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Von der Kunst, richtig zu sein

von

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Wetteinsatz

"Shinji... Der Name sagt mir was", überlegte Lily, ehe sie schlagartig die Augen aufriss und ihren Gegenüber noch einmal von oben bis unten musterte. "Doch nicht etwa der Shinji?"

Anscheinend hatte Nate mehr über ihn geredet, als über seine Schwester. Wie unangenehm, aber es schien hauptsächlich Gutes gewesen zu sein, denn sie schien begeistert. "Der Shinji, mit dem Nate in der Schulzeit ständig rumgehangen hat? Oh Mann, ich hätte nie gedacht, dass ich dich noch kennenlerne!"

Prompt ergriff sie seine Hand und schüttelte sie überschwänglich. Dann aber schlug ihr Gesichtsausdruck um und wurde finster.

"Weißt du, wie oft er deinetwegen seine süße, kleine Schwester versetzt hat?"

Er kam nicht einmal dazu Luft zu holen, ehe sie sich die Frage selbst beantwortete: "Unfassbar oft!"

"Eh...", setzte er an, weil er einfach nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Ja, Nate hatte viel Zeit mit ihm verbracht. Mehr Zeit, als mit jedem anderen aus ihrer Gruppe. Er war sein bester Freund und wohl hauptsächlich deshalb auch Hauptdarsteller in seinen Träumen gewesen. "Tut... mir leid?", riet er dann die Antwort. Er war sich nicht sicher, ob sie das hören wollte.

"Ich habe mich ja nicht nur mit ihm getroffen. Die ganze Clique hatte Schuld.", sprang ihm Nate zu Hilfe. Wie damals auch immer. Er hatte nie ein schlechtes Wort auf ihn kommen lassen.

Diese ganze Aufmerksamkeit die hier auf ihm lastete, war Shinji fast zu viel. Sein Herz flatterte schon ganz nervös.

Plötzlich wurde der Gesichtsausdruck von Nathans Schwester - Lily - wieder weich und ruhig und sympathisch, was darauf schließen ließ, dass sie es von Beginn an nicht ernst gemeint hatte. Ha ha... wie unsagbar witzig. Er hasste Menschen.

"Setz dich doch wieder und fühl dich wie zu Hause." Wie zu Hause? Das ging nicht. Viel zu viele Fenster, viel zu viel Licht und vor allem: viel zu viele Menschen. "Möchtest du was essen? Bei Nate verhungerst du noch, wenn du es dir nicht selbst nimmst."

Shinji setzte sich daraufhin einfach, kam aber nicht dazu, Lily zu antworten.

"Musst du nicht Hana abholen? Oder sonst irgendwas anderes tun?" Hana war dann wohl Lilys Tochter.

"Oooh, stör ich euch etwa?", entgegnete Lily sofort und grinste schelmisch. "Du weißt doch, kleine Schwestern nerven gerne. Und Hana ist noch bei einer Freundin. Aber du könntest sie nachher abholen." Und ohne Luft zu holen fuhr sie einfach fort: "Und Shinji? Was kann ich dir anbieten?"

Er wusste gar nicht so recht, was er sagen sollte. Diese Situation war merkwürdig und er wollte hier am liebsten weg. Anbieten? Ja, gerne. Sie konnte ihm gerne anbieten ihn rauszuwerfen, er hätte nichts dagegen. Er wollte zurück in seine sicheren vier Wände. In seinen Keller, wo ihn niemand sah und er niemanden sehen musste.

Dass Nathan seine Schwester so offensichtlich loswerden wollte, machte es auch nicht besser. Warum wollte er mit ihm allein sein? Wollte er da weiter machen, wo sie aufgehört hatten?

Shinjis rasendes Herz warnte ihn davor, nicht über so etwas nachzudenken. Eine Panikattacke konnte er nicht gebrauchen. Außerdem war Nathan nicht so... das damals war sicherlich nur der Alkohol gewesen oder ein dummes Experiment. Eine Geschmacksverirrung, so wie es bei ihm gewesen war. Jugendlicher Leichtsinn, nicht mehr. Er sollte aufhören so etwas furchtbares von seinem ehemals besten Freund zu denken. Das hatte der nicht verdient.

