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Von der Kunst, richtig zu sein

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Es ist nicht das Kapitel, das ich letztes Mal im Kopf hatte^^"
Es braucht noch 2 weitere bis wir da hin kommen.
Freut euch drauf :D Komplett anzeigen

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Sex

Shinji rutschte von Nates Hüfte und entfernte sich etwas von ihm. Seine eben noch gute Laune, war augenblicklich wieder im Keller. Was dachte sich dieser Idiot denn, einfach hier aufzutauchen? Die beiden waren nicht für heute verabredet! Welchen Tag hatten sie eigentlich? Dienstag? Mittwoch? Er war sich nicht sicher.

Dunkel sah er seinen Kumpel an: "Dein Freund, nicht meiner. Geh du mit ihm Gassi."

Das war auch gleichzeitig ein eindeutiges Zeichen, dass er ihn definitiv nicht in dieser Wohnung haben wollte. Hier waren keine Fremden erlaubt.

Um auch ja keinen Kontakt mit dem Neuankömmling zu haben, griff er wieder nach seiner Kaffeetasse und verschwand damit grummelnd im Arbeitszimmer. Was für ein Scheißtag. Lautstark warf er die Tür hinter sich zu.

Er war nicht wirklich sauer auf Nate, aber dieser Randy nahm ihm Zeit mit seinem Freund weg und er wusste, dass Nate nicht 'Nein' zu ihm sagen würde.

Leider war das Zimmer nicht schalldicht, weshalb er einen Großteil der Unterhaltung mit anhören konnte.

"Ha! Wusste ich doch, dass du hier bist!", rief Randy laut und euphorisch. "Du hast dich kein bisschen verändert. Lass dich umarmen, Großer!"

"Wo ist denn dein süßer Freund?"

Shinji schnappte sich seine Kopfhörer und schaltete laute Musik an.

Ob Randy ahnte, was los war?

Die Tasse, die er gerade noch an seine Lippen geführt hatte, wurde im nächsten Moment heftig auf den Schreibtisch zurück gestellt und als Shinji aufsprang, warf er sie fast um.

Auf dem Weg zum Bad traf er niemanden, die Tür schlug er dennoch hinter sich zu, ehe er sich lautstark in die Kloschüssel erbrach. Als er daneben zusammensank, schmeckte er saure Galle. Das war plötzlich gekommen.

Es fühlte sich an, als hätte ihn die Realität mit einem Gummihammer zu Boden geschlagen. Randy war selbst schwul, oder? Er hatte ihn zumindest als 'süß' bezeichnet. Warum machte er sich dann solche Gedanken? Und das so plötzlich? Er hatte sogar einigermaßen normal und ruhig mit Nate reden können, das war keine zehn Minuten her.

Aber die Angst klammerte sich schon wieder um sein Herz, das raste und es machte ihm das Atmen unglaublich schwer. Fuck.

Warum ließ er sich von seiner Vergangenheit so sehr beeindrucken? Es war doch alles gut…

Ja… noch war alles gut. Weil keiner es wusste. Aber es blieb die Möglichkeit, dass man es herausfand. Er wollte das alles wirklich nicht noch einmal durchmachen. Diese Sache mit Nate musste in diesen vier Wänden bleiben und er wusste nicht, ob er das schaffte. Gerade begann er wirklich zu bereuen, dass er Nate überhaupt so nah an sich gelassen hatte. Vielleicht wäre das schon bald sein Untergang.
 

Seine Gedanken drehten sich auch die nächsten Minuten im Kreis. Er sah seinen Chef ihm schon vor die Füße spucken und hörte wie er ihm mitteilte, dass er solche wie ihn nicht gebrauchen konnte. Sein Gesicht war dabei von Hass so verzerrt wie das von seinem Vater damals, als er ihn rausgeworfen hatte. Er sah sich selbst nach Hause kommen, seine Tür mit Müll beschmiert und Graffiti darauf die ihn eine Schwuchtel und Schlimmeres nannten.

