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Von der Kunst, richtig zu sein

von

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Die Zeit ohne dich

Für Shinji waren die ersten Tage grausam. Jetzt, wo Nate nicht mehr da war, kamen all die Ängste zurück und sie stürzten auf ihn ein, wie eine Lawine. Die einzige Möglichkeit die Shinji gehabt hatte, war, sich wieder voll in seine Arbeit zu stürzen.

Die ersten zwei Wochen lang war sein Zustand schlimmer, als vor Nate, was auch daran lag, dass er nachts kaum schlafen konnte, weil ihn Alpträume von Chris und Nates Tod quälten. Da half es auch nichts, dass Nate ihn schon ein paar Tage nach seinem Aufbruch anrief und ihm davon erzählte, dass er nur noch auf sein Team warte und sie sich dann auf den Weg in den fernen Osten machen würden.

Was Nate niemals erfuhr, war, dass Lily ihn eines Tages ohnmächtig in seiner Wohnung vorgefunden hatte. Er wusste nicht genau was passiert war, nur, dass er beim Einkaufen kurz vorher gedacht hatte, Chris gesehen zu haben. Er hatte es noch bis nach Hause geschafft, aber dann war ihm schwarz vor Augen geworden.

Lily hatte ihn daraufhin zum Arzt geschleppt, der ihm Notfalltropfen für akute Stresssituationen und ein leichtes, angstlösendes Antidepressivum gegeben hatte. Das half. Nur einen Tag später hatte er es dann endlich geschafft, die Liste an Therapeuten durchzuklingeln. Auch das half.

Hana war regelmäßig bei ihm, als Gegenleistung brachte Lily ihm öfter Essen vorbei, manchmal kochten sie sogar gemeinsam. Es half ihm, sich nicht wieder vollständig zurück zu ziehen und wenigstens einen einigermaßen geregelten Tagesablauf zu haben.

Er freute sich immer über Nates anrufe, versuchte aber, ihm nicht zu viel Negatives zu erzählen. Sein Freund sollte sich keine Sorgen machen, der hatte mehr als genug um die Ohren.

Er fragte absichtlich nicht, was bei Nate los war. Zum einen, weil der sicher nicht darüber reden durfte und zweitens, weil Shinji es auch einfach nicht wissen wollte. Er verging so schon fast vor Sorge und verfluchte sich fast täglich dafür, dass er sich seinem Freund so sehr geöffnet hatte, dass er jetzt dermaßen fertig war.

Aber irgendwie wollte er dieses Gefühl auch nicht missen. Es zeigte ihm, wie sehr er sich bereits verändert hatte. Es lag noch ein unglaublich langer Weg vor ihm, aber allein dieses Gefühl gab ihm die Zuversicht, dass er das auch tatsächlich schaffen konnte.
 

Ein paar Wochen später, an Shinjis Geburtstag, klingelte um Punkt null Uhr eins, sein Handy.

“Hey, Kleiner”, begrüßte Nate ihn leise. Er klang müde, aber Shinij konnte auch das Lächeln aus seiner Stimme hören.

“Alles Gute zum Geburtstag.”

“Danke”, erwiderte Shinji und war sich nicht sicher, ob er die Freude über diesen Anruf tatsächlich akkurat ausdrücken konnte. Wahrscheinlich nicht. Er war nicht so gut darin, Freude zu zeigen. Er musste darauf vertrauen, dass Nate wusste, wie viel ihm das bedeutete.

“Du bist echt pünktlich, Respekt.” Und weil er diese peinliche Stille nach einem Glückwunsch hasste, sprach er gleich weiter und lenkte so vom Thema ab: “Es gibt gute Neuigkeiten. Ich habe heute meinen ersten Termin beim Psychologen bekommen. In drei Wochen geht die Therapie los.”

“Das ist großartig!” Plötzlich klang Nate gar nicht mehr müde, sondern ehrlich begeistert. Wow, in puncto Ausdruck lagen sie beide wirklich Welten auseinander. “Du musst mir dann unbedingt davon berichten. Lass es bei mir durchklingeln, wenn du da warst. Wenn ich Zeit habe, hebe ich ab, okay?”

Oh je, das wäre das erste Mal, dass er von sich aus anrief. Aber wenigstens war es eine Einladung von Nate, dann war es nicht ganz so schlimm.

“Ist das nicht bei dir mitten in der Nacht? Es ist auch erst das Erste Gespräch, das ist noch nicht so wild.”

