
 

Die einfache Existenz wird allmählich zu Einsamkeit. Diese Einsamkeit artet aus in Trauer und mutiert schließlich zu Verzweiflung und Schmerz. Ich will es stoppen, doch was ich auch versuche, nichts kann den Lauf der Dinge aufhalten. Ich kann nichts anderes tun als einfach nur dasitzen und zusehen, wie die Zeit verstreicht. Wie gerne würde ich ihr unterliegen. Ich kann mich ihr noch so tief anvertrauen und mich ihr hingeben, doch sie vermag es nicht, mich zu beachten. Ich werde einfach ignoriert. Sie zieht vorüber, während sie geschickt einen Bogen um mich macht. Und ich stehe da und beobachte, wie die Menschen, Tiere und die Natur altern. Alles verändert sich mit der Zeit. Nichts bleibt ewig so wie es ist. Die ganze Welt ist der Zeiten Sklave. Es beginnt mit der Zeugung eines neuen Individuums. In ständiger Bewegung wächst es von Sekunde zu Sekunde. Zellen entstehen, wachsen und sterben. So funktioniert es. Aber doch nur, weil die Zeit existiert. Würde es ohne die Zeit überhaupt eine Welt geben, in der so viel Leben gedeiht? Wer kann schon sagen, ob sich die Erde weiter drehen oder in ihrem Gefängnis stillstehen würde?

Ich kann machen was ich will, doch letztendlich schlage ich mir nur die Fäuste blutig, wenn ich versuche, der zeitlosen Zelle, in der ich auf ewig gefangen bin, zu entkommen. Alles zieht an mir vorüber, und ich werde allein am Ufer zurückgelassen. Es ist, als beobachte ich, wie sich das Leben immer weiter von mir entfernt, immer kleiner und kleiner wird und schließlich nur noch ein winziger Fleck am Horizont ist. Dann befinde ich mich wie so oft in meiner eigenen Welt, die beruhigend schön und irreal ist und gleichzeitig einen gewissen Grad an Wirklichkeit besitzt. Aber wie lange soll ich mich noch verstecken? Soll ich etwa davonlaufen und mich hinter meiner Feigheit, der Realität ins Auge zu blicken, verstecken?

Ich erkenne den winzigen Fleck am Horizont. Fast kann ich ihn nicht mehr wahrnehmen, doch ganz verschwinden tut er nicht. Denn ich gehöre immer noch dazu, ich bin ein Teil des Lebens, den man nicht so einfach ignorieren und unter den Teppich kehren kann.

Meine scheinbare Welt, die ich mir so mühsam aufgebaut habe, zerplatzt wie eine Seifenblase und plötzlich werde ich mir bewusst, dass ich niemals Erlösung finden werde. Ich bin der Diener Luzifers, ein Todesengel, ständig auf der Suche nach Seelen, die sich den Tod wünschen oder keine Kraft mehr haben, ihren geschwächten Körper am Leben zu halten. Ich gewähre ihnen den allerletzten Wunsch, sauge gierig die letzte Energie aus ihnen heraus und öffne das Tor ins Jenseits. Manchmal wünsche ich mir, einfach mit durch dieses Tor zu schlüpfen und alles zu beenden.
 

Oh Gott, meine Konzentration ist auch nicht mehr das was sie einst war. Ich bin in letzter Zeit viel zu sehr in meine Gedanken vertieft, so dass ich immer nachlässiger werde. Ich kriege kaum noch mit, was um mich herum geschieht. Ich ziehe meine Kreise durch die verkommenen Straßen wie hinter einem gläsernen Vorhang, der mich von dem Geschehen trennt. Ich bin da und sehe alles, aber erreichen kann ich es nicht. Seit zwei Tagen habe ich niemanden mehr zu mir geholt. Wenn ich so weiter mache, stürze ich bald in den dunklen Abgrund meiner Selbst, und nichts kann mich dann noch retten.
 

Unruhig huschen meine Augen über den steinernen Marktplatz, auf dem sich nun wieder hunderte von Menschen tummeln, so wie jeden letzten Tag im Monat. Fröhliche Musik schallt über das ganze Geschehen. Es wird getanzt, gesungen und gelacht, und an den unzähligen Ständen schieben sich die Massen weiter und drängeln sich bis nach vorne, um ihr Geld für irgendwelche sinnlosen Dinge zu verschwenden, die von den Marktschreiern lauthals verhökert werden. Es riecht nach Bratwurst und Glühwein. Alles ist hell erleuchtet, obwohl es noch fast zwei Stunden bis zum Sonnenuntergang sind. In den letzten Tagen hat die Temperatur noch einmal einen kräftigen Schub nach unten gemacht, so dass alle mit dicken Winterjacken, Schals, Handschuhen und Mützen bekleidet sind. Es ist wirklich kalt geworden. Wenn ich einer von ihnen wäre, wenn ich genauso wie sie über den Platz schlendern würde, könnte ich meinen eigene Atem sehen, der als feiner Nebel aus meinem Mund strömen und sich mit der kalten Herbstluft vermischen würde. Aber ich bleibe wie schon immer von allem unberührt. Wie sollte es auch anders sein?

Fast lasse ich mich dazu hinreißen, mich der freudigen Stimmung anzuschließen, die sich wie ein Lauffeuer über die große Menschenmasse verbreitet. Aber ich bin nicht zum Spaß hier. Ich habe meine Aufgabe zu erfüllen, und die Wahl ist bereits getroffen.
 

Ich springe lautlos vom Dach eines leerstehenden, alten Hochhauses, von wo aus ich mir einen perfekten Überblick verschafft habe. Mein schwarzer Mantel flattert hinter mir im Wind, die Luft peitscht mir ins Gesicht. Dann lande ich inmitten einer Traube aus aufgeregt schnatternden Schülerinnen, die wie von Geisterhand Platz für mich machen, obwohl sie nicht die geringste Notiz von mir nehmen. Ich könnte genauso gut auf ihren Köpfen landen, sie würden es wahrscheinlich nicht bemerken. Vielleicht bin ich für sie nichts weiter als ein weiterer Luftzug, der durch ihre geflochtenen Zöpfe weht.