Lily sah ihn noch immer fragend an, weshalb er schnell den Kopf schüttelte:

"Nein, nein. Ist schon gut. Bitte, keine Umstände. Nathan hat mich bisher hervorragend bewirtet. Vor meinem fünften Kaffee kriege ich sowieso nichts runter. Also keine Sorge. Ruh dich lieber aus, solange du noch deine Ruhe hast."

Es fiel ihm ziemlich schwer Nathans Schwester zu duzen und er hoffte inständig, dass sie das kurze Zögern nicht bemerkt hatte. Das zu erklären wäre mehr als peinlich.

"Fünf Tassen Kaffee? Ich hoffe, du scherzt. Das ist doch nicht gesund!" Sie hatte es anscheinend nicht bemerkt, sehr gut. Und nein, natürlich war das nicht gesund, aber warum sagte sie ihm das? Das ging sie nichts an. Außerdem gab es ihm das Gefühl, etwas falsches gesagt zu haben. War es nicht unhöflich, seinen Gästen so unangenehme Gefühle zu bereiten?

"Sie ist ne kleine Gesundheitsfanatikerin.", informierte ihn Nate und zwinkerte ihm leicht zu. Aha... konnte er jetzt endlich gehen? Bitte?

Lily ließ sie glücklicherweise endlich allein und ging in die Küche, wo sie im Kühlschrank herum kramte. Es ging ihn nichts an, weshalb er schon den Blick abwenden wollte, doch da drehte sie sich schon wieder um und hielt Nate mit vorwurfsvollem Blick einen Becher Schokoladenpudding entgegen.

"Weißt du, wie viel Zucker da drin enthalten ist?"

Doch Nathan zuckte nur gelassen mit den Schultern und grinste breit. Sah aus, als hätte er den Pudding nur gekauft, um sie zu ärgern. Geschwister waren komisch.

Seufzend stellte Lily den Pudding zurück, nahm sich einen Naturjoghurt und setzte sich damit vor den Fernseher. Im Prinzip waren sie jetzt also wieder allein.

"Ah!", rief Nate dann plötzlich aus, was Shinji diesmal wirklich zusammenzucken ließ. Was zum? "Gib mir mal deine Handynummer. So einfach lass ich dich nicht mehr davon kommen."

"Was?", fragte Shinji mit dünner Stimme. Ach verdammt! Ihm war aber auch nichts vergönnt.

"Uhm... ja klar.", murmelte er und griff in seine Hosentasche. "Erwarte nur keine Instant Messenger oder so einen Scheiß. Ich bin auch bei keinem sozialen Netzwerk.", stellte er gleich klar. Es war auch nicht gelogen, mit diesen Datenkraken wollte er nichts zu tun haben.

Vielleicht hätte er ihm einfach eine falsche Nummer geben sollen, aber das brachte er einfach nicht über sich. Nathan hatte ihm eigentlich nichts getan... mal einen Abend mit ihm weg zu gehen, würde ihn schon nicht umbringen. So legte er seinem ehemaligen Freund also das Handy vor die Nase, wovon er die Nummer ablesen konnte, was den zum schmunzeln brachte. "Weißt du deine Nummer nicht auswendig?"

Nein, wusste er nicht. Er musste die auch nicht besonders oft angeben.

Nates Augen funkelten hell, während er die Nummer ausprobierte und Shinjis Handy kurz vibrierte. Ah, ja, natürlich. Deshalb konnte er auch keine falsche Nummer angeben. Noch mal Glück gehabt, er war wohl wirklich noch nicht wach.

"Heute ist es vielleicht etwas knapp für dich, aber wie wäre es, wenn wir morgen was trinken gehen? Am Samstag kannst du deine Arbeit auch ruhig mal hinten anstellen."