Vielleicht hatte er bisher nicht viel gehabt, aber er hatte wenigstens in Ruhe leben können. Seine Nachbarn hatten ihm skeptisch, aber ansonsten neutral zugenickt, wenn er sie mal gesehen hatte. Seine Kollegen respektierten ihn, fragten ihn per Mail um Rat und ließen ihn über ihre Arbeit noch einmal drüber sehen. Sein Chef hatte ihm vor einer Weile sogar den Abteilungsleiter Posten angeboten, den er nur abgelehnt hatte, weil er dann mehr mit Kunden zu tun hätte und weil er dann öfter in der Firma sein müsste und vielleicht nicht mehr abends arbeiten könnte. Es war alles gut im Moment, warum nur musste er das alles aufs Spiel setzen, nur, damit er nicht mehr alleine war?

Das war doch absurd. Vollkommen irrsinnig. Was, wenn nur dadurch alles wieder kaputt ging?
 

Als es plötzlich an der Tür klopfte, übernahm die Panik Shinji ganz. Das musste Nate sein. Was sollte er jetzt tun? Nach allem, was passiert war, nach allem, was er selbst getan und gesagt hatte, konnte er Nate nicht einfach wieder aus seinem Leben werfen.

Er tat instinktiv das, was er auch früher immer getan hatte: Er versteckte sich und tat so, als wäre er nicht da. Es war dämlich, denn Nate wusste, dass er das Haus nicht ohne Grund verlassen würde, aber vielleicht ging er ja einfach. Vielleicht löste sich dieses Problem einfach auf, wenn er es ignorierte.

Aber er hatte das Glück natürlich nicht. Er kauerte sich zusammen, als die Tür auf ging und im nächsten Moment kniete Nate bereits neben ihm.

"Was ist los?"

Die Hand, die sich auf Shinjis Rücken legte, war dem schon fast zu viel. Am liebsten hätte er Nate einfach weg gestoßen, aber das brachte er nicht über sich.

"Nichts", murmelte er, versuchte weiter, einfach alles zu ignorieren. Nathan war in ein paar Tagen sowieso weg, oder? Es musste nur bis dahin alles gut gehen.

"Nach 'nichts' sieht das aber nicht aus. Shinji… bitte rede mit mir."

Als er nach einigen Sekunden immer noch nicht geantwortet hatte, verschwand die Hand langsam wieder von seinem Rücken. "Shinji?"

"Nichts…", war das einzige, was Nathan zu hören bekam, während Shinji das Gefühl bekam, immer weniger Luft zu bekommen. Sein Herz hämmerte so laut in seinen Ohren, dass er das Gefühl hatte, seine Trommelfelle würden jeden Moment reißen.

Was hatte er sich eigentlich gedacht? Dass alles plötzlich gut wurde? Dass die Welt sich plötzlich für ihn änderte, nur, weil Nate wieder da war?

"Lass mich einfach allein…"

Menschen änderten sich nicht. War er nicht der beste Beweis dafür? Die gleichen Ängste, die gleiche Panik, die gleichen Probleme. Tag für Tag aufs Neue. Vielleicht hatte er Nate ein paar süße Nichtigkeiten entgegenbringen können, aber auch nur, weil er sich selbst hatte einlullen lassen. Er hatte kurz in einer Traumwelt gelebt, aus der er jetzt umso härter wieder erwachte.

Menschen änderten sich nicht und bald wäre Nathan wieder nicht da, um ihm dadurch zu helfen. Wenn es wieder raus käme, stünde er abermals alleine da. Er wollte sein Leben nicht wieder verlieren.

Er hörte den Toilettensitz klappern, im nächsten Moment saß er auf der geschlossenen Toilette. Vor ihm kniete Nate, dem er mehr versehentlich kurz ins Gesicht sah.

"Ich lass dich jetzt bestimmt nicht allein. Sag mir einfach, was los ist. Und komm mir nicht mit 'nichts', Shinji. Bist du sauer auf mich? Oder auf Randy? Ich verstehe es nicht… in der einen Minute lässt du kaum die Finger von mir und in der nächsten…"

Nathan brach ab und holte kurz tief Luft: "Du fühlst dich schuldig deswegen, oder? Aber warum? Was ist so falsch daran?"

