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Nicht in Zuckerwattenhausen

von

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Zwischen den Zeilen

Marlene Moll, unser Neuzugang vom Wochenende, saß unten in der Cafeteria und saß als eine der Letzten noch am Tisch. Mit Stepp tanzenden Fingern wartete sie darauf, dass ich sie in ihr Zimmer begleitete – ihre Nägel mussten ziemlich hart und robust sein. Sie war eine Frau, die viel Wert auf ihr Äußeres legte und geblümte Blusen und Goldschmuck trug. Ihre Haare trug sie zu einer Dauerwelle und rot gefärbt. Eigentlich sah sie gar nicht aus wie Ende Achtzig, und sie war auch noch sehr selbstständig.

Ich hatte den Eindruck, dass sie schon viel zu lange allein gewesen war. Denn heute hatte sie mir fast ein Ohr abgekaut, und das, obwohl ich mich ihr gerade erst vorgestellt hatte. Von ihrem Kater, der vor Kurzem gestorben war – niemals hätte sie gedacht, dass sie das Tierchen überleben würde, von ihrer Urenkelin, die vor drei Wochen auf die Welt gekommen war. Und von ihrer Tochter, der sie nicht verzeihen würde, dass sie sie ins Heim gesteckt hatte – nur weil man ein bisschen vergesslich wurde im Alter und es vorkam, dass man die Herdplatte an- oder den Kühlschrank offen ließ, während man einkaufen war.

„Und? Hat es Ihnen geschmeckt?“ Ich half ihr beim Aufstehen, zog ihren Rollator heran. Dankbar stützte sie sich darauf.

„Nicht wirklich. Die Leberknödel hätten würziger sein können. Aber egal. Viel Appetit hatte ich sowieso nicht.“

„Die mag ich auch nicht, aber der Kaiserschmarrn ist sehr zu empfehlen.“

„Wie?“, fragte sie nach. „Sie bekommen das gleiche Essen wie wir Insassen?“

„Ja“, bestätigte ich ihr, fand es zugleich traurig, dass sie sich als Insasse bezeichnete, als wäre das Heim ein Gefängnis. Vielleicht könnte ich sie vom Gegenteil überzeugen.

Gemeinsam gingen wir durch die breite Tür hinaus auf den Flur. Der Fahrstuhl war nicht zu weit entfernt.

„Findet heute nicht dieses Gruppenhäkeln statt, das man mir einreden wollte?“

„Morgen. Dienstags, nicht montags.“

„Ich weiß nicht. Ich häkele und nähe so ungern. Das war nie mein Steckenpferd, die Kleidung von meinem Mann habe ich immer heimlich in die Schneiderei gebracht.“ Sie begann zu kichern. „Er hat das nie bemerkt.“

„Ich kann auch nicht häkeln“, lächelte ich und tätschelte ihr die Schulter. „Aber wir bieten auch noch andere interessante Sachen an, ich kann Ihnen gerne mal das Programm geben. Es gibt einen Chor, soweit ich weiß, ist der immer donnerstags.“

„Danke, das wäre sehr nett.“
 

Die Türen öffneten sich im zweiten Stock und sie ging nach mir hinaus.

„Dominique! Hier bist du!“ Ich vernahm die Stimme von Fatima, die gerade die Treppen hoch eilte. Ihr ganzes Gesicht schien zu strahlen. Heute trug sie ihre Haare zu zwei Zöpfen, die sie an den Seiten zu Schnecken gedreht hatte.

„Hallo, Frau Moll! Na, haben Sie sich schon eingelebt?“

„Hallo, meine Liebe“, grüßte sie zurück. „Naja, du weißt ja, einen alten Baum verpflanzt man nicht...“

„Frau Moll, ich werde Sie gießen und düngen, und hegen und pflegen, sodass Sie sehr bald hier Wurzeln schlagen, Ehrenwort!“ Dann reichte sie mir einen braunen Briefumschlag. DOMINIQUE stand in Druckbuchstaben aus Edding darauf, das Q doppelt unterstrichen, und daneben ein Smiley.

„Oh, mein Lohn! Nett von dir, Fatima!“, scherzte ich und nahm ihn entgegen.