Nathan war einfach zu vorsichtig. Shinji hatte wirklich gehofft, er würde es vergessen, aber natürlich hatte er nicht so viel Glück. Er kam da nicht mehr raus, auch wenn er hoffte, dass das Thema danach erledigt war. Er glaubte nicht wirklich dran... er würde ja umziehen, wenn er könnte, aber das war unsinnig. Er musste das ja nur durchhalten, bis Nate wieder weg war. Der verbrachte ja nur seinen Urlaub hier.

"Spricht wohl nichts dagegen...", gab er mehr zu, als tatsächlich mit Elan zu antworten. Es gab wirklich nichts, was dagegen sprach. Er hatte nichts vor... er hatte nie etwas vor. Außer arbeiten. Woher Nate wohl ahnte, dass er auch am Wochenende arbeitete?

"Ausgezeichnet." Nate nahm die Kaffeekanne und schenkte Shinji noch nach. Woher auch immer er wusste, dass die Tasse schon wieder leer war.

"Wohnst du hier in der Gegend? Dann könnten wir uns vor dem Supermarkt treffen und in ein Lokal in der Nähe gehen."

Es beruhigte Shinji etwas, dass Nathan ihn nicht zu Hause abholen wollte. Das wäre auch mehr als merkwürdig gewesen und hätte sich vollkommen falsch angefühlt. Er wollte nicht, dass irgendwer sah, wie ihn ein Mann abholte... wie zu einem... nein, nein daran wollte er nicht denken.

Während Nathan seine Arbeitsgewohnheiten erahnte und ihn die ganze Zeit ansah, als hätten sie sich nie 15 Jahre lang aus den Augen verloren, schien er kein bisschen zu ahnen, dass Shinji am liebsten in eine andere Stadt gezogen wäre, nur, um diesem Treffen aus dem Weg gehen zu können. Aber da musste Shinji wohl durch, es nutzte ja nichts. Dennoch wurde ihm schlecht, wenn er daran dachte, dass er unter Menschen musste. In eine stickige Bar, in der es nach Alkohol, Kotze und anderen Körperflüssigkeiten roch. In der es laut war und eng und wo ihn viel zu viele andere beobachten konnten. Wo er sich wie ein Tier fühlte, von dem jeder erwartete, dass es sich lächerlich machte, damit man über es lachen konnte. Er wollte nicht...

"Nur wir zwei, ja?", fragte er und wäre bei den Worten beinahe im Erdboden versunken. Das klang so falsch... so falsch. Hoffentlich dachte Nate jetzt nichts komisches. Er wollte doch nur sicher gehen, dass der andere nicht noch irgendwen einlud, weil man das ja manchmal so machte. Dass Nathan ihm erzählt hatte, dass er hier niemanden kannte, hatte er schon längst wieder vergessen.

"Ja, geplant sind nur wir beide. Ich bin erst seit 10 Tagen hier. Ich kenne gerade mal den Postboten... aber vielleicht will der ja mit."

Jetzt musste Shinji doch unwillkürlich schmunzeln. Er hatte Nates Sarkasmus schon immer gemocht und diesmal projizierte er ein Bild in seinen Kopf, über das er fast sogar laut gelacht hätte.

"Darf ich dabei sein, wenn du ihn einlädst?" Er konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen, aber er konnte sich das Gesicht des Mannes so gut vorstellen, wenn ein wildfremder ihn fragte, ob er mit ihm was trinken gehen wollte, während der einfach nur das Päckchen ausliefern wollte. Das musste ein Bild für die Götter sein.

Doch Nathan schnaubte nur belustigt und schüttelte leicht den Kopf. Wahrscheinlich würde der das tatsächlich machen, nur, damit Shinji etwas zu lachen hatte. Das hatte Nate früher schon immer gemacht. Sicher dachte er, Shinji hätte das nicht bemerkt, aber das hatte er durchaus. Jedes Mal, wenn er traurig war oder Sorgen hatte, hatte Nate begonnen sich auffällig albern zu verhalten. Ihm war fast nichts heilig gewesen, nur, um Shinji wenigstens ein Schmunzeln abzuringen. Wie hatte er nur je glauben können, dass sein bester Freund ihm mit Absicht etwas böses getan hatte? Erst jetzt fiel Shinji auf, wie unglaublich absurd das war. Er hatte ihm wirklich unrecht getan.