Ich bahne mir den Weg durch die vielen Menschen, ohne auch nur einen einzigen zu berühren. Sie nehmen ganz von allein Abstand von mir, weil sie es wissen. Kommen sie mir zu nahe, reiße ich sie mit in die Hölle. Mein Geist führt mich, aber meine Augen sind allein auf das blonde Mädchen fixiert. Es scheint, als flüchte sie vor mir. Nicht jeder hat den Mut, dem Tod ins Auge zu sehen. Dabei wissen sie nicht einmal, wie erlösend der Tod sein kann. Sie hat sich zu sehr an das Leben gekrallt, dass ihr nichts als Leid zufügt. Und trotzdem will sie nicht loslassen. Aus Angst, vielleicht auch aus Feigheit. Fast schon rennt sie durch das Gedränge. Die vielen ärgerlichen Stimmen derer, die sie dabei anstößt und zur Seite schubst, überhört sie einfach. Doch mir kann sie nicht entkommen, und das weiß sie. Noch zwanzig Meter bin ich von ihr entfernt. Ich komme näher und näher. Nur noch ein paar Schritte. Gleich hab ich sie. Ich kann ihr Haar ergreifen, mit ausgestreckter Hand. Gleich bist du mein!

Ich will zupacken, da stößt etwas ruckartig gegen meine Beine, was mich kurz nach unten schauen lässt. Zwei Kinder von etwa sieben oder acht Jahren laufen lachen vor einem anderen davon, welches mir ein kurzes >>'Tschuldigung<< zuruft und weiter rennt. Nur spielende Kinder, nichts weiter. Ich richte meinen Blick wieder auf und will mir das Mädchen schnappen, doch sie ist weg. Ich habe mich doch nur für zwei Sekunden abgewandt und trotzdem ist sie weg! Wie kann das sein? Aufgeregt jagen meine Augen über die vielen Köpfe hinweg und suchen nach ihrem unübersehbaren blonden Schopf, aber sie ist spurlos verschwunden. Verdammt, fluche ich in Gedanken und balle meine Hände zu Fäusten. Wie konnte mir so etwas nur passieren? Mein Opfer aus den Augen zu verlieren, das ist so unverantwortlich und dumm. So unverzeihlich! Ich will weiter rennen, sie suchen, sie unerbittlich jagen, bis sie vor Schwäche stürzt und erschöpft liegenbleibt. Ich will sie zerfleischen und die ganze Wut auf mich selbst, die in mir hoch kocht, an ihr auslassen. Doch ich bin zu schwach. Die nötige Kraft und der Wille verlassen mich, und dann tragen mich meine Beine von alleine. Ich weiß nicht, wo lang sie mich führen. Ich weiß nur, dass mir plötzlich alles egal ist.
 

Lange Zeit laufe ich ziellos umher. Die Straße ist menschenleer, denn alle tummeln sich noch auf dem Marktplatz und den umliegenden Gassen. Mir kommt es vor, als komme ich jetzt schon das fünfte Mal an dieser alten Hütte vorbei, die schon halb zusammengefallen inmitten von großen, teuren Wohnhäusern steht. Und zwischen ihnen sieht sie noch viel erbärmlicher und zerfallener aus, als sie in Wirklichkeit ist. Und jedes Mal wieder zieht sie meinen Blick auf sich. Es gefällt mir, wie die kaputten Fensterläden gegen das nackte Gemäuer schlagen und wie der gelb-graue Putz, auf dem man noch die letzten Reste von Graffitibildern erkennen kann, langsam abbröckelt. Die eingeschlagenen Fenster sehen aus wie zwei große Augen, die einen anstarren und darauf warten, dass man sich umdreht, damit es mit seinen Klauen nach einem greifen kann. Es hat etwas Gespenstisches an sich, und das zieht mich wie magisch an. Ich stehe vor der morschen Tür. Meine Finger streichen vorsichtig über das schwarze Holz, dass teilweise schon mit Moos überzogen ist. Mit den leichten Hebungen und Senkungen der einzelnen Bretter und Rillen bewegen sich auch meine Fingerkuppen ganz leicht über die rauhe, feuchte Oberfläche. Es ist fast so, als würde es schlafen, und ich darf es auf keinen Fall wecken. Ein leicht modriger Geruch steigt mir in die Nase, und plötzlich interessiert es mich brennend, was sich hinter diesem verschleierten Tor verbirgt, was dort im tiefsten Inneren dieser alten Wände vor sich geht. Obwohl die Klinke abgebrochen ist, könnte ich mir ohne Probleme Zugang verschaffen. Ein kleiner Schubs und die Tür würde samt Rahmen zu Boden krachen. Das Kribbeln in meinen Fingern, die immer noch das Holz liebkosen, verstärkt sich noch, als der Wind, der durch das Loch im Fenster pfeift, etwas im Inneren zum Umfallen bringt. Es klingt wie Porzellan.
 

Wie von Blitz getroffen ziehe ich meine Hand weg und zucke zusammen. Ich drehe mich um und sehe direkt in die großen dunklen Augen eines kleinen Mädchens, dass mich fragend und zugleich interessiert anblickt. Ihr kastanienbraunes Haar ist zerzaust und feine Löckchen umringen ihr rundes, glattes Gesicht. Die schneeweiße Haut ihrer Wangen hat sich von der kalten Luft rot gefärbt. Sie trägt ein rosa Kleid mit einem Grasfleck genau an der Stelle, wo sich das Knie befindet. In der Hand hält sie eine Stoffpuppe.

Zuerst weiß ich nicht, ob sie wirklich mich oder doch nur das Haus anguckt, doch ihre Augen wandern hin und her. Zuerst mustert sie meinen Körper, dann sieht sie mir abwechselnd ins rechte und linke Auge, als könne sie nicht entscheiden, welches sie besser findet. Kein Zweifel, sie sieht mich an. Aber wie kann das sein? Ich habe sie weder ausgesucht, noch ist sie dem Tode nahe. Also wie kann es sein, dass sie mich sehen kann? Oder bin ich womöglich für jeden sichtbar, sie beachten mich bloß nicht? Aber das ist unmöglich. Dann hätte es in all der Zeit irgendjemanden geben müssen, der mich wenigstens nach dem Weg oder der Zeit gefragt hätte. Immer haben alle durch mich hindurch gesehen, als wäre ich Luft. Im Grunde bin ich das ja auch. Ich bin nichts weiter als ein Geist, der den Tod und somit den ewigen Frieden bringt. Ich existiere nicht wirklich. Oder etwa doch?
 

Sie kommt einen Schritt auf mich zu und ich weiche zurück. Sie bleibt stehen, bohrt sich aber weiterhin mit ihrem Blick in mir fest. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sie scheint meine Verzweiflung zu bemerken und lächelt, wobei sie ihre kleinen weißen Zähnchen und eine Lücke entblößt, in der bis vor kurzem noch ein Milchzahn gesteckt haben muss.