Sie schüttelte den Kopf. „Du wirst nicht glauben, von wem der ist…“

„Ich höre?“

„Von Blondy!“ Sie grinste breit und mir blieb die Luft weg.

„Er heißt Sandro“, gab ich zurück, nur um irgendwas zu sagen. Und ihre Augen leuchteten.

„Ha! Du bist ja bestens informiert! Und jetzt verrate mir mal. Wieso schreibt er dir? Ist da irgendwas vorgefallen, von dem ich nichts weiß? Vielleicht am Wochenende, hast du da mit ihm getanzt in der Disco, in die ich noch nicht reindarf?“ Sie grabbelte mir am Ärmel herum wie ein quengelndes Kleinkind. „Warte nur ab, bis ich achtzehn werde dieses Jahr, dann komm ich mit und wir rocken die Bude!“

„Ist gut jetzt, Fatima!“, sagte ich extra laut, mit einem warnenden Blick zu Frau Moll, und schüttelte sie ab. Vor Wut könnte ich platzen – hier bei der Arbeit wollte ich damit nicht hausieren gehen!
 

Ich begleitete Frau Moll in ihr Zimmer, immer noch mit glühenden Wangen, während ich den Umschlag befühlte und rätselte, was Sandro mir da geschickt hatte. Waren Briefbomben hart und quadratisch?

Hier drinnen roch es nach frischer Bettwäsche, der blumigen Seife aus dem Bad und ihrem Parfüm. Dieser Duft steckte in jeder Ritze, schon nach so wenigen Tagen – am Samstag war sie erst eingezogen. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor einigen Tagen noch jemand anderes gewohnt hatte. Aber mit all ihren persönlichen Dingen und Fotos war es jetzt ein ganz anderes Zimmer.

„Von welchem jungen Mann redet sie?“, schaltete sich Marlene ein, sobald die Tür zu war. Oh nein! Das hatte mir gerade noch gefehlt! Fatima – wenn ich sie in die Finger kriegte!

„Niemand“, wehrte ich barsch ihre Frage abzuwehren. „Also, ich hole dann mal das Prospekt, gerade habe ich etwas Luft…“

„Lenken Sie nicht ab!“, funkte sie mir dazwischen und ich erstarrte in der Bewegung. „Und öffnen Sie endlich dieses Päckchen, Sie platzen ja schon vor Neugier, und ich will auch wissen, was da drin ist.“

Sie steuerte den Sessel am Fenster an, an ihrem Schreibtisch mit Blick zum Garten, und ließ sich behäbig darauf nieder.

„Dieses Päckchen ist an mich adressiert, Frau Moll“, machte ich deutlich. „Es ist privat.“

„Sie machen auf!“ befahl sie in ihrer gnadenlosen Boss-Stimme, griff in ein ledernes Mäppchen und reichte mir einen kunstvoll verzierten Brieföffner aus Metall. Gegen sie wirkte selbst Eckhart wie ein Azubi. „Oder ich rühre morgen keine einzige Mahlzeit an!“

„He!“, rief ich entrüstet, „das ist Erpressung, das wissen Sie?“

„Ich ziehe das knallhart durch, ich wollte sowieso nicht in dieses…“ Sie überlegte kurz einen passenden Ausdruck: „Etablissement hier! Also, zurück zu Ihrer Post.“

Sie hatte mich in die Ecke gedrängt. Ich knirschte mit den Zähnen, den Blick im Zimmer umherschweifend. Neben Fotos von ihrer Familie und einem fetten Kater hing auch ein Bild an der Wand. Ein Gemälde, das einen alten Mann zeigte, der es sich auf seinem Dachboden, umringt von Büchern und Zeitungen unter Decken bequem gemacht hatte.

„Was ist das für ein Bild?“, fragte ich.

Sie schaute nun ebenfalls dort hin. „Es heißt Der arme Poet, und Carl Spitzweg hat es gemalt. Natürlich ist das hier nur ein Nachdruck…Kanntest du es nicht? Es ist ein sehr bekanntes von ihm. Mein Mann hat es mir geschenkt. Tja, nicht ohne Grund, hihi. Also?“

Immer noch starrte sie mich erwartungsvoll an hinter ihren dicken Brillengläsern. Dieses Ablenkungsmanöver hatte rein gar nichts gebracht, so gut funktionierte ihr Kurzzeitgedächtnis noch.