"Ich will auf jeden Fall wohin, wo es einen Billardtisch gibt.", warf Nate dann plötzlich ein. "Kannst du noch spielen? Dann zocken wir gleich wieder ein paar Leute ab!"

Ob sein Kumpel da ansetzen wollte, wo sie aufgehört hatten? Sie hatten das früher oft gemacht, hatten sich damit ihr Taschengeld aufgebessert, irgendwelche aufgeblasenen, halb betrunkenen Spinner abzuziehen. Nicht nur sie beide, natürlich. Ihre ganze Clique war dabei gewesen. Solche Erinnerungen waren bittersüß, weshalb er sich gewöhnlich davon fern hielt. Nathan zumindest hatte ihm nie aktiv etwas getan, seine anderen Freunde hingegen schon. Sie hatten ihn nicht nur im Stich gelassen, sondern hatten auch noch kräftig nachgetreten. Das waren Erinnerungen, die so weh taten, dass es ihn fast zerriss. Diesen Verrat konnte niemand je wieder gut machen.

Zurück in der Realität musste Shinji dann doch feststellen, dass das, was Nate vor hatte, gar nicht so furchtbar klang. Nur sie beide und ein Billardtisch. Dann würde auch kein trostloses Schweigen aufkommen und er war auch nicht gezwungen viel zu trinken. Sicherlich käme er auch darum herum mit anderen zu spielen.

"Klingt gut", antwortete er deshalb und entspannte sich ein wenig. Vielleicht war das alles doch nicht so schlimm.

"Natürlich klingt das gut. Ich habe ja auch nur gute Ideen!", prahlte Nate gespielt arrogant und brach dann im nächsten Moment in schallendes Gelächter aus, das so ansteckend war, dass selbst Shinji schmunzelte. Letzterer erinnerte sich noch hervorragend an all die guten Ideen, die Nate im Laufe der Jahre gehabt hatte.

Sie hatten selbst die typische 'nachts, nackt im Freibad schwimmen' Eskapade hinter sich, die natürlich in einer Flucht vor der Polizei geendet hatte. Hätte sein Vater je davon erfahren, er hätte ihn nie wieder vor die Tür gelassen. Aber das war mit vielen Aktion von Nate so gewesen, was allerdings auch den besonderen Charme der Erinnerungen ausmachte. Nur seine Freunde hatten ihn von der Konservativität seines Vater ablenken können, hatten ihn dazu verleitet auszubrechen und sich gehen zu lassen. Ohne sie wäre er untergegangen, denn bevor er Nathan kennengelernt hatte, hatte er sich selbst dermaßen unter Druck gesetzt, um den Ansprüchen seines Vaters zu genügen, dass er daran beinahe zerbrochen wäre. Erst mit den anderen hatte er sehen können, dass das Leben nicht nur aus Lernen und Noten bestand und dass es so viel besser funktionierte, wenn man alles ein wenig lockerer nahm. Absurderweise waren seine Noten dann auch um ein Wesentliches besser geworden. Das waren so schöne Erinnerungen.

"Nur gute Ideen, ja? Wie das eine Mal, als du dich hinter die Theke der Bar geschlichen hast und die edelste Flasche, die du finden konntest, hast mitgehen lassen? Danach mussten wir uns eine andere Stammbar suchen und es hat sich nicht einmal gelohnt! Das war das widerlichste Gesöff, was ich je getrunken hab."

Uralter Whiskey eben, das wussten ein paar Halbwüchsige nicht zu schätzen. Nate hatte damals geschworen, wenn er erst einmal selbst Barkeeper wäre, so etwas ekelhaftes gar nicht erst zu verkaufen. Was für irrsinnig schöne Zeiten.