Shinji konnte die Enttäuschung aus Nathans Stimme hören und auch die Verzweiflung. Beinahe hätte er bitter aufgelacht. Das war doch perfekt. Wenn Nathan jetzt begann, genervt von seinen Ticks zu sein, würde er freiwillig gehen.

Er bemerkte erst jetzt wirklich, dass Nathans Hände auf seinen Oberschenkeln lagen. Selbst wenn er wollte, könnte er nicht weg. Es war nicht das erste Mal, dass er so auf einen Toilettensitz gedrückt wurde.

Er schloss gequält die Augen und versuchte sich klar zu machen, dass das hier nichts mit Chris zu tun hatte, aber es half nichts. Irgendetwas riss in ihm, doch statt einer Welle aus Panik, verschwammen seine Gedanken in weißem Rauschen und seine Ängste begannen sich mit der Realität zu vermischen, bis er beides nicht mehr auseinander halten konnte.

Er beugte sich vor und presste die Ballen seiner Hand gegen seine Schläfen:

"Du bist wieder weg und ich stehe schon wieder vor einem Trümmerhaufen. Ich muss schon wieder von vorne anfangen. Ich muss wieder umziehen. Muss mich wieder verstecken. Es war alles so perfekt hier und jetzt muss ich schon wieder weg. In eine fremde Stadt… in eine fremde Wohnung… in eine fremde Firma… es hat so lange gedauert, bis ich all das hier hatte… bis ich mich wohl gefühl habe… es ist alles wieder kaputt… sie hassen mich…"

"Moment. Warte, warte, warte. Wer hasst dich? Shinji, wieso glaubst du, du musst die Stadt verlassen? Niemand weiß über uns Bescheid und selbst wenn… du bist nicht der einzige Homosexuelle auf dieser Welt. Ja, ich weiß, du hast in der Vergangenheit furchtbare Erfahrungen gesammelt, aber das darfst du nicht als Maßstab sehen. Es gibt immer ein paar Idioten, die das anders sehen, aber im Allgemeinen ist die Welt da draußen viel toleranter, als du glaubst. Was kann ich tun, damit du das verstehst?"

"Aber die Welt ändert sich nicht! Sie hat sich in den letzten 1000 Jahren nicht geändert, es wird nur immer so getan, damit man sich der vorigen Generation überlegen fühlen kann! Die Menschen lernen nichts dazu! Es wiederholt sich alles ständig wieder! Glaubst du, nur weil in jedem zweiten Film irgendein Quotenschwuler vorkommt, ändern die Menschen ihre Meinung? Sieh dir an, was in diesem Land heute noch mit Schwarzen passiert! Wir hatten den ersten afroamerikanischen Präsidenten und wer folgte darauf? Der Kerl ist schlimmer als Bush! Ein Scheiß ändert sich! Und warum sollten sie ihre Meinung bezüglich uns ändern? Homosexualität ist abnormal! Die Natur kann das so nicht vorgesehen haben! Ich kann mich so immerhin schlecht fortpflanzen und selbst wenn es doch so vorgesehen ist, was bedeutet das dann? Das meine Gene so abartig sind, dass es besser ist, wenn ich sie nicht weitergebe? So als Sicherheitsmechanismus? Dann haben sie alle doch genauso Recht! Und was heißt hier 'niemand'? Mein Chef…"

Diesmal brach er ab. Einerseits weil er keine Luft mehr zum Sprechen hatte, andererseits, weil sein Kopf sich weigerte, ihm die Informationen zu geben, die er haben wollte: Die Erinnerung daran, wie sein Chef ihn angerufen und gefeuert hatte.

Seine Finger krallten sich in seine Kopfhaut und ihm wurde schwindlig. Er atmete schneller um mehr Luft zu bekommen, aber erreichte damit nur das Gegenteil.

"… und die anderen…", murmelte er vollkommen entrückt. Irgendetwas stimmte nicht, aber egal wie sehr er versuchte darüber nachzudenken, er kam nicht darauf, was es war.

