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»Steig auf!«

[ Otayuri ]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Heeey, ihr Lieben! ♥
Ich hab tatsächlich meine eigene Deadline überschritten, argh. Ich wusste ja, dass das irgendwann mal passieren wird, aber dieses Unheil hätte ich abwenden können >O. Als ich mir die Deadline gesetzt habe, ist mir nämlich völlig entgangen, dass ich in den Tagen davo Urlaub mache. Und das Wochenende, meine liebste Zeit zum Schreiben, fiel einfach mal weg. Ich war zwar am Montag wieder da, aber ehrlich gesagt wollte ich nicht schnell schnell etwas schreiben, nur um pünktlich hochzuladen. Das wäre in diesem Fall sogar nach hinten los gegangen, denn dieses Kapitel ist unerwartet eines der Schwierigsten, die ich jemals geschrieben habe und besonders bei den letzten Absätzen ging mir gehörig die Flatter.... An dieser Stelle ein herzliches Danke an m0nstellar mit Zucker und einem Knutscha oben drauf, dafür, dass du nicht die Nerven verloren und dich zusammen mit mir da durchgekämpft hast.
Und selbstverständlich danke ich auch euch mal wieder für das tolle und regelmäßige Feedback.
Ohne euch wäre diese FF nur halb so viel wert.
Nun aber viel Spaß beim Lesen. Hoffen wir, dass Yuri seinen wohlverdienten Urlaub genießen kann.
Knutscha,
Anni ♥ Komplett anzeigen

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Teil zwölf: »Wellen«

Unsichtbar schwebte er im luftlosen Raum. Unter ihm lauerten düstere Abgründe, doch er fühlte sich seltsam sicher, als hätte sich eine schützende Hand über ihn gelegt. Zarte Finger passierten sein Gesicht, strichen über Augenbrauen und Nasenrücken und zeichneten heiße Pfade auf seine Haut. Sie knisterten und luden sich auf, jagten Stromstöße in seine Muskeln. Eine körperlose Macht paralysierte ihn, zwang ihn es auszuhalten. Es war Belohnung und Strafe zugleich.

»Yuri.«

Trüb und verschwommen formten sich Licht und Schatten. Sie lagen nebeneinander und blickten in den Himmel. Der Mond schien näher, als jemals zuvor und tausende Sterne glitzerten in der Nacht. Wasser rauschte um sie herum.

»Du hast echt gute Musik auf deinem Smartphone.«

NOX spülte tiefe Riffs durch seinen Körper, die schäumend gegen das Innere seiner Brust brandeten. Er wollte den Kopf drehen und ihn ansehen, doch sein Körper war wie versteinert. Wenn er nur die Hand ausstreckte, wie weich würde seine Haut sein? »Was machst du hier?«

Tief unter ihnen rauschte ein merkwürdiges Beben durch den Park heran.

Nur die Musik antwortete. Irgendwann drang ein leises Lachen an sein Ohr. »Es wird Zeit, damit aufzuhören.«

Die Wellen zogen sich zurück und hinterließen ein dumpfes Gefühl. Plötzlich fror er. »Womit?«

Er entfernte sich. Nur noch leise konnte er ihn hören, ein Wispern, nah an seinem Gesicht. »Dich selbst zu belügen.«

Geräuschlos brachen die Sterne über ihnen auf und offenbarten pechschwarze Leere hinter sich, haarfeine Risse zogen sich durch den riesigen Mond. »Aber ...« Seine eigene Stimme ächzte wie abgestorbenes Geäst. » … ich bin schwach.«

Ein weiteres Beben erschütterte den See. Wasser trat über das Ufer.

»Wach endlich auf, Yuri.«

Die Brandung griff nach ihm und schloss ihn in ihre kalten Arme. Verzweifelt versuchte er sich an ihm festzuhalten, doch seine Hände griffen ins Leere.

»Beka!«

»Yuri!«

»Yuri.«

 

»Yuri!«

Dunkelheit schlug über seinem Kopf zusammen. Er riss die Augen auf, fuhr blind nach oben. Seine Kopfhörer rutschten ihm von den Ohren.

»Hey, Yuri! Alles in Ordnung?«

»Häh?« Mehrmaliges Blinzeln formte ein Gesicht zu der Stimme neben ihm. Das Schweinchen taxierte ihn besorgt. Ohne zu Antworten sah er sich um. Reges Treiben herrschte. Stimmengewirr und Gepolter. Kein Park, kein See, kein Otabek. Nur das Innere des Flugzeuges. Sonne blendete ihn durch das Fenster und glitt mit heißen Fingern über sein Gesicht.

»Wir sind da. Du warst fast den ganzen Flug über nicht ansprechbar.«

Erholt fühlte er sich deswegen nicht, im Gegenteil. Sein Nacken fühlte sich an, als hätte er auf einem Nadelkissen geschlafen. Offenbar hatte er im Traum mit den Zähnen geknirscht, denn sein Kiefer spannte unangenehm. Und trotz der Hitze, die hier herrschte, war ihm kalt.

Neben dem Katsudon streckte sich Victor genüsslich, bevor er sich zu ihnen beugte. »Da waren die letzten Wochen doch ziemlich anstrengend, was? Wir haben dich nicht mal wachbekommen, als die Stewardess mit dem Essen kam.«

»Hmpf.« Yuris Magen unterstrich Victors Worte mit einem gewaltigen Rumoren. Noch immer etwas desorientiert schaltete er das Album von Otabek aus, das seit Stunden in Dauerschleife abgespielt wurde. Sein Smartphone war so heiß, dass es ihn als Wärmflasche hätte dienen können. Nur noch zwei Prozent Akku. Super.

»Mutter macht dir bestimmt gerne ein Katsudon, sobald wir ankommen.«

Tatsächlich munterte ihn das ein wenig auf. Zusammen mit den anderen beiden verließ er das Flugzeug. Die Bewegung tat ihm gut. Nur noch eine Stunde Zugfahrt, dann waren sie am Ziel. Das Wetter begrüßte sie mit guten fünfzehn Grad Temperaturunterschied zu Russland. Stöhnend zog Yuri seine Jacke aus und stopfte sie samt Smartphone in den Rucksack.

Im klimatisierten Zug atmeten sie auf. Makkachin, Victors loyaler Begleiter, streckte alle Viere auf dem kalten Boden aus und hechelte mit herausgestreckter Zunge. Der Flug schien ihn mitgenommen zu haben – kein Wunder, er hatte ihn, zum größten Unmut von Victor, im Laderaum verbringen müssen. Yuri sah die meiste Zeit aus dem Fenster und schenkte der Unterhaltung seiner Begleiter keine Beachtung. Er dachte über den Traum nach - oder zumindest über die wenigen Fetzen, die noch davon übrig waren. Doch auch die verblassten jetzt, wurden leblos und grau, bis er sich an nichts mehr erinnern konnte, außer an Otabeks Stimme.