Das herzliche Lachen von Nate pulsierte durch Shinjis ganzen Körper und versetzte ihn zurück in diese Momente, in denen noch alles gut gewesen war. Er konnte gar nicht anders, als sich zu entspannen und zu genießen, dass er gerade hier war. Vielleicht gab es ja doch noch ein klein wenig Hoffnung für sie beide. Als Freunde, natürlich.

"Die Flasche haben wir trotzdem geleert bekommen, auch wenn es bei manchen Brechreiz ausgelöst hat." Das Lachen verklang langsam und ließ so dem wohligen Gefühl zwischen ihnen noch mehr Raum. "Ja, das waren gute Zeiten. In den zwei Monaten, als du danach Hausarrest hattest, habe ich praktisch bei dir gewohnt, ohne, dass ich deinem Vater je begegnet bin."

Jetzt wo Nate es erwähnte... ja, es war wirklich hauptsächlich er gewesen, der sich zu ihm geschlichen hatte. Wie hatte er all das nur vergessen können?

Anfangs hatte er solche Panik geschoben, aber die war immer unbegründet gewesen. Sein Vater hatte sie nie erwischt.

Nate war immer da gewesen... immer. Shinji konnte sich an kaum einen Tag erinnern, an dem er ihn nicht gesehen hatte. Es war alles so viel einfacher gewesen.

"Ich muss mal schauen, wie gut ich noch Billard spielen kann.", ging er dann endlich auf die vorhin gestellte Frage ein und grinste sogar etwas herausfordernd, als er fortfuhr: "Aber für dich wird es allemal noch reichen." Der Umgang mit Nate war plötzlich wieder so unsagbar einfach. Fast, als wäre wirklich keine Zeit vergangen.

"Oh, du willst gegen mich spielen?" Ja, natürlich wollte er das. Das war immerhin der einzige Weg, wie er andere Menschen von sich fern halten konnte. Aber das herausfordernde Funkeln in Nates Augen, gefiel ihm gar nicht. "Aber nur mit Wetteinsatz."

Shinji schluckte. Konnte denn auch gar nichts einfach mal einfach sein? Musste Nathan es unbedingt in allen Varianten unangenehm für ihn machen? Die vorige Euphorie bekam einen Dämpfer, doch er war zu stolz, um sich davon jetzt einschüchtern zu lassen. "Was schwebt dir vor?", fragte er deshalb.

Das Grinsen, das Nathan ihm dann entgegenbrachte, ließ ihn eiskalt erschauern. Er kannte die Wetteinsätze noch von früher, aber jetzt waren sie älter und vielleicht noch grausamer? Was kam da jetzt? Ein Blowjob? Dass er vor der Kneipe zugeben sollte, dass sie miteinander geschlafen hatten? Ihm wurde kotzübel, wenn er nur daran dachte, aber er hoffte wirklich, dass Nathan mittlerweile erwachsen genug war, um die Grausamkeit hinter so etwas zu sehen und es deshalb sein zu lassen.

"Hmmm...", zog sein Gegenüber die Spannung noch etwas in die Länge. "Wenn ich gewinne, musst du mich eine Woche lang bespaßen."

Bespaßen? Was hieß das? Sex? Sein Hirn versuchte ihm deutlich zu signalisieren, dass es nichts anderes als das sein konnte. Nathan würde doch nicht ernsthaft... "Das heißt, wir treffen uns jeden Tag für eine Woche und machen was zusammen. Sag also schon mal Ade zu deiner Arbeit."

Shinji stieß den angehaltenen Atem geräuschvoll aus. Er schämte sich etwas dafür, dass er tatsächlich gedacht hatte, Nathan könnte das von ihm verlangen, aber zu Shinjis Verteidigung musste bedacht werden, dass er die letzten Jahre wirklich keine besonders gute Erfahrung mit Menschen gemacht hatte. Er hätte sich auf solch eine Wette auch nie eingelassen, aber hätte definitiv fluchtartig die Stadt verlassen.