Nathan sagte etwas, es klang nachdrücklich, angefressen und heftig, aber er verstand kein Wort. Im nächsten Moment spürte er wieder eine Hand auf seinem Rücken, der Druck auf seine Beine war weg und Nates Stimme kam aus einer anderen Richtung.

Ohne darüber nachzudenken, sprang Shinji auf, um von der Toilette weg zu kommen, aber ihm war so schwindlig, dass er weg kippte, gegen eine Wand prallte und dann hart auf dem Boden aufschlug.

Der Schreck und der Schmerz ließen ihn endlich die Luft wieder richtig ausstoßen und er konnte seine Lunge mit frischem Sauerstoff füllen. Orientierungslos blieb er liegen und versuchte die schwazren Punkte vor seinen Augen weg zu blinzeln.

Er wurde hochgehoben, was ihn sich fast wieder übergeben ließ. Schwach versuchte er sich von der Brust wegzudrücken, doch es gelang ihm nicht.

Sofort wurde er auf etwas weiches abgelegt, dann ließen ihn laute Schläge zusammenzucken. Warum schlug Nate mit einem Hammer auf die Arbeitsplatte seiner Küche?

Das Geräusch verstummte und Nates Stimme erklang wieder direkt neben ihm: "Wo genau tut's weh?"

Er blinzelte kurz zu seinem Kumpel und verstand, wo das Geräusch her kam. Er hatte wohl ein paar Eiswürfel zerschlagen, damit er die wunde Stelle kühlen konnte. Warum auch immer Nate annahm, dass es da etwas zu kühlen gab.

Shinji schüttelte einfach nur den Kopf, er hatte nicht das Gefühl, dass er irgendeine Art der Fürsorge verdient hatte. Jetzt wo auch wieder Sauerstoff in seinem Hirn ankam, realisierte er langsam, was da eben eigentlich passiert war. Eigentlich war es nur eine Panikattacke gewesen, aber er hatte ein paar wirklich unschöne Sachen gesagt und er sah Nate an, dass ihm das diesmal ziemlich nahe ging.

Dessen Blick wurde jetzt auch wieder düsterer, was Shinjis Entschlossenheit sofort einknicken ließ.

"Schulter", murmelte er und sah an Nate vorbei, weil er dessen Blick nicht ertrug.

Die Kälte, die daraufhin seine Schulter traf, half ihm zusätzlich seinen Kopf wieder zu klären.

Er wischte sich mit dem gesunden Arm über die verschwitzte Stirn. "Es tut mir leid…"

Seine Stimme war viel zu leise, was nicht nur daran lag, dass sein Atem sich noch immer nicht ganz beruhigt hatte. "Ich hab plötzlich Angst bekommen, als ich daran dachte, dass Randy vielleicht etwas mitbekommen hat. Ich… ich hab das nicht gemeint, was ich gesagt habe…"

Na ja… das war halb gelogen. Er hatte Nate keine Vorwürfe machen wollen, aber der Rest war tatsächlich seine Weltansicht, aber er hatte das nie jemandem ins Gesicht sagen wollen. Er hatte allerdings auch gedacht, dass er damit klar kam, dass Nate weg ging, stattdessen hatte er es ihm vorgeworfen, als wäre eine alte Narbe wegen dessen damaligem Umzug wieder aufgerissen. Das sollte er eigentlich hinter sich gelassen haben… war wohl nicht so.

"Schon okay…"

Er glaubte Nate kein Wort. Es war gar nichts okay, aber er wusste auch nicht, was er dazu noch sagen sollte. Es tat ihm leid, aber er konnte auch nichts ungeschehen machen. Mit diesem Rückfall mussten sie beide jetzt klar kommen, auch wenn es wahrscheinlich etwas Zeit brauchte.

"Vielleicht sollten wir eine Zeit lang auf den Sex verzichten. Und Schritt für Schritt noch einmal von vorne beginnen."

Das hatte er damit aber nicht gemeint. Wie kam Nate denn auf die bescheuerte Idee? Nur wegen eines Rückfalls?