 

Der Zug hielt und riss Yuri aus seiner Trance, die ihn beinahe wieder hatte einschlafen lassen. Am Bahnhof wartete Yuuris Vater, der sie freudig mit einer kräftigen Umarmung begrüßte. Unter der heißen Sonne dem Zerfließen nahe, wuchteten sie ihre Koffer in das geräumige Auto und ließen sich im klimatisierten Fahrbereich nieder. Während eine angeregte Unterhaltung und der Austausch der überschaubaren Neuigkeiten in Hasetsu entbrannte, widmete sich Yuri seiner neuesten Lieblingsbeschäftigung: Die Landschaft zu beobachten, die der von Sankt Petersburg so unähnlich war. Wo in Russland Häuser hundertmeterhoch in den Himmel ragten, gab es hier nebelspitzige Berge und klaren Himmel ohne Rauchschwaden. Fahrradfahrer anstatt Schnellzüge, verzierte Brücken über kleinen Flüssen ersetzten Strommasten und Fabriken. Schlendernde Leute mit Eiscremetüten in der einen und kleinen Kindern an der anderen Hand. Ein beschaulicher, idyllischer Ort, der scheinbar weder Hektik noch Sorgen kannte. Hasetsu war wunderschön. Hatte Yuri das nie bemerkt, oder einfach nur vergessen? Noch immer hing sein Blick am Panorama hinter dem Fenster und wären sie nicht so plötzlich angehalten, hätte Yuri wohl den ganzen Tag im Auto verbracht.

Er stieg als letztes aus, atmete mit tiefen Zügen die warme Luft ein. Vor dem Zuhause der Katsukis begrüßte sie eine geballte Ansammlung von Menschen. Viele unter ihnen waren Reporter und schon von Weitem hörten sie das Klicken und Surren der Kameras. Yuuris Vater warf ihnen einen entschuldigenden Blick zu.

»Deiner Mutter ist herausgerutscht, dass ihr uns besuchen kommt. Hier macht das schnell die Runde, wir werden schon seit Tagen belagert, na ja …«

»Nicht der Rede wert!«

Victor schien darüber regelrecht erfreut zu sein und schritt, das Katsudon und seinen Pudel hinter sich herziehend, auf die Meute zu. Gelassen, als hätte er nur einen Spaziergang und keinen mehrstündigen Flug hinter sich, hob er eine schlanke Hand und winkte. Sofort stürmten sie auf sie zu, hielten Mikrofone in ihre Richtung, schwenkten Kameras vor ihren Gesichtern und wollten sich gegenseitig mit ihren Fragen übertrumpfen.  Allerdings teilte sich die Menge nur Augenblicke später, um sie durchzulassen, nachdem Victor ein paar Worte gesagt hatte. Die Presse in Hasetsu schien bei Weitem nicht so aufdringlich, wie in Russland oder anderen größeren Ländern und zog ziemlich schnell wieder von dannen.

Yuri stampfte ihnen hinterher, froh darüber, dass man ihn halbwegs in Ruhe ließ. Trotzdem war er gezwungen, ein paar anwesenden Mitgliedern seines Fanclubs zuzuwinken – sehr bemüht, sie nicht mit seinem Blick zu erdolchen. Herr Katsuki bildete die Nachhut und schloss die Tür hinter ihnen. Die einkehrende Ruhe dauerte nur wenige Sekunden, bis ein Schrei sie durchdrang. Im nächsten Moment polterte es, denn irgendjemand hatte das Katsudon mit einer heftigen Umarmung zu Boden gerissen.

»Yuuri! Yuuri!«

»Isser’s wirklich?«

»Ja, er isses!«

»Mach ein Foto!«

»Das muss auf Twitter!«

»Und Facebook!«

Ungeniert patschten kleine Hände auf seinem noch immer hochroten Gesicht herum.

»Runter von mir, ihr seid schwer!« Unter Lachen schob er die Drillinge seiner Kindheitsfreundin Yuuko von sich, helfende Hände zogen sie nach oben und plötzlich fanden sich alle drei in Begrüßungsgeschrei und Händeschütteln wieder. Konfettikanonen platzten und bunte Schnipsel flogen durch den Raum, als wären sie zehn Jahre fort gewesen. Alle Personen, die dem Schweinchen nahestanden, waren im Restaurant versammelt. Es herrschte Chaos, denn jeder wollte jeden an sich drücken. All die liebevolle Aufmerksamkeit, auch ihm gegenüber, obwohl sie ihn kaum kannten, ließ Yuris Magen zusammenschrumpfen. Bemüht lächelnd brachte er die Zeremonie hinter sich und nach gefühlt hundert Umarmungen ertönte ein lauter Knall. Minako, des Schweinchens ehemalige Ballettlehrerin, hatte eine riesige Champagnerflasche entkorkt und schon jetzt glühten ihre Wangen in freudiger Erwartung.

»Nicht so hastig, Minako-san! Lass die drei doch erst einmal ankommen!«

»Nichts da! Ein Glas zur Begrüßung ist Pflicht!« Unwirsch und trotzdem elegant drehte sie sich so, dass Frau Katsuki nicht an die Flasche herankam, erntete dafür allgemeines Gelächter und Resignation Seitens Yuuris Mutter.

»Also gut.«

Schnell waren die Gläser gefüllt und johlend wurden die drei Urlauber mit Champagner willkommen geheißen – für Axel, Lutz und Loop diente Ramune mit Erdbeergeschmack der Zelebrierung.

Victor und sein Katsudon leerten ihre Gläser in einem Zug, während Yuri – diesmal deutlich schlauer, als vor wenigen Monaten – lediglich daran nippte.

»So, jetzt aber ab mit euch ins heiße Wasser!« Yuuris Mutter drückte sie liebevoll in Richtung des Badehauses. »Entspannt euch ein wenig, wir kümmern uns um alles andere.«

»Danke, Mutter.«

Zehn Minuten später fanden sich die drei in angenehmer Hitze wieder. Auch wenn die Temperaturen draußen unerträglich waren, entspannten sie zusehends unter dem Plätschern des Brunnens. Die heißen Quellen schienen die Verspannungen regelrecht aus ihren Gliedern zu saugen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, der Dampf trug ihre Gedanken in verschiedene Richtungen und Yuri fühlte sich schläfrig, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Doch unter der Müdigkeit kämpfte sich noch ein anderes Gefühl nach vorn: Aufregung. Er war noch nie im Urlaub gewesen – zumindest in den letzten zehn Jahren nicht mehr – und eine kindliche Freude packte ihn bei dem Gedanken, einfach mal nichts zu tun und zu entspannen.

