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Maybe

Geschichte einer Ersten Liebe
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier nun das erste Kapitel.
Voran möchte ich natürlich Yun in den Vordergrund rücken. Dieser erste Teil ist auf ihn ausgerichtet und im ersten Kapitel lernen wir ihn kennen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
In diesem Kapitel möchte ich euch Yuns Umfeld etwas näher bringen. Seinen Alltag und seine Freunde. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Trommelwirbel bitte... *drrrrrr* Nun kommt es endlich zur ersten Begegnung zwischen Yun und Robin. "Maybe" macht damit einen großen Schritt nach vorn. Ich war beim schreiben selbst schon ganz ungeduldig, weil ich mich auf diverse Szenen gefreut hatte.
Ich bin gespannt, was Robin für einen Eindruck auf euch macht. Lasst es mich wissen ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
In Kapitel 5 passiert so einiges, deswegen ist es auch etwas länger ausgefallen.
Die Beziehung zwischen Yun und Robin verkompliziert sich massiv. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dies ist das vorläufig letzte Kapitel, dass uns aus Yuns Sicht geschildert wird. Im nächsten Kapitel beginnt Robin seine Geschichte zu erzählen und dadurch werden einige Fragen, die vielleicht in den ersten Kapiteln offen geblieben sind, beantwortet.
Nun aber zu Yun, der über sich hinauswächst und zum ersten Mal in seinem Leben wirklich Stärke zeigt. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier nun das erste Kapitel vom 2. Teil von Maybe. Robin erzählt Komplett anzeigen

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Prolog

Woher weiß man, ob man jemanden mag, oder nicht? Ob es nicht nur mögen ist, sondern mehr? Oder ob es nicht nur nicht mögen ist, sondern weniger?

In diesem Sommer geriet ich das erste Mal zu dieser Frage völlig in Verwirrung. Vor mir hatte sich eine neue, undefinierbare Welt aufgetan, die ich nicht zu entschlüsseln vermochte und alles begann mit einem einzigen Wort: Maybe

So wie Ich

Maybe
 

1. Teil
 

Yun
 

So wie Ich
 

06:30 Uhr.

Schlaftrunken und fernab von jeglicher Realität tastete ich nach meinem Handy um den nervenden Weckrufton zu eliminieren, welcher mich im Abstand von neun Minuten die letzte halbe Stunde regelmäßig aus dem Dämmerschlaf gerissen hatte.

Was soll´s, dachte ich mir, richtete mich auf und rubbelte mir mit beiden Händen übers Gesicht. Fahles Licht drängte durch meine Vorhänge und ich blinzelte ihm entgegen.

Montagmorgen. Ein elender Morgen, wie ich jetzt schon wusste, denn die Ferien waren vorbei und ab heute würde ich mich, zu meinem Entsetzten, durch den ersten Tag des Abschlussjahres kämpfen. Und kämpfen war definitiv das richtige Wort.

Ich sah sie schon vor mir. Horden von Abgängern und Neuankömmlingen, die sich durch die engen und schon lange renovierungsbedürftigen Schulflure drängten, auf der Suche nach dem richtigen Klassenraum, den Schulkammeraden oder einer unbeobachteten Ecke auf dem Schulgelände, welche schon einigen Fünftklässlern als Raucherversteck diente. Und manchmal auch zu anderen Zwecken.

Verkommene Welt.

Voller Unmut schlug ich die Bettdecke zurück und setzte beide Füße auf den Boden. Fröstelt zog ich sie sofort wieder ein Stück nach oben. Verfluchter Laminatboden. Trotz Sommer, hatten die Temperaturen kaum an der Fünfundzwanziggradmarke gekratzt und in der Nacht konnte es einem vorkommen, wie im späten Herbst.

Da meine Mutter darauf bestand, die Fenster in allen Schlafräumen ständig geöffnet zu halten, es war ja so gesund, zeigte mir die Temperaturanzeige ein meinem Multifunktionschronometer knapp siebzehn Grad Celsius, was sich auch auf meinen Holzfußboden niedergeschlagen hatte.

Memo an mich selbst: Meine Mutter um einen neuen Teppich, oder wenigsten einen Läufer anbetteln.

Mit einer Gänsehaut überzogen, quälte ich mich auf die Beine, betätigte den Lichtschalter und das Licht stach mir in die Augen. Also wieder aus damit. Bis ich aus dem Bad zurück war, würde es hell genug sein, um meine Schulklamotten zu finden, die sich irgendwo in den Weiten meines, zugegebenermaßen, sehr unordentlichen Kleiderschrankes versteckt haben mussten.

Im Badezimmer angekommen konnte ich mich nun dem Grauen der Vierzigwattbirne doch nicht mehr entwinden und kleine Sternchen begannen vor meinen Augen zu tanzen. Ich kniff sie für einen Moment zusammen, öffnete sie langsam und gewöhnte mich an das grelle Licht.

Nachdem ich mein morgendliches Geschäft erledigt hatte, trat ich an das Waschbecken und das kalte Wasser, was noch immer vor dem warmen kommt, jagte mir einen erneuten Schauer über den Rücken.

Genervt sah ich in den Spiegel auf Kopfhöhe und war der Morgen nicht schon deprimierend genug gewesen, so erreichte er jetzt seinen Tiefpunkt.

Zwei müde, gerötete Augen starrten mich an, gesetzt in ein Gesicht, das nicht so ganz zu einem siebzehnjährigen Jungen zu gehören schien.

Das Gesicht rundlich mit hohen Wangenknochen; eine kleine Stupsnase; schmale, wasserblaue Augen und dazu ein geschwungener Mund, der mir stets einen leicht melancholischen Ausdruck verlieh.

Und auch wenn ich den Rest meines Ichs im Spiegel nicht sehen konnte, war mir klar, dass er dort nicht besser aussah.

Schmale Schultern, hagerer Oberkörper, dünne Arme und Storchenbeine. Dazu kein Haar an der falschen Stelle, was mich noch unmännlicher machte.

Eine gute Freundin nannte mich „die asiatische Schönheit“. Sie redete mir ein, ich solle doch froh sein, mich nicht rasieren zu müssen.

Wollte ein Siebzehnjähriger so etwas hören? Wohl kaum. Ein zwei Härchen hier und da hatten doch noch niemandem geschadet.

Immer wenn ich mich im Spiegel betrachtete, wurde mir klar, dass ich nicht dem Idealbild der heutigen Jungend entsprach und dass sich das, proportional zu meinem Alter, niemals ändern würde.

Ich würde immer der kleine Halbjapaner bleiben, mit den femininen Gesichtszügen und dem unterdurchschnittlichen Körperbau.

Mal wieder unzufrieden mit mir und der Welt schwappte ich mir eine Ladung, inzwischen warmgelaufenen, Wassers ins Gesicht, als ich meine Mutter aus dem Erdgeschoss zu mir hoch rufen hörte. „Yun! Bist du wach? Beeil dich, du bist spät dran!“ Ihre glockenhelle Stimme klingelte in meinen Ohren.

Ich schaute aus der Badezimmertür die Treppe hinunter und sah sie schon mit dem Fuß auf der ersten Stufen, um zu mir herauf zu kommen.

„Schon gut Mama“, sagte ich zu ihr. „Bin gleich unten.“

Sie warf mir einen Blick zu der sagen sollte, sieh zu, und verschwand in Richtung Küche. Leise aber deutlich konnte ich vernehmen wie mein Vater dort zu ihr sagte: „Nicht das die kleine Diva wieder rumzickt, weil Yun noch nicht fertig ist.“ Meine Mutter ermahnte ihn, lachte aber unüberhörbar auf.

Verärgert schloss ich die Badezimmertür geräuschvoll. Mit Kleine Diva hatte mein Vater natürlich Raik gemeint, meinen besten Freund. Sicher war Raik anders, aber ihn so herablassend zu betiteln, stank mir gewaltig.
 

Zwanzig Minuten später saß ich mit meinen Eltern in der Küche am Frühstückstisch, ohne einen Happen zu mir zu nehmen. Mein Vater, vertieft in seine Ostseezeitung, so hieß die Tageszeitung in unserer Region, schenkte mir kaum Beachtung, während meine Mutter mich mit endlosen Ermahnungen bezüglich des letzten Schuljahres überschüttete.

„Das du mir ja gleich dem Unterricht aufmerksam folgst. Stell dich gut mit den Lehrern und trag dich auch für einige AGs ein. Das macht sich immer gut im Lebenslauf.“

Ich hörte ihr nicht wirklich zu, aber wenn es angebracht war, knurrte ich etwas Zustimmendes.

Wiedersprechen hätte sowieso nicht viel gebracht. Diesen Vortrag hielt sie jedes Jahr am ersten Schultag, wobei ihr entgangen zu sein schien, dass ich aufgrund meiner Zensuren dem Unterricht tatsächlich folgte, mit fast allen Lehrern gut konnte und bis jetzt jedes Jahr eine AG besucht hatte. Dieses Jahr sollte sich daran allerding eine Kleinigkeit ändern.

„AG geht nicht“, sagte ich knapp. Meine Mutter stutzte. „Wieso nicht?“, fragte sie in leicht entsetztem Ton. Meine Antwort war sowohl simpel, als auch einleuchtend: „Im Abschlussjahr hab ich wohl mehr zu tun, als mich auf eine AG zu konzentrieren. Das ganze Jahr besteht quasi aus Prüfungsvorbereitung. Ich will einen guten Abschluss.“

Meine Mutter wollte gerade etwas erwidern, als mein Vater sich einschaltete.

„Ja klar, wenn du schon das Abi nicht machst“, sagte er trocken, ohne seine Zeitung beiseite zu legen.

Sofort lag eine Spannung in der Luft, die sich fast greifen ließ. Meine Mutter sah mich mit weiten Augen an, die fast etwas Entschuldigendes hatten, denn es war klar, dass wir bei Dem Thema angekommen waren.

„Was willst du damit sagen?“, forderte ich meinen Vater heraus, obwohl mir meine Mutter instinktiv eine Hand beruhigend auf den Arm gelegt hatte. „Yun…“, bat sie, aber es war schon zu spät. Mein Vater legte seine Zeitung nun doch zur Seite, in froher Erwartung auf den Moment, in dem er seinen jüngsten Sohn mal wieder daran erinnern konnte, was für eine Schande er für die Familie doch war.

„Sicher“, begann er und es war nicht zu überhören, was für einen ironischen Ton er hatte. „Ein Realschulabschluss ist was wert, wenn man einen Beruf ausüben möchte, den jeder machen kann. Wenn das dein Wunsch für die Zukunft ist, bitte.“ Er sah mich herablassend an. „Mittelklasse ist nichts schlechtes, wenn man aus dieser Klasse kommt.“

Jetzt kam es.

„Unsere Familie hingegen ist keine Mittelklassefamilie. Wir sind erfolgreich, in jeglicher Hinsicht und es ist bedauernswert, dass du nicht die gleichen Ziele anstrebst, wie jeder in dieser Familie.“

Meine Hände begannen vor Wut zu zittern und es wunderte mich, dass mich seine Vorhaltungen noch immer so trafen, obwohl ich sie mir doch so oft schon hatte anhören müssen.

„Welche Ziele sollen das sein?“, fuhr ich meinen Vater an, der mich mit seinem Blick taxierte. „Erfolg, Geld, Karriere, Familie?“

„So ist es“, entgegnete er und faltete die Zeitung zusammen, sich bereitmachend, für die Diskussion, die nun folgen sollte.

„In dieser Reihenfolge, ja?“, fragte ich verächtlich.

„Wieso nicht?."

„Wieso nicht?!“ Ich war entsetzt, aber nicht sonderlich verwundert. „Vielleich weil Familie nicht an letzter Stelle stehen sollte. Dann müssten wir diese Unterhaltung jetzt nämlich gar nicht führen.“

„Falsch. Wenn für dich mal dein Erfolg an erster Stelle stehen würde, müssten wir diese Unterhaltung jetzt nicht führen, mein Sohn. Dann müssten deine Mutter und ich uns nicht ständig Gedanken über deine Zukunft machen müssen.“

Da musste ich lachen. Als wenn sie sich Gedanken über meine Zukunft machen würden. Die einzige Zukunft die sie interessierte, war das Ansehen der Familie.

Mein Vater sah mich scharf an. „Ich weiß nicht, was daran so lustig ist“, sagte er, anscheinend wirklich ahnungslos darüber, was mich so belustigte. „Wenn du es so gemacht hättest wie Satoshi, hätten wir keinerlei Probleme miteinander.“

Da war er also. Der Grund, warum ich meinem Vater so missfiel und warum ich ihm nie genüge tun konnte. Satoshi. Vierundzwanzig Jahre, Informatikstudent, Stolz der Familie und mein älterer Bruder. Es war schon immer so.

„Ich BIN aber NICHT Satoshi!“, schrie ich meinen Vater an und meine Mutter nahm augenblicklich ihre Hand von meinem Arm, als hätte sie sich verbrant.

„Glaub mir mein Sohn, das weiß ich“, und es klang echtes Bedauern in der Stimme meines Vaters mit.

Mir blieb die Luft weg. Ich sah meinen Vater an. Verständnislos, fassungslos und ich wusste nicht, was ich dem noch entgegensetzen sollte. Selbst meine Mutter sagte keinen Ton, auch wenn man ihr ansah, wie erschüttert sie von dieser ganzen Situation war.

Stillte trat ein. Beunruhigende Stille und ich kam mir vor, wie ein hilfloses Baby, das weinend in seiner Wiege liegt, aber niemand kommt, um nach ihm zu sehen. Und ich wusste, egal wie jung ich war, oder wie alt ich werden würde, an dem Verhältnis zwischen mir und meinem Vater, aber auch dem zu meiner Mutter, würde sich nie etwas ändern. Nicht solange ich nicht zu dem wurde, den sie wollten: Satoshi.