Mit einem Schlag war das schlechte Gewissen vergessen. Shinji nahm den Eisbeutel von seiner Schulter und stand auf.

Leider war das nicht ganz so dramatisch, wie er gerne gehabt hätte, denn seine Knie waren immer noch weich und er schwankte etwas, aber er schaffte er bis zur Küchenzeile, holte sich eine neue Tasse aus dem Schrank und goss sich Kaffee ein.

"Und du hast dich wirklich mal gefragt, warum ich nicht über das rede, was in mir vorgeht? Genau deshalb! Keine Ahnung ob du sauer oder enttäuscht oder beides bist… aber denkst du ehrlich, das wird besser, wenn wir wieder von vorne anfangen? Dachtest du ernsthaft, ich wäre innerhalb von 4 Tagen geheilt?"

Die Enttäuschung, die er empfand, konnte er nicht verstecken. "So viel dann also zu deiner Geduld…"

Wofür hatten sie das Gespräch gestern abend denn gehabt? Wofür hatte er Nate seine Ängste genannt? Wofür hatte er ihn darum gebeten, geduldig mit ihm zu sein? Hatte Nate das alles schon wieder vergessen?

Klar verstand er, dass Nate auch enttäuscht war, aber diese Konstellation, die sie gerade hatten, bestand gerade mal seit vier Tagen! Und es wurde ihm jetzt schon zu viel?!

Das war doch echt scheiße!

"Was erwartest du eigentlich von mir?"

Warum stritten sie eigentlich schon wieder? Hatten sie sich nicht gerade erst wieder versöhnt? Shinji verstand es nicht. Aber vielleicht lagen einfach ihrer beider Nerven zu blank. Vielleicht war das normal.

"Ich bin geduldig! Schlafe ich mit dir, ist es ein Fehler und tue ich es nicht, ist es auch einer! Ich blicke bei dir einfach nicht mehr durch!"

Oh ja… Nate war die Geduld in Person.

"Was ich erwarte ist, dass du der mutige von uns beiden bist und nicht den Schwanz einziehst, wenn es Probleme gibt! Ich hab nicht die Kraft um auch noch dich davon zu überzeugen, dass es gut ist, wie es ist!"

Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Was war nur passiert? Hatte er Nate überschätzt? War es das? War er einfach nicht der Fels in der Brandung, den er die ganze Zeit in ihm gesehen hatte?

Am liebsten wäre er einfach gegangen. Irgendwohin, nur weg von dieser Situation. Er war einfach nur enttäuscht, weil das hier genau das war, wovor er die ganze Zeit angst gehabt hatte. Nate hatte ihm versprochen das durchzuhalten… und jetzt so was.

Er konnte leider nicht weg, weshalb er die nächsten Worte von Nate einfach über sich ergehen ließ. Der war mittlerweile an die Küchenzeile getreten, hielt aber Abstand.

"Mag sein, dass ich sauer und frustriert bin. Aber darf ich das denn nicht? In erster Linie bin ich einfach nur verwirrt! Vor einer Stunde war noch alles gut und dann bin ich kurz weg und du stößt mich komplett von dir. Schon klar, keiner hat von dir erwartet, dass du nach vier Tagen deine Probleme in den Griff bekommst und es ist eine Frechheit, dass du mir das unterstellst. Das habe ich weder gesagt, noch angedeutet."

Doch hatte er. Tat er doch gerade schon wieder. Er war sauer wegen etwas, was er noch nicht steuern konnte. Nate war wütend auf ihn, weil Shinji seine Komplexe nicht im Griff hatte. Was war daran denn 'keine Erwartungen haben'?

Aus den Augenwinkel sah Shinji dann aber, wie Nates Schultern sich etwas entspannten. Es war eine so offensichtlich erzwungene Geste, dass es ihm selbst kalt den Rücken runter lief, aber wenigstens war Nates Stimme nicht mehr so laut:

"Du weißt ganz genau, dass dein Wohlergehen bei mir immer oberste Priorität hat. Vielleicht sind wir das ganze einfach zu schnell angegangen. Es muss nciht immer gleich Sex sein. Ich kann dich genauso gut im Arm halten, ohne, dass wir im Bett landen müssen. Du solltest dich zuerst mal an den Gedanken gewöhnen, mit mir zusammen zu sein."