»Ich glaub das reicht, sonst verschrumpeln wir noch. Kommst du auch, Yurio?«

Er hob den Kopf, fuhr sich durchs nasse Haar und nickte. Irgendjemand hatte für sie weiche Handtücher und gemütliche Yukatas bereitgelegt. Yuri schlüpfte hinein und fühlte sich wie im siebten Himmel. Auch Victor und das Schweinchen hatten sich offensichtlich von dem langen Flug erholt. Ein gesundes Rosa zog sich über ihre Wangen und ließ ihre Augen trotz des Jetlags strahlen. Ohne in einen Spiegel sehen zu müssen ahnte Yuri, dass er vermutlich ähnlich aussah. Vom Restaurant wehte ein köstlicher Geruch in ihre Nase, Fußgetrappel und fröhliche Musik begrüßten sie.

»Hmpf. Die veranstalten ja ein richtiges Festessen für uns. Hast du davon gewusst?« Yuri war die Sache nicht geheuer. So viele Leute auf einem Haufen – wo doch jeder wusste, dass er nicht sonderlich geübt in gepflegter Konversation war.

Yuuri hob beschwichtigend die Hände. »Nein, nein! Mutter hat gesagt sie bereitet eine Kleinigkeit vor, aber, äh … Naja. Ich hätte es wissen müssen.«

Victor legte ihn einen Arm um die Schultern. »Du hast eine großartige Familie. Wir sollten uns später dafür bedanken.« Yuri hingegen schenkte er ein spitzbübisches Augenzwinkern. »Sei einfach du selbst, dann brauchst du auch nicht nervös zu sein.«

Hitze schoss ihm ins Gesicht. »Schnauze!« Fahrig zupfte er sich den Yukata zurecht, um etwas mit seinen Händen zu machen. »Der Spruch war schon beim letzten Mal für die Tonne!«

Sein Lachen bescherte ihm eine unangenehme Gänsehaut. »Er hat funktioniert. Und das ist die Hauptsache, oder?«

»Ach, verschone mich mit deinem Gewäsch!« Er sprach extra laut, um das protestierende Rumoren seines Magens zu übertönen. »Gehen wir jetzt, oder wie? Ich hab‘ keinen Bock, elendig an Unterernährung zu verrecken!«

Dem gab es nichts entgegenzusetzen. Das Restaurant erwartete sie mit zusammengeschobenen Tischen, einer ganzen Wagenladung an himmlisch duftenden Gerichten und literweise Getränken, von denen Yuri vorerst lieber die Finger ließ. Das Holz ächzte und bog sich unter der Last. Yuuri und Victor bekamen einen Sitzplatz zwischen den Herren des Hauses und wurden direkt in peinliche Gespräche über etwaige Zukunftsplanungen verwickelt. Yuri wollte bereits in Panik verfallen, dass die einzigen Leute, die er kannte, ihn einfach im Stich ließen. Doch dann sah er eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Yuuko winkte ihm zu und klopfte anschließend mit der rechten Hand auf einen freien Platz neben sich. Erleichtert atmete er auf. Zu ihr hatte er, seiner abweisenden Art zum Trotz, damals einen guten Draht herstellen können, der offensichtlich auch jetzt noch bestand. Er freute sich, sie wieder zu sehen und nichts ließ ihn spüren, dass ihr letzter Kontakt schon über ein Jahr zurücklag. Sie verstand es auf wundersame Art und Weise, ihre Gespräche am Laufen zu halten, ohne dass es peinlich oder unangenehm still wurde. Und als Yuri mit vollem Magen sein erstes Bier leerte, fiel auch das letzte bisschen Anspannung von ihm ab. Irgendwann fand er sich in leidenschaftlichen Gesprächen über das Eislaufen, über die Schule und sogar über Musik verwickelt. Selbstbewusst empfahl er jeden, der danach fragte, oder zumindest in nächster Nähe saß, das Album NOX – mit den Worten, dass jeder, der das nicht mögen würde, einen absolut lauchigen Musikgeschmack hätte. Sogar seinen passablen Schulabschluss erklärte er damit, dass während der Lernphasen permanent diese LP im Hintergrund gelaufen war.

»Wir haben es kapiert, Yurio!« Victors Gesicht leuchtete wie eine Ampel, der Champagner in seinem Glas schwankte bedrohlich. »Du liebst dieses Album!«

Nachdrücklich knallte er die dritte geleerte Katsudon-Schüssel auf den Tisch, um seine Worte zu unterstreichen. »Ja! Ich … ich liebe es wirklich.«

Victor und sein Anhängsel strahlten ihn an und zum ersten Mal war ihm das nicht unangenehm.

Irgendwann waren die Gläser leer, die Speisen verzehrt, die Musik leiser gedreht. Viele hatten sich bereits verabschiedet. Nur noch Yuuko und Takeshi samt schlafender Drillinge waren übriggeblieben. Makkachin lag zu Victors Füßen und ließ sich, froh, dass der Trubel langsam abklang, die Ohren kraulen. Sie sprachen über ihre Urlaubsplanungen. Yuri versuchte krampfhaft Ausreden zu finden, um nicht mit in den Tempel gehen zu müssen. Allein der bloße Gedanke daran ließ seine Schultern vor Schmerz aufheulen. Die Schläge mit dem Kyosaku waren unvergessen und auch wenn Yuri damals selbst darum gebeten hatte, war der Tempelleiter nicht gerade zimperlich gewesen. Auf eine weitere Behandlung konnte er getrost verzichten.

»Da putz ich lieber die Eishalle mit meiner Zahnbürste, als dort nochmal einen Fuß reinzusetzen. Vergiss es, alter Mann!«

»Wir könnten tatsächlich jemanden brauchen, der die Eishalle putzt.« Yuukos Finger strich überlegend über ihr Kinn.

»So wörtlich war das auch nicht gemeint!« Yuris Rückzieher ging in schallendem Gelächter und Makkachins freudigem Gebell unter.