„Sie… haben mitbekommen, was Fatima gesagt hat?“, begann ich zaghaft. „Auch die Passage mit dem Tanzen..?“

„Das war ja kaum zu überhören.“ Sie lächelte und zeigte eine Reihe ihrer Zähne. „Und gerade deswegen will ich es vorgelesen bekommen. Andernfalls hätte es mich gar nicht interessiert.“

Na sowas. Jetzt war ich wirklich überrascht. Ich ergriff ihren Brieföffner und schlitzte damit den Umschlag auf. Die Plastikhülle einer CD kam zum Vorschein. Die unscheinbare, selbstgebrannte CD war in Filzstift beschriftet mit GITTARRHÖ#1 45:37. Außerdem fand ich zwei Karamellbonbons und ein gefaltetes Karoblatt vor, auf dem in krakeliger Handschrift geschrieben stand:
 

Dominique,
 

es tut mir leid, dass ich dich so angeschnauzt habe, du konntest ja nicht wissen, wie mein Vater so drauf ist. An diesem Tag hab ich echt die Nerven verloren. Du kümmerst dich gut um ihn, wirklich gut. Danke dafür, auch wenn er sagt, dass das ein weibischer Beruf ist, ignorier das einfach.

Ich werde ihm nicht mehr so viel zu naschen bringen, es ist nicht gesund für ihn, da hast du Recht.
 

Du hast ja gesagt, dass dir unsere Musik gefällt, also schenke ich dir diese Scheibe. Zehn unserer eigenen Songs, einige davon haben wir im Kopfstand gespielt. Okay du musst sie nicht anhören, aber es würde mir sehr viel bedeuten.
 

Ruf an falls dir danach ist,
 

Sandro
 

P.S.: Und auch wenn du süß genug bist, Sweetie, lass es dir schmecken!
 

Das große S seiner Unterschrift bildete eine Art spiegelverkehrten Violinschlüssel. Unter den paar Zeilen stand seine Handynummer! Was glaubte er…

Ich schielte zu Marlene, die, die Augen geschlossen, im Sessel zurückgesunken war und ein breites Grinsen auf den Lippen hatte.

„Sind Sie nun zufrieden?“, fragte ich sie.

„Zauberhaft. Ein Liebesbrief, offenkundig…“, murmelte sie.

Mir entgleisten sämtliche Gesichtszüge – hatte ich mich verhört? Wie konnte sie denn so etwas in diese paar Sätze hinein interpretieren? „Frau Moll, haben Sie überhaupt zugehört, als ich vorgelesen habe?“

„Natürlich habe ich das. Ich bin vielleicht alt, aber nicht alteingesessen. Es steckt ganz deutlich zwischen den Zeilen… Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar, sagt man.“

„Aha.“ Ich packte alles wieder in den Umschlag ein und bemerkte wie meine Wangen glühten. Nicht nur von dem Lob für meine Arbeit.

„Übrigens, danke, Frau Moll.“

„Wofür?“

„Naja.. Dass Sie alles so gelassen aufgenommen haben.“ Denn bei ihr hatte ich wirklich Glück gehabt.

„Aber das ist doch nicht der Rede wert. Sie dürfen nicht solche Vorurteile haben vor alten Menschen.“
 

~
 

Einige Stunden später lag ich zuhause ausgestreckt auf meinem Bett lauschte der CD, die im CD-Player rotierte, während ich an die Decke starrte und überlegte. Der intensivste Moment, der mir im Gedächtnis geblieben war, war nicht etwa die Begegnung mit Sandro in der Toilette gewesen. Sondern der stumme Blickkontakt mit David während des Auftritts. So…prüfend, fast schon wissend, und gleichzeitig resignierend hatte er mich angeschaut, so ein Aha-Erlebnis habend, wie es in diesem Moment um mich und meine Hormone bestellt war.

Was war wirklich Sandros Motivation, sie mir auszuhändigen? Und seine Handynummer dazu?

Was für eine Frage. Wenn ich das nicht wusste, war ich wirklich so doof wie eine Qualle.
 