Rational gesehen, wäre das Vorgehen wahrscheinlich am sinnvollsten gewesen. Aber gerade wollte Shinji nicht sinnvoll. Er wollte normal sein. Und er wollte das jetzt sofort. Er bemerkte selbst wie kindisch und unsinnig das war, aber er kam von dem Gefühl nicht los, dass einen Gang zurück zu schalten ein Fehler wäre. Es wäre, als würde er sich eingestehen, gegen sich selbst verloren zu haben und irgendwo hatte er ja auch seinen Stolz. Aber es fiel ihm so unglaublich schwer genau das in Worte zu fassen. Wenn er das gekonnt hätte, hätte er diesen Streit gerade wahrscheinlich sehr schnell beilegen können. Stattdessen begann er irgendwie darum herum zu reden:

"Ich weiß, dass es nicht zwangsweise so laufen muss wie damals, aber allein die Möglichkeit versetzt mich in pure Panik. Das hatte diesmal gar nichts mit dem Sex zu tun. Es war einfach… ich weiß nicht. Was wenn Randy eins und eins zusammen zählt? Was, wenn dich einer der Anwohner hier zu oft gesehen hat? Gesehen hat, dass du mit einer Sporttasche hier angekommen bist und seit vier Tagen hier schläfst? Sowas verbreitet sich viel zu schnell… ich hab einfach Angst, aber das wird ja nicht besser, wenn wir alles wieder zurückschrauben."

Nate kam langsam näher und legte ihm letztendlich eine Hand auf die Schulter. Im ersten Moment spannte er sich an, weil er diese Geste überhaupt nicht einordnen konnte, aber als er bemerkte, dass sie gut gemeint war, eine Brücke zwischen ihnen darstellte, kam er Nate sogar einen Schritt näher und lehnte sich letztendlich sogar an seine Brust. Etwas gequält schloss er die Augen und fuhr dann fort:

"Du bist nur noch 3 einhalb Tage hier. Ich will die Zeit nicht damit verbringen, mir zu überlegen, ob es jetzt richtig ist mit dir zu schlafen oder nicht. Ich will es einfach tun, wenn mir danach ist. Es tut mir leid, dass der Anfall so heftig war und dass ich mich nicht zusammen reißen konnte… aber nimm uns beiden doch nicht die Momente weg, in denen es wenigstens kurz einfach funktioniert. Wenn du zurück bist und ich die ersten Schritte selbst überwunden habe, können wir immer noch darüber reden, wie wir es am Besten angehen."

Nate legte einen Arm um ihn, drückte ihn sogar leicht an sich. Er schien erleichtert. Ob Nate Angst gehabt hatte, er würde ihn von sich schieben?

"Es tut mir leid, wenn ich nicht immer so mutig bin, wie du mich gerne hättest. Aber es macht es verdammt schwer für mich auf dich zu reagieren, wenn ich nicht weiß, was du wirklich denkst. Ich will dich nicht zum Sex animieren müssen, wenn du in Wirklichkeit gar keinen möchtest. Shinji... im Prinzip wissen wir beide nicht, wie wir das richtig angehen können. Nicht, solange du nicht jemanden aufsuchst, der dir helfen kann. Du hast mir von den Therapeuten erzählt. Ich hab die Liste auch an der Korkentafel gesehen. Auch wenn du erst jemanden anrufen wolltest, wenn ich weg bin.... vielleicht sollten wir nicht länger darauf warten. Denn wenn ich dir erzählen würde, dass sich keiner darum kümmert, wen du zu Besuch hast... geschweige denn, ob du Besuch hast, würdest du mir dann glauben? Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es Randy egal ist, ob etwas zwischen uns läuft oder nicht? Denn das ist ihm egal."