»Ach, was gebe ich mich überhaupt mit euch ab! Ihr seid meiner unwürdig!« Leider nahm das Lallen seiner Stimme die benötigte Härte, deswegen stand er auf, um seine Ernsthaftigkeit zu demonstrieren. »Ich werde weder mit euch in diesen ollen Tempel gehen, noch die Eishalle putzen!«

»Geh lieber ins Bett, Yurio! Sonst endet dieser Abend wieder mit Kopfschmerzen!«

Yuri war für eine Erwiderung zu müde und zeigte Victor nur seinen stolzesten Mittelfinger, bevor er sich kurz angebunden verabschiedete. Sein zur Verfügung gestellter Raum, damals nur eine Abstellkammer, war minimalistisch für ihn eingerichtet worden. Ein weicher Futon lag für ihn bereit. Dort, wo sich bei seinem ersten Aufenthalt noch Kisten stapelten, stand nun ein Kleiderschrank. Es roch nach Lavendel und Jasmin. Der Duft ließ seine Augen schwer werden. Wie sein Koffer seinen Weg in das Zimmer gefunden hatte, konnte er nicht sagen. Irgendjemand musste ihn heraufgetragen haben. Dankbar entkleidete er sich, setzte sich auf den Futon.

Doch bevor er einschlief, wollte er noch seine freundschaftliche Pflicht erfüllen. Zu müde, um zu tippen, entschied er sich für eine Sprachnachricht an Otabek.

»Hey. Ich … ich hab ein bisschen was getrunken, also, falls ich lalle, äh, … mhm, ignorier das einfach. Wir sind gut angekommen. Die Katsukis sind völlig verrückt und haben ‘ne Überraschungsparty für uns geschmissen, deswegen melde ich mich erst jetzt. Ich hab mein eigenes Zimmer …«

Er bemerkte, dass er belangloses Zeug quasselte, also zog er sein Tempo an. »Ich … es ist schön hier, aber ich … ich find‘s scheiße, dass wir uns verpassen. Aber …« Ein tiefes Gähnen unterbrach ihn für einen Moment. »Ich wünsch dir trotzdem viel Spaß in Russland …« Unschlüssig, ob er noch etwas sagen sollte, verharrte sein Finger auf dem Mikrofon. Doch dann ließ er los und schickte die Sprachnotiz ab, sah zu wie irgendwo in Kasachstan zwei blaue Haken aufflammten und ihn zeigten, dass Otabek noch wach war und die Nachricht soeben abhörte. Die eigentliche Frage brannte unausgesprochen auf seiner Zunge.

Was machte er in Russland?

 

Für Yuri war das Gefühl auf der faulen Haut zu liegen seltsam ungewohnt. Die ersten Zwei Tage hatte er eher wie auf heißen Kohlen verbracht, immer mit dem Gefühl im Nacken, etwas vergessen zu haben. Victors und Katsudons Ratschläge – sich einfach zu entspannen – brachten nur bedingt etwas. Immer wieder ertappte er sich bei den Gedanken an seine Küren oder an die Schule. Zur Ablenkung ging er spazieren, erkundete allein fremde Winkel der kleinen Stadt oder sah einfach nur aufs Meer hinaus und genoss das Kreischen der Möwen in seinen Ohren. Die Stadt zu erforschen lenkte ihn ab, er entdeckte winzige Cafés in Seitenstraßen, unbekannte Klamottenläden mit einer nahezu skandalösen Auswahl an Tigerprints und Museen, die Hasetsus Geschichte erzählten. Regelmäßig schoss er Selfies, um sie Otabek zu schicken. Er schien schwer beschäftigt, antwortete aber wie immer freundlich und interessiert auf seine Nachrichten. In vier Tagen, so schrieb er, würde er nach Russland fliegen. Die Frage nach dem Warum brachte Yuri fast um den Verstand. Doch mal wieder hatte sich herausgestellt, dass unter seiner harten Schale ein wahrer Feigling wohnte. Er bekam einfach seine Zähne nicht auseinander, um ihn danach zu fragen. Es kam ihm unhöflich vor, irgendwie intim. Zu intim für ihn, auch wenn sie Freunde waren. Aber vielleicht gab es einfach Dinge, die man mit niemandem teilte. Yuri glaubte, dass das so eine Sache war. Und trotzdem keimte in ihm still die Hoffnung, dass er es irgendwann erfuhr.

 

Yuri Plisetsky – 28.05 15:45

»Hey, guck mal. :O :O Wie findest du das?«

 

Im Anhang schickte er ein Selfie aus der Umkleidekabine einer ziemlich teuren Boutique. Yuri trug ein provokantes, schwarzes Tanktop mit V-Ausschnitt, das mehr Haut zeigte, als richtig verdeckte. Ein X, das glitzerte, als hätte man eine Fee darüber ausgewrungen, zog sich quer über die Brust. Darüber trug er einen grelllilafarbenen Blazer mit dunklem Kragen, dessen Ränder ebenfalls mit Glitzer besetzt. Yuri war bekannt für seine exzentrischen Klamotten, doch selbst für ihn war diese Aufmachung … ungewöhnlich. Aber dieses Gefühl kannte doch jeder: Man sah etwas und verliebte sich darin.

 

Otabek Altin – 28.05 15:47

»Nun. Es ist ziemlich … gewagt.«

 

»Hmpf.« Yuri verzog das Gesicht. »Ziemlich unbefriedigende Antwort.«

Aber was hatte er auch erwartet?

 

Yuri Plisetsky – 28.05 15:49

»Siehts scheiße aus?«

 

Schon während er auf Senden drückte, bereute er diese Frage. Was versprach er sich davon? Selbst wenn Otabek es nicht mochte, ihm selbst musste es doch gefallen. Und das tat es. Sehr sogar. Falls der Tag tatsächlich kommen sollte, an dem sie zusammen einen Club unsicher machten, würde das definitiv sein Outfit sein - ohne Wenn und Aber. Trotzdem atmete er erleichtert auf, als er Otabeks Antwort las.

 

Otabek Altin – 28.08 15:50

»Nein.«

 

Otabek Altin – 28.08. 15:50

»;)«

 

Das kam einem Kompliment gleich. Damit war sein Kauf besiegelt. Auf Otabeks Geschmack war Verlass, wie er schon damals bei ihrer Shoppingtour in Almaty bewiesen hatte. Fröhlich verließ er die Boutique, das Herz ein ganzes Stück leichter – und sein Portemonnaie ebenfalls.

Zurück beim Onsen wurde er von Victor samt Katsudon empfangen.

»Hey. Wir wollten an den Strand. Die Hitze ist unerträglich.« Bei Victors Worten wedelte sein Pudel aufgeregt mit dem Schwanz.

Fassungslos hob Yuri die Arme. »Davon rede ich seit wir hier sind! Aber wer nicht hören will …« Er selbst hatte sich bereits an seinem ersten Tag ins kühle Nass geworfen. Ein Wunder, dass die beiden es so lang ausgehalten hatten, wo sie doch in Russland monatelang Minusgraden und hier jetzt plötzlich sommerlicher Hitze ausgesetzt waren. Das kalte Meerwasser müsste selbst für das Katsudon angenehm sein.