>>Das Haus ist toll, nicht wahr?<< fragt sie mich und schaut nun an mir vorbei auf die Stelle, von der ich eben noch so fasziniert war. Ich nicke leicht, wende mich aber nicht von ihr ab. >>Manchmal, wenn Papa und Mama mit mir geschimpft haben, komme ich hierher und klettere durch das Fenster auf der anderen Seite. Da drin kann man sich prima verstecken. Und dann weiß keiner, wo ich bin. Das habe ich bisher noch niemandem gezeigt.<< freut sie sich. In kleinen trippelnden Schritten läuft sie auf die Hütte zu, stellt sich auf die Zehenspitzen, späht durch die kaputte Scheibe und kichert.

Jetzt fällt es mir ein. Das ist die Kleine, die mich vorhin angerempelt hat. Sie ist Schuld daran, dass mir die Blondhaarige entwischt ist. Aber meine Wut ist wie weggeblasen. Vielmehr interessiert mich jetzt dieses Mädchen. Es schwirren mir tausend rätselhafte Fragen im Kopf herum. Doch bevor ich dazu komme, mir darüber klar zu werden, wird meine Hand ergriffen und sie zieht mich mit sich. Es ist ein ganz neues Gefühl. Ihre kleinen warmen Finger schlingen sich um meinen Handrücken. Es pocht heiß auf meiner Haut, dort wo sie mich berührt. Ich spüre einen leichten Druck, weil sie mich festhält. Ich folge ihr widerstandslos sie Straße entlang. Sie weiß genau, wo lang sie geht und was sie will. Im Gegensatz zu mir hat sie ihr Ziel klar vor Augen. Auch wenn es nichts Bedeutendes ist, für mich hat ihre ganze Ausstrahlung etwas Besonderes an sich. Sie mag zwar äußerlich klein und zierlich wirken, aber innerlich ist sie unglaublich stark.
 

Wir bleiben erst wieder stehen, als wir an einem der Springbrunnen ankommen, die in jedem der größeren Viertel der Stadt verteilt sind. Es ist ein großer steinerner Engel, der eine Muschelschale in den Armen hält, in der ein Kind badet, eingehüllt in graue Rosenblätter. Der Blick des Engels ist gen Himmel gerichtet, aber er bringt Trauer zum Ausdruck. Das, was sich auf seinem Rücken befindet, sagt aus, weshalb er sehnsüchtig in die Sterne schaut. An der Stelle, an der sich normalerweise die prächtigen, goldenen Flügel befinden, ist nur ein blutiger Stumpf zurückgeblieben. Es sieht aus, als wurden ihm seine Schwingen gewaltsam ausgerissen, als Strafe für eine furchtbare Tat, die er begangen hat. Und nun kämpft es verzweifelt um seine Seele und darum, dass die höheren Geschöpfe, die Kinder Gottes, ihm nicht auch noch das letzte Bisschen, was ihm geblieben ist, nehmen.

Um die Statue herum ist ein Wasserbecken, und an den vier Seiten, an denen jeweils eine blühende Rose in die dazugehörige Himmelsrichtung zeigt, plätschern kleine Wasserstrahle fröhlich vor sich hin.

Wir lassen uns am Rand des Beckens nebeneinander nieder. Sie fängt an, ihrer Puppe die Haare zu frisieren, einen langen Zopf zu flechten, und ich beobachte sie gespannt. Lange Zeit ist es ganz still. Außer dem Aufschlagen der vielen Wassertropfen auf die silbrig glänzende Flüssigkeit und der Blätter, die in den Bäumen rascheln, ist nichts zu hören. Da der Brunnen etwas abseits des beleuchteten Platzes steht, sind wir im Schutz der Bäume fast vollständig im Dunkelheit gehüllt. Dennoch sehe ich alles gestochen scharf. Sogar die Maus, die etwa in zehn Meter Entfernung von uns über den Boden huscht, entgeht mir nicht. Dann bewegt das Mädchen abermals ihre Lippen und spricht zu mir:

>>Das hier ist Lisa. Meine Oma hat sie mir geschenkt, kurz bevor sie in den Himmel kam. Seitdem ist sie immer an meiner Seite.<< Sie zupft das karierte Puppenkleid zurecht, betrachtet sie prüfend und beginnt von vorne, ihr die Haare zu flechten.

>>Hast du auch jemanden, der an deiner Seite ist?<< fragt sie mich. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll und starre sie weiter an. Dann schüttle ich kaum merklich den Kopf.

>>Das ist schade. Ich finde, jeder sollte jemanden haben, der einen begleitet. Das Leben ist doch sonst langweilig. Man hat niemanden, mit dem man reden kann. Und wenn man traurig ist, dann ist da niemand, der einen tröstet.<< Wie Recht sie doch hat, denke ich in diesem Augenblick. Mir ist die ganze Zeit über nie aufgefallen, wie schrecklich einsam ich mich fühle. Und das macht mich so verletzbar. Es kommt immer häufiger vor, dass ich den Anblick der vielen Menschen, die miteinander glücklich sind, nicht ertrage. Das ist meine Schwäche.

>>Wie heißt du?<< fragt sie weiter. Als sie meinen ratlosen Blick bemerkt, fügt sie hinzu: >>Dein Name. Wie wirst du genannt?<< Aber auch darauf weiß ich keine Antwort. Ich sehe nur stumm zu, wie sie mit geschickten Fingern die unechten Haarsträhnen glattstreicht und neu verpflechtet.

>>Ich bin Maria, aber Lisa nennt mich May.<< Ihre kindliche Stimme klingt verträumt.

>>Du redest nicht viel, nicht wahr? Aber so wirst du nie jemanden finden. Schau her!<< Sie springt vom Brunnenrand und fängt an, mit der Puppe zu tanzen. Sie hat sie eng an ihre kleine Brust gedrückt und dreht Kreise. Der Saum ihres Kleides flattert bei den schnellen Bewegungen. Dann hält sie plötzlich inne und fängt an zu lachen. Die süße Stimme hallt dabei über den Platz und schallt von den Hauswänden wieder.

>>Lach doch auch mal! Wenn du ab und zu mal lachst, geht es die gleich besser.<<

Von irgendwo her dringen Stimmen zu uns, die nach der Kleinen rufen.