Resignation kam in mir auf. Was sollte ich jetzt noch tun? Langsam schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf.

„Dann weißt du auch“, sagte ich und versuchte das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken. „Dass du niemals einen anderen Sohn bekommen wirst, als den, der ich bin. Durchschnittlich, ohne große Ambitionen. Find dich damit ab, oder lass es. Ist mir egal.“

Und in diesem Moment war es mir tatsächlich egal. Ich hatte schon oft wegen meiner Zukunft mit meinem Vater gestritten, selbst mit meiner Mutter, aber so deutlich wie an diesem Morgen, war die Sache noch nie auf den Tisch gekommen. Vielleicht war es gut so.

Ich lächelte meine Mutter an, schnappte mir meinen Rucksack, der neben der Küchentür stand und verließ das Haus. Vor der Tür meinte ich noch die Stimme meiner Mutter gehört zu haben. Was sie geschrien hatte? Ich weiß es nicht.

Navigation

Kapitel 2 Navigation
 

Um sein Leben in die richtigen Bahnen zu lenken, sollte man gut navigieren, um nicht vom Weg abzukommen. Leider hatte mir niemand beigebracht, wie das funktioniert und so steuerte ich in jeden vermeintlichen Irrweg, den es gab. Angefangen im Alter von fünf Jahren, als ich auf einem Jahrmarkt in einem Spiegelkabinett den falschen Abzweig nahm und mir eine üble Beule an der Stirn zuzog, über die Mutprobe in der dritten Klasse, als es hieß, alle coolen Kids würden sich an dem Tau über den Graben schwingen, ich aber der erste und einzige war und mir dabei den Knöchel brach, was mich einen Buchstabierwettbewerb verpassen ließ, bis hin zur Klassenfahrt in der Achten, als alle Jungs die wollten, Madelaine Steiner für fünf Euro küssen durften, ich aber der einzige war, der zwar bezahlt hatte, sich aber nicht traute und somit der prüde Depp der Klasse war.

So zog sich der Rote Faden der Irrwege durch mein ganzes Leben. Und auch wenn ich denke, dass mein Leben sicher in vielerlei Hinsicht eine andere Wendung genommen hätte, bin ich doch, wenn es um meine Persönlichkeit geht, zufrieden, wie es jetzt ist.

Denn durch so eine Navigation in die Irre, habe ich meinen besten Freund gefunden. Raik Berger.

Es war Anfang der achten Klasse, als Raik von einer anderen Schule zu uns wechselte und den Platz neben mir in der Klasse bekam.

Ich war nicht der Einzige gewesen, den sein Auftreten irritiert hatte, denn er hatte einen Irokesenschnitt, blau-rot-schwarz gefärbtes Haar und sein Kleidungsstil war eine Mischung aus Gothic und Punk. Außerdem trug er Eyeliner, zupfte sich die Augenbrauen und trug einen neonblauen Federohrring.

Gütiger Gott, war mein erster Gedanke gewesen, als er sich neben mich gesetzt und mir offen ins Gesicht gestrahlt hatte.

Um uns herum hatte das Getuschel die Flüsterlautstärke deutlich überschritten und ich hörte Sätze wie: Guckt euch mal die Schwuchtel an; Aus welchem Comic ist der denn entsprungen. Oder: Neue Affen braucht das Land.

Zugegeben, auch ich hatte anfangs solche Gedanken gehabt. Doch obwohl die Beleidigungen über ihn nicht abreißen wollten, blieb er ganz locker, schien sich beinahe über die Aufmerksamkeit zu freuen und zwinkerte sogar einigen Leuten zu, die ihn eben noch als Schwuchtel betitelt hatten.

Vielleicht war er das ja sogar. Also… keine Schwuchtel, aber schwul? Ich hatte es damals nicht gewusst, aber ich lag mit meiner Vermutung so falsch, wie jeder andere in diesem Klassenzimmer.

Als sich die Situation wegen des beginnenden Unterrichts beruhigt hatte, kam ich nicht umhin, den Neuen neben mir zu beobachten. Er saß da, kippelte ab und an mit seinem Stuhl und kritzelte kleine komische Männchen in seinen Block.

Ab und zu fing er einen Blick von mir auf, was mich schnell wegsehen ließ, nur um ihn einige Minuten später wieder anzusehen.

Er übte eine Faszination auf mich aus, welche ich noch nie vorher erlebt hatte. Klar, ich hatte schon einige abgedrehte Menschen gesehen, wilde Punks oder Rocker, aber so einem Phantasievogel persönlich zu begegnen war Neuland für mich gewesen.

Irgendwann im Laufe der Stunde hatte er mir dann einen Zettel zugeschoben, den ich unter dem Tisch auseinanderfaltete und der mir den Atem verschlug.

>Mach ich dir Angst?< stand darauf geschrieben und tatsächlich bereitete mir die Direktheit dieser Frage Unbehagen.

>Wieso?< stellte ich die Gegenfrage.

>Weil du mich anstarrst, als wäre ich ein Psychopath<, kam die direkte Anspielung auf meine Blicke.

>Bist du einer?< Ehrlich währt am längsten.

Als er den Zettel las, lachte er lauthals auf, worauf hin er noch in der ersten Stunde eine Ermahnung von der Lehrerin erhielt. Dennoch landete der Zettel einige Sekunden später wieder bei mir.

>Eher nicht. Versuch´s nochmal.<

>Bist du schwul?< Ich war nicht sicher, ob es angemessen war, jemanden, mit dem man noch nicht einmal ein Wort gewechselt hatte, so etwas zu fragen, aber er hatte es ja herausgefordert.

>Hättest du das gern?< Stellte er nun seinerseits die Gegenfrage und als ich ihm einen irritieren Blick zuwarf konnte ich sehen, wie ein kleines Grinsen seine Lippen umspielte.

>Bloß nicht!< War meine spontane Antwort, wobei ich damals noch nicht wusste, dass auch diese einen Irrweg in mein Leben zeichnen sollte.

>Nun mal nicht gleich so abweisend.< stand auf dem Zettel, der nun wieder bei mir gelandet war. >Aber zu deiner Beruhigung… Ich bin nicht schwul.<

Ich atmete durch. Dann war das also geklärt. Trotzdem war nicht noch immer nicht schlauer. >Was bist du dann?<

Raik hatte den Zettel zu meiner Verwunderung zusammengeknüllt, nachdem er ihn gelesen hatte, hatte sich ganz nahe zu mir gebeugt und geflüstert: „Na einfach ich.“

Ab diesem Tag an hatte Raik meine ganze Bewunderung. Er ließ sich nicht einschüchtern von dem Gerede anderer Mensch und war einfach so, wie er sein wollte.

Jedenfalls dachte ich das, denn im Laufe der Zeit merkte ich, dass nicht alles so echt hinter der Fassade war, die er so krampfhaft aufrecht zu erhalten versuchte. Es hatten nämlich nicht alle diese Bewunderung für seine Selbstdarstellung übrig für ihn, wie ich. Eigentlich hatte das außer mir niemand. Überall wo er auftauchte, tuschelten die Schüler über ihn. Meistens hinter vorgehaltener Hand, manchmal auch ganz offen und je länger er die Schule besuchte, desto mehr wurde er zum Freak von ihr. Er galt als Sonderling, Tunte und Angeber.

Tatsächlich war Raik nichts von diesen Dingen.

Er tat stets so, als würden ihn dieses Gerade nicht interessieren, stachelte die Schüler mit extra schwulem Gehabe manchmal sogar noch an, aber wenn ich ihn nach einer überstandenen Konfrontation ansah, ihm in die leuchtenden grünen Augen schaute, konnte ich ihm sehr wohl die Enttäuschung und den Schmerz ansehen, die ihm gerade zugefügt worden waren. Und wenn er meinen Blick dann auffing, mit diesem gespieltem starken Lächeln, konnte ich die Frage in seinem Gesicht ablesen: Warum gibst du dich eigentlich noch mit mir ab?

Und da sind wir bei einer Fehlnavigation, die mein Leben veränderte. Warum gab ich mich mit ihm ab? Jeder andere hielt sich fern von ihm, nur ich nicht. Es wäre einfach gewesen auf den Zettel zu schreiben Was bist du denn für einer, lass mich in Ruhe. Vielleicht wäre mein Weg dann anders verlaufen. Raik hätte mich nicht in eine Sonderling-Stellung gebracht, weil die Tatsache, dass ich mit ihm rumhing, seine Unbeliebtheit auch auf mich übertrug. Ich hätte ein Normalo in den anderen Augen der Schüler bleiben können, hätte vielleicht sogar mal ein Mädchen abgekriegt und mehr Freunde bekommen. Also warum ließ ich mich von ihm mitziehen?

Die ehrliche Antwort ist: Ich mochte ihn ganz einfach.

Raik war auf seine eigene Weise unkompliziert, war lustig, konnte ausschweifende Geschichten erzählen und er war irgendwie auch wie ich. Durchschnittlich. Ohne hohe Erwartungen. Einfach er selbst. Deswegen war ich gern bei ihm.

Und immer wenn in ihm diese kleinen Zweifel an meiner Freundschaft aufzukeimen schienen, lächelte ich ihn an, legte meinen Arm um seine Schulter und sagte: „Muninoshinnyuu.“

Da schmunzelte er, knuffte mir in die Schulter und sagte: „Sayou.“

Dies war zu einem kleinen Ritual zwischen uns geworden, was übersetzt so viel heißt wie >bester Freund< und >allerdings<. Für Raik und mich war das etwas Besonderes, denn ich redete nie mit jemandem auf Japanisch, außer mit meinen Verwandten. Warum? Einfacher Grund. Als ich noch jünger war wollte ständig irgendjemand aus meinem Umfeld etwas Japanisches von mir hören, doch immer wenn ich was in meiner zweiten Muttersprache sagte, bekam ich nur Spott ab. Es würde sich so bescheuert anhören und das wäre doch keine normale Sprache. Seitdem habe ich tunlichst vermieden, jemandem meine japanischen Wurzeln zu offerieren.

Bei Raik jedoch war das anders. Er selbst hatte mich eines Tages in einem, zugegeben, etwas holprigem Japanisch begrüßt und mir eröffnet, er würde jetzt meine Sprache lernen, um ungestört über die Idioten in unserer Schule lästern zu können.

Gut, es war vielleicht kein besonders guter Beweggrund, aber ich freute mich darüber und ab diesem Tage an erzählte er mir jeden Morgen auf dem Weg zu Schule, was er am vergangen Tag gelernt hatte und inzwischen konnten wir sogar kleine Gespräche führen.

All diese kleinen Gesten und Vorkommnisse machten Raik und mich zu besten Freunden und sollte diese Freundschaft ein Irrweg sein, dann hatte ich ziemlich gut navigiert.
 

An jenem Morgen, nach dem Streit mit meinem Vater, machte ich mich früher als geplant auf den Weg zu Schule. Unsere Eigentumswohnung lag direkt in der Altstadt von Stralsund, der Hansestadt hoch im Nordosten, deren einzige Brückenverbindung zur Insel Rügen jedes Jahr tausende von Tauristen durch sie hindurch trieb. Trotz des kühlen Sommers, war es in diesem Jahr nicht anders und deshalb liebte ich die wenigen Stunden am Morgen, in den die kleinen gepflasterten Gassen noch ruhig waren und nur die Bäckereien schon ihre Ladenpforten geöffnet hatten. Direkt gegenüber unserer Wohnung am Alten Markt lag das Rathaus, was mit seinen vielen gotischen Rundbögen und Spitzen noch ganz verträumt aussah in dem leichten Morgennebel, der es umgab und welcher die Stadt durchzog, als wolle er sie unter seiner schützende Decke noch nicht ganz preisgeben, für den Tag, der mit lärmenden Menschen und brummenden Autos stätig näher rückte.

Nach meinem Schlüssel kramend ging ich zu meinem Fahrrad, entriegelte das Schloss und schwang mich auf den Sattel. Einen Moment noch atmete ich die kühle Morgenluft ein, um mich für den Trubel in der Schule zu wappnen, und radelte los.

Zwei Querstraßen weiter traf ich auf Raik, der mich mit einem irritierten Blick musterte, auf seine Uhr schaute und dann wieder zu mir. „Bin ich zu spät?“, war seine erste Frage und kontrollierte nochmals die Uhrzeit.

„Morgen erst mal“, entgegnete ich ihm. „Nein, du bist nicht zu spät. Ich bin nur zu früh.“

Raik musste wohl den gedrungenen Unterton in meiner Stimme bemerkt haben, denn er fragte sofort: „Is was passiert?“

Ich zuckte mit den Schultern und erzählte ihm von dem Streit.

„Ach Scheiße“, konnte er dazu nur sagen, schob sein Rad etwas dichter und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Geht´s?“

„Ja klar“, antwortete ich und versuchte ein Lächeln. „Ist ja nicht das erste Mal. War aber schon heftig und wenn ich bedenke, was jetzt in der Schule abgeht…“

„Null Bock. Is klar. Ich uch nich“, sagte er, verschränkte die Arme über dem Lenker seines Rades und stützte den Kopf darauf.

„Auch, heißt das“, korrigierte ich ihn automatisch, denn ich muss erwähnen, dass ich, aufgewachsen mit zwei Sprachen, ein perfektes Hochdeutsch sprach, Raik dagegen diesen typischen Dialekt an sich hatte, der alle Wörter in die Länge zog und hier und da gerne mal einen Buchstaben wegließ.