Schon wählte ich Davids Nummer. Ich musste jetzt einfach seine Stimme hören, und wissen wie es ihm ging, immerhin hatte ich seit Samstag nichts mehr von ihm gehört. Wo wir uns doch immer in Skype endlos über Gott und die Welt unterhalten hatten. Diese Gespräche vermisste ich so sehr.
 

„Wie war dein Wochenende?“

„Ja, ganz gut…“

„Was machst du denn im Moment?“

„Lernen“, lautete seine Standardantwort darauf, dieses böse L-Wort, das ich schon langsam nicht mehr hören konnte. Und ich stellte mir vor, wie er am Schreibtisch vor seinen Ordnern und Büchern über tausendjährige Weisheiten brütete und dabei verschrumpeltes Trockenobst naschte.

„Ich könnte in einer halben Stunde bei dir sein.“ Falls du Lust auf etwas Frisches, Knackiges bekommst, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Dominique, ich ersticke hier echt in Arbeit. Du würdest mich nur aufhalten. Sorry.“

„Ich will dich wirklich nicht aufhalten…“, begann ich.

„Dann schreib mir eine SMS, oder eine Mail, und die beantworte ich dann, wenn ich Zeit habe.“ Ziemlich pampig klang das! Es erschütterte mich nahezu.

„Ich verstehe ja, dass du viel lernen musst, aber für deinen Freund könntest du mal fünf Minuten Pause machen! Nichts gegen deinen Fleiß, aber weißt du nicht, dass du den Stoff viel schlechter behältst, wenn du im Akkord lernst?“

David schnaufte so tief durch, dass es in der Leitung knirschte. „Okay, sprich, was gibt’s?“

„Hast du deinen Eltern von mir erzählt?“, wollte ich wissen.

„Was glaubst du denn?“

Ich schluckte angesichts seines harschen Tons. „War ja nur eine Frage. Ich besuche dich dann morgen, okay? Ich verspreche auch, dass ich dich nicht nerve, ich werde mich ganz still in eine Ecke verkrümeln und dich nicht beim Lernen stören...“

Er antwortete nicht.

„David?“

Immer noch Stille.

„Bist du noch dran?“

Und dann sagte er etwas, das mir den Boden unter den Füßen wegzog: „Ich denke, wir sollten uns besser nicht mehr treffen.“

„Was?! Wieso denn?“

„Weil…Das ist alles so… so fruchtlos!“

„Fruchtlos? Du sprichst in Rätseln…“

„Pures Vergnügen! Führt zu nichts, meine ich!“, wurde er deutlicher.

„Was meinst du? Dein Studium?“, fragte ich völlig verwirrt und ratlos.

Schnauben. „Nein! Das meinte ich nicht damit.“

Dann war klar, was er meinte, genauer gesagt, wen. „Hey. Ich verstehe nicht, wieso? Wegen Samstag? Das war doch nicht für nichts, oder?“

„Halt die Klappe! Kein Wort mehr davon! Verdammt! Ich habe noch nie gelogen. Nie meine Freunde und meine Familie belogen. Bis ich das mit dir angefangen habe! Willst du die Wahrheit wissen, Dominique? Es wächst mir über den Kopf!“

„Tatsächlich?“, murmelte ich. „Weißt du, vielleicht würde es dir besser gehen, wenn du einfach die Wahrheit sagst? Wenn WIR uns bekennen? Was soll schon groß passieren? Wovor hast du konkret Angst? Und vor wem?“

„Was soll schon passieren?!?“, brüllte er in den Hörer, und seine Stimme überschlug sich dabei. „Meinst du das ernst? Du weißt echt gar nichts von der Welt! Irgendwann kommt der Tag, an dem du feststellst, dass du nicht in Zuckerwattenhausen lebst, aber dann, sage ich dir, wird es schon zu spät sein!“

„Zuckerwattenhausen?!“

„Ja! Als wir mit Mik auf dem Volksfest waren, und du dir eine Zuckerwatte gekauft hast, da hast du gesagt, dass du am liebsten in Zuckerwattenhausen leben würdest. Aber jetzt lenk nicht vom eigentlichen Thema ab.“

Das wusste ich schon gar nicht mehr. Aber es sprach für sich, wenn David sich das gemerkt hatte.