>>Oh, das sind meine Eltern. Ich muss jetzt nach Hause.<< sagt Maria. Bevor sie sich umdreht und zu den Leuten rennt, von denen das Murmeln stammt, kommt sie noch einmal auf mich zu. Wieder Schaut sie mich direkt an. >>Lisa will dir 'Tschüss' sagen.<< Sie hält mir die Puppe hin. Ich sitze da ohne mich zu rühren. >>Du findest bestimmt auch bald jemanden, der an deiner Seite ist. Vergiss nur nicht, ab und zu mal zu lachen.<< Sagt sie und entblößt noch einmal ihre Zahnlücke. Schon im nächsten Moment geht sie an den Händen der beiden Erwachsenen die leere Straße entlang. Ich kann sie noch beobachtet, bis sie in eine Seitengasse einbiegen und das matte Licht der Laternen sie nicht mehr erreicht.
 

Die großen weißen Steine, auf denen ich immer noch sitze, fühlen sich unangenehm an. Ihre Kälte durchdringt meine Kleidung und steigt in mir auf, lässt mich sogar frösteln. Ich ziehe meinen Mantel aus und betrachte die nackte Haut meiner Arme, auf denen sich die feinen Härchen zu einer Gänsehaut aufgestellt haben. Es fühlt sich irgendwie schön und gleichzeitig widerlich an, es ist eine ganz neue Erfahrung. Ich friere, und die Kälte breitet sich nun auch in meinem restlichen Körper aus. Ich fange leicht an zu zittern und will mich erheben, um diesem Gefühl zu entfliehen, aber zu sehr halten mich die Worte des Mädchens fest. Immer wieder hallt ihre Stimme in meinem Ohr wieder. >Lach doch mal, dann geht es dir gleich viel besser!< Ich soll lachen, sagt sie? Und warum soll ich mich nach all der Zeit irgendwelchen albernen Gefühlsspielen hingeben und lachen? Was für einen Sinn hat das? Es ändert doch auch nichts an meinem Zustand oder an dem, was ich bin. Ein Lachen wird mich auch nicht zum Menschen machen.

>Lach doch auch mal!< Und was ist, wenn ich lache? Was passiert, wenn ich anfange, mich über Dinge zu freuen und einfach nur die Herrlichkeit der Welt zu genießen? Was ist, wenn ich einmal das ganze Elend hinter mir lasse und mich nur auf das Glück konzentriere? Was würde geschehen, wenn ich einmal glücklich wäre?
 

Die Laternen gehen aus. Mit einem metallenen Knacken verlischt das orange-rote Licht. Die Sonne geht auf. Mit jeder Minute, die verstreicht, wird es heller um mich herum und bald ist die gesamte Stadt mit warmem Sonnenlicht überflutet.

Ich drehe mich um und schaue auf das Wasser, welches das runde Becken des Brunnens füllt. Auf seiner Oberfläche ziehen kleine Kreise dahin, die immer größer werden, je weiter sie sich von ihrem Ursprung entfernen, bis sie schließlich versiegen. Das sich darin spiegelnd Licht glitzert wundervoll wie tausend funkelnde Sterne.

Ich beuge mich über den Beckenrand und schaue geradewegs in ein mir völlig fremdes Gesicht. Es starrt mich rücksichtslos und unaufhaltsam an. Jetzt sehe ich mich zum ersten Mal bewusst an und betrachte mein Antlitz im Wasserspiegel.

Das erste, was mir auffällt sind die strahlend grünen Augen, die mich erschrocken anstarren. Ich führe meine Hand langsam zu meinem Gesicht. Erst halte ich sie vor meine Augen und beobachte dies durch die gespreizten Finger im Wasser, dann berühre ich leicht eine der weißen Wangen und die kraftvoll geschwungene Nase. Feine pechschwarze Strähnen fallen mir in die makellose glatte Stirn, die restlichen glatten Haare liegen auf meinen breiten Schultern und fallen nach hinten auf den Rücken. Entweder kommt es von dem Strahlen der Sonne oder sie glänzen wirklich so, als würden sie das Licht absorbieren und selbst aussenden. Mit meinen Fingern fahre ich nun über die glatte Haut und über die schmalen, zarten rosa Lippen, mit denen ich schon so oft den Menschen ihre Seele geraubt habe. Sie fühlen sich samtig an, und angenehm warm. Dann streiche ich vorsichtig mit der Hand über die Wasseroberfläche und bringe die silbrige Flüssigkeit zum Schwingen. Nachdem die kleinen Wellen abgeklungen sind, kann ich mein Spiegelbild wieder betrachten. Ich ziehe die Mundwinkel nach oben und lächle, wobei ich mit einem sanften Ausdruck in den Augen aus dem Brunnen schaue, genau in das leuchtende Grün meiner Vergangenheit. Lachen, sagt sie.

Lächerlich. Als wenn ich mir von einer kleinen Göre, die noch nicht einmal trocken hinter den Ohren ist, irgendwelche Tipps geben lasse. Sie hat doch selbst keine Ahnung vom Leben, geschweige denn eine Vorstellung davon, wie scheußlich die Ewigkeit aussieht und wie sie sich anfühlt. Also warum sollte ich diesen dahergeredeten Worten Beachtung schenken? Lachen, was bringt das schon? Ich habe noch nie gelacht und werde meine Prinzipien nicht wegen dem schönen Gerede eines Schulkindes ändern.

Trotzdem haben diese Worte irgendetwas in mir bewegt. Ich kann nicht sagen, was es ist, aber es geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Was, wenn sie doch Recht hat? Ich bin durcheinander. Sie hat mich einfach aus der Bahn geworfen ohne mir den geringsten Halt zu gewährleisten. Ich stürze hinab in den Abgrund meiner Ahnungslosigkeit und meiner Verzweiflung. Ich weiß nicht, ob ich mich der Versuchung einfach hingeben oder so wie bisher weitermachen soll.

Ich öffne die Lippen und forme zunächst einige lautlose Buchstaben, hebe dann die Zunge und schon dringen Laute aus meinem Mund. Etwas wie >>Schwachsinn<<. Als erstes bin ich erschrocken von meiner Stimme, die unerwartet rauh und tief klingt, doch gleich darauf finde ich schon Gefallen daran. >>Schwachsinn<< wiederhole ich in einem leisen Flüsterton und dann noch drei mal, und bei jedem neuen Wort werde ich mutiger, meine Stimme tiefer und lauter und fast schon schreie ich es jetzt in die Welt hinaus, so dass die gewaltige Schallwelle durch das Viertel donnert .

>>Schwachsinn, Schwachsinn, SCHWACHSINN!<<
 

Meine Hände zittern. Ich balle sie zu Fäusten, zum einen um meine Nervosität zu verbergen und anderseits um die aufkochende Wut in mir im Zaum zu halten. Es macht mich einfach rasend, dass mich ein paar unbedeutende Worte so aus der Fassung bringen. Je länger ich mich ansehe, desto unerträglicher wird mir der Anblick. Ich will das nicht mehr sehen, ich will mich nicht mehr ansehen müssen. Nie wieder!