Es war schwierig, einen Einstieg hie rzu finden. Es gab so viele Punkte, wo er anknüofen konnte, aber er beeilte sich, damit er nicht in der Hälfte vergaß, wo er gewesen war:

"Was ich wirklich denke? Wirklcih denke ich beides... dass ich mit dir zusammen sein will und dass das ein Fehler ist... ich denke auch das letzterer Gedanke nur meine seelische Störung ist, ich weiß, dass es so ist. Die meiste Zeit gewinnt der erste Gedanke, aber manchmal eben auch der andere. Aber es ist so simpel. Beide Gedanken existieren in mir. Du musst nicht auf mich eingehen, du musst mich nicht trösten. Alles was du tun musst, ist den Anfall mit mir zusammen zu überstehen. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber das ist das einzige, was du tun kannst. So eine Störung ist nichts rationales. So gut deine Argumente auch sein mögen, es bringt nichts, wenn ich sie nicht verarbeiten und annehmen kann."

War das alles gewesen? Nein, da war noch mehr.

"Okay, jetzt weiß ich es", antwortete Nate während der kurzen Pause. "Aber ich hätte dich sicher nicht allein gelassen, Shinji. Da braucht es schon ein bisschen mehr, dass du mich vertreibst."

Sie standen kurz eine Weile so da. Nate streichelte ihm in sanften Kreisen über den Rücken, während Shinji darüber nachdachte, wo er weitermachen wollte. Er entschied sich dazu, dort anzusetzen, wo sie jetzt gerade waren:

"Ich muss wohl lernen, mehr mit dir darüber zu reden. Ich dachte irgendwie… das wäre klar."

"Irgendwo war es klar", murmelte Nate in seine Haare hinein. "Aber ich war mit nie sicher. Vor allem nicht, wenn du mich so ablehnst. Vielleicht musste ich es auch nur einmal von dir hören."

"Dann… dann versuche ich zukünftig mehr zu sagen und du versuchst, mehr zu fragen, okay?"

"Das klingt nach einem Deal."

Okay… das war das Erste. Es war schwer, weil da noch mehr war und er angst hatte, in dem Stress etwas wichtiges zu vergessen. Es half etwas, dass Nate ihn noch einmal an sich drückte und ihn danach weiter streichelte. Langsam fühlte sich das ganze nicht mehr wie ein Streit an, sondern eher wie ein Gespräch. Etwas Gesundes und nichts Destruktives mehr.

"Denkst du wirklich, dass du mich zum Sex 'animieren' musst? Wenn ich das richtig im Kopf habe, bin ich doch eher immer der, der den ersten Schritt macht, oder? Und das würde ich wohl kaum tun, wenn ich das nicht auch wollen würde."

Nate widersprach ihm nicht, aber er antwortete auch nicht wirklich. Shinji verstand nicht wirklich warum, aber er entschied sich, es einfach dabei zu belassen. Auch wenn es wirklich merkwürdig war. Dann also zum letzten Thema:

"Was die Therapie angeht: Man bekommt nicht ienfach von heute auf morgen einen Termin bei ienem Therapeuten. Wenn ich Glück habe, bekomme ich innerhalb der nächsten 3 Monate einen, das wars. Es ändert sich nichts ob ich jetzt anrufe oder wenn du weg bist. Ich bin nicht Selbstmordgefährdet, also komme ich einfach hinten auf die Liste und muss warten."

"Aber je früher du anrufst, desto schneller bekommst du einen Termin, oder?", schritt Nate sofort ein. "Versteh mich nicht falsch, ich will dich nicht unter Druck setzen und es ist allein deine Entscheidung, wann du anrufst. Aber du hättest es hinter dir und ich könnte dich auffangen, falls du dir nicht mehr sicher sein solltest… oder Panik schiebst… oder feiern möchtest… oder was auch immer."

Nate lachte leise. Shinji war sich nicht ganz sicher, warum er lachte, aber es beruhigte ihn. Der Streit war anscheinend wirklich wieder vorbei.

"Bitte nicht heute. Der Anfall und der Streit gerade, haben so viel Kraft gekostet. Vielleicht morgen, aber bitte nicht heute."