»Kommst du mit?«

»Ja, ja. Geht schon mal vor, ich zieh mich noch um.« Möglichst beiläufig ließ er die Einkaufstüte hinter seinem Rücken verschwinden, damit sie nicht zu genau hinsahen.

»Bis gleich!«

»Ja doch.«

Fußgetrappel, freudiges Gebell und das Tapsen von Pfoten, dann waren sie zur Türe raus.

Auf leisen Sohlen schlich er in sein provisorisches Zimmer, grüßte auf dem Weg dorthin freundlich Yuuris Eltern, die sich und dem Onsen ebenfalls eine Auszeit gönnten und die nächsten Tage keine Gäste bewirteten. Seltsam, wie herzlich sie ihn hier von Anfang an aufgenommen hatten. Und noch seltsamer war es, wie bereitwillig er diese Freundlichkeit erwiderte. Anscheinend brauchte der störrische, großkotzige Yuri ebenfalls eine Pause.

Schnell verstaute er seine Shoppingausbeute im Schrank, bevor er in seine Badehose stieg und sich Handtuch und Wechselsachen in den Rucksack stopfte.

Er brauchte nicht lang, um sie zu finden. Zusammen mit Yuri waren sie die einzigen Strandbesucher, die tatsächlich badeten. Offenbar wussten die Einwohner von Hasetsu das eiskalte Meerwasser nicht zu schätzen. Wahrscheinlich würde das nicht lang so bleiben, denn laut Wetterbericht bahnte sich eine Hitzewelle an. Ohne mit der Wimper zu zucken stürzte sich Yuri in die Fluten, Makkachin folgte ihm überschwänglich und riss ihn in seinem Eifer nieder. Als er lachend wiederauftauchte und sich das nasse Haar aus dem Gesicht schüttelte, sah er Victor und sein Schweinchen bis zu den Knien im Wasser stehen, die Arme vor der Brust verschränkt und nun doch nicht mehr so mutig, wie vorhin noch angekündigt.

»Kommt schon, ihr Looser! Selbst euer alter Hund ist mutiger, als ihr!«

»Naja, es ist doch kälter, als gedacht, also -«                                     

Yuri wollte gerade loskeifen, doch Makkachin verschonte sie alle davon: Für sein Alter ungewöhnlich schnell, sprintete er auf die beiden zu und unterbrach das Katsudon, indem er es einfach von den Beinen warf. In verzweifelter Hoffnung, sich irgendwo festhalten zu können, packte er Victor am Arm und riss ihn mit sich. Yuri bekam fast keine Luft mehr vor Lachen, deutete mit dem Finger auf sie, als sie hustend und prustend aus der Oberfläche brachen. Eigentlich war er kein Hundemensch, aber bei Victors Pudel musste er einfach eine Ausnahme machen.

»Das hättet ihr sehen sollen! Du hast rumgefuchtelt wie ein Irrer!« Er hielt sich den Bauch und krümmte sich, wischte Tränen aus seinen Augenwinkeln. »Der Wahnsinn!«

Leider bemerkte er ihr Anschleichen zu spät. Noch immer schnappte er nach Luft vor Lachen, dass ihm beinahe schlecht wurde und erst als er die Augen wieder öffnete, sah er ihre rachedurstigen Gesichter, keine zwei Meter von ihm entfernt.

»Oh verdammt, verpisst euch!« Er wandte sich um und watete so schnell er konnte tiefer ins Meer. Vielleicht wäre seine Flucht geglückt, wenn Makkachin nicht dabei gewesen wäre. Seine Zähne gruben sich gnadenlos in den Saum seiner Shorts und erschwerten sein Voranschreiten enorm. Verzweifelt versuchte er doch noch irgendwie zu entkommen, da hatten Victor und sein Schweinchen ihn schon überraschend kräftig zu beiden Seiten gepackt. An jeweils einem Arm zogen sie ihn rücksichtslos tiefer ins Meer.

»Wie heißt es doch so schön? Rache wird am besten kalt serviert!« Victors Stimme vibrierte gefährlich. »Ist ein altes Sprichwort!«

Yuri zappelte und wand sich, versuchte nach ihren Badeshorts zu grabschen, um sie ihnen herunter zu ziehen und so das Unheil abzuwenden, doch er hatte keine Chance.

»Genau!« Yuuri klang so, als würde er gleich den leidenschaftlichsten Eros tanzen, den die Welt je gesehen hatte. »Das habe ich auch gehört!«

»Nehmt eure Gichtkrallen weg, ihr Ar–« Das letzte Wort erstickte jämmerlich im kaltem Wasser. Sie hatten ihn tatsächlich untergetaucht! Nun war es an Yuri zu Husten und zu Prusten. Doch auch er war ein Meister der Vergeltung, was er sie nun recht schnell spüren lassen wollte.

 

Seit ihrem ersten gemeinsamen Ausflug an den Strand und Yuris epischen Gewinn einer actionreichen Wasserschlacht, waren sie überraschend oft zu dritt unterwegs - immer in Begleitung von Makkachin, der nicht von Victors Seite wich. Yuris anfängliche Skepsis hatte sich nach ihren ersten gemeinsamen Aktivitäten schnell in Luft aufgelöst. „Hasetsu ist ein magischer Ort, der seinen wahren Zauber erst entfaltet, wenn man die Zeit dort nicht allein verbringt“ war wohl eine beliebte Weisheit der Insel, die Yuuris Mutter ihnen mit erhobenem Zeigefinger am Esstisch vorgetragen hatte. Und mit jedem Ausflug, seien es Fahrradtouren oder Autofahrten bei offenem Dach, Picknicke, Besuche im Freiluftkino oder Wanderungen – die Yuri hasste, aber trotzdem irgendwie durchstand –, fand er ein Stückchen mehr Wahrheit darin.

Zu ihrer großen Erleichterung ließ die Presse sie dabei halbwegs in Ruhe. Ab und zu begegneten sie zwar vereinzelten Reportern und aufgeregten Fans, doch diese Treffen dauerten meistens nicht länger als zwei Minuten, bis sie wieder in ihrer verdienten Urlaubsruhe versinken konnten.

Und natürlich durfte auch ein Gang zur Eishalle nicht fehlen. Yuri brachte es nicht übers Herz, für eine so lange Zeit auf seine größte Leidenschaft zu verzichten und Victor und Yuuri, denen es wohl ähnlich ging, waren selbstverständlich sofort dabei. Zum ersten Mal fühlte es sich zwischen ihnen nicht nach Konkurrenz an. Sie liefen ohne groß darüber nachzudenken und verzichteten darauf, ihre Küren zu proben oder irgendwelche Techniken zu verfeinern. Das Gefühl des Eises unter ihren Kufen und der Spaß am Laufen ohne jeglichen Leistungsdruck stand im Vordergrund – und es war erfrischend und motivierend zugleich.