Sofort zerreißt das Bild und viele kleine Tropfen spritzen in alle Richtungen, als meine Hand laut auf das Wasser klatscht. Wieder und wieder schlage ich auf die nasse Oberfläche, um nicht noch einmal in diese Augen zu schauen, bis ich erschöpft auf den Brunnenrand sinke und reglos liegen bleibe. Aber ich habe mich noch nicht beruhigt. Nein, im Gegenteil. Ich fange gerade erst an. Jetzt habe ich es einmal soweit kommen lassen, jetzt habe ich einmal die friedliche Schutzmauer durchbrochen, also werde ich mich wieder abreagieren müssen, um nicht wahnsinnig zu werden. An irgendwas oder besser... an irgendwem.

Ja, es kribbelt mir schon richtig in den Fingern. Kommt her, meine Süßen und lasst mich etwas Spaß haben, lasst mich lachen beim Anblick eurer geschundenen Körper und bei euren Klagerufen und Schreien.
 

Schnell bewege ich mich die Straße entlang, meine Füße berühren kaum den Boden. Ich brauche Ablenkung, schnell. Ich weiß nicht wozu ich in blinder Raserei fähig bin und ab wann ich vollständig die Beherrschung verliere. Ich darf nicht die Kontrolle über mein klares Denken verlieren, ansonsten könnte ich wahrscheinlich echtes Chaos anrichten. Und vielleicht finde ich dann gar nicht mehr zurück und bleibe ein blutrünstiges Monster. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was dann passiert. Eine gottlose Welt in Chaos, und die Schuld lastet allein auf meinen Schultern.
 

Ich höre meinen rasselnden Atem. Das kochende Blut rauscht schnell durch meine Adern. Ich nehme alles nur noch halb wahr, die verzerrten, dumpfen Geräusche meiner Umgebung und das Umfeld, in dem ich mich bewege. Alles ist seltsam verschwommen und so weit weg. Nur der pochende Schmerz, der in meinem Kopf dröhnt, wird immer stärker. Es ist laut. Es ist wieder alles so unerträglich laut. Ich kann kaum noch etwas sehen. Lauter dunkle unklare Gestalten bewegen sich irgendwo vor mir. Ich kann sie nicht definieren. Ich weiß nicht, ob es Menschen oder einfach nur alte Bäume sind, die sich im Wind biegen. Ich kneife die Augen zusammen, um sie besser erkennen zu können, aber stattdessen zieht der Schmerz nur noch heftiger durch meinen Schädel. Es werden immer mehr, und sie umringen mich, ziehen ihre Kreise enger. Ich will rufen, sie sollen verschwinden, aber ich bin zu schwach, meinen Mund zu öffnen. Ich kann kaum noch klar denken. Das einzige, woran ich festhalte, ist die Tatsache, dass ich unter keinen Umständen das Bewusstsein verlieren darf. Ich muss bei klarem Verstand bleiben, egal was passiert. Doch es ist schwer, sich bei diesem höllischen Lärm auf diesen einen Gedanken zu konzentrieren. Ich spüre ein Stechen in der Brust und sauge die Luft schwer in meine Lungen. Es kostet mich zu viel Kraft, mich auf den Beinen zu halten. Ich taumele und will mich an einer der schwarzen Gestalten festhalten aber als ich mit der Hand nach vorne schnelle, greife ich ins Leere. Ich habe das Gefühl, mein Kopf ist kurz vor dem Zerbersten. Schreie hallen von irgendwo her in mein Ohr. Ein eiskaltes Lachen. Noch ganz kurz bleibt mir Zeit um zu merken, dass es meine eigene Stimme ist, die ich höre. Dann ist alles schwarz.
 

Ein angenehm kühler Windhauch streicht über mein glühendes Gesicht. Ich komme mir vor, als erwache ich grade aus einem jahrelangen, traumlosen Schlaf. Ich lehne an etwas Hartem, vielleicht an einer niedrigen Mauer oder einem Stein. Der Boden ist kalt und steinig. Ein seltsam bitterer Geruch liegt in der Luft. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Ich kann mich an nichts erinnern und habe keine Ahnung wo ich bin oder was ich hier mache. Aber ich habe Angst, die Augen zu öffnen. Ich habe Angst vor dem, was ich sehen werde, denn die klebrige Flüssigkeit, die an meinen Fingern klebt, lässt mich nichts Gutes erahnen.

Blind drehe ich mich langsam auf den Knien um und betaste das Gebilde, an dem ich gelehnt habe. Ich blinzle vorsichtig. Auf den ersten Blick kann ich die Statue erkennen. Der heilige Absalom, Vater des Friedens und Monument zum Gedenken an all die Menschen, die in dieser Stadt über die Jahre hinweg dem Krieg und den zahlreichen Schlachten zum Opfer gefallen sind. Einen Moment sehe ich nur abwesend an dem weißen Stein empor, bis mir klar wird, was es zu bedeuten hat. Es ist nicht nur ein Denkmal für alle Kriegsopfer, sondern nun auch für meine Opfer. Ich weiß, was ich sehen werde, wenn ich mich jetzt umdrehe. Aber ich will das nicht sehen. Es graut mir davor, die Blüten meiner zerstörerischen Macht zu betrachten und zu wissen, dass ich eine Sünde begangen habe, die ich nie wieder gut machen kann. Ich habe genau das getan, was meine Schuld bis uns Unendliche wachsen lässt. Die letzte Chance auf Erlösung ist mir wie Wasser durch die Finger geglitten und fließt nun den reißenden Strom hinab, dem Ort der Vergebung entgegen, den ich nie erreichen werde.
 

Der eisige Wind fegt über dieses grauenvolle Bild. Meine Augen gleiten über den Schauplatz und ich kann nicht glauben, dass wirklich ich derjenige war, dem das zuschulden kommt. Der Boden ist bedeckt mit leblosen Körpern, die kreuz und quer über die Straße verteilt liegen. Alles ist eingehüllt in ein tiefes, leuchtendes Rot. Der Boden besteht aus einer purpurnen Decke, in der sich die zerfleischten Leichen derer suhlen, die zufällig meinen Weg kreuzten. Unschuldige Menschen sind durch meine Hand qualvoll gestorben, obwohl sie noch ihr ganzes Leben vor sich hatten. Von meinen Händen tropft Blut. Meine Sachen sind rot durchtränkt und kleben an meiner Haut. Ich steige langsam über die Toten hinweg, um mir einen besseren Eindruck von dem Grauen zu verschaffen, von dem, wozu ich fähig war. Kalte leere Augen starren zu mir empor und verfluchen mich mit stummen Schreien. Während ich über den Haufen von zerquetschten Körperteilen steige, kommt in mir das ungute Gefühl auf, als würden die Leichen jeden Moment aufspringen und sich auf mich stürzen, um Rache zu üben. Sie wollen Vergeltung. Sie wollen, dass ich ihnen ihr Leben zurückzahle, auf genauso grausame Weise, wie ich es ihnen nahm. Mein Fuß streift unabsichtlich einen der schlaffen Arme, der trotz meiner Berührung weiter bewegungslos auf dem Boden liegt und langsam ausblutet.