„Mecker nich“, konterte er. „Eigentlich sollte ich dich mit dei´m adäquaten Gequatsche verbessern.“

Wir mussten beide lachen. „Adäquat? Wo hast du denn das her?“, fragte ich grinsend, woraufhin Raik nur abwinkte.

Er richtete sich auf und nickte mit dem Kopf in die Richtung, in welcher der Stralsunder Bodden lag. „Also was is jetz?“, fragte er. „Mach´n wir blau, oder was? Wir fahr´n zum Hafen, kaufen uns was zu Futtern und spielen >ich sehe ein Haus, das du nicht siehst<. “

Nur zur Erklärung. >Ich sehe ein Haus, das du nicht siehst< ist ein Spiel, das Raik und mir mal in einer unnützen Minute eingefallen war, als wir am Hafen vor dem Ozeaneum saßen und uns langweilig war. Raik war auf die Idee gekommen, das Spiel >ich sehe was, was du nicht siehst< auf die Häuser der Stadt Alte Fähr´ zu übertragen, welche direkt auf der anderen Seite des Boddens, auf der Insel Rügen, ein wunderschönes Panorama bildete.

Bei dem Spiel beschrieb einer ein Haus von Alte Fähr´ und der andere musste erraten, welches es ist, indem er ein weiteres Merkmal des Hauses nannte. So ließ sich wunderbar die Zeit vertrödeln.

Resigniert atmete ich durch. So gern ich würde, es ging nicht. Nicht am ersten Tag und außerdem war mir mein Abschluss tatsächlich sehr wichtig.

Ohne auf seine Frage einzugehen trat ich aufs Pedal. „Na los. Sonst kommen wir zu spät.“
 

Angekommen in der Schule bot sich mir das erwartete Bild. Massen von Schülern, die in das Gebäude strömten und von denen man den Eindruck hatte, jeder von ihnen hätte Angst, zu spät zu kommen. Dabei waren es bis zu Stundenbeginn noch etwas mehr als zehn Minuten.

„Auf in die Höhle des Löwen“, meinte ich zu Raik, als wir unsere Räder anschlossen und uns mit dem Strom von Schülern treiben ließen.

Im Schulgebäude war es nicht anders als draußen. Umherirrende Fünftklässler, die von der Grund- auf die Realschule gekommen waren, hatten sich in kleinen Gruppen zusammengerottet, um den Anhang nicht zu verlieren. Immer in der Hoffnung, irgendeiner von ihnen wüsste schon, wo es langging.

Dazu kamen die Neuntklässler. Zu hochnäsig um den Jüngeren zu helfen und zu eingeschüchtert, um sich noch auf dem Schulhof bei den meisten Zehntklässlern aufzuhalten. Wobei wir auch schon bei meiner Zielgruppe angekommen waren.

Die Mehrheit fand sich jetzt natürlich ganz besonders wichtig, denn sie waren ja schließlich Abschlussschüler. Über ihnen stand niemand mehr und jeder, der meinte sich mit ihnen abgeben zu dürfen, konnte sich glücklich schätzen.

Dies war natürlich nur meine Sicht der Dinge. In den Augen der jeweils Betreffenden stellte sich die Situation sicherlich anders dar. Da waren Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten, neue Bekanntschaften, die sich schlossen und das vorsichtige Abtasten neuer Schüler, die von anderen Schulen gewechselt hatten. Von diesen Szenarien allerdings waren Raik und ich weit entfernt.

Mit Mühe kämpften wir uns zum Schwarzen Brett, welches die Klassenaufteilung und die jeweiligen Klassenräume beherbergte und erkannten mit Erleichterung, dass man uns auch im letzten Jahr nicht getrennt hatte.

Gerade als wir uns einen Überblick verschafft hatten, drängten auch schon andere Schüler von hinten nach, um ebenfalls einen Blick zu erhaschen.

Es gab für mich wohl kaum eine unangenehmere Situation. Ich hasste solche Menschenansammlungen und versuchte tunlichst, ihnen aus dem Weg zu gehen. Zu oft hatte ich in der letzten Zeit Bilder von kollabierenden Menschen gesehen, die in solcher Enge in Panik geraten waren. Natürlich war dieser Auflauf von Schülern kaum damit zu vergleichen, aber wohl fühlte ich mich dennoch nicht.

Raik packte mich am Arm und zog mich an eine etwas weniger beengte Stelle.

„Woll´n wir noch kurz raus, oder willste gleich zu Raum 3?“, fragte er, in seinem Rucksack kramend und vermied es, mich anzusehen. Ich wusste sofort, worauf er hinaus wollte.

„Wenn du noch eine Rauchen willst, sag das doch einfach“, entgegnete ich ihm ungehalten.

Seit etwa drei Wochen hatte Raik nämlich das Rauchen für sich entdeckt. Ich fragte mich, warum er so plötzlich zur Zigarette gegriffen hatte, konnte mir den Grund aber durchaus selber zusammenreimen. Ab der Zehnten durften die Schüler vor dem Schulgelände rauchen. Das Ganze war ein Sehen und gesehen werden und selbstverständlich war es wesentlich angesagter, vor dem Schulhof zu stehen, als darauf, mit all den anderen. Ich hielt das einfach nur für dumm, doch Raik wollte offensichtlich dazugehören, so wie er auch bei vielen anderen Dingen Aufmerksamkeit zu bekommen versuchte, die ihm zu Hause verwehrt blieb.

Wiederwillig folgte ich ihm vor den Schulhof und begegnete dort einigen bekannten Gesichtern, die mich zwar grüßten, Raik jedoch wie Luft behandelten. Mein Ruf war eben nicht so angekratzt wie seiner.

Höflich lächelnd schlängelte ich mich durch die einzelnen Grüppchen von Schülern, bis wir an einer etwas abgelegenen Stelle Platz gefunden hatten.

Ich merkte genau, wie Raik sich umsah, als er sich eine Zigarette anzündete in der Hoffnung, jemand würde ihn registrieren.

„Seit wann rauchst du denn bitte?!“, kam tatsächlich die Frage, aber von jemandem, den wir beide erwartet hatten.

Nicky, die eigentlich Nikoletta hieß, ihren Namen aber verabscheute, hatte sich unbemerkt zu uns gesellt und tadelte Raik nun vorwurfsvoll.

Raik zuckte nichtssagend mit den Schultern, wovon sich Nicky jedoch wenig beeindruckt zeigte und ihm die Kippe kurzerhand aus dem Mund nahm und sie austrat. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

„EY“, protestierte Raik augenblicklich, doch unter Nickys strengem Blick wurde er sofort wieder still.

„Du spinnst doch wohl“, schimpfte sie. „Du musst nun wirklich nicht auch noch zu den Idioten gehören, die sich ihre Gesundheit versauen.“

Wie von Nicky nicht anders zu erwarten, hielt sie sofort einen Vortrag über die Schädlichkeit des Rauchens und was Raik alternativ machen könnte um sich von Langerweile ablenken zu lassen. Das es dabei nicht um pure Langeweile ging, war ihr nicht klar. Denn sie kannte Raik und mich noch nicht lang genug um zu wissen, dass mehr dahinter steckte.

Wir hatten Nicky erst vor kurzem richtig kennengelernt. Bekannt war sie uns schon seit Jahren, aber zu einer näheren Begegnung war es erst vor etwa fünf Wochen gekommen.

Es war einer der seltenen sonnigen Tage des Sommers gewesen. Den ganzen Tag hatten Raik und ich am Bodden verbracht, uns in einem Café an der Promenade die Zeit vertrieben, bis wir uns am Abend schließlich auf den Heimweg gemacht hatten. Auf einer kleinen Brücke, die vom Hafen in die Stadt führte, war uns Nicky dann quasi in die Arme gelaufen. Sie schob ihr Fahrrad neben sich und fingerte dabei immer wieder an der Kette herum, die ihr offenbar abgesprungen war.

Wir hatten sie sofort erkannt, denn Nicky war niemand, den man so einfach übersah. Sie war das hübscheste Mädchen an der Schule, hatte dutzende Verehrer und war bei jedem Sportfest ganz vorn mit dabei. Zudem schnitt sie auch bei den Prüfungen immer als eine der Besten ab. Sie schien durch und durch perfekt und gerade deshalb passte es nicht zu ihr, dass sie in diesem Moment vor sich hin fluchte.

„Kann man helfen?“, hatte ich spontan gefragt, wobei mich Raik entsetzt ansah. Offensichtlich war er der Meinung, dass man ein Mädchen wie Nicky nicht so einfach ansprechen durfte. Diese hingegen hatte mich zwar leicht verunsichert, aber auch erleichtert angesehen und genickt.

„Meine Kette ist ab“, hatte sie gesagt „Und ich muss noch ein ganzes Stück fahren. Ich wollte bei dem Bootsanleger da um Hilfe bitten.“

„Ich sehe es mir mal an“, bot ich an und erhielt ihre Zustimmung.

Ihr herzliches Dankeschön war echt, als die Kette repariert war, doch dann standen wir uns etwas verhalten gegenüber. Offenbar hatten wir uns nichts mehr zu sagen und ihr Blick auf die Uhr signalisierte mir, dass sie weiter wollte.

„Vielleicht sieht man sich“, sagte sie schließlich, wohl mit dem Gedanken, dass es nicht so sein würde.

„Ganz sicher sieht man sich. Wir gehen auf die gleiche Schule, Prinzeschen“, hatte Raik sich seinen Kommentar nicht verkneifen können.

Nicky hatte ihn wütend angesehen und plötzlich war die Luft wie aufgeladen.

„Wie hast du mich genannt?“, fuhr sie ihn an.

„Wow…“, Raik hob entwaffnend die Hände. „Bleib ma ganz ruhig. Ich hab dich nur genannt, wie alle es tun. Wo is dein Problem?“

„Mein Problem ist“, giftete Nicky, „dass du gar nichts von mir weist, und mich trotzdem als Prinzeschen beschimpfst. Ich nenne dich ja auch nicht einfach Schwuchtel, nur weil alle anderen es sagen.“

Das hatte gesessen. Raik blieb der Mund offen stehen und ich kam nicht umhin Nicky innerlich zu applaudieren.

„Da sagst du nichts mehr, was?“ Mit diesem Satz schien dann jedoch alle Anspannung von ihr abgefallen zu sein. Sie wusste, sie hatte gewonnen.

„Sorry“, mehr hatte Raik nicht zu sagen. Beschämende Stillte trat ein.

„Kommst du dann klar?“, war ich es, der der Situation einen Abschluss bereiten wollte. Keiner von uns wusste noch, etwas mit dem Anderen anzufangen. Werder wir mit dem „Prinzeschen“, noch sie mit den beiden „Freaks“.

„Also dann…“, verabschiedete ich mich und wollte mit Raik schon unseren Weg fortsetzen, als Nicky uns aufhielt. „Ich bin Nikoletta, aber wenn ihr mich auch nur einmal so nennt, muss ich euch umbringen“, hatte sie plötzlich gesagt und grinste uns schräg an. „Nicky reicht völlig.“

Raik sah mich an und ich wusste, wir beide dachten das gleiche. Nicky war offenbar doch nicht so oberflächlich, wie wir angenommen hatten und in den folgenden fünf Wochen sollten wir feststellen, dass sie alles andere, als ein Prinzeschen war.

Irgendwann im Laufe der Zeit hatte ich Nicky bei einem Ausflug nach Binz mal gefragt, warum sie uns nicht einfach hatte gehen lassen. Woraufhin sie antwortete: Du warst der erste, der mich nicht gleich angemacht hat.

So wurde aus dem Duo ein Trio. Das Kuriose war, dass es Nickys Beliebtheit an der Schule, trotz des Kontaktes zu uns, keinen Abbruch tat. Warum auch immer. Sie war gefragt wie eh und je und ich kam zu dem Schluss, dass man einem Prinzeschen einfach jeden vermeintlichen Fehler verzieh. Ob sie es nun darauf anlegte, oder nicht.

Auch Nicky navigierte den Weg ihres Lebens meisterlich. Oberflächlich in die eine, tief im Herzen aber in die andere, in unsere Richtung.
 

Kurz vor halb drei läutete die Schulglocke, die wie Big Ben klang, zum Unterrichtsende. Wie am Morgen, nur in umgekehrter Weise, drängten die Schüler aus den Klassenräumen, über erste Hausaufgaben schimpfend und sich für den Nachmittag verabredend.

Raik und ich waren da nicht anders. Schon in der ersten Stunde hatte man uns mit Mathematik gequält, worauf Chemie folgte und zu allem Überfluss auch noch Geographie. Alle meine Lieblingsfächer an einem Tag, na dann hurra.

Am Anfang jeder ersten Stunde hatte man uns einen Vortrag darüber gehalten, wie wichtig das letzte Jahr war und dass es jetzt keine Entschuldigungen für unangemeldetes Fehlen oder vergessene Hausaufgaben gab. Bla bla bla.

Einziger Lichtblick war die fünfte Stunde Musik gewesen. Frau Dehler war mit Abstand meine Lieblingslehrerin, weil man mit ihr auch auf menschlicher Ebene gut zurechtkam. Außerdem war sie es gewesen, die mich im Alter von elf Jahren zum Spielen eines Instruments ermutigt hatte. Akustikgitarre. Die bisher beste Entscheidung meines Lebens.

Frau Dehler hatte mir geduldig Unterricht gegeben, mich sogar mal an eine Band vermittelt, aber da ich nicht gerade ein kontaktfreudiger Mensch bin, hatte sich diese Sache schneller erledigt, als mir lieb gewesen war.

