Die Anreise
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Für in dieser FF auftretende Fremdwörter aus dem Go-Milleu empfehle ich den Go-Bereich auf Animexx
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Es war ein ganz normaler Freitagabend. Die 17-jährige Marie, blond, mittelgroß,
wunderschön, stand wie so oft in diesem Jahr an "ihrer" Autobahnraststätte,
von der aus sie schon fast ganz Deutschland bereist hat. Irgendwie war es gar
nicht in ihrem Sinne, mit der Bahn zu fahren. "Echte Fans brauchen keinen
Schnickschnack wie Bahn oder Autos!!!". Also stand sie da, neben dem Brummis
und erkundigte sich mit Hilfe der Kennzeichen nach einem Brummi, der den
Weg zum nächsten Turnier einschlug. Dummerweise regnete es seit etwa zwei
Stunde, was genau der Zeit entsprach, die sie schon auf einen LKW wartete.
Endlich fand sie einen: "Berlin-Hamburg 4x täglich". Und da er in Richtung
Berlin unterwegs war, stieg sie ein. Ihren Eltern war schon lange egal, wo sich
ihre Tochter befand. Solange sie über das Handy totale Kontrolle über ihre
Tochter ausüben konnten ("Wir wollten uns nur mal melden. . . " "Wir haben
uns Sorgen gemacht" "Wir wollten mal was von dir hören"). Der Brummifahrer,
ein etwa 50 jähriger Mann, der so ziemlich jeden schlechten Witz kannte, den
jemals ein Lehrer seinen Schülern erzählte, erachtete es als sinnvoll, ihr jeden
einzelnen zu erzählen, um wenig später in etwa fünfminütige Lachschübe zu
verfallen.
Unbemerkt wechselte ein 50 Euro Schein den Ort: Aus der Briefbörse in die
Hosentasche, und sie dachte dabei nur daran, dass Bahn Fahren ja doch nicht so
schlecht sei; immerhin kann man mit mehreren Leuten fahren und dabei die eine oder andere Partie analysieren oder spielen. Nach drei endlosen Stunden brutalster Folter war sie endlich in Berlin angekommen. Nun galt es, den Weg zum
Spielort zu finden. Ihren Laptop hatte sie immer dabei; wie sie es schaffte, ohne ihn zur Schule zu gehen, ist mir bis heute ein Rätsel.Wenig später kannte sie den Weg, und machte sich auf, um rechtzeitig noch einen Schlafplatz zu ergattern.
Leider waren die Turnhallenschlafplätze schon belegt, was für sie bedeutete,
dass die ausgiebigen Nachtgespräche wohl in einem begrenzteren Personenkreis
stattfinden würden müssen. Als sie dann aber sah, bei wem sie übernachten
sollte, überschlugen sich ihre Augen. Der Go-Spieler war keinesfalls bekannt,
aber ein Mensch der Sorte, die ihr sofort ins Auge fielen: Er war an die 20 Jahre alt, hatte braunes, nun aber Schwarz gefärbtes Haar, einen Dreitagebart, der seinesgleichen suchte, im Gesicht eine Brille, die die braunen Augen gekonnt
zur Geltung brachte, und weiter unten einen kleinen Bauch. Maries Exfreunde
hatten immer die unangenehme Tendenz, in der Beziehung mit ihr so an ihrem
Körper zu feilen, dass der Bauch, den sie so knuddelig-flauschig-toll fand,
in kürze verschwunden war, und damit unberechenbare Beziehungsdiskussionen
vom Zaun brachen. Aber dieser Mann war anders: Der Bauch schien ein Teil
eines ganzen zu sein; mit Stolz getragen, nicht übermäßig groß, aber auch nicht
zu klein. Eben grade so, wie sie ihn möchte.
"Ich bin Lars" trat er aufrichtig lächelnd auf sie zu. "Und du bist?" "M-m-marie" antwortete sie, immer noch überwältigt von dem ungezähmten Bart. "Ich spiele 11 kyu, und du?" "Auch so um die 11 kyu, aber ich kann Go eigentlich
gar nicht. . . " Noch im Satz nahm er ihr Gepäck und drehte sich ab. "Komm,
wir gehen erstmal zu mir, da kannst du dich von der Reise erholen!" "Hmhm"
antwortete sie noch immer in Gedanken versunken. Der Weg war nicht allzu
kurz, und so begann sie, ihm die Witze zu erzählen, die SIE lustig fand. Er
brach fast nach jedem in schallendes Gelächter aus, und knappe 30 Minuten
später waren sie bereits in seiner Wohnung. Man konnte den Fernsehturm von
dort aus sehen, die Kugel hoch oben über Berlin. Sie war schon immer begeistert
von der Geometrie der Kugel und von dem Fernsehturm. In Hamburg hatte sie
schon unzählige Male den Heinrich-Hertz-Turm bestiegen, doch in der Kugel war
sie noch nie. "Hier - deinen Schlafsack brauchst du gar nicht auszupacken. Hab
Dir alles fertig gemacht.". "Danke" flüsterte sie mechanisch aus ihren Gedanken
gerissen. Dieser Mann war anders als die Anderen, höflich, nett, charmant, das
hatte sie schon in der S-Bahn gemerkt, und doch männlich und kein Weichei wie
Carsten, ihr letzter Freund. "Ich hab von dir schon viel gehört" sagte er plötzlich.
"Wie viel gehört?" Das konnte doch gar nicht sein? Sie war auf vielen Turnieren
gewesen, ja, aber hatte sich ihr Ruf auch bis nach Berlin rumgesprochen? "Ja,
du hast viele Witze erzählt" "Puhh, ich dachte schon, du meintest was anderes!"
"Ach, das mit dem Bahn Fahren?" Sein Lächeln verwandelte sich in ein breites,
aber immer noch freundliches Grinsen. "Ja, dann stimmt das also?" "Ja. . . " kam
die Antwort fast gehaucht. "Du bist bestimmt ganz geschafft von der Reise! Leg
dich doch erstmal hin, während ich noch etwas zu Essen koche". Sie antwortete
gar nicht mehr; sie hatte sich längst schon auf sein Sofa gelegt, und das Gesicht in den Kissen vergraben. Er lächelte zufrieden, machte die Musik leise und ging in die Küche. Er hatte geplant, ein Reisomelett zu machen. Er fing an, kochte, und wenig später war alles soweit fertig, musste nur noch etwas in den Ofen.
Wie er sich dann, die Hände im Geschirrhandtuch abtrocknend in sein Zimmer
begab, fiel sein Blick - nachvollziehbarerWeise - auf Marie. Sie lag so friedlich da,
ihr Brustkorb hob ihren Körper gleichmäßig etwas an, und ihr Rücken, gespickt von kleinen Härchen lag unbedeckt da.
Liebevoll nahm er eine Decke und deckte sie zu, machte die Musik aus, und setzte sich auf einen Stuhl, um in Gedanken den Text von Aerosmith zu zitieren: "I could stay awake just to hear you breathing, watch your smile while you are
sleeping." Und so ließ er sie schlafen, denn er konnte gut verstehen, dass man
nach so einer Reise geschafft war.