Dann wird mir klar, dass meine unruhigen Gedanken völlig sinnlos sind. Was können diese Kreaturen mir jetzt noch anhaben? Sie sind tot. Lebloses Gewebe, das mit der Zeit verwesen und zu einem Teil der Erde werden wird. Und auch wenn sie mich holen würden, was könnte denn schlimmer sein als die endlose Existenz in ewiger Einsamkeit? Ich würde jeder Zeit mit ihnen tauschen, wenn sich mir die Möglichkeit bieten würde. Aber das wird nicht passieren. Es gibt keinen Gott, der Mitleid mit mir haben könnte. Und auch ich selbst empfinde kein Mitleid für mich. Was geschehen ist, ist geschehen. Daran kann ich jetzt auch nichts mehr ändern. Und was stört es den Rest der Welt, wenn es ein Dutzend Menschen weniger gibt? Bei der riesigen Anzahl fällt das doch keinem auf. Vielleicht ist mir die Natur ja sogar dankbar dafür, vielleicht war das alles so vorgesehen. Wenn das der Fall sein sollte, dann habe ich nichts Falsches getan und wenn nicht, ist es mir auch egal.
 

Alle meine Vorsätze sind von einer Minute zur nächsten dahin. Ich gehe in die Hocke und wische mir die mit Blut besudelten Hände an einigen zum Teil trocken gebliebenen Kleidungsstücken der Leichen ab. Das ist mein Werk. Ihr seid meine Kinder der Verzweiflung. Meine Kinder.

Ich fange an zu grinsen. Die Vorstellung, dass ich allein die Macht über Leben und Tod besitze ist einfach zu köstlich. Wenn ich wollte, könnte ich auf einmal die ganze Stadt in eine verlassene Ruine verwandeln, in der kein Herz mehr schlägt. Ich habe nichts zu verlieren. Ich merke, wie mein Grinsen breiter wird und schnaufe amüsiert auf. Dann dringen erneute ungewohnte Laute aus meiner Kehle. Ich lache. Ich stehe auf, sehe auf die armen Geschöpfe hinab und lache laut und herzhaft, bis ich kaum noch Luft bekomme.

Das ist es also. War es das, was du wolltest, kleines Mädchen? So weit hast du es gebracht. Du hast mich zu einem Mörder gemacht, zu einem Wesen, das wahllos unschuldige Menschen tötet. Aber eins kann ich dir nicht verübeln. Ich habe meine Stimme gefunden. Durch dich. Vielleicht werde ich mich irgendwann dafür bei dir bedanken, bevor du zu Staub zerfällst. Ja, dann werde ich mich bei dir bedanken, kleines Mädchen.
 

Die große Kirchturmuhr schlägt viermal. Vier mal rollt der tiefe dumpfe Gong über die kleinen und großen, über die hohen und niedrigen Häuser. Der nun eisige Wind fegt wie grauer Eisnebel über die Erde und zieht weiße Schleier hinter sich her. Die heruntergefallenen roten, braunen und orangen Blätter wirbeln durch die Luft und tanzen ihren ganz eigenen Tanz, der so einzigartig ist wie jedes einzelne von ihnen. Es ist kalt. Der Himmel hat sich verdunkelt, er ist mit dunkelgrauen, fast schon schwarzen Wolken bedeckt, die sich immer mehr auftürmen und ein Unwetter ankündigen. Ich kann den Sturm und das aufziehende Gewitter schon riechen. Es rückt unaufhaltsam näher.
 

Die schmalen Gassen des heruntergekommenen, schäbigen Viertels sind dreckig und feucht. Es liegt ein leicht modriger alter Geruch in der Luft, der sich mit dem von verwesenden Rattenkadavern mischt. Es ist dunkel, denn aus keinem der verdreckten Fenster kommt Licht, das den Weg ein bisschen erhellen könnte. Die Türen links und rechts in den Hauswänden sind morsch und geben gelegentlich knarrende Geräusche von sich, so als würden sie jeden Moment quietschend aus den Angeln fallen.

Der perfekte Ort, um sich ein neues Opfer zu suchen.
 

Stillschweigend schreite ich voran und fixiere mich auf irgendetwas Menschliches. Ich weiß genau, dass es mir ganz nah ist. Ich muss es nur noch finden und an mich reißen. Ich spüre die Angst und die Nervosität, die in der Luft liegt, ganz deutlich. Es kann nicht mehr weit sein.

Plötzlich durchbricht etwas die Stille. Ein Geräusch, ein laut von den Wänden hallendes Klacken, das in regelmäßigem Rhythmus auf mich zu kommt und an Lautstärke zunimmt, bis es von allen Seiten auf mich niederprasselt. Dadurch kurz abgelenkt bemerke ich erst zu spät, wie ein Junge aus einer versteckten Seitengasse hervor geschnellt kommt, blitzschnell um die Ecke biegt und hektisch direkt in meine Richtung gerannt kommt. Noch bevor ich ausweichen kann ist er schon an mir vorüber gehechtet und sprintet weiter, ohne zurück zu sehen, als wären die Wölfe hinter ihm her. Sobald er in der Dunkelheit verschwunden ist, hört man nur noch das Geräusch seiner Schuhe, die mit jedem Auftreten dieses Klacken verursachen, wenn sie auf den Beton schlagen.