Ein absolutes Highlight ihrer Reise aber war das luxuriöse Hotel, nur eine Stadt weiter, für dessen Wellnessbereich sie von den Katsukis Gutscheine geschenkt bekommen hatten. Noch immer schüttelte Yuuri fassungslos den Kopf über „all das viele Geld“, trotzdem lösten sie die Gutscheine ein und der Tag voller Massagen, Saunagänge und Schwimmzügen laugte sie so dermaßen aus, dass sie noch bei Tageslicht erschöpft aber hochzufrieden in ihre Betten sanken. Sogar Victor, der seit Lebzeiten viel Wert auf seinen persönlichen Luxus legte, schwärmte noch Tage später davon, wie gut ihm die heißen Steine auf seiner Haut getan hatten.

Yuri hätte sich niemals träumen lassen, dass all das mit den beiden überhaupt möglich war, doch Täuschung war die größte List, denn Victor war weit weniger nervig und Yuuri bei weitem nicht so langweilig, wie immer vermutet. Tatsächlich musste er erschrocken feststellen, dass zwischen ihnen plötzlich eine beinahe beängstigende Sympathie herrschte, die er all die Zeit davor kein einziges Mal wahrgenommen hatte. Es war, als hätte Hasetsu ein unsichtbares Band geknüpft und sie miteinander verflochten.

 

Mittlerweile zählte das Baden im Meer zu ihren Hauptritualen, denn die Wetterprognose traf ein und überrollte die beschauliche Insel mit der versprochenen Hitzewelle, die jedes Fleckchen Haut ohne UV-Schutz sofort versengte. Mit einem Mal wimmelte es am Strand und im Wasser vor Menschen in Bikinis und Badehosen. Zu den Stoßzeiten fanden sie nicht einmal einen Platz für ihre Handtücher. Das tat ihrem Ritual allerdings keinen Abbruch. An besonders heißen Tagen ließen sie diese einfach zuhause und gingen nur in Badesachen los. Die Sonne trocknete ihre Haut schneller, als die beste Baumwolle der Welt es tun könnte.

Mal verging die Zeit wie im Flug, manchmal stand sie beinahe still. Wochentage verschwammen ineinander, Sonnenuntergänge ertränkten die Abende in goldenen Ozeanen. Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Doch selbst das emsigste Licht war nicht stark genug, um alle dunklen Abgründe zu erhellen.

 

Yuri trieb an der Wasseroberfläche, der rosafarbene Himmel flammte über ihm. Mit ausgestreckten Armen blickte er nach oben, ohne wirklich etwas zu sehen. Das Surfbrett, das ihn trug, hatte er im Schuppen der Katsukis gefunden und sofort ausprobiert – mit dem Ergebnis, dass er neben Eislaufen auch ein recht passabler Surfer war. Yuuri und Victor bezeichneten ihn als Naturtalent –, er hingegen glaubte einfach, dass seine sportlichen Voraussetzungen eine gute Grundlage boten. Gleichgewicht mussten sie schließlich auch auf dem Eis halten. Trotzdem waren seine Versuche nicht nur einmal in unangenehmen Tauchmanövern geendet.

Heute jedoch spürte er nicht den geringsten Ehrgeiz es erneut zu probieren. Schon durch den gesamten Tag zog sich eine seltsame Lustlosigkeit, begleitet von dem Gefühl, es sich selbst nicht recht machen zu können. Hoffnungslos hatte er es dennoch versucht und doch alle Aktivitäten schnell abgebrochen, weil er nur sinnlos Energie verschwendete. Gesellschaft half ihm auch nicht, im Gegenteil. Heute engte sie ihn ein. Verzweifelt vor sich selbst davonlaufend war er an den Strand geflüchtet, Victor und Yuuri kaum beachtend. Nicht einmal Makkachin konnte ihn aufheitern.

Er hasste diese Lethargie und ahnte doch den Grund dafür: Sein Smartphone, das stillstand. Otabek war seit zwei Tagen in Russland und obwohl er sich vorab bei Yuri entschuldigt hatte, scheinbar wissend, dass er kaum auf Nachrichten antworten würde, drückte diese plötzliche Ruhe seine Stimmung in den Keller. Eigentlich müsste er es gewohnt sein, da solche Tage der Stille zwischen ihnen nichts Neues mehr waren. Doch der Gedanke, dass Otabek in Russland war - ohne ihn - machte Yuri traurig und wütend zugleich.

Hier, weit draußen, fand er das erste Mal zur Ruhe. Das sanfte Schaukeln der Wellen lockerte seinen inneren Nebel auf. Wasser drang in seine Ohren und verschluckte sämtliche Geräusche, ließ ihn nur seinen Herzschlag wahrnehmen. Es dröhnte laut zwischen seinen Ohren und der Klang öffnete seine Lungen, packte alles um ihn herum in Watte. Die Sonne blendete ihn, doch er behielt die Augen offen, um zu verhindern, dass er einschlief. Wie lange war er schon hier? Er vermochte es nicht zu sagen, doch es mussten Stunden sein. Als er herausgeschwommen war, hatte der Himmel noch im schwerem Blau über ihm gehangen, mittlerweile wurde es von Minute zu Minute leuchtender. Erst lila, dann rosa und jetzt strahlend rot, während das Meer unter ihm weiter rhythmisch tanzte. Er konnte letztendlich doch nicht widerstehen und schloss die Augen.

Die Strafe folgte auf dem Fuß: Irgendetwas schweres rempelte ihn an und ließ ihn, vor Schreck mit den Armen rudernd, vom Surfbrett rutschen. Es ging so schnell, dass er nicht einmal aufschreien konnte. Als er nach Luft schnappend wiederauftauchte, war der Urheber des Tumultes schnell gefunden: Ein ziemlich nasser und vor Erschöpfung keuchender Makkachin. Unbemerkt war er zu ihm gekommen und offenbar hatte er die Entfernung unterschätzt. Auch Yuri, der zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten seine Umgebung wahrnahm, erschrak sich darüber, wie weit er herausgetrieben war. Der Strand war nur noch mit viel Fantasie auszumachen, die letzten Besucher lediglich winzige Punkte am Horizont. Auf den Rückweg freute er sich schon jetzt, doch zuerst galt es, den japsenden Hund vor dem Ertrinken zu bewahren. Es brauchte mehrere Versuche und viel Kraft, doch schließlich hatte er das arme Tier erfolgreich auf sein Surfbrett bugsiert, wo es mit herausgestreckter Zunge und halb der Ohnmacht nahe liegen blieb. Yuri selbst brauchte ebenfalls einen Moment, in dem er zitternd Luft holte und sich dabei am Surfbrett festklammerte.