Meiner Liebe zur Musik hatte es dennoch keinen Abbruch getan und so war es auch Frau Dehler die mich ermutigt hatte, indem sie mir sagte: „Mädchen mögen sowieso viel lieber Sologitarristen, die ihnen etwas vorspielen.“

Ich weiß noch genau wie ich damals rot angelaufen war und mir insgeheim wünschte, sie wäre dieses Mädchen.

Von meiner Schwärmerei für sie hatte ich Frau Dehler nie erzählt. Ich war ja auch noch zu jung gewesen und inzwischen war ich reifer und klüger. Außerdem hatte sie wenig später geheiratet.
 

Etwas abseits von Schulgelände hatten wir uns mit Nicky verabredet. Sie ging in unsere Parallelklasse und da wir wussten, dass sie sich sicher noch mit einigen Freunden über den ersten Schultag austauschen würde, hatten wir uns auf eine längere Wartezeit eingestellt.

Ablenkung kam für Raik und mich jedoch schneller als gedacht. In Form eines jungen Mädchens, das nun geradewegs auf uns zusteuerte. Ihr zusammengebundenes, braunes Haar wippte im Takt ihrer Schritte.

Raik und ich kannten sie nicht. Umso merkwürdiger kam sie uns vor. Offensichtlich hatte sie noch nicht mitbekommen, dass man es vermied, sich mit uns abzugeben.

„Hey Jungs“, sprach sie uns an und wirkte verschüchtert. „Könnt ihr mir sagen, wann der Bus nach Grünhufe fährt?“

Raik sah mich fragend an. Busfahrpläne gab es hier überall. Ein Blick hätte genügt.

Die dunkelbraunen Augen des Mädchens fixierten mich, als würde nur ich ihr die Antwort geben können. Leider wusste ich sie nicht, denn als Fahrradfahrer, hatte ich mit den Bussen wenig am Hut.

„Sorry, aber…“, setzte ich an, als Raik mich unterbrach.

„Kleine“, sagte er, „Wenn de inner Lage bist, deine Füße und Aug´n zu benutz´n, gehste fluks zum nächst´n Fahrplan und guckst nach.“

„Wie bitte?“ Das Mädchen sah uns an, als hätte sie nicht richtig gehört und auch ich hatte den Eindruck im falschen Film zu sein. Was sollte denn das? Ohne dass ich etwas auf Raiks unpassende Abfuhr sagen konnte, stammelte das Mädchen eine Entschuldigung, dass sie uns gestört hatte und machte auf dem Absatz kehrt. Ich meinte jedoch, ein Lächeln von ihr für mich aufgefangen zu haben.

Nachdem sie verschwunden war, stieß ich Raik mit dem Ellenbogen in die Rippen, woraufhin er einen jammernden Laut ausstieß. „Bist du nicht ganz ordentlich?“, fragte ich ihn vorwurfsvoll. „Wieso verjagst du sie denn?“

Raik sah mich an, als müsse er mir etwas erklären. „Glaub mir“, antwortete er. „Diese jung´ Hühner such´n nur jemand´n ausser Oberstufe, mit dem se sich präsentier´n könn´. Das is jedes Jahr am Schulanfang das Gleiche.“

Ich sah ihn fragend an.

„Ich bitte dich“, fuhr er fort und rieb sich die Rippen. „Sie hätte ganz einfach den Fahrplan les´n könn´, oder jemand´n aus ihrer Klasse frag´n. Aber was macht se? Sie läuft zu den erst besten beid´n Typ´n die ausseh´n, als wär´n se ausser Zehnt´n.“

Mir war das etwas zu weit hergeholt. Vielleicht kannte sie sich wirklich nicht aus. Und das ich damit richtig, als auch falsch lag, erklärte mir Nicky, die einige Minuten später zu uns stieß und der Raik natürlich gleich von der Kleinen erzählen musste.

Zu meiner Irritation hatte Nicky die ganze Zeit unentwegt in meine Richtung gegrinst, was mich annehmen ließ, dass sie mehr wusste, als wir.

Und so war es. Nicky erzählte uns, dass das Mädchen Mia hieß, fünfzehn Jahre alt war und vom Gymnasium auf unsere Schule gewechselt war. Mias Schwester ging mit Nicky in eine Klasse und während der Pause war die kleine sofort zur großen Schwester geeilt und hatte ihr von dem süßen Asiaten erzählt, den sie entdeckt hatte.

Nicky meinte, dass sie zweifelsohne von mir gesprochen hatte, weil ich der einzige Asiat in der Oberstufe war.

Eigentlich hätte ich geschmeichelt sein müssen, dass sich ein Mädchen für mich interessierte, wäre da nicht die Tatsache gewesen, wie Nicky mit offenbarte, dass Mia einen Fable für alles asiatisch, oder vielmehr, japanisch angehauchte hatte. Die Kleine war nämlich ein Manga-Fan und somit zog sie alles, was auch nur im entferntesten japanisch aussah, magisch an.

Das ich tatsächlich Halbjapaner war, hatte Mia von Nicky erfahren und schon war es um sie geschehen.

Mit anderen Worten, ich wäre so etwas wie ein hübsches Schmuckstück für sie gewesen.

Als Nicky ihre Erzählung beendet hatte, war ich enttäuscht und Raik konnte sich vor Lachen kaum halten.

„Ich schwör ´s dir“, feixte er. „Die Kleine wirste nich mehr los.“

„Acht halt die Klappe“, fuhr ich meinen besten Freund an.

„Na na“, entgegnete er und versuchte sich zu beruhigen. „Ganz ehrlich? Eigentlich war se ganz süß. Is zwar ungewöhnlich, aber wenn de nich ihr Freund sein willst, dann vielleicht ihr Assessoir.“

Nun konnte auch Nicky ihr Lachen nicht mehr unterdrücken. Ich kam mir ja auch so nicht genug wie ein Vollidiot vor.

„Baka Idiot“, zischte ich Raik an und ärgerte mich am meisten darüber, dass ich mich so ärgern ließ. „Ich hab keine Zeit für so einen Mist.“

„Die hast du tatsächlich nicht“, kam es daraufhin von Nicky trocken und auch Raik schien plötzlich ganz ernst.

Überrascht von ihrer Einsicht, wollte ich mich schon bedanken, doch Nicky sah mich eindringlich an.

„Im erst, Yun. Wie spät ist es jetzt? Kurz vor Drei? Wolltest du nicht um halb vier mit deinen Eltern Satoshi vom Bahnhof abholen?“

Mir wurde plötzlich ganz anders. Sie hatte Recht. Hecktisch sah ich auf meine Armbanduhr und die zeigte mir, dass ich noch dreiunddreißig Minuten hatte, um von der Schule zum Bahnhof zu kommen.

Über den Ärger mit meinem Vater heute Morgen und den Trubel in der Schule, hatte völlig vergessen, dass mein älterer Bruder heute von seinem Auslandssemerster aus Amerika zurückkehrte und um halb vier sollte sein ICE den Bahnhof von Stralsund erreichen.

Bei dem Gedanken daran, Satoshi nach sechs Monaten wieder gegenüberzustehen, wünschte ich mir, Nicky hätte mich nicht daran erinnert.

Sowohl Nicky selbst, als auch Raik schienen meine Gedanken erraten zu haben, denn beide fragten fast gleichzeitig: „Du fährst doch hin?“

Ich schaute von einem zum anderen und wusste keine Antwort. Auf der einen Seite hielt ich es für meine Pflicht, Satoshi abzuholen, auf der anderen dachte ich mir, dass er die paar Minuten vom Bahnhof zu unserer Wohnung schon noch ohne mich aushalten würde. Allerdings wusste ich auch, dass sich der Graben zwischen mir und meinen Eltern noch weiter auftun würde, sollte ich nicht in nun mehr einunddreißig Minuten am Bahnsteig stehen.

„Ach verdammt“, fluchte ich und drückte Raik meinen Rucksack in die Arme.

Nicky schenkte mir eine Umarmung. „Ich weiß“, seufzte sie und gab mich mit einem aufmunternden Lächeln wieder frei.

„Du schaffst das schon, Alter“, versuchte auch Raik mir Mut zuzusprechen. Und den brauchte ich auch. Die baldige Begegnung mit Satoshi ließ meinen Magen Achterbahn fahren.

Brüder

Sechs Monate und der atlantische Ozean lagen zwischen mir und meinem Bruder und in dieser Zeit hatten wir weder miteinander gesprochen, noch per Mail oder Post Kontakt zueinander gehabt.

Es war eine Zeit der Befreiung, in der ich nicht jeden Tag der Perfektion meines Bruders ausgesetzt gewesen war. In der ich mich nicht ständig mit ihm vergleichen lassen musste und die mich nicht stets erkennen ließ, wie weit wir uns tatsächlich voneinander entfernt hatten.

Mit jedem Jahr das verging, seit meiner Kindheit, wurde mir von meinen Eltern vor Augen gehalten, wie meisterlich Satoshi sein Leben bestritt. Wie er sein Leben auf die Erfolgsspur brachte und welch große Zukunft vor ihm lag.

Von mir hatte man stets dasselbe erwartet und als sich andeutete, dass mein Leben andere Wendungen nahm, als es mir vorherbestimmt schien, wurde die Kluft stätig größer. Mit Satoshi und meinen Eltern auf der einen, und mir auf der anderen Seite.

Angefangen damit, dass ich nicht, wie Satoshi mit sechs, sondern mit sieben Jahren eingeschult worden war, über das Pensum für das Gymnasium, dass ich nicht erfüllte, bis hin zum Abschluss der Realschule der mir bevor stand und nicht drei weitere Jahre in der Schule, bis hin zum Abitur.

Aber nicht nur der schulische Werdegang unterschied mich von Satoshi. Er war überall beliebt, hatte Unmengen an Freunden und war bis zur Uni im Basketballverein.

Ich dagegen hatte nur zwei Freunde zu bieten, war eigentlich mehr akzeptiert als beliebt unter meinen Mitschülern und hatte es als Kind nicht einmal geschafft, in einer Band bestehen zu bleiben.
 

Inzwischen war es fünf vor halb vier und ich musste nur noch an der Bowlinghalle vorbei, die direkt an den Hauptbahnhof grenzte. Es waren kaum mehr hundert Meter zum Bahnhof und je näher ich kam, desto langsamer wurde ich. Schlussendlich stieg ich von meinem Fahrrad ab und ging die restlichen Meter zu Fuß.

Rechts neben mir fuhren die Autos in Richtung Innenstadt und ich spielte kurz mit dem Gedanken, mich einfach wieder auf mein Fahrrad zu schwingen und es ihnen gleich zu tun.

Schwer atmend von der Anstrengung der Fahrt, aber auch aus Angst vor dem nun Kommenden, schloss ich mein Rad an den Fahrradständer vor dem Bahnhof und ging hinein.

Schon auf den Stufen zur Wartehalle kamen mir Menschenströme entgegen und ich musste einen Moment warten, bis ich passieren konnte.

Das Gemurmel von dutzenden Stimmen drang mir entgegen, als ich die Wartehalle durchquerte und einen kleinen Slalom zwischen einer Gruppe Kindern vollführen musste, die sich, ohne nach vorn zu sehen, mit ihren kleinen Koffern, ein Fangspiel lieferten. Zu meiner Linken hatte sich eine kleine Schlange vor dem DB-Schalter gebildet und auf der anderen Seite wuselten die Menschen durch ein Zeitschriftengeschäft, das neben Zeitungen und Magazinen auch gut mit Büchern sortiert war. Ich erinnerte mich, dass auch ich mir hier mal ein Buch gekauft hatte.

Einige Schritte später betrat ich den Bahnsteig, der die ersten fünfzehn Meter völlig überdacht war, zu den Gleisen hin aber nur noch teilweise.

Ich überlegte, wie lange ich schon nicht mehr hier gewesen war. Einiges hatte sich verändert. Es hatte Modernisierungen gegeben und es war längst nicht mehr so dreckig, wie ich es in Erinnerung hatte.

Ein verführerischer Duft von Kaffee und Bratwurst schlug mir aus einem Imbiss entgegen, der kleine, beschirmte Tische vor dem Geschäft aufgestellt hatte. Fast hätte ich dem Drang nachgegeben, einfach dort zu bleiben und die ganze folgende Situation auszusitzen.

Getrieben von meiner Vernunft ging ich weiter zu den Gleisen, bis mir klar wurde, dass ich keine Ahnung hatte, mit welchem Zug Satoshi ankommen würde. Doch gerade, als ich einen Bahnmitarbeiter ansprechen wollte, kam über die Lautsprecher eine Ansage. >Wehrte Fahrgäste. An Gleis 2b Ankunft des ICE aus Hamburg nach Sassnitz-Hauptbahnhof. Der Zug wird uns in kürze erreichen. Geplante Ankunft: fünfzehn Uhr dreißig. Bitte Vorsicht am Bahnsteig.<

Das war dann wohl meiner. Ich wusste, dass Satoshi bis Hamburg geflogen war.

Ich überflog die Schilder an den Gleisen und hatte das für mich richtige schnell ausgemacht. Es dauerte einen Moment, doch dann entdeckte ich zwischen den wartenden Fahrgästen meine Eltern, die beide etwas nervös wirkten und sich dauernd umsahen. Ich nahm an, dass sie nach mir Ausschau hielten.

Noch etwas entmutigter ging ich auf sie zu und winkte meiner Mutter, damit sie mich sah. Die Erleichterung in ihrem Gesicht war deutlich zu erkennen, als auch sie mich sah, und mir dann deutlich signalisierte, dass ich mich gefälligst zu beeilen hatte.

Einige Vorwürfe über mein zu spätes Erscheinen und ein beiläufig grüßendes Nicken meines Vaters später, fuhr der ICE in den Bahnhof ein.