Eine Woche lang Zeit mit dem anderen verbringen, war zwar auch Horror, aber wenigstens machbar und ein Wetteinsatz musste schließlich ein wenig unangenehm sein, damit man sich besonders rein hängte. Es war in Ordnung und selbst mit seiner Arbeit vereinbar. Er hatte genug Überstunden, mal ganz abgesehen davon, dass er immer und überall arbeiten konnte, solange er nur einen halbwegs vernünftigen Internetanschluss hatte.

Wann hatte er überhaupt das letzte mal Urlaub gemacht? Er konnte sich gar nicht mehr so recht daran erinnern. Oh, doch! Damals, als dieses eine World of Warcraft Add-On rausgekommen war. Ganz schön lange her, wenn man bedachte, dass er das Spiel schon eine ganze Weile nicht mehr angerührt hatte.

"Okay...", stimmte er zu und schwieg, weil ihm kein Gegeneinsatz einfiel. Er wollte nicht verlangen, dass Nathan ihn danach in Ruhe ließ. Das brachte er gerade nach diesem Gespräch nicht mehr übers Herz. Aber was sonst? Er hatte keinerlei Hobbys oder Wünsche oder sonst irgendwas. "Ich... muss über meinen Teil noch nachdenken.", wich er dann aus. Sie beide wussten, dass Nathan nicht zurückschrecken würde, egal mit was er ankam.

Als Antwort grinste Nathan heiter und schnippte ihm leicht gegen die Stirn. Eine Handlung, die Shinji verwirrte, weil er nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Außerdem war sie ihm unangenehm und viel zu intim.

"Denk dir was schönes aus. Du weißt ja: das sind Ehrenschulden.", schob Nathan noch nach, was Shinji trotz aller Verwirrtheit und Überforderung grinsen ließ. "Keine Sorge", antwortete er gelassen. "Spätestens, wenn ich dich in Grund und Boden gespielt habe, fällt mir schon was ein."

Gerade als Nate noch etwas antworten wollte, schlurfte Lily an ihnen vorbei, um den leeren Joghurtbecher zu entsorgen. Es wirkte so, als hätte die kurze Pause auf der Couch ihr alle Kraft genommen. Es war nichts mehr von dem Wirbelwind da, der vorhin noch in die Wohnung gefegt war. Schlagartig wurde Shinji bewusst, dass sie alles hatte mithören können, was sie gesagt hatten.

"Könntest du Hana dann abholen? Sie hat bestimmt noch Hausaufgaben zu machen und mit dir geht sie gleich mit. Wenn ich komme, muss ich eine Stunde auf sie warten."

Lily klang mitleiderregend fertig. Vorhin hatte Shinji nicht ganz verstanden, warum sie unbedingt Nate schicken wollte, um ihre Tochter zu holen. Wenn er ehrlich war, hatte er das sogar ziemlich mies gefunden, schließlich war es ja ihr Kind. Doch nun verstand er. Diese Frau war einfach vollkommen überfordert und als alleinerziehende Mutter hatte sie auch alles Recht dazu, wie er fand.

"Entschuldige", richtete sie sich dann an Shinji, doch er winkte nur ab. Kinder gingen vor. Nach seinen eigenen Erlebnissen war er davon besonders überzeugt.

"Ich kann dich heim bringen, wenn du möchtest. Ich hab ein Auto.", bot Nathan auch gleich an und Shinji war sich recht sicher, dass er das nicht nur aus reiner Nächstenliebe tat. Wenn er ihn heim brachte, hatte er schließlich auch seine Adresse. Aber das ging Shinji dann doch zu weit. Er wollte wirklich nicht, dass der Andere einfach bei ihm auftauchen konnte. Noch immer grauste es ihn davor, was die anderen Anwohner denken könnten, wenn plötzlich ein Kerl bei ihm ein und aus ging. Nein... nein. Das würde niemals passieren.

"Danke, aber nein. Ich muss ja noch einkaufen." Eine schöne Ausrede, vor allem, weil sie stimmte.

Man merkte deutlich, wie unsicher er immer noch war, als er aufstand und sich aus alter Gewohnheit und Erziehung vor Lily verneigte. Normalerweise waren die japanischen Traditionen nämlich weit aus seinem Bewusstsein verbannt.