»Du hast mich zu Tode erschreckt, du dummes Ding!« Entgegen seiner harten Worte, kraulte er ihn beruhigend die Ohren. »Wolltest mich wohl abholen kommen. Hast vielleicht Recht, ist bestimmt schon spät …« Tatsächlich verblasste der Himmel allmählich. Erste Sterne glommen auf und gegenüber der Sonne trat der Mond aus den Wolken. Noch dämmerte es nicht, doch Yuri war nicht sehr scharf drauf bei anbrechender Nacht ans Ufer zu schwimmen, also machte er sich direkt auf den Weg. Da das Surfbrett nicht genügend Platz für sie beide bot, musste er es schieben und sich auf die Kraft seiner Beine verlassen. Kein leichtes Unterfangen, aber machbar.

»Deinem Herrchen werd ich was erzählen! Dich einfach alleine so weit rausschwimmen zu lassen, geht’s eigentlich noch?« Mit der Stille war auch seine mühevoll erarbeitete Gelassenheit verflogen. Makkachin, mittlerweile wieder halbwegs munter, beobachtete ihn mit dem typisch trotteligen Gesichtsausdruck. »Blöder Penner!«

Wenigstens trieb die Wut ihn gut voran und knappe dreißig Meter vor ihrem Ziel sprang Makkachin zurück ins Wasser, um selbstständig ans Ufer zu schwimmen. Dankbar kletterte Yuri zurück auf das Surfbrett, jetzt mit beiden Armen rudernd. Trotzdem behielt er den Hund im Blick, um ihn im Notfall wieder in Sicherheit zu bringen. Dem Himmel sei Dank schafften sie die letzten Minuten ohne weitere Zwischenfälle. Victor erwartete sie bereits und kam seinem Haustier entgegen, das fröhlich jaulend, als wäre nie etwas gewesen, auf ihn zu paddelte.

»Makkachin! Gott sei Dank ist alles gut!«

»Danke nicht Gott, danke lieber mir, du Idiot!« Yuri schleuderte das Surfbrett von sich und atmete schwer, die Hände auf den Knien abgestützt. »Oder noch besser, danke Katsudons Eltern, dass sie mir dieses Ding ausgeliehen haben, denn ohne hätte ich ihn nicht so einfach wieder herbringen können!«

Dass er jedoch ohne dieses Teil gar nicht erst so weit davongetrieben wäre, ignorierte er in seiner Entrüstung völlig. Auch Victor sagte nichts weiter dazu. Er wirkte bestürzt und erleichtert zugleich.

»… Danke, Yuri.«

Yuri schnaubte und richtete sich auf. Wenn Victors Gesichtsausdruck nicht gewesen wäre, hätte er noch einen draufgesetzt. So jedoch beließ er es dabei. »Ja, ja, ist auch wieder gut jetzt! Wie spät ist es?«

»Gleich einundzwanzig Uhr. Du warst über drei Stunden da draußen. Es sah gar nicht so weit entfernt aus, sonst hätte ich Makkachin niemals allein zu dir geschickt.« Reuevoll drückte er seinen Hund an sich. »Vergib mir, mein Freund.« Für seinen haarigen Begleiter schien das Thema schon längst gegessen zu sein, denn er schleckte ihm in treudoofer Manier über das Gesicht.

Yuri ging zu seiner Decke und griff nach dem Handtuch. Jetzt, wo er aus dem Wasser und die Sonne verschwunden war, begann er recht schnell zu frieren. Flink trocknete er seine Haare und verstand die Worte nicht, die Yuuri, auf der Decke neben ihm liegend, an ihn richtete.

»Was hast du gesagt?«

»Dein Handy hat vorhin geklingelt.«

Yuri hielt in seiner Bewegung inne und sah ihn mit großen Augen an. »Oh.« Das konnte nur einer sein. Schon seit Tagen wartete er auf eine Antwort oder ein Lebenszeichen generell. Doch die Freude ebbte so schnell ab, wie sie gekommen war, als er sein Smartphone hervorkramte und lediglich eine Benachrichtigung von Instagram vorfand. Zutiefst enttäuscht wollte er sie schon wegwischen, doch der Name in der Nachricht zog seinen Blick an und ließ seine Bewegung erneut stocken.

 

Sieh dir otabek-altin’s erstes Foto auf Instagram an!

 

»… Oh, fuck.«

Er starrte auf das Display, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Eine leise Stimme wisperte in sein Ohr, warnte ihn, dieses Foto nicht zu öffnen. Yuri konnte sich nicht erklären, was ihn so beunruhigte, mit Ausnahme der Tatsache, dass Otabek niemals zuvor etwas auf Instagram gepostet hatte. Was bedeutete das? Bedeutete das überhaupt irgendwas? Er fühlte sich wie die Hauptfigur in einem billigen Thriller, wie jene dummen Personen, die schwachköpfig handelten und sich dem Mörder zum Fraß vorwarfen. Und obwohl er wusste, dass er einen Fehler beging, tippte er auf die Benachrichtigung und öffnete das Bild.

»… Oh, fuck …« Er hörte seine eigene Stimme, als würde jemand anderes mit seinem Körper sprechen.

»Alles okay, Yuri? Du bist ganz blass ...«

Yuuri und Victor kamen zu ihm, doch er beachtete sie kaum.

»Yuri?«

Irgendetwas regte sich in seinem Inneren. Etwas, das tief verborgen geschlafen hatte, schlug plötzlich dämonische Augen auf. Da war dieses Gefühl in seiner Brust. Es zog dumpfe Kreise durch seinen Körper und ballte sich schlussendlich in seinem Magen zusammen, verwandelte seine Muskeln in Treibsand.

Otabek lächelte. Für Yuri war es immer selten und kostbar gewesen, wertvoll und besonders. Etwas, das er nur ausgewählten Menschen schenkte - und jetzt präsentierte er es der ganzen Welt. Dieses strahlende Lächeln. Strahlend und glücklich - mit einem Mädchen im Arm.

Wäre Yuri eine Treppe heruntergestürzt, er hätte sich kaum miserabler fühlen können. Ihre mandelförmigen Augen leuchteten und langes schwarzes Haar umrahmte elegant ihr ovales Gesicht. Sie lächelte ebenfalls und sah wunderschön dabei aus.

Beinahe wäre ihm das Smartphone entglitten. Unwirsch schüttelte er eine Hand von seiner Schulter, die ihn offenbar beruhigen sollte, ignorierte den bestürzten Blick, den sich Victor und sein Katsudon zuwarfen. Auch sie hatten das Foto gesehen und Yuri wollte überhaupt nicht wissen, was ihnen gerade durch den Kopf ging und was sie glaubten, was er gerade dachte. Wo er es doch selbst nicht einordnen konnte.