Doch Nate lachte nur und Shinji konnte förmlich vor sich sehen, wie er eine wegwerfende Handbewegung machte. “Ach, die Zeitverschiebung kann mich mal. Versprich mir, dass du anrufst.”

Shinji war nicht ganz wohl dabei, aber letztendlich versprach er es.

“Sonst alles okay bei dir?”

“Ja, alles gut.”

“Gut… ahm… Wundere dich nicht, wenn heute Lily und Hana vor deiner Tür stehen. Ich habe ihnen eventuell gesagt, dass du Geburtstag hast.”

“Nate!”, schimpfte Shinji sofort und stöhnte dann auf. War das sein Ernst?

“Das kriegst du zurück, sobald du wieder hier bist!”, drohte er. Das war wirklich nicht das, was er geplant hatte. Aber er konnte Lily und Hana schlecht vor die Tür setzen. Hervorragende Situation, in die Nate ihn da gebracht hatte.
 

Der Tag verging dann trotz allem angenehm ruhig. Lily wusste, dass er eher zum späten Aufstehen neigte und erwies ihm die Gnade, erst am späten Nachmittag vorbei zu kommen.

Er war nicht wirklich in Feierlaune, war er nie. An seinem Geburtstag hoffte er immer, dass sein Vater doch noch versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Aber er tat es nie.

Eigentlich war es lächerlich, denn er wollte mit ihm nichts zu tun haben. Er würde ihm nie verzeihen, dass er ihn ohne jegliche Vorwarnung auf die Straße gesetzt hatte, nachdem er alles versucht hatte, um ihm ein anständiger Sohn zu sein. Aber, dass er nicht einmal wusste, ob sein Vater noch lebte, störte ihn des Öfteren. An anderen Tagen konnte er das nur gut ignorieren.

Er musste zum Glück nicht feiern. Seine beiden Gäste brachten einfach nur Kuchen mit und sie verbrachten einen angenehmen Nachmittag zusammen. Hana schenkte ihm ein Bild mit einer etwas krakeligen Blume drauf. Sein Lächeln war ein wenig verkrampft, als er sich bedankte, doch Hana schien das nicht zu merken.
 

Am Tag seiner ersten Sitzung, erreichte er Nate tatsächlich und er berichtete, dass er seinen Therapeuten sympathisch fand und sie sich darauf geeinigt hatten, zusammen zu arbeiten. Mehr war in dieser Sitzung nicht wirklich passiert. Ansonsten hatte er nur kurz seine Probleme umrissen und sein Therapeut hatte ihm versprochen, dass er ihm helfen könne.

Die Wochen darauf berichtete er immer kurz von den Sitzungen, wenn er Nate erreichte, aber es blieb ansonsten weiterhin bei Oberflächlichkeiten.

Doch eines Tages, sicher ein halbes Jahr, nachdem Nate abgereist war, hatte er zum ersten Mal etwas wirklich wichtiges zu sagen. Er hatte an diesem Tag wieder eine Therapiesitzung hinter sich und ein Teil von ihm wünschte sich, dass Nate nicht abheben würde.

“Hey!”, begrüßte er Nate dennoch so euphorisch wie möglich, auch, wenn es nicht viel war.

“Ich hab heute meine erste Aufgabe bekommen, für die ich die brauche. Uhm… hast du ein bisschen Zeit und bist einigermaßen allein?”

In seiner Therapie bekam er oft kleine Aufgaben. Manchmal waren es nur Dinge, die er ausprobieren sollte, manchmal waren es Ängste, denen er sich stellen musste. Heute war es letzteres, aber er wusste, dass er es nicht tun würde, wenn er das hier verschob.

“Warte kurz”, antwortete Nate und Shinji konnte wahrnehmen, dass die Hintergrundgeräusche abnahmen. “Okay, ich gehöre ganz dir.”

“Du weißt ja, dass ich immer mehr versuchen soll, ganz normal damit umzugehen und mich immer ein bisschen mehr zu offenbaren und so was. Letztes Mal hab ich meinem engsten Vertrauten außerhalb unserer… ehm… Beziehung… gesagt, dass ich … schwul bin. Aber… das ist ja nur die Vorstufe.”

Eigentlich redete er gerade nur um den heißen Brei herum, aber er brauchte ein wenig Anlauf, auch wenn er immer den Zeitdruck im Nacken hatte. Nate konnte nicht ewig am Telefon bleiben.