Ich hatte nicht gedacht, dass es mir dabei so schlimm gehen würde.

Während meine Eltern in freudiger Erwartung durch jedes Fenster eines vorbeiziehenden Zugabteils spähten, meine Mutter als Japanerin sehr klein und deshalb auf Zehenspitzen, schlug mir mein Herz aus einem anderen Grund bis zum Hals.

Ich kam nicht umhin, jeden Menschen, der nun aus dem Zug stieg genau anzusehen, auf der Suche nach dem einen, der mein Leben so bestimmte, und den ich eigentlich nicht so schnell hatte wiedersehen wollen.

Dutzende strömten nun an uns vorbei und so sehr ich auch versuchte die Gesichter festzuhalten, keines blieb länger als ein paar Sekunden in meinem Blickfeld hängen.

Scheinbar unendliche Sekunden des Wartens verstrichen, bis meine Mutter unweit neben mir aufschrie. „Satoshi!“, klang ihre helle Stimme über den Bahnsteig und sofort blickte ich in die Richtung, in die nun meine Eltern starrten.

Meine Mutter hatte sich schon laufenden Schrittes in Bewegung gesetzt und auch wenn mein Vater sie ermahnte, nicht so überschwänglich zu sein, hielt sie nichts mehr zurück.

Und dann sah ich ihn. Satoshi zog einen riesigen Koffer hinter sich her und eine weitere Reisetasche hatte er sich über die Schultern gelegt. Als er meine Mutter auf sich zukommen sah, ließ er beides fallen und breitete die Arme herzlich aus. Ein Strahlen lag auf seinem Gesicht, wie ich es schon so oft gesehen hatte, wenn er wirklich glücklich war und er schloss meine Mutter in die Arme, als hätten sie sich Jahrzehnte lang nicht gesehen.

Als sie sich voneinander lösten, küsste meine Mutter Satoshi links und rechts auf die Wangen, tätschelte ihm das Gesicht, als wolle sie prüfen, ob er noch der selbe war. Mir versetzte dieses Schauspiel einen Stich ins Herz.

Wenn das Mutterliebe war, wo war sie dann bei mir all die Jahre gewesen?

Ich beobachtete, wie nun auch mein Vater Satoshi kräftig umarmte, ihm auf den Rücken klopfte und ihn von oben bis unten musterte. Sein Blick voll Stolz für den heimgekehrten Sohn.

So sehr ich es wollte, ich konnte den Blick nicht abwenden, von diesem Schauspiel. Wohlwissend, dass ich es mir insgeheim für mich selbst wünschte. Was hatte Satoshi nur an sich, dass ihn für mich unerreichbar machte und dem meine Eltern so viel mehr Bedeutung zukommen ließen, als mir?

Ich konnte es nicht hören, aber ich sah, wie meine Mutter auf meinen Bruder einredete, ihn vermutlich mit Fragen überhäufte, und obwohl Satoshi bereitwillig zu antworten schien, schweifte sein Blick doch immer wieder ab und er sah nun besorgt aus. Suchte er nach jemandem?

Er blickte meine Mutter wieder an, sagte etwas und die machte plötzlich einen etwas irritierten Eindruck. Sie wandte sich um, deutete mit der Hand unmerklich in meine Richtung und als Satoshi aufsah, hellte sich dessen Blick sofort wieder auf.

Sanft nahm er meine Mutter zur Seite, lächelte meinem Vater noch einmal zu und setzte sich eiligen Schrittes in Bewegung.

Oh Gott, schoss es mir durch den Kopf. Satoshi musste unsere Mutter nach mir gefragt haben und nun kam er direkt auf mich zu.

Dutzende Gefühle drängten in meiner Brust. Von Angst und Hilflosigkeit bis hin zu Zorn und Eifersucht.

Einen Moment dachte ich an Flucht, aber da Satoshi nur noch ein paar Meter entfernt war, war dies wohl keine Option.

Mein Atem ging schnell, meine Knie zitterten und ich war fast sicher, dass sich mein Sprachzentrum auch verabschiedet hatte. Ohne es zu wollen, wich ich einige Schritte zurück. Oder war es voran? Ich konnte mich nicht kontrollieren und hasste mich für meine fehlende Selbstbeherrschung.

Tausend Mal hatte ich das Szenario unseres Wiedersehens in meinem Kopf durchgespielt, hatte mir Worte zurechtgelegt und war fest entschlossen gewesen, ihm weder feindlich noch freundlich gegenüber zu treten.

Alles hatte ich mir vorgestellt, nur nicht das.

„Yun-chan!“ Satoshi hatte einen letzten großen Schritt gemacht und schon im nächsten Augenblick lag ich an seiner Brust. Er herzte mich, schmiegte seine Wange gegen meinen Kopf und gab mir einen leichten Kuss auf mein Haar.

Wie gelähmt stand ich da, umschlungen von den Armen meines so übermächtigen Bruders und ich konnte den dezenten Duft seines Parfüm riechen, dass er schon so viele Jahre über benutzte. Etwas Vertrautes.

„Schön dich zu sehen“, sagte er und gab mich wieder frei. Seine blauen Augen, denen meinen so ähnlich waren, leuchteten mich an. Und, bildete ich mir das nur ein, oder waren sie tatsächlich etwas verschwommen?

„Hast nen ganz schönen Satz gemach im letzten halben Jahr“, stellte Satoshi fest und begutachtete mich von oben bis unten. „Und etwas zugelegt hast du auch. Aus dir wird langsam ein richtiger junger Mann.“ Er griente mich an und in mir viel alles zusammen, wie ein Kartenhaus.

>Hör auf damit!< Hätte ich ihm am liebsten entgegengeschrien. <Gib mir keinen Grund, dich nicht zu hassen.< Aber ich konnte nicht. Das hatte ich nie gekonnt. Denn obwohl Satoshi immer derjenige war, der dem Einklang meines Lebens im Wege stand, war er es auch, der diesen Einklang aufrechterhielt. So war es schon immer gewesen.

Ob zu meiner Einschulung, als er mir sagte, dass viele Kinder erst mit sieben eingeschult werden. Am Ende der vierten Klasse, als er meine Eltern überzeugen wollte, dass man auch auf der Realschule weit kommen kann. Oder in dem Gespräch kurz vor seinem Abflug nach Amerika, als er mir sagte, dass ich, wenn ich nach meinem Abschluss Lust und Ehrgeiz hatte, immer noch das Fachabitur nachholen könne.

Ich hatte immer wieder die Tatsache verdrängt, dass Satoshi, auch wenn er mein Leben in den Schatten stellte, mich stets wieder aus selbigem hervor holte.

Ich vernahm ein Schniefen und blickte zu ihm auf. Er zwinkerte mir zu. „Kennst mich ja“, witzelte er. „Bin gar nicht sentimental.“

Er rang mir ein kleines Lächeln ab und erwiderte es. Es war eine merkwürdige Art von Vertrautheit, die mich jetzt meine Anspannung vergessen ließ.

Satoshi wich einen Schritt zurück und nickte mit dem Kopf in Richtung unserer Eltern. „Komm mit. Ich will dir jemanden vorstellen.“

Begegnung

Kapitel 4 Begegnung
 

Zu meiner Überraschung war Satoshi nicht allein aus Amerika zurückgekehrt, sondern hatte einen Kommilitonen im Gepäck, der sich während der Familienvereinigung dezent im Hintergrund gehalten hatte.

Satoshi stellte ihn uns als Robin Clark vor.

Erstaunlicherweise schienen meine Eltern über Robin bescheid zu wissen, was mich verwunderte, denn ich hatte noch nie etwas von ihm gehört.

Sie grüßten Robin herzlich, hießen ihn willkommen und begegneten ihm mit äußerster Höflichkeit und er tat es ihnen gleich. Zu meiner Verwunderung in fast akzentfreiem Deutsch.

„Hey“, wurde nun auch ich flüchtig von Robin begrüßt. Er reichte mir nicht die Hand, was mich etwas irritierte, aber nicht sonderlich störte.

„Hallo“, erwiderte ich und suchte verzweifelt in meinem Kopf nach einem Hinweis auf ihn. Hätte ich schon von ihm gehört, oder ihn schon mal gesehen, würde ich mich sicher daran erinnern, denn jemanden wie Robin konnte man schwer vergessen, wenn man in einer Stadt wie Stralsund lebte.

Er war groß und athletisch, hatte sonnengegerbte Haut und der Schwall braunen Haares, der sein, zugegeben hübsches, Gesicht umspielte, schien verwegen und etwas zu lang geraten. Nein. So jemanden vergaß man nicht.

Satoshi trat an mich heran und stupste mir in die Seite. „Warum so einsilbig?“, fragte er mich leise. „Ich hab dir doch in den E-Mails geschrieben, dass Robin ein Semester lang hier bleibt und wir versuchen wollen, es ihm so angenehm wie möglich zu machen. Er kennt hier doch niemanden. Also sei etwas freundlicher, okay?“

E-Mails?! Ich hatte aus Trotz nicht eine von ihnen gelesen, seit Satoshi nach Amerika gegangen war. Jetzt bereute ich es.

Automatisch hatte ich auf Satoshis Ermahnung genickt. Freundlich, na klar. Das hab ich drauf, dachte ich.

Ich nahm mir vor, zu Hause sofort sämtlich Mails zu checken, die Satoshi mir in den letzten sechs Monaten geschickt hatte. Doch das musste noch etwas warten.

Wir machten uns langsam auf den Heimweg. Mein Vater und meine Mutter gingen mit Satoshis Gepäck voran und banden diesen in ein Gespräch, das den Anschein machte, als würde es keine weiteren Personen dulden.

Robin und ich blieben zurück, denn er hatte noch etwas gebraucht, um sein Gepäck zu schultern.

Ich beobachte ihn dabei und rief mir in den Sinn, worum Satoshi mich gebeten hatte. Freundlichkeit.

„Soll ich dir helfen?“, fragte ich ohne Umschweife und schenkte ihm ein hilfsbereites Lächeln.

Er blickte mich an, musterte mich und fing an zu grinsen als wolle er sagen >Sieh dich an. Die Taschen sind schwerer als du<.

Und dann sagte er das, was mein Leben auf den Kopf stellte. Was mich differenzieren ließ, zwischen Ja und Nein, zwischen wollen und nicht wollen, zwischen Zurückweisung und Zuneigung.

„Maybe Vielleicht.“

„Maybe?“, fragte ich verdutzt. „Maybe what?“ In meiner Irritation sprach ich sogar Englisch mit ihm.

Ja oder Nein. Entweder wollte man, das einem geholfen wird oder nicht. Vielleicht war da doch keine Option. Es gibt Fragen, auf die kann man nicht mit vielleicht antworten.

„So… can I help you? Or not? Kann ich dir helfen, oder nicht“, fragte ich abermals, woraufhin er mir nur zuzwinkerte und antwortete: „Maybe yes, maybe no. Who knows. Vielleicht ja, vielleicht nein. Wer weiß.”

Mehr sagte er nicht, rückte sein Gepäck nochmals zurecht und trottete meinen Eltern und Satoshi hinterher um sie kurz darauf einzuholen.

Das war sie also, meiner erste Begegnung mit Robin Clark. Ein mir völlig fremder Mensch, der nichts von sich preisgab, mich aber schon in den ersten Sekunden in seinen Bann gezogen hatte.
 

Nur wenige Augenblicke später erreichte ich den Parkplatz, wo mein Vater schon Satoshis und Robins Gepäck im Kofferraum unseres Audis verstaute.

„Alles einsteigen“, flötete meine Mutter und begab sich auf den Beifahrersitz. „Zu Hause gibt’s Kaffee und Kuchen.“

„Schon gut Mama“, entgegnete Satoshi und öffnete eine der hinteren Türen. Er sah zu mir und bedeutete, dass ich einsteigen sollte. „Der Kleine in die Mitte“, frotzelte er und grinste Robin zu, der mir auch mit einem Kopfnicken signalisierte, dass ich einsteigen sollte. Da gab es nur ein Problem und meine Mutter brachte es auf ihre Weise auf den Punkt.

„Yun ist doch mit dem Rad da. Außerdem ist mit euch zwei großen Kerls hinten sowieso schon so wenig Platz“, sagte sie und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Wir fuhren einen A8 und ich hätte mein Rad auch später holen können, aber ich verstand schon. Bloß Abstand halten, damit ich ihr und ihrem Satoshi nicht in die Quere kam.

„Sie hat Recht“, gab ich zurück und versuchte so neutral wie möglich zu klingen. „Ich komm dann nach.“

„Ganz genau“, flötete meine Mutter zufrieden, setzte dem ganzen aber noch die Krone auf. „Oder du fährst noch mal bei der Di… ich meine bei Raik vorbei. Es war ja Schulbeginn und ihr wollt euch bestimmt noch etwas austauschen.“

Das hatte gesessen. So viel Zurückweisung hatte ich von meiner Mutter lange nicht erfahren. Jedenfalls nicht so lange, wie Satoshi in Amerika gewesen war.

„Na klar“, knurrte ich und gab mir keine Mühe mehr, meinen Zorn zu unterdrücken.

Ich konnte Satoshi ansehen, das er am liebsten etwas gesagt hätte, vor Robin aber keinen Zwist verursachen wollte, genau wie ich. Und, wenn ich es mir nicht nur einbildete, meine ich von Robin einen angewiderten Blick in Richtung meiner Mutter erhascht zu haben.

Was sollte er nur von uns denken?