Kurz nachdem die Geräusche endlich verebbt sind und ich mich weiter auf die Suche begeben will, kommt noch jemand um die Ecke gebogen, rennt aber nicht wie sein Vorgänger weiter, sondern bleibt schwer atmend an der staubigen Hauswand stehen und ruft mit vor Erschöpfung krätzender Stimme: >>Du mieser Heuchler. Komm gefälligst zurück, du verdammter Betrüger!<< Er läuft wieder ein paar Schritte, hält sich dann schnaufend an der Ecke des Hauses fest und späht angestrengt in die Ferne. >>Komm zurück! Ich brauche das Geld, gib es mir zurück!<< Wahrscheinlich weiß er nicht, dass der Kerl schon lange über alle Berge ist, doch trotzdem starrt er weiter, in der Hoffnung, er würde wirklich wieder vor ihm auftauchen. Stattdessen kehrt nun wieder Stille ein. Nur noch das flache schnelle Atmen des Jungen, der nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre ist, kann man wahrnehmen. Ich stehe im Schatten der Straßenlaternen und beobachte verhalten, wie er mühevoll versucht, sich an den Mauersteinen festzuklammern. Ich kann jeden Zentimeter von ihm erkennen, als würde die Sonne am lichten Tag genau im Zenit stehen.

Sein kurzes braunes Haar ist zerzaust und steht in alle Richtungen ab, seine mausgrauen Augen suchen in der Finsternis nach irgendeiner Bewegung. Unter seiner alten zerschlissenen Kleidung, einer drei viertel langen ausgefransten Jeans mit provisorisch zugenähten Löchern und einem etwas zu großen karierten Hemd, dessen Ärmel er ein paar mal umgeschlagen hat und an dessen Kragen ein Knopf fehlt, ist er übersät mit unzähligen Schürfwunden und blauen Flecken. Er muss schon oft geschlagen worden sein.
 

In der Ferne grollt leiser Donner. Die schwarzen Wolken haben sich verdichtet.
 

Ich lasse mich von diesem Jungen ablenken. Aber er fasziniert mich zu sehr, als dass ich mich einfach umdrehen und allein weitergehen könnte. Ich kann mich nicht dagegen wehren.

Je länger ich in ansehe, desto mehr kitzelt es mein Verlangen und meine ungestüme Neugierde, mehr über ihn zu erfahren. Plötzlich ist alles vergessen, alles um mich herum nehme ich nur noch halbwegs wahr. Einzig dieser Junge ist noch von Bedeutung.
 

Die ersten Regentropfen fallen. Auf dem staubigen Kopfsteinpflaster zeichnen sich zunehmend mehr kleine schwarze Kreise ab.
 

Ich glaube er sieht in meine Richtung. Doch für ihn existiere ich nicht. Ich bin nichts weiter als ein Lufthauch, der vielleicht zart und warm, vielleicht grausam und kalt sein Gesicht streift. >>Ich kann dich nicht sehen, aber ich weiß dass du da bist. Ich weiß dass du mich hörst. Bitte, du hast keine Ahnung, wie wichtig es ist. Jetzt gib es mir schon zurück!<< Seine Stimme klingt flehend, fast weinerlich.
 

Der Regen wird stärker und begräbt die nasse Erde unter sich.
 

Langsam bewegt er sich nach vorne. Schritt für Schritt kommt er in meine Richtung, tastest sich an der Mauer entlang. Ich höre seinen pfeifenden Atem. Er ist erschöpft und müde, doch sein grenzenloser Wille ist stark und treibt ihn an. Nur noch etwa vier Meter trennen uns voneinander, aber er macht keine Anstalten stehen zu bleiben.

Über uns zuckt ein greller Blitz wie eine riesige zischende Schlange über den Himmel, gefolgt von dem ohrenbetäubenden Knallen des Donners, der ihn zusammenfahren lässt. Große schwere Tropfen prasseln nun auf uns nieder.
 

Er steht direkt vor mir. Seine ausdruckslosen Augen schauen zu mir empor. Das nasse Haar klebt ihm im Gesicht und das herabfallende Wasser fließt in Strömen über seine Stirn, seine Wangen und schließlich den Hals entlang, bis es sich in den durchtränkten Textilien verliert. Er friert. Ich kann seine zu einer Gänsehaut aufgestellten kleinen Nackenhärchen sehen. Sein flacher Atem entweicht als kleine weiße Nebelschwaden seinem Mund, den er leicht geöffnet hat. Seine Brust hebt und senkt sich schnell.
 

Wieder ein zuckender, fauchender Blitz am Firmament, der alles für einen winzigen Augenblick in grelles Licht taucht. Dann herrscht Finsternis.
 

Seine zitternden Finger krallen sich in meine ebenfalls durchweichte Kleidung. Er sieht mir ins Gesicht, doch seine Augen wirken weiter ausdruckslos und leer.

>>Du Bastard! Wagst es auch noch, dich so keck vor mich hinzustellen. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Ich lasse das nicht mit mir machen, klar?! Und jetzt gib mir endlich das verdammte Geld zurück!" Ich bewege mich nicht und ich antworte ihm nicht, denn ich bin nicht derjenige, den er sucht. Ich bin jemand, nein, etwas, ein Ding, dem er nie hätte begegnen dürfen, denn nun, indem er mit mir in Berührung kam, hat er unwiderruflich die Signatur auf seine Fahrkarte ins Jenseits gesetzt. Sein Schicksal ist entschieden, es wird durch meine Hand vollbracht werden, ohne dass er es sich aussuchen geschweige denn noch verhindern kann. Und ich kann es genauso wenig beeinflussen. Vielleicht nicht jetzt sofort, aber irgendwann, irgendwann werde ich ihn in den tiefen dunklen Schlund des Todes stoßen.

Er will versuchen, mich zu ihm nach unten zu ziehen, aber er kriegt nur den dünnen Fetzen meines Kragens zu fassen. Ich dagegen bleibe regungslos und starre auf ihn hinab. Erst, als ich seine klammen Finger mit einer leichten Handbewegung von meinem Hemd löse, tritt er einen kleinen Schritt zurück. Er wirkt verunsichert und nun auch ein bisschen ängstlich.
 

Seine Augen ruhen auf mir, und mir kommt es vor, als bliebe die Zeit stehen. Wie versteinert sehen wir uns gegenseitig an, ohne uns zu bewegen. Selbst der Wind scheint nachgelassen zu haben, um uns diesen Moment, diese elektrische Stille zu gewähren. Nur der Regen prasselt weiter unaufhörlich auf die Erde und lässt sich von Nichts und Niemandem aus der Ruhe bringen. Ich spüre seinen musternden Blick auf meinem Körper, und es verleiht mir ein kribbelndes, mir völlig fremdes Gefühl, ein Schauer durchfährt meine Gliedmaßen. Ich will nicht, das es aufhört, doch plötzlich dreht es sich auf dem Absatz um und läuft nahe der schützenden Wand wieder auf die Seitengasse zu, aus der er gekommen ist. Bevor er in dem Gang verschwindet, ruft er mir zu: >>Wegen dir ist er mir entkommen. Ich war so verdammt nah dran und du kommst mir in die Quere!<<

Er lässt mich alleine in dieser kalten verregneten Nacht zurück. Es ist so, wie es schon immer war und wohl auch immer bleiben wird. Ich verwandle mich wie schon so oft in Luft für meine Umgebung. Ich bin nur ein überflüssiges Geschöpf, das niemanden hat und welches niemand braucht. Und so soll es auch sein. So ist meine Bestimmung. Doch dieses Mal tut es weh. Es tut weh, allein und ungeachtet gelassen zu werden. Es tut weh, zuzusehen, wie mich jemand anschaut und fesselt und dann wie einen Stein fallen lässt. Zum ersten Mal tut es weh, kein Mensch zu sein.
 