„David! Es hat dir doch gefallen! Egal, wie sehr du das abstreitest!“

Er schnaubte in die Leitung. „Scheißegal! Dich kümmert es doch gar nicht, was ich will; ob ich was will oder nicht, wann ich was will und wann nicht, alles was dich interessiert, bist du! Du! Du!! DU!!! Verdammt, merkst du das noch nicht mal!“

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich sprang auf, lief Kreise in meinem Zimmer und dachte fieberhaft nach. Woher hatte er den Eindruck, ich würde mich nicht für ihn interessieren? Hatte ich irgendeine Grenze überschritten? Etwas übersehen…?

Als ich aufsah, schaute ich direkt in Davids Augen. Er saß schüchtern neben mir und Mik auf der Eckband der Karaokebar an jenem Abend. Diesen Handykamera-Schnappschuss hatte ich entwickeln lassen, gerahmt und in meinem Zimmer aufgehängt. Dieses Bild, das hatte einfach was; die Gesichter voller Unbeschwertheit und im Hintergrund die bunten Farben der Bar. Vielleicht, weil ich es mit den Emotionen dieses Abends verband, die Stimmung und die Gewissheit, dass wir noch viele spaßige Abende zu dritt miteinander verbringen würden.

Da redete er schon weiter: „Meine Überzeugung ist, dass Männer erschaffen wurden, um Frauen zu lieben, und umgekehrt. Weil sie sich ergänzen.“

„Ach. Und die Tiere hat Gott erschaffen, damit der Mensch was zu essen hat, ja?“, konterte ich, und wusste wie sehr ich ihn, den überzeugten Vegetarier, damit provozierte. „Merkst du selbst, wie lächerlich das klingt?“

„Komm mir nicht mit Gott, nicht du!“, schnaubte er. „Ich sagte, das ist meine persönliche Überzeugung! Du kannst nichts dafür, dass du bist wie du bist, aber das gilt genauso für mich.“

Zutiefst empört holte ich Luft. „Aber gerade durch die Religion bist du doch zu dieser Überzeugung gelangt!“ Ich kämpfte mit meiner Stimme, die mir auf keinen Fall versagen durfte. „Du hast verinnerlicht, was du von klein auf gepredigt bekommen hast, bis ins Mark ist dir diese ewiggestrige Scheiße gedrungen… David?! Hey, rede mit mir! Lass uns das jetzt ausdiskutieren!“

Doch David hatte längst aufgelegt und machte somit jegliche Diskussion unmöglich

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War das zu fassen?! Er hatte einfach aufgelegt! Am liebsten würde ich das Handy aus dem Fenster werfen. Wieso hatte er sich denn überhaupt auf mich eingelassen, wenn das gegen alles ging, woran er glaubte? Niemals würde ich verstehen, was im Gehirn von David Zimmermann so vor sich ging. Niemals!

Ich brauchte eine Weile, um das zu realisieren. Hatte er jetzt wirklich Schluss mit mir gemacht? Ja. Hatte er definitiv. Am Telefon! Schluss! Weil ich Kerl war?! Weil dieser ganze Religionskram keine Rolle in meinem Leben spielte, und in seinem eine zu große?

Das war zu viel für mich, zu viel, alles was er angesprochen hatte, drehte Schleifen in meinem Kopf.

Wozu das ganze Kuscheln und Süßholzgeraspele von seiner Seite? Das hätte er sich von Anfang an sparen können. Ich kam mir verarscht vor. Mehr noch: verraten. Ein Umstand, den kein Mensch auf sich sitzen lassen sollte, wenn er nur ein bisschen Selbstwertgefühl hatte. Etwas, das mir scheinbar fehlte. Ich spielte Sandros CD nochmal von vorne ab, stopfte die Karamelle in mich hinein und schmiss mich schließlich aufs Bett, wo ich den Kopf unter meinem Kissen begrub.
 

Ich wusste nicht, wie lange ich geweint hatte, aber als ich den Kopf hob, war es dunkel draußen.

Ich schielte zu der CD-Hülle auf dem Nachttisch, nahm den Zettel mit seiner Nummer. Sandro war sicher der letzte Mensch, der Davids Meinung teilen würde. Sie waren komplett verschieden. Aber sollte ich das wirklich tun – nach allem?