“Mein Therapeut meinte, ich solle das erstmal per SMS machen… damit es einfacher ist. Aber… das ist so unpersönlich und ich dachte, ich versuche mal etwas die Initiative zu ergreifen. Ich hab auch morgen direkt wieder einen Termin, um darüber reden zu können… falls ich aufgefangen werden muss… du weißt schon.”

Nate hielt zum Glück den Mund. Shinji hätte nicht gewusst, ob er das hätte durchziehen können, wenn er ihn unterbrochen hätte.

Sein Herz raste so sehr, dass es weh tat, dabei konnte er nicht einmal genau sagen, wovor er eigentlich angst hatte. Es war so ein unbestimmtes Gefühl, dass es eine Katastrophe geben würde, wenn er das durchziehen würde. Als hätte er Angst, dass Nate dann starb, oder er doch plötzlich auf der Stirn geschrieben hatte, dass er vom anderen Ufer war.

Er wusste genau, dass letzteres nicht möglich war und ersteres auch passieren könnte, wenn er nichts täte. Dennoch war ihm jetzt schon schwindlig, weil sein Herz nicht mehr genug Sauerstoff durch seinen Körper pumpte.

“Ich… uhm…”

Er schluckte heftig.

“Ich wollte dir das eigentlich schon bei unserem Abschied sagen…”

Komm endlich zum Punkt!, schrie er sich selbst in seinem Kopf an. Wenn Nate jetzt plötzlich weg müsste, würde er wahrscheinlich irgendetwas kaputtmachen müssen.

“Ich… ich…”

Er wollte das schaffen. Nur ein bisschen mehr. Nur zwei Worte mehr.

“Nate… ich… ich…” Komm schon! “Ich… liebe dich.”

Tränen rannen seine Wangen hinab. Er wusste nicht wie lange schon. Sein Herz hämmerte so laut in seinen Ohren, dass er angst hatte, Nates Reaktion zu verpassen.

Es war lange still und kurz kam in ihm die Angst auf, dass die Leitung abgerissen war. Das wäre so typisch!

Doch dann hörte er endlich die erlösenden Worte: “Ich liebe dich auch, Shinji.”

Es lag so viel Gefühl in den Worten, dass nur ein Wort gereicht hätte und Shinji hätte verstanden.

“Ich bin so stolz auf dich.”

“Danke”

Ohne, dass sein Gesprächspartner es mitbekam, machte er sich auf in die Küche. Da gab es eine bestimmte Schublade, in der seine Notfalltropfen verstaut waren. Er bekam echt schwer Luft.

“Weinst du?”

“Nein”, stritt er sofort ab, musste aber gleich darauf schniefen, was ihn deutlich verriet.

“Mach dir keine Gedanken, okay? Das ist eine ganz normale Reaktion auf derart starke Emotionen. Das heißt nicht gleich, dass er mir gerade schlecht geht. Ich bin mehr erleichtert, dass es raus ist und glücklich darüber, dass ich es geschafft habe. Das bisschen negative Gefühle, das da mitschwingt, ist nicht so wichtig.”

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts und er hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil er Nate gerade anlog. “Okay, ich geb’s zu”, murmelte er deshalb, ohne, dass Nate auch nur ein Wort sagen musste. “Ich hab gleich wahrscheinlich ne ausgewachsene Panikattacke… tut mir leid. Ich wollte das Geständnis nicht mit so was untergraben… wenn du wieder zurück bist, sag ich es nochmal, damit du es dann auch ganz genießen kannst. Aber gerade ist sowieso nur wichtig, dass ich es raus bekommen hab.”

“Ich liebe dich auch mit Panikattacken, Shinji”, war die schlichte, aber überaus effektive Antwort von seinem Freund. Shinji verschüttete fast etwas von den Tropfen, weil ein Glucksen seine sowieso zitternde Hand weiter erbeben ließ.

“Danke”, hauchte er liebevoll zurück, das schwanken seiner Stimme somit verbergend. Er trank das Glas in einem Zug leer und verzog danach angewidert das Gesicht. Wenn die Tropfen nicht so gut helfen würden, würde er sie wegen des Geschmacks definitiv verabscheuen.

“Wenn ich wieder zurück bin, werde ich es mir nochmal anhören.”, setzte Nate nach. “Danke, dass du es mir gesagt hast.”

Sie schwiegen kurz, um den Moment auszukosten, denn auch wenn Shinji noch immer zitterte wie ein Baum bei Sturm, war er stolz auf sich und irgendwie glücklich. Es war eine verwirrende Mischung aus viel zu vielen Gefühlen und er war froh, wenn das Medikament endlich wirkte und er in diesen entspannten, leicht schläfrigen Zustand verfiel.