"Es hat mich gefreut dich kennen zu lernen und vielen Dank für die Gastfreundschaft." Das klang so steif und formell, aber er konnte einfach nicht anders.

Als sich Shinji wieder aufrichtete, sah er, dass auch Lily sich eilig verneigte. Keine unübliche Reaktion, die dennoch pure Überforderung widerspiegelte. Ja, das passierte vielen, wenn sie mit fremden Traditionen in Berührung kamen, aber das war nicht schlimm. Im Gegenteil, es war immer wieder angenehm mit anzusehen, wenn andere versuchten, sich anzupassen. Das zeugte von Sympathie.

Nathan nutzte die Gelegenheit und verwuschelte ihr die Haare. Sehr freundlich. Mit einem aufgebrachten "Nate!" richtete sie sich wieder auf und richtete sich ihre Frisur.

"Entschuldige nochmals, dass ich euch einfach so unterbreche.", fuhr sie dann an Shinji gewandt fort, als wäre nichts gewesen. Der schüttelte nur eilig den Kopf: "Nein, kein Problem. Ich verstehe das."

Daraufhin lächelte Lily versöhnlich und fuhr fort: "Aber komm uns doch bald wieder besuchen. Er hat früher viel von dir erzählt. Ich freue mich, dass ich endlich die Person hinter dem Namen kennenlerne."

Nate, der hinter sie getreten war, verdrehte nur die Augen und rettete ihn davor, auf das Angebot eingehen zu müssen: "Und sie quasselt weiter... gehen wir?"

Shinji indes verstand nicht ganz, warum Lily ihn so unbedingt kennenlernen wollte. Ja, er und Nathan waren damals beste Freunde gewesen, aber rechtfertigte das schon, dass sie ihn so dringend kennenlernen wollte? Vor allem, wo sie sich doch komplett aus ihrem Gespräch rausgehalten hatte? Das war zu hoch für ihn. Deshalb war er auch froh endlich gehen zu können.
 

Im Flur griff Nathan dann ihr Gespräch noch einmal auf: "Was deine Kampfansage angeht... ich bin definitiv gespannt, auf dein Billardspiel. Ich hoffe nur, du erschlägst nicht versehentlich jemanden mit einer Kugel oder stichst jemandem mit dem Queue ein Auge aus."

Shinji konnte daraufhin aber nur die Augen verdrehen: "Klar hoffst du das, schließlich wärst du dann das potentielle Opfer. Aber keine Sorge, so viel Zeit kann zwischen den Spielen gar nicht vergehen, dass ich so schlecht werde." Und davon war er fest überzeugt. Er würde erst wieder rein kommen müssen, aber im Billardspielen war er damals schon ein Naturtalent gewesen. Merkwürdig eigentlich, weil er sonst nie besonders viel Körpergefühl und Feinmotorik besaß. Manchmal waren Talente eben ungewöhnlich.

Als sie am Supermarkt angekommen waren, wollte Shinji sich schon ganz locker verabschieden und sich dann einfach abwenden. Aber Nathan hatte andere Pläne und zog ihn einfach in eine Umarmung. Vollkommen irritiert spannte Shinji sich an und überlegte fieberhaft, ob das jemand missinterpretieren konnte. Definitiv ja! Aber noch ehe er reagieren konnte, ließ Nathan ihn auch schon wieder los, sodass es nun an Shinji blieb ihm betont lässig auf die Schulter zu klopfen und sich mit einem "Ehm... bis morgen dann." sehr unelegant zu verabschieden.

"Passt dir neun Uhr?", fragte Nathan noch und wandte sich dann ab, nachdem Shinji zustimmend genickt hatte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Es gibt gezeichnete Bilder von Nate und Shinji.
Vielen Dank dafür an @Autorwesen
Shinji: https://twitter.com/Autorwesen/status/934497155343093760
Nate: https://twitter.com/Autorwesen/status/941809464398827526 Komplett anzeigen

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