Ohne ein weiteres Wort kramte ich mein Schlüsselbund aus der Hosentasche und ging in Richtung Fahrradständer, der in unmittelbarer Nähe stand, um das Schloss zu entriegeln, als ich Robins Stimme hörte, die mich Innehalten ließ. „Ich geh´ zu Fuß.“

Wie bitte?

Im nächsten Augenblick hörte ich eine Autotür, die zuschlug.

Ich blickte mich um, sah das bittende Gesicht meiner Mutter, das sagen sollte, Robin möge doch bitte einsteigen, meinen Vater der sich zwischen Unverständnis und Wut nicht entscheiden zu können schien und Satoshi der schmunzelnd den Kopf schüttelte, ein >bis gleich< von sich gab und dann ins Auto stieg.

Robin nahm ich erst einen Bruchteil von Sekunden später wahr. Er winkte, um meiner Familie die Abfahrt zu bereiten und kam dann, die Hände in den Hosentaschen vergraben, zu mir hinüber.

Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Wie ein kleiner Junge stand ich da, den Schlüssel noch immer unverrichteter Dinge im Fahrradschloss, ahnungslos ob ich dankbar oder eingeschüchtert sein sollte. Irgendwie war ich beides.

„Ist ziemlich weit“, war das erste, was mir einfiel und richtete mich auf. „Du hättest mitfahren sollen.“

„Hab im Zug genug gesessen“, gab er zurück.

Ob das wirklich sein Beweggrund war, oder er einfach nur Mitleid mit mir hatte konnte ich nicht sagen. Aber irgendwie war es mir auch egal. Robin war bei mir geblieben, warum auch immer, und dafür empfand ich tiefe Dankbarkeit.
 

Wir machten uns also auf den Heimweg. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Wir kannten uns nicht, hatten uns nichts zu sagen und trotzdem fühlte es sich vertraut an.

Robin war kein großer Redner, genauso wenig wie ich, aber das war auch nicht nötig.

Ab und zu erklärte ich ihm einige Gebäude. Erzählte, als wir den Neuen Markt überquerten, dass das Kino gleich in der Nebenstraße war und es direkt daneben eine mexikanisch angehauchte Bar gab, die in der ganzen Stadt sehr beliebt war.

Robin hörte mir schweigend zu. Hin und wieder gab er einen nichtssagenden Kommentar von sich, aber darauf beschränkte sich dann auch schon unsere Konversation.

Kurz bevor wir unseren Zielort erreichen, blieb Robin plötzlich stehen. Er blickte hinauf zum Himmel, wo Möwen ihre Kreise zogen und mir schien, als würde er ihren Schreien lauschen.

„Ich will das Meer sehen“, sagte er unvermittelt, ohne seinen Bick von den Möwen abzuwenden.

„Was?“, fragte ich halb lachend. „Ist das dein Ernst?“

Nun sah er mich direkt an und ich nahm zum ersten Mal wahr, dass seine Augen die Farbe von sehr altem Cognac hatten. Dunkles Gold mit Reflektionen von Bernstein.

Offenbar war es Robin tatsächlich ernst.

„Du… Wir werden doch erwartet“, setzte ich an, doch Robin unterbrach mich.

„Wo geht’s lang?“, fragte er ohne Umschweife und noch immer ruhte sein Blick auf mir.

„Wir müssten den ganzen Weg zurück“, antwortete ich. Sein Blick machte mich nervös. Wollte er wirklich zum Hafen, oder testete er nur aus, wie lange ich mit ihm durch die Stadt dackelte? „Außerdem ist das dann nicht das Meer, sondern nur der Bodden. Um wirklich das Meer zu sehen, müssten wir nach Rügen rauf, an die Küste, und bei aller Liebe, heute nicht mehr.“

Ich hatte das wohl etwas zu impulsiv gesagt, denn Robin wirkte verschreckt.

„Schon gut“, sagte er und ging weiter. „Irgendwann. Maybe.“ Diesmal allerdings klang sein >maybe< nicht so souverän.

„Nein!“, ich hatte das Wort schneller ausgesprochen, als gedacht. Etwas in mir wollte nicht, dass unser gemeinsamer Heimweg jetzt schon endete.

Robin wandte sich augenblicklich zu mir um. Ich wich seinem Blick aus, denn es war mir etwas peinlich ihn so energisch aufgehalten zu haben.

„Ich zeig dir den Bodden“, sagte ich schnell. „Wir rufen Satoshi an und sagen, dass wir etwas später kommen.“

Robin grinste, als er die paar Schritte zu mir zurückkam. „Nicht nötig“, sagte er fast beiläufig. „Hab ihm schon ne SMS geschrieben.“

Wann hatte er das denn gemacht?

„Du wusstest, dass ich nachgeben würde?“

„Maybe.“

Das war das dritte Maybe gewesen, das er mir geschenkt hatte. Ein gutes Maybe. Ein Maybe, das man nicht falsch deuten konnte.

Erst als es schon dämmerte kehrten wir vom Bodden zurück. Meine Eltern waren mehr als ungehalten. Sie gaben mir die Schuld daran, unseren Gast quer durch die ganze Stadt geschleppt zu haben und waren der festen Überzeugung, dass ich mich bei Robin entschuldigen sollte.

Was mich betraf, so nahm ich die Vorwürfe hin. Sollten sie doch schimpfen, mir war es egal. Denn dieser Tag war der erfüllteste, den ich seit langem erlebt hatte.

Ich ging in mein Zimmer und ließ die vergangenen Stunden Revue passieren.

Nachdem Robin und ich am Bodden angekommen waren, war die Stimmung zwischen uns wesentlich gelöster gewesen. Wir hatten uns an den Rand des Hafenmauer gesetzt, über Gott und die Welt geredet und ich hatte lachen müssen, als er es tatsächlich gewagt hatte, seine Füße in das noch sehr kalte Wasser zu halten, um sein Tun schon eine Sekunde später zu bereuen.

Ich hatte erfahren, dass Robin in Arizona geboren worden war, seine Mutter eine Deutsche war und er deshalb so gut unsere Sprache beherrschte.

Außerdem hatte Robin erzählt, dass Satoshi und er sich in der Uni kennengelernt und sie irgendwann beschlossen hatten, dass auch Robin an einem Auslandssemester teilnehmen könnte. Robin hatte sich mit nunmehr dreiundzwanzig Jahren definitiv bereit dazu gefühlt und so war er bei uns gelandet.

Robin war erstaunt gewesen, dass ich all diese Dinge nicht schon längst wusste, denn Satoshi hätte mir schließlich fast täglich geschrieben.

Ich hatte keine plausible Erklärung parat und so erriet Robin schließlich, das ich nicht eine von den E-Mails gelesen hatte.

Er hatte mich ertappt und schien es auch noch zu wissen.

Robin erklärte mir, dass Satoshi immer viel von seiner Familie, aber vor allem von mir erzählte und wusste somit um das schwierige Verhältnis zwischen uns, was gar nicht hätte so schwierig sein müssen.

Vielleicht hatte Satoshi Recht damit, aber die Beklemmungen die er in mir verursachte, ließen sich nicht so einfach lösen.

Es lag nahe, dass Robin inzwischen mehr über mich wusste, als ich über ihn.

Die Zeit war wie im Flug vergangen und ich hatte Robin zum Abschluss gefragt, ob ihm der Bodden denn nun reichte, oder er sehr enttäuscht war, dass Rügen noch zwischen ihm und dem großen, weiten Meer lag. Wenn man die Ostsee den als solches bezeichnen konnte.

Robin hatte mir keine Antwort gegeben und in mir war das Gefühl aufgekommen, dass er tatsächlich enttäuscht war.

Ich hatte auf dem Rand der Hafenmauer gesessen, zu ihm aufgesehen und konnte seine Gedanken nicht erraten, so gern ich es gewollt hätte.

Wie er so dagestanden hatte, die Hände in den Taschen vergraben und zum neuen Rügenzubringer hinüber sah, der sich als riesige stählerne Hängebrücke zu unserer Rechten auftat, kam mir das Gefühl ihn schon ewig und doch gar nicht zu kennen. Wer war er? Warum waren wir beide zusammen hier? Hatte es eine tiefere Bedeutung, dass sich unsere Wege gerade jetzt kreuzten? Jetzt, wo mein Leben doch so aus den Fugen geriet und ich dringend jemanden brauchte, der es wieder stabilisierte.

„Robin?“, hatte ich gefragt und es war mir wie das natürlichste von der Welt vorgekommen. „Fährst du mal mit mir nach Rügen an die Küste?“

Robins cognacfarbenen Augen war mir zugewandt mit einem Lächeln, das seine Lippen umspielte.

Seine Antwort war: „Maybe.“

Absturz

Kapitel 5 Absturz
 

Wenn man so behütet aufgewachsen war ich, fernab von allem vermeintlich Schlechten, könnte man meinen, dass meine Eltern damit alles richtig gemacht hatten. Doch vielleicht wären ein paar Erfahrungen mit den weniger schönen Seiten des Lebens ganz gut gewesen, denn dann hätte ich gewusst, wie ich mit der Reihe von Abstürzen hätte umgehen sollen, die mich an mir selbst zweifeln ließen.
 

Es war inzwischen Ende September und in den vergangenen Wochen hatte sich das Verhältnis zwischen Robin und mir deutlich abgekühlt.

Er hatte das Gästezimmer, welches direkt an mein Zimmer grenzte, bezogen und obwohl wir nun quasi Nachbarn waren, hatte ich ihn kaum mehr zu Gesicht bekommen.

Unsere Begegnungen beschränkten sich darin, sich am Morgen im Bad die Klinke in die Hand zu geben, beim Frühstück ein paar Minuten zusammen zu sitzen und sich am Abend maximal eine gute Nacht zu wünschen.

Natürlich wusste ich, dass ihn sein Studium sehr in Anspruch nahm, er durch Satoshi viele neue Bekanntschaften gemacht hatte und sicherlich nicht den Drang verspürte, seine wenige freie Zeit ausgerechnet mit dem kleinen Bruder seines, inzwischen sehr guten, Freundes zu verbringen.

Dennoch musste ich mir selbst zugestehen, dass mir die gemeinsame Zeit mit Robin fehlte. Die Neckereien, die stillen Stunden in meinem Zimmer, genauso wie das ausgelassene herumalbern. Und ich fragte ich mich, wann sich der Graben zwischen uns gebildet hatte.

In der ersten Woche noch begegnete er mir mit viel Freundlichkeit und gab mir das Gefühl, ihm wichtig zu sein.

Er hatte mich um eine Stadtführung gebeten, fragte manchmal, ob ich mit ihm einkaufen ging, oder kam unangemeldet in mein Zimmer, um in meinen Büchern zu stöbern.

Inzwischen, eineinhalb Monate nach seiner Ankunft, beschränkte sich unsere Konversation auf guten Morgen, schönen Tag, gute Nacht.

Nur einmal hatte Robin, als ich mir die Noten für „Farytales gone bad“ von „Sunrise Ave“ heruntergeladen hatte, um sie auf der Gitarre einzustudieren und den Text vor mich hin sang, an meine Zimmertür geklopft.

Es muss so gegen neunzehn Uhr gewesen sein und ich eigentlich dachte, die Wohnung für mich allein zu haben.

Ich war vor Schreck zusammengefahren, gewehrte aber Einlass.

Als es Robin war, der die Tür geöffnet hatte, war ich überrascht.

„Was machst ´n du da?“, hatte er ohne Umschweife gefragt.

„Gitarre spielen“, war meine plausible Antwort.

„Das mein ich nicht.“

„Was sonst? Singen?“

„Singen ist gut, wenn du es damit mal versuchen würdest. Aber lass dieses Gequake, ich versuche nebenan zu lernen.“

Wumm. Tür wieder zu.

Ich war mir sicher gewesen, dass mein Gesicht die Farbe eines Feuerlöschers angenommen hatte.

„Die Saiten kannst du weiter zupfen“, war seine Stimme dann durch die geschlossene Tür gedrungen. „Das ist gar nicht so schlecht.“

Ich hatte es ganz bleiben lassen.

Das lag allerdings nicht daran, dass ich Angst hatte, ihn zu stören, oder weil er sich über meinen Gesang lustig gemacht hatte, sondern daran, dass ich schlicht und ergreifend nicht vor anderen spielte. Schon in der Band überkam mich das Lampenfieber, auch wenn wir unter uns waren, und auch vor Frau Dehler hatte ich nie so befreit spielen können wie ich es tat, wenn ich mit mir alleine war.

Warum das so war, konnte ich mir selbst nicht erklären. Vielleicht daran, dass ich keine Angst haben musste, wenn ich einen falschen Ton traf, oder weil es niemanden gab, der mich zu verbessern versuchte und mich damit unter Druck setzte, doch mal dieses und jenes zu spielen.

Gitarre zu spielen war meine eigene kleine Welt, in der nur ich und meine Musik zählten und in diese sollte und durfte mir niemand hineinreden. Selbst Raik hatte ich nie daran teilhaben lassen.
 

Einige Tage später, es war Samstagmorgen, passierte etwas, womit ich am wenigsten gerechnet hatte. Außer meinen Eltern, Satoshi und Robin saßen dazu noch zwei Mädchen, oder vielmehr Frauen, am Frühstückstisch. Eine von ihnen kannte ich. Es war eine langjährige gute Freundin von Satoshi. Ihr Name war Lina und sie arbeitete in einem Fachhandel für Musikerbedarf, den ich regelmäßig aufsuchte. Die andere war mir allerdings kein Begriff.

Lina hatte mich freundlich begrüßt, während mir die andere nur einen abfälligen Blick zuwarf und Robin die eine Hälfte eines Brötchens auf den Teller legte und die andere auf ihrem eigenen landete.

Hatte ich irgendwas nicht mitgekriegt?