“Shinji?”, hörte er Nate dann wieder leise, aber bestimmt. “Ich komme auf jeden Fall zurück und hole die drei Worte persönlich ab.”

Shinjis Herz blieb kurz vor Schreck stehen.

“Ist was passiert?”, fragte er alarmiert. Er hatte absichtlich nie nachgefragt, wie es lief, weil er niemals noch mehr angst haben wollte. Aber diese Worte klangen, wie jene, die ein Held in einem Film sagte, der eine viertel Stunde später tot war.

Es war lange still zwischen ihnen, was Shinji bestätigte, dass irgendetwas los war. Fuck. Nein… nein nein nein. Nate durfte nichts passieren. Er durfte nicht in akuter Gefahr sein. Er wusste ja, dass der Einsatz gefährlich war, aber er wollte diese Realität nicht verarbeiten müssen. Das war doch zum Kotzen.

“Ich sag es dir nur, damit du weißt, dass du dir keinen anderen anzulachen brauchst, während ich hier vergammle.”

Das kam so locker, dass Shinji es ihm normalerweise geglaubt hätte, aber mit der ewigen Stille vorher, war es eindeutig, dass das ein Ablenkungsmanöver war.

Shinji hätte es gerne auf die Tropfen geschoben, aber die konnten noch nicht wirken. Dennoch nahm sein Hirn diese Ausrede von Nate einfach an und er entspannte sich wieder. Das Gefühl, dass Nate in akuter Gefahr war, verschwand wieder in den Hintergrund. Er hätte es analysieren können, aber er war zu dankbar, um sich das selbst kaputt zu machen.

Also schnaubte er amüsiert: “Zu schade, jetzt wo ich solche Fortschritte mache, dachte ich eigentlich, dass ich mir noch einen zweiten Lover anschaffe.”

“Spinner”, kommentierte sein Gesprächspartner. “Einen zweiten Lover kannst du dir anschaffen, wenn er Nathan heißt, zwei Meter groß und braunhaarig ist. Außerdem muss er unglaublich begabt im Billard sein und einen wahnsinnig geilen Humor haben. Aber so was wirst du nicht finden, ich bin einzigartig.”

Nates Lachen zu hören, tat wirklich gut und Shinji sog jede Sekunde davon in sich auf.

“Challange accepted”, stichelte er zurück.

“Aber ich nehm dich beim Wort”, fuhr er sanft fort.

“Tu das, in solchen Dingen bin ich sehr zuverlässig.”

Ja, das stimmte. Nate hatte noch niemals ein Versprechen gebrochen.

Hätten sie beide gewusst, was in den nächsten Tagen passierte, hätten sie das Gespräch so lange wie möglich gezogen. So gähnte Shinji nur etwas langgezogen in sein Handy: “Du, ich denke, ich leg mich hin. Die Notfalltropfen für die Panikattacken machen immer so müde… und ich hab die Nacht mal wieder durchgemacht. Du musst sicherlich auch zurück zu deinem Team.”

Nate stimmte ihm zu und so verabschiedeten sie sich mit einem gegenseitigen ‘Pass auf dich auf.’.

Als Shinji auflegte, war ihm merkwürdig Flau im Magen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Für alle die nicht genug von mir kriegen; ich hab einen neuen OneShot veröffentlicht, der wohl demnächst zu nem TwoShot und nem Prequel wird XD
https://www.animexx.de/fanfiction/390393/?js_back=1
(leichte BDSM Elemente)

Die Arbeiten am Buch gehen dank Magen-Darm-Grippe eher schleppend Vorwärts >.< Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Onlyknow3
2019-07-18T10:59:20+00:00 18.07.2019 12:59
Wünsch dir Gute Besserung, erhol dich gut.
Bin jetzt wieder auf dem Laufenden, und freue mich auf das nächste Kapitel.
Auch wenn mir jetzt schon schlimmes schwant, hoffe ich das es für die beiden relativ Glimpflich abgeht.


LG
Onlyknow3
Von:  Laila82
2019-07-18T08:10:38+00:00 18.07.2019 10:10
Schreib bitte weiter, hibbel hibbel. Hoffentlich passiert Nate nichts schlimmes. Jetzt ist mir auch flau im Magen.
Antwort von:  Lyndis
25.08.2019 12:08
Tut mir leid, dass ich erst jetzt antworte. Vielen vielen Dank für den Kommentar ich habe mich wirklich sehr darüber gefreut!


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