Wenn er ehrlich war, wollte er nur schlafen. Lange… sehr lange. Aber das würde er nicht tun, denn er wollte die letzten Stunden mit Nate noch genießen. Er konnte morgen schlafen, wenn er mit Randy unterwegs war.

"Ist okay. Ganz wie du willst und kannst."

Er strich ihm noch einmal über den Hinterkopf: "Und wegen Randy musst du dir wirklich keine Gedanken machen."

Wahrscheinlich sagte Nate das nur, weil er den kleinen Wirbelwind als Auslöser für all das sah und vielleicht stimmte das auch, aber mussten sie jetzt unbedingt über Randy sprechen? "Ich habe ihm nichts von uns erzählt."

Sollte er sich darüber nicht freuen? Warum störte ihn diese Aussage so unglaublich? Das machte ihn noch wahnsinnig!

"Wie liefs eigentlich mit ihm?" Shinji überraschte sich mit dieser Frage selbst. Er wollte wirklich nicht mit Nate über diesen Kerl reden. Warum lenkte er dann das Thema auf ihn?

"Er hat Stress mit einem Typen. Wenn das passiert, kommt er normalerweise zu mir und kotzt sich aus… meistens sogar wortwörtlich, weil er währenddessen nicht selten große Mengen Alkohol trinkt." Nate seufzte gequält und fügte ein "Genauso wie morgen" hinzu.

"Hm…" Für einen Moment dachte Shinji nach, auch wenn er sich nicht genau sicher war, worüber eigentlich. "Dann bist du sowas wie ein großer Bruder für ihn?"

"Ich versuche es zumindest. Hat anfangs nicht wirklich funktioniert, aber seinen großen Bruder werde ich auch nie ersetzen können."

Die Formulierung war dann doch irgendwie seltsam und dieses ungute Gefühl, das er schon hatte, seit er Randy das erste Mal getroffen hatte, wurde stärker: "Was heißt, es hat anfangs nicht gut funktioniert?"

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Nate antwortete, was Shinji doch sehr wunderte. War es so schlimm, was passiert war? Schämte Nate sich? Was war es?

"Ich bin mit ihm im Bett gelandet. Und ich glaube nicht, dass das sein Bruder im Sinn hatte, als er meinte, sich solle auf ihn aufpassen"



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  z1ck3
2019-01-15T21:05:05+00:00 15.01.2019 22:05
Super Story und irgendwie nette Charaktere auch wenn sie beide mich etwas wahnsinnig machen. Achso und ich bin gespannt was hinter dem Randy steckt, habe so eine Ahnung dass der was im Schilde führt.
Ich freue mich schon drauf wenn es weiter geht :>
Antwort von:  Lyndis
15.01.2019 22:11
gut wahnsinnig oder schlecht wahnsinnig? XD
Ich weiß, sie nerven beide ein bisschen. Ich bin mir noch das Hirn darüber am zermatern, wie ich das nachher im Buch ein bisschen glätten kann. Mal schauen.
Aber ab hier etwa wird das Buch ein bisschen weniger kompakt. Mehr Zeitsprünge, weniger Selbstzweifel und ein bisschen mehr von dieser ungewollten Komik die Shinji manchmal produziert und die ich sehr an ihm mag :)

Vielen Dank für den Kommi, ich freue mich immer über Rückmeldung <3
Antwort von:  z1ck3
16.01.2019 22:33
Beides haha gut und schlecht. Sie sind beide irgendwie anziehend aber halt auch so abgeschottet. Ich kann es kaum erklären aber das ist sehr anstrengend, wahrscheinlich weil ich es oft nachvollziehen kann und mich dann darüber ärgere.

Ja du hast viele witzige Stellen eingebracht, das gefällt mir sehr. Schön, dass es mehr wird <3
Von:  Onlyknow3
2019-01-13T11:40:43+00:00 13.01.2019 12:40
Autsch, das war ganz sicher nicht das was tun sollte.
Randy hat es aber anscheinend nicht davon abgehalten, sich Nat anzuvertrauen.
Schön das die beiden ihren Streit begelegt haben.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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