Ich warf ein nichtssagendes Guten Morgen in die Rund und stellte fest, dass kein Stuhl am Tisch mehr frei war.

Noch bevor ich mir einen Stuhl aus dem Wohnzimmer holen konnte, nahm meine Mutter mir schon den Wind aus den Segeln.

„Wir sind sowieso gleich fertig“, flötete sie, aber ich erkannte, dass sie mir sagen wollte: Quetsch dich jetzt nicht dazwischen.

Natürlich nicht.

„Keine Hektik“, entgegnete ich und versuchte, ganz beiläufig zu klingen. „Bin sowieso verabredet.“ An mir war ein Schauspieler verloren gegangen.

Verärgert verließ ich die Wohnung.
 

An Raik gab es etwas, das mich verblüffte. Er war einfach immer erreichbar. Ob morgens um fünf oder nachts um halb eins, er hatte einfach immer Zeit. So auch an diesem Samstag.

Sofort, nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, rief ich ihn an.

„Hast du Zeit?“

„Stress zu Hause?“

„So ähnlich.“

„Komm vorbei.“

So unkompliziert war das mit Raik und ich weiß nicht, ob ich es ihm schon einmal gesagt hatte, aber ich war ihm unendlich dankbar dafür.

Bei Raik war ich immer gerne, allerdings nicht bei ihm zu Hause. Seine Eltern mochten mich nicht besonders, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich sah sie zwar nur selten, aber wenn es mal zu einem Treffen kam, musterten sie mich herablassend und ließen Kommentare fallen wie >das reiche Söhnchen auch mal wieder da< oder, als ich Raik mal meine neueste Errungenschaft, einen MP3 Player präsentiert hatte >Einige Leute müssen dafür lange arbeiten. Deine Eltern wissen gar nicht, was das ist.<

Seit dem standen Herr und Frau Berger und ich quasi auf Kriegsfuß miteinander.

Wenn sie nicht so gemein zu mir wären, hätte ich für ihre Situation mehr Verständnis gehabt.

Raik hatte mir irgendwann einmal erzählt, dass seine Eltern nur Minijobs hatten und sie sich alles vom Munde absparten. Raik hatte darunter genauso zu leiden, wie seine Eltern selbst. Er verdiente sich etwas mit Aushilfsjobs dazu, ging auch mal von seinem Geld einkaufen und versuchte die Familie zu unterstützen, wo es ging. Doch genau das war der Grund, warum das Verhältnis zwischen ihm und seinen Eltern so zerrüttet war.

Sie wollten sich vom eigenen Sohn keine Almosen geben lassen und er wollte nicht akzeptieren, warum es ihnen so viel schlechter gehen sollte, als anderen Familien. Dazu kam noch, dass Raik mit seinem Aussehen und Auftreten, nicht gerade der Vorzeigenachwuchs war, der die Eltern stolz machte. Aber das war er. Sie wollten es nur nicht erkennen. Die Fronten waren verhärtet.
 

Familie Berger bewohnte eine kleine Wohnung in einem Wohnblock unweit meines Stadtteils.

Als ich den Treppenaufgang betrat, bot sich mir ein heruntergekommenes Bild. Die Wände voller Graffitis, die Stufen mit Dreck und Unrat übersät.

Einmal mehr wurde mir bewusst, wie dicht Hui und Pfui in Stralsund beieinander lagen.

Ich musste nur eine Etage nach oben, wo links im Flur schon die Tür offen stand. Ich klopfte trotzdem an den Türrahmen, trat ein und zog die Tür hinter mir ins Schloss.

Die Schuhe zog man in dieser Wohnung lieber nicht aus, also ging ich geradewegs durch die kleine Diele in Raiks Zimmer, wo ich ihn bäuchlings auf dem Bett liegend vorfand, noch mit einem Teller vor sich, auf dem ein angebissene Scheibe Brot lag.

„Hi.“

„Hi.“

Raiks Zimmer war, im Gegensatz zum Rest der Wohnung, eine kleine Oase. Sauber, aufgeräumt und mit all möglichem Schnickschnack versehen.

Diverse Poster von Rock- und Gothicbands hingen an den Wänden, beklebt mit kleinen Gedichten und Texten, die Raik so im Kopf herum schwirrten. Vor dem Fenster hing kein Vorhang, sondern ein Tuch in Neonfarben und, auch wenn das schon eine Weile out war, hatte er sich zwei Schwarzlichtröhren an die Decke montiert, die angeschaltet, alles Weiße leuchten ließen.

Seine Zimmereinrichtung erfüllte ihren Zweck und war dennoch individuell. So hatte sich der Kleiderschrank, wenn man ihn öffnete, durch farbige Lampen an den Innenwänden der Türen, zu einer kleinen Bühne verwandelt und dass Bett war eigentlich ein Podest aus Speerholz, ausstaffiert mit unzähligen Decken und Kissen.

Ich liebte dieses Zimmer.

Rücklings ließ ich mich zu Raik aufs Bett fallen und bettete meinen Kopf in seinen Kniekehlen.

Ohne mich anzusehen schob er den Teller mit dem Brot zu mir herüber. „Haste Hunger?“

Wortlos nahm ich einen Happs. Natürlich hatte ich Hunger und Raik wusste das. Ich hatte die Angewohnheit, nie vor neun Uhr etwas zu Essen, und da ich ihn vor neun angerufen hatte… Er kannte mich einfach viel zu gut.

„Willste ne Runde zocken?“, fragte er und warf mir im selben Moment den Controller seiner Spielekonsole zu.

„Wieso nicht.“

Ich spielte gern mal eine Runde, um mich abzulenken, aber da meine Mutter streng gegen solche Art von Unterhaltung war, besaß ich keine eigene Konsole.

Daran, dass Raik trotz seiner mäßigen Liquidität eine Spielekonsole besaß, war ich allerdings nicht ganz unschuldig.

Das ein ums andere Mal hatte ich versucht, ihn zu unterstützen. Doch egal ob ich für ihn im Kiosk etwas mitkaufen wollte, ihm die Kinokarten spendieren wollte, oder beim Shoppen das ein oder andere Teil für ihn bezahlen wollte, er hatte immer abgelehnt.

Dann jedoch kam meine Chance. Zu Raiks sechzehntem Geburtstag beschloss ich, mein Bankkonto mal wieder zu inspizieren. Meine Eltern überwiesen mir jeden Monat etwa siebzig Euro, da ich aber auch so alles von ihnen bezahlt bekam was ich brauchte, oder auch nicht brauchte, hatte sich inzwischen ein schönes Sümmchen angehäuft.

Da hatte ich also vor Raik gestanden, mit einem großen Paket und er hatte mich angestarrt, als hätte ich mich in der Tür geirrt.

Und als er das Paket dann geöffnet hatte, schien aller Glaube von ihm abzufallen. >Spinnst du?!< war seine erste Reaktion gewesen, als er die weiße Konsole mit dem X im Schriftzug in den Händen gehalten hatte.

Natürlich hatte er gesagt, dass er so etwas nie annehmen könne, ich aber mit dem Geburtstagsgeschenk-Argument konterte. Nicht überzeugt, aber überredet hatte er mein Geschenk schließlich angenommen.

Für mich war es die beste Investition gewesen, die ich hätte machen können. Nicht, weil ich nun Gelegenheit bekommen hatte, selbst zu spielen, sondern weil ich Raik damit einen Herzenswunsch erfüllen konnte.

Er selbst hatte mir schon so viel gegeben. Nicht materiell, aber emotional und dies konnte nicht die teuerste Konsole der Welt aufwiegen.

Auch wenn ich wusste, dass er ab diesem Tag das Gefühl hatte, in meiner Schuld zu stehen. Spüren ließ ich es ihn nie und wir verloren nie wieder ein Wort darüber.
 

„Also, was war los?“, fragte mich Raik etwa eine halbe Stunde und drei Level unseres Lieblingsgames später. Er besaß genug Feingefühl, mich nicht gleich sofort auszuquetschen, zeigte mit seiner Nachfrage aber doch Interesse.

Unmotiviert zuckte ich die Achseln. Eigentlich wollte ich nicht über den Morgen reden. Ich war nicht einmal mehr verärgert über die Abfuhr meiner Mutter. Vielmehr verursachte mir das Bild am Frühstückstisch ein unruhiges Gefühl in der Magengegend.

„Na komm“, bohrte Raik nun weiter, als ich nicht antwortete. „Irg´ndwas muss doch gewesen sein.“

Mit starrem Blick auf den TV-Bildschirm, auf dem sich meine Spielfigur einen erbitterten Kampf mit einem Alien gab, antwortete ich ihm. „Wir hatten heute Damenbesuch.“

Raik stoppte das Spiel. „Wie jetz´?“

Ich merkte, wie sein Blick auf mir ruhte.

„Heute Morgen waren Lina und irgendeine andere Frau bei uns zum Frühstück. Das Lina zu Satoshi gehört, ist jawohl klar. Die beiden suchen sich ja schon ewig, aber kriegen es nicht auf die Reihe sich zu finden. Die Andere kannte ich nicht, aber ich bin mir sicher…“, ich mochte den Satz nicht zu ende sprechen. Warum nur fiel mir das so schwer? Vielleicht weil es der kleine Moment gewesen war, als die Unbekannte Robin die zweite Hälfte ihres Brötchens auf den Teller gelegt hatte, der mich so wütend machte. Wer war Sie denn, sich in meiner Küche auf meinem Stuhl breit zu machen?

„Er hat se bestimmt geknallt. Also ich mein Robin die andere.“ Raiks Vermutung drückte einen Moment die Luft aus meinen Lungen. Ungläubig starrte ich ihn an.

„Quatsch“, wehrte ich sofort ab. „Doch nicht in der Wohnung seiner Gasteltern. Und bestimmt nicht so schnell.“

„Ich bitte dich“, argumentierte Raik weiter. „Der Typ is wie alt? Dreiundzwanzig? Er und Satoshi werden gestern noch unterwegs gewes´n sein und damit Robin sich zwischen Lina und Satoshi nich so einsam fühlen sollte, ham se ihm ne Olle angelacht. Is doch klar. Ihm wird egal gewes´n sein, dasser bei euch nur zu Besuch is. Kerle in dem Alter sind doch alle gleich. Selbst in unserm Alter.“

War das wirklich so? Hatte ich die Nacht so tief geschlafen, dass ich nicht mitbekommen hatte, was sich nebenan abgespielt hatte?

Bitte, lieber Gott, lass es nicht so sein.

„Ich versteh´ echt nich, warum de dich deshalb ufregst.“

„Mach ich ja nicht“, gab ich zurück und blickte wieder auf den Bildschirm. Es hatte keinesfalls so rüberkommen sollen und außerdem verstand ich es selber nicht.

„Erzähl ma lieber, was mit Deiner Ollen is“, fragte Raik nun plötzlich und griente mich an. Er verstand es wirklich das Thema zu wechseln.

„Du sollst sie nicht so nennen. Außerdem ist da noch gar nichts“, entgegnete ich ihm, merkte aber, wie mir das Blut in den Kopf schoss.

Raik sprach von Mia, dem Mädchen, das uns am ersten Schultag nach dem Busfahrplan gefragt hatte und die nur aufgrund meiner japanischen Abstammung an mir interessiert war.

Nun, sie hatte ihr Vorhaben mich kennenzulernen nicht aufgegeben und war seit jener ersten Begegnung jeden Tag in der Pause zu mir gekommen, um mich in ein Gespräch zu verwickeln.

Ihre Hartnäckigkeit hatte mich zugegebenermaßen beeindruckt und da auch Raik und Nicky auf mich eingeredet hatten, hatten Mia und ich schließlich unsere Handynummern getauscht. Ein Fehler, wie ich noch am gleichen Tag erkennen musste.

Andauernd bekam ich von ihr kleine süße Textnachrichten. Noch vor dem Aufstehen ein >Guten Morgen< und nach dem Zubettgehen ein >Gute Nacht und süße Träume<.

Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt, von so viel Aufmerksamkeit. Aber wollte ich das? Wie konnte ich mir sicher sein, dass Mia tatsächlich doch irgendwie an mir interessiert war und nicht nur an dem Japaner in mir?

Etwas Sicherheit hatte ich dann gestern in Form von Mias älterer Schwester bekommen. Sie war noch vor der ersten Stunde an mich herangetreten und bat mich, Mia doch wenigstens eine Chance zu geben. Ihr war durchaus bewusst, dass ihre kleine Schwester etwas eigen war, aber versicherte mir auch, dass Mia mich wirklich mochte und ich doch versuchen sollte, sie besser kennenzulernen.

Hin und her gerissen zwischen Verstand und Neugierde entschied ich mich letztendlich, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Mia war das erste Mädchen, dass überhaupt Interesse an mir als männliches Wesen gezeigt hatte und deshalb hatte ich beschlossen, sie noch in der ersten Pause um ein Date zu bitten.

Da ich keinerlei Erfahrung in solchen Dingen hatte, stellte ich mich natürlich etwas dumm an. Stammelte was von verabreden und Samstag und kam mir ganz und gar vor, wie ein Idiot.

Doch Mias große braune Augen, die mich anstrahlten und jedes Wort von meinen Lippen ablasen, entschädigten für alle Peinlichkeit, die ich in diesem Moment empfunden hatte.

Somit also hatte ich am heutigen Tag mein erstes Date. Warum nur, war ich nicht aufgeregt? Warum nur tobte stattdessen diese Missgunst in mir, die ich gegenüber der fremden Frau an unserem Frühstückstisch empfand?