Schwarz. Alles um mich herum ist schwarz. Kein Licht, keine Farben und keine Geräusche. Nur vollkommene Schwärze umhüllt mich. Es ist weder kalt noch warm. Es gibt keine Erde und keinen Himmel, keine Sonne und keinen Mond. Ich fühle nichts. Ich habe keinen Körper, keine Beine mit denen ich laufen und keine Hände mit denen ich greifen kann. Nichts. Es ist einfach nichts mehr da. Nur meine Gedanken kreisen umher wie aufgescheuchte Hühner. Sie kommen aus dem Nichts und verwirbeln, so dass ich es kaum schaffe, sie auseinander zu halten. Und dann verschwinden sie wieder, aber nur um Platz für neue zu machen. Zuerst ist alles unklar und verwischt. Sie gehen wie flüssige Farben ineinander über und verschmelzen zu einem undefinierbaren Gemisch aus alten und neuen Erinnerungen und unwirklichen, wirren Fantasien. Aus diesem Wirbel kann ich einzelne klaren Bilder aufreißen und festhalten, bis sie von neuen Gedankenflüssen mitgerissen werden und im Durcheinander untergehen.

Zu den Bildern drängen sich Geräusche, kreischende Stimmen und Rufe. Und bald eine mir vertraute Stimme. Ich kann die Worte nicht erkennen. Ich kann nicht verstehen, was sie mir zuruft, wie sie mich fast anschreit. Sie ist zu verzerrt und ihr Klang auseinandergerissen. Nur einzelne Bruchstücke von Buchstaben vermag ich zu identifizieren.

Dann plötzlich wird es deutlicher. Ich verstehe die Wörter, ich weiß, von wem sie kommen und was sie bedeuten. ,Und du kommst mir in die Quere!' Laut hallen sie durch meinen Kopf, sie erfüllen meine Sinne und meinen Geist. Und obwohl diese liebliche Stimme etwas so wunderbar Sanftes und Unschuldiges an sich hat, erscheint es mir als zerreiße sie meine Seele. ,Ich war so verdammt nahe dran!' Wie eine gewaltige Explosion hämmern die Laute auf meine Ohren und auf meinen gesamten Körper und ich fühle die unglaubliche Gewalt, die von ihnen ausgeht. Dann erscheint mir sein Gesicht aus der vollkommenen Dunkelheit, welches ich für einige Augenblicke so intensiv betrachtet habe, welches ich betrachten durfte. Sein weiches Gesicht mit der zarten rosigen Haut und den vollen Lippen und den wunderbarsten Augen, die mich jemals angeschaut haben. Noch jetzt spüre ich dieses Kribbeln, welches sich in mir ausbreitete, als er in meine Seele blickte, durch die äußere schlichte menschliche Fassade hindurch direkt in mein Herz. ,Wegen dir ist er mir entkommen!' Wie tausend scharfe Messerstiche durchbohren mich seine Worte und füllen meinen Kopf, sie verdrängen alle anderen Gedanken, die bis dahin in meinem Innern gefochten haben. Ich sehe, fühle und höre nur noch ihn. Überall ist er, nur noch er.
 

Als ich vorsichtig meine Augen öffne, werde ich von dem grellen Schein der Sonne geblendet. Obwohl es den Anschein erweckt, als würden jeden Augenblick lauter kleine Frühlingsblumen aus der Erde sprießen und die herrliche Wärme genießen, ist es doch bitterkalt. Der eisige Wind, der über den hart gefrorenen Boden fegt, zerrt an meiner locker sitzenden Kleidung, durchdringt jede einzelne Faser und verursacht auf meiner Haut eine schaurig kalte Gänsehaut. Wie lange ich hier gelegen habe, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin und überhaupt, warum ich mich an nichts erinnern kann. Einzig diese unerträgliche Verwirrtheit sitzt mir in den Knochen und nagt an meinem klaren Denkvermögen. In meine Magengegend hat sich ein tiefes Schuldgefühl gefressen und lässt mich nicht mehr still sitzen.

Ich kann nicht mehr. Ich brauche es. Ich will es. Ich muss fühlen, wie unter meinen Finger das Leben langsam aus den Knochen weicht und die leblose Hülle zurück lässt. In meinem scheinbar ewigen Schlaf hat sich das Verlangen nach töten eingeschlichen, und ich kann es nicht mehr ignorieren. Ich bin zu schwach, es weiter zu verdrängen. Erst hat es nur an der Oberfläche gekratzt, dich nun durchbricht es die abwehrende Schicht und frisst sich in meinen Körper, in meine Sinne, in mein unreines Fleisch.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  -East-
2006-03-18T12:18:52+00:00 18.03.2006 13:18
Wow....
*weis nicht was sie sagen soll*
Die Geschichte ist ja wohl der ober hammer schlecht hin...
Total klasse geschrieben von dir und dein Schreibstyl ist großartig!
*das auch können will*
Man sieht wirklich dass dich das Ganze echt viel mühe und arbeit gekostet hat!!!
Mach bloß weiter so... ^.~

Bye East
Von: abgemeldet
2006-03-07T14:30:17+00:00 07.03.2006 15:30
Ai~iii!!!
Was soll man dazu sagen??? Einfach klasse!!!^^ Kann hoffentlich bald noch mehr lesen!!! *schon ganz gespannt desu*

*knuff*

PS: Ich glaub, ich fang au bald ma an!!! Du musst mich zwingen!!! Unter Druck arbeite ich am besten!!! Oder sollte ich sagen, ich arbeite fast nur unter Druck!?! Du weißt schon, was ich meine!!! ~^0^~
Von: abgemeldet
2006-03-05T19:53:57+00:00 05.03.2006 20:53
nett geschrieben, ich ünschte, ich könnte auch so schreiben... gib mal was von deinem talent ab^^
Muss dich viel arbeit gekostet haben, Respekt!
mfg julius


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