Er ging noch einen Schritt weiter, scrollte nach unten, um den kurzen Satz zu lesen, den Otabek unter das Bild gesetzt hatte.  Natürlich wusste er, dass er damit nur noch mehr Schaden anrichtete, doch er konnte es nicht verhindern. Er fühlte sich wie eines der Fabelwesen aus einer uralten Geschichte, die sich bereitwillig in eine alles verzehrende Schwärze stürzten, weil sie wussten, dass es für sie kein Entkommen mehr gab. Die Grenze hatte er bereits mit dem Öffnen des Fotos überschritten. Und als seine Augen über die Buchstaben flogen, fragte er sich, ob diese Grenze jemals für ihn existiert hatte.

 

Endlich vereint. ;) Weitere Treffen folgen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Deadline für das nächste Kapitel ist der 21.08 :) Ich bin optimistisch es zu schaffen. :)
Bis hoffentlich bald,
Anni Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Seredhiel
2018-08-12T14:36:57+00:00 12.08.2018 16:36
oh man oh man oh man....

was für ein Kapitel :D so tolle Ereignisse :D
Yuuris Familie ist echt der Hammer, so liebevoll und herzlich, einfach toll ^^
Schön dass Yuri sich da wieder etwas auftanken kann, aber bin nun besorgt was er sich gerade ausmalt wegen dem Foto...

ohje ohje ich kann echt nur hoffen, dass das Mädchen nur eine Verwandte ist (Schwester, Cousine, oder was auch immer)
sonst wird das Yuri so richtig das Herz brechen. *ihn ganz lieb knuffeln muss*
du musst Ota fragen wer das ist, ihr Seid doch Freunde und da ist so eine frage doch normal :P
dann fühlst du dich hoffentlich besser.

tolles Kapitel, habe es sehr genossen zu lesen ^^
super gemacht und mach dir keine großen Sorgen ;)
*Schokokekse, Eistee und Eisbecher da lass*
Antwort von:  Gmork
07.09.2018 10:51
Hey Sere ♥
Sorry, ich hinke mit den Antworten schon wieder ziemlich hinterher (Und mit dem neuen Kapitel auch Q___Q HELP) - Aber ich habe mich über deine letzten Kommis total gefreut! Danke, dass du dir immer die Zeit dafür nimmst ♥
Ja, ich mag Yuuris Familie auch total gern :3
Ja, Yurio tut mir sehr leid. Ich habe richtig gelitten beim Schreiben :(
Ich hoffe für ihn, dass er schnell wieder auf die Beine kommt.

Ganz liebe Grüße,
Anni ♥
*Eistee schlürf*
*Schokokekse mampf*
*Eisbecher vernichtet*
Antwort von:  Seredhiel
07.09.2018 11:44
Huhu ^-^
mach du dir keinen all zu großen Stress deswegen ;)
wir schreiben gerne Kommis und eine Antwort muss nicht immer sein *kichert*

Yurio wird schon wieder. Ich hoffe nur er rappelt sich auf und findet den Mut Ota alles zu sagen, oder zumindestens ihm zu erklären warum er so ist XD oder wenigstens seine Unsicherheit ihm darbieten xD

Lass dich nicht ärgern ^.^
*Kekse und Tee da lass*
Von: abgemeldet
2018-08-09T15:52:25+00:00 09.08.2018 17:52
Puh, ich kann verstehen, dass das Kapitel schwer zu schreiben gewesen sein muss... Aber es ist sehr gut geworden, sei da mal unbesorgt ;) und ich lache immer sehr über deine Vergleiche - Handy warm wie eine Wärmflasche und so :) aber auch deine emotional-einfühlsame Schreibweise ist immer wieder beeindruckend. Wie miese Yuri sich fühlen muss bei dem Instagram-Post... Oder auch der Traum sind wirklich sehr schön beschrieben (auch wenn es natürlich kein angenehmer Traum war :/ )

Es freut mich sehr, dass Yuri mit Yuuri und Victor durch den Urlaub besser zurande kommt, und auch die Gastfreundschaft der Katsukis ist wirklich herzerwärmend :") könnte eine Ersatzfamilie für Yuri werden, also neben Lilia und Jakov (die ja auch nicht seine leibliche Familie sind). Und auch die Badeausflüge müssen sehr entspannt sein - bis auf den einen, beinahe verunglückten. Der arme Makkachin! Zum Glück ist niemandem etwas passiert, ich hatte ja schon ein wenig Sorge um die Beiden :/

Tja, und Yuri und Otabek... Aber ich bin erstaunlich gelassen, was es die Unbekannte angeht. Bestimmt nur eine Freundin, Bekannte, Kollegin oder Verwandte - und da wir ja alle bedingungslos an Otayuri glauben, ist das garantiert nur ein zwischenzeitliches Ereignis von nicht allzu ernst zu nehmenden Charakter ;)
Antwort von:  Gmork
12.08.2018 16:05
Huhu Claire ♥
Schön, dass du dich wieder meldest und danke für dein Kommi :)
Freut mich sehr, dass dir das Kapitel gefallen hat! ♥

Ja, die Beziehung zwischen den dreien war mir sehr wichtig zu festigen, denn Yuri wird in Zukunft vielleicht die ein oder andere Stütze gebrauchen können.
Ich wollte Makkachin unbedingt mal mit in die Story einbeziehen! So ein süßes Kerlchen, es wäre schade gewesen ihn komplett außen vor zu lassen.

Ich bin beruhigt, dass auch mal jemand gelassen darauf reagiert :D
Wer die unbekannte Fremde ist, wird sich bestimmt irgendwann herausstellen. Aber unser Otayuri-Herz muss jetzt auch sehr stark sein. (zumindest meines beim Schreiben xD)

Bis hoffentlich bald,
Anni ♥
Von:  DrGaster
2018-08-09T14:18:24+00:00 09.08.2018 16:18
Oooh armer Yuri. Ich hab ja das Gefühl, es ist eigentlich eine alte Freundin oder seine Schwester oder so, aber... Wer weiß. ;[
Antwort von:  Gmork
12.08.2018 16:00
Huhu Oz-the-Shadows ♥
Danke zuerst, dass du meine Geschichte in den Favos hast, ich freue mich, dass du ein Kommentar hinterlassen hast :3
Ja, Yuri tut mir schon ziemlich leid. Wer es ist, kann momentan wohl niemand so sicher sagen. Hoffen wir nur, dass Yuri sich von dem ersten Schock gut erholt. :)
Bis hoffentlich bald,
Anni ♥


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