Mit zitternden Fingern tippte ich seine Nummer ein, dann drückte ich entschlossen auf die grüne Taste. Was sollte schon passieren, außer dass er dran ging.

Das Freizeichen erklang – die Nummer war also schon mal echt. Meine Aufregung auch.

„Wer ist dran?“, meldete er sich mürrisch nach dem zweiten Tuten, und klang mal so gar nicht nach Sandro.

Ruhig Blut! Hol Luft! „Hallo... Ich bin´s, Dominique. Ehm…aus dem Altenheim... Äh, aber jetzt habe ich schon lang Feierabend.“ Bravo. Fünfhundert Punkte in der Disziplin Sich-zum-Affen-machen!

„Ach so, du! Dominique mit Q“, erwiderte Sandro darauf und seine Stimme hellte sich auf. „Feierabend, ja? Wie geht’s dir sonst so?“

„Gut“, sagte ich routiniert, weil das meine Standardantwort auf diese Frage war. Was wollte er auch schon hören? Richtig scheiße geht es mir, weißt du, mein Freund hat mich gerade eben am Telefon abserviert?!

„War wohl wirklich etwas dreist von mir, das deinem Vater zu erzählen, nur um etwas Smalltalk mit ihm zu machen. Das kommt nicht wieder vor, versprochen“, entschuldigte ich mich bei ihm für den Vorfall, der überhaupt der Auslöser des Ganzen gewesen war.

„Schon okay“, sagte Sandro, „konntest du ja nicht wissen, dass er bei diesem Thema so austickt.“

„Ist eigentlich nur dieses Thema ein heißes Eisen? Was sagt er zum Beispiel dazu, dass du schwul bist?“, fragte ich geradeheraus. „Hat er deswegen deine Gitarre…na, du weißt schon.“

Und ich hörte daraufhin, wie er die Luft scharf einzog. Was? War ich schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten?

„Er weiß davon nichts. Noch nicht. Das hat damit nichts zu tun gehabt. Da war ich noch ein Kind gewesen.“

„Wie, er weiß noch nichts?“, wiederholte ich. Gut, ich wusste nun, dass sein Verhältnis zu ihm nicht das Allerbeste war, aber dass er so rein gar nichts davon erzählt hatte, verwunderte mich nun aber doch – immerhin war er ein paar Jahre älter als ich. Wie hatte er das denn so lange geheim halten können?

„Ich habe es mir aber vorgenommen, definitiv. Heute kann er nämlich keine Gitarren mehr nach mir werfen“, sagte er mit nicht zu überhörenden Sarkasmus in der Stimme, und ich spürte, dass er das Thema wechseln wollte.

„Ich habe deine CD angehört.“

Pause.

„Und?“

„Ich finde, ihr habt reife Arbeit geleistet!“, sprudelte es aus mir heraus. „Das geht so ins Ohr, ins Herz, das vierte fand ich am allerbesten, obwohl es sehr düster ist, mag ich es sehr.“

„Das habe ich geschrieben, zwischen Tür und Angel ging das in einem runter, das weiß ich noch, mir war so, als ob der Text schon immer da gewesen wäre. Es gibt Songs, die schreibst du, und es gibt Songs-…“, begann Sandro, verstummte dann aber. Im Hintergrund hörte ich Gesprächsfetzen und ein Piepsen wie das von Supermarktkassen.

„Bist du gerade unterwegs?“, fragte ich und hörte mich viel zu neugierig an.

„Ja, ich bin gerade an der Kasse im Rewe. Tilmann und ich wechseln uns mit dem Einkaufen ab… und ausgerechnet ich muss nachher diese fette Packung Klopapier nach Hause tragen…“

„Tilmann und du – ihr wohnt zusammen?“, wiederholte ich zum Verständnis.

„Ja. Nur wohnen. Eine Wohngemeinschaft“, erklärte Sandro und wieder lachte er. „Er ist ja auch in meiner Band. Komm doch mal vorbei, morgen hätte ich Zeit.“

„Mal schauen.“ Kopfschüttelnd legte ich auf. Blödmann, ich Blödmann, überhaupt anzurufen.

Keine zehn Minuten später schickte mir Sandro eine SMS mit seiner Adresse.



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