Raik holte mich aus meinen Gedanken. „Also was jetz´?“

„Hatte ich dir doch erzählt“, antwortete ich. „Ich treffe mich heute um fünf mit ihr am Kino.“

„Bro…“

„Bro?“

„Ja Bro. So nenn´ sich beste Freunde unter´nander. Kommt von Brother.“

„So hast du mich aber noch nie genannt.“

„Dann fang ich eben jetz damit an. Hast ´n Problem damit?“

„Nein aber…“, ich musste lachen. „Aber bitte Bro, lass mich dich Raik nennen. So nenne ich nämlich meinen besten Freund.“

Raik musste einfach immer versuchen, alle Trends der coolen Kids mitzunehmen.

„Mir egal“, meinte er schließlich. „Was ich eigentlich sagen wollte is, verpatz es heut Abend nich.“ Er sah mich prüfend an und je mehr wir von dem Date sprachen, desto nervöser wurde ich.

„Komm doch mit Nicky mit“, schlug ich vor. Etwas Unterstützung konnte nicht schaden.

„Alter…“, Raik verdrehte die Augen. „Genauso verpatzt du´s. Da haste ´n süßes Mädel anner Hand und willst euer erstes Treff´n mit ´m Doppeldate versauen?“

Raik hatte Recht. Jetzt, wo Mia so lange für diesen Abend gekämpft hatte, konnte ich ihr das nicht antun. Da gab es nur ein Problem…

„Ich weiß doch gar nicht, wie das geht, mit so ´nem Date.“

Vielleicht war das mein größtes Problem. Ich hatte Schiss, etwas falsch zu machen. Mich dumm anzustellen oder, viel schlimmer, mich wie ein totaler Trottel zu benehmen.

Ich fühlte mich wie ein Häufchen Elend. Ich war siebzehn, verdammt noch mal. Andere Jungs hatten in dem Alter schon ganz andere Dinge hinter sich.

Raik schlang mir einen Arm um die Schulter, seine Stirn an meiner lehnend.

„Bro“, sagte er, „wir kriegen das schon hin.“
 

Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr, als ich mit Nicky und Raik in der Bar, die neben dem Kino lag, saß und ihnen von meinem Date mit Mia erzählte. Ich hatte die beiden sofort, nachdem ich mich von Mia verabschiedet hatte, angerufen und keiner von ihnen wollte es sich nehmen lassen, was ich zu berichten hatte.

Irgendwann am Nachmittag war ich von Raik nach Hause aufgebrochen und hatte eine leere Wohnung vorgefunden. Sind unterwegs, stand auf einem Zettel, der auf der Anrichte lag. Sollte mir Recht sein. Ich hatte sowieso niemanden von ihnen sehen wollen.

Je näher der kleine Zeiger der Uhr an die Fünf heranrückte, desto flaue wurde mir im Magen.

Die typischen Erstes-Date-Symptome traten auf. Was sollte ich anziehen? Welcher Duft? Frisur?

Nach einem nicht enden wollenden Marathon aus verschiedenen Kombinationen, hatte ich mich letztendlich für eine verwaschene Slim-Jeanshose, ein dunkelblaukariertes Hemd und braune Timberland-Boots entschieden. Mein schwarzes Haar versteckte ich unter einem graublauen Hut, den ich mit einem grauen Tuch um den Hals kombinierte.

Ich war viel zu früh dran, als ich die Wohnung wieder verließ, wusste aber dort nichts mehr mit mir anzufangen und so war ich schon um circa halb fünf am verabredeten Ort.

Zu meiner Überraschung hatte sich Mia auch bereits dort eingefunden. Ich entdeckte sie auf einer Bank im Fourier, mit den Füßen auf den Boden tippelnd.

Offenbar war ich nicht der einzige der nervös war. Diese Tatsache hatte mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert und meine Nervosität hatte spürbar nachgelassen.

Wir hatten uns freundlich, aber zurückhaltend begrüßt, die Karten gekauft und die restliche Wartezeit damit verbracht, über ihre und meine Lebensgeschichte zu plaudern. So erfuhr ich, dass sie im Volleyballverein war und gern zeichnete.

Hatten wir am Anfang des Films noch stocksteif nebeneinander gesessen, so lockerte sich die Stimmung mit jeder Szene, über die wir lachen mussten und mit jedem spannenden Moment, den wir gebannt verfolgten, merklich auf.

Ab und zu hatte ich zu ihr hinüber gesehen, ihr weichen Gesichtszüge bewundert und schmunzeln müssen, wenn sie sich vor Schreck die Augen zugehalten hatte.

In jedem Film jedoch gibt es einen Moment, in dem es ruhig wird im Saal, sich die Freundin an den Partner kuschelt und man gespannt darauf wartet, das der Held die Gerettete küsst. Und so war es auch in diesem.

Ich hatte nicht gewagt, Mia anzusehen, als es ganz still um uns herum wurde, jedoch deutlich dieses Knistern bemerkt, das in der Luft lag.

Und dann, ganz vorsichtig, hatte Mia ihre Hand auf meine Hand gelegt. Irgendwas in meinem Bauch tat einen Satz und ehe ich darüber nachdenken konnte, hatte ich meine Finger mit ihren verschränkt.

Wir sahen uns an, lächelten zaghaft, mit dem Bewusstsein, dass wir einen kleinen Schritt in eine unbestimmte Richtung getan hatten.
 

Es war fast halb zehn gewesen, als Mia und ich uns voneinander verabschiedeten.

Sie stand vor mir, in ihrem bezaubernden Sommerkleid, und ich wusste, was sie jetzt von mir erwartete. Jedoch war ich nicht bereit dazu. Es war unser erstes Date und ich wäre mir schäbig vorgekommen, hätte ich ihre Schwärmerei für mich derartig ausgenutzt.

Also hatte ich zum Abschied nur einen leichten Kuss auf ihr Haar gehaucht. Mit dem Versprechen, mich ganz bald bei ihr zu melden.

Und das war es dann. Mia war gegangen, zufrieden mit sich und der Welt und ich hatte ihr nachgeblickt mit dem Gedanken, dass ich es nie hätte so weit kommen lassen dürfen.
 

„WAS?!“ Sowohl Raik als auch Nicky blickten mich voller Unverständnis an.

Nicky war die erste, die ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Aber was ist mit dem Knistern, mit dem Händchenhalten, mit dem Kuss?“

„Aufs Haar“, wand ich ein.

„Scheiß egal wohin. Mia hat sich bestimmt total in dich verliebt. Sie ist doch erst fünfzehn und so ein Date…“

„Nur ein Jahr jünger als du.“

„Ja verdammt, und ich hätte mich verknallt!“

„Ich weiß…“ Ich wusste es wirklich. Es war nicht meine Absicht, Mia so in die Irre zu führen, aber es war alles so neu, so perfekt gewesen. Ich hatte nicht anders gekonnt.

„Wenn du mich fragst, Bro. Alles richtig gemacht“, brachte sich nun auch Raik mit ein.

„Das war ja klar“, protestiere Nicky sofort und warf Raik einen vernichtenden Blick zu. Dann sah sie mich eindringlich an.

„Was hat denn nicht gestimmt?“, fragte sie mich sanft. „Mia ist süß und…“

Ich unterbrach sie energisch. „Das weiß ich auch! Sie ist süß, charmant, clever. Einfach toll aber…“, und ich konnte selbst nicht fassen, das ich das sagte, „… ich bin einfach nicht in sie verliebt. Klar hat es gekribbelt, aber es war ja auch alles ganz neu für mich. Wenn mich jemand fragen würde, ob ich mit ihr zusammen sein wollen würde, würde ich nein sagen.“

Ich sah Nicky bittend an. Sie sollte etwas sagen, was mich nicht noch mehr runterzog. Doch sie tat das Gegenteil.

„Yun, ich bin mir fast einhundertprozentig sicher, dass Mia der festen Überzeugung ist, dass ihr jetzt zusammen seid. Du musst das klären.“

Das musste ich. Aber sicher nicht jetzt. Und auch nicht mehr heute.

In meinem Kopf spielten die beiden Hirnhälften Hockey mit meinem Verstand und ich wollte einfach nur die Gedanken an Mia, aber vor allem den an die unbekannte Frau von heute Morgen vergessen, die noch immer zusammen mit dem Bild von Robin in meinem Kopf herumschwirrten.

Also tat ich etwas, was ich noch nie zuvor getan hatte. Ich bestellte mir Alkohol.

Der Rum-Cola kam binnen weniger Minuten und Nicky war entsetzt darüber, dass ich überhaupt harten Alkohol ausgeschenkt bekam. Trotzdem bestellten sie und Raik sich ebenfalls welchen.

„Auf die Liebe“, hob Raik sein Glas.

„Auf die Wahrheit“, stieß Nicky dazu.

„Aufs Vergessen“, flüsterte ich.
 

Wäre es bei einem Glas meinerseits geblieben, hätte mein Leben wohl einen anderen Verlauf genommen. Ich hätte niemals erfahren, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man betrunken ist und wie erbärmlich man sich vorkommt, wenn man nicht mehr im Stande ist, alleine geradeaus zu laufen.

Schon nach vier Gläsern war ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Am Anfang hatte es sich noch gut angefühlt, dieses leicht neblige Gefühl im Kopf, was einen frei macht von allem, was man nicht denken will. Das einen aber auch mit jedem Tropfen mehr dazu bringt, abgeschottet im eigenen Ich, an Dinge zu denken, von denen man versucht hatte, sie zu verdrängen.

Mit einem Mal fühlte ich mich unendlich traurig.

Hatte Robin wirklich mit dieser Frau geschlafen? Warum war unser Kontakt so abgerissen? Hatte er in der ersten Woche, nachdem er bei uns eingezogen war, nur Anhang gesucht, ihn jetzt aber woanders gefunden? Dann hätte er aber nicht so unendlich liebenswert zu mir sein dürfen. Was war mit unserem Ausflug zur Küste? Er hatte nicht ja, aber auch nicht nein gesagt. Sondern nur… maybe. Maybe! Plötzlich hasste ich dieses Wort. Aber ich vermisste es auch. Vermisste, wie mich Robin angrinste, wenn er mich im Dunkeln tappen ließ. Vermisste… einfach ihn.

Oh Gott, was dachte ich da? Was war das für Zeug in meinem Kopf? Konnte mich bitte jemand in die Realität zurückholen?

Um mich herum war alles wie weggefegt und ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ich hörte nur in weiter Ferne das Gemurmel von Stimmen, das Schaben von Stuhlbeinen und auf einmal wurde es kalt. Ja, mir fröstelte. Warum? Was war los?

„Yun?“

Was ist?

„Yun, hey. Hörst du mich?“

„Jaaaa…“, hörte ich mich sagen. Aber, war das meine Stimme? Sie hörte sich merkwürdig leiernd an.

„Kannst du gehen?“

„Na klar.“ Wieso hätte ich nicht einen Fuß vor den anderen setzten können sollen? Doch, Moment. Irgendwie wollten meine Füße nicht so wie ich.

„Verdammt, jetzt reiß dich zusammen!“

Satoshi! Auf einmal war ich wieder da. Nicht wissend, jemals weggewesen zu sein. Auch wen um mich herum noch alles vernebelt war.

Ich war draußen, auf dem Neuen Markt und Satoshi stützte mich. Ich lief ja!

„Wo kommst du denn her?“, fragte ich, aber noch immer klang ich komisch.

„Wo komm ich her…“ War Satoshi wütend? „Sag mir lieber, wo du eben warst.“

„Ich weiß nicht…“ Jedenfalls nicht da, wo ich sein wollte. Zu viele traurige Gedanken.

„Geht´s wieder Yun?“ Nicky war ja auch noch da.

„Man Bro… Du verträgst echt nichts.“ Und Raik auch?

„Haltet die Klappe.“ Wessen Stimme war das? „Hättet ihr nicht auf ihn aufpassen können?“

Wow… das klang aber böse.

Was war denn los? Was war denn mit mir?

Angst überkam mich. Ich merkte, dass ich zitterte, wusste aber nicht warum und dann war da plötzlich Wärme. Ganz spürbar an meinem Gischt.

Konzentrier dich Yun, sagte ich mir, durchbrich die Dunkelheit.

Und für einen kurzen Moment sah ich sie direkt vor mir, cognacfarbene Augen. Fühlte eine Hand, eine wärmende Hand, an meiner Wange und hörte eine mir so vertraute Stimme.

„Wir bringen dich nach Hause, Yun.“

Nach Hause? Nein, nicht jetzt! Geh nicht weg... bitte… Robin…

Es wurde wieder neblig um mich herum. Ich wusste, dass meine Lippen sich bewegten, dass ich ihm etwas sagte, aber ich konnte mich nichts sagen hören.

Plötzlich, völlige Dunkelheit.
 

Ich erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Mein Schädel brummte ungeheuerlich und meine Zunge fühlte sich seltsam pelzig an.

Licht drang durch meine geschlossenen Lider und es graute mir davor, meine Augen zu öffnen. Ich beschloss, noch etwas liegen zu bleiben, wälzte mich auf die Seite und ein Duft kroch mir in die Nase, der so gar nicht zu meinem Bett zu gehören schien. Erschrocken riss ich die Augen auf, hätte dies aber lieber bleiben lassen sollen.

Das Sonnenlicht, das durch ein Fenster mir gegenüber, den Raum durchflutete stach mir in die Augen und in meinem Kopf begann es noch heftiger zu hämmern. Dann wurde mir etwas bewusst: Mein Fenster lag auf der anderen Seite des Zimmers, hätte also eigentlich hinter mir sein müssen. Schlussfolgernd, war das gar nicht mein Zimmer. Ich schreckte hoch. Und sofort überkam mich ein Gefühl der Übelkeit. Ich wusste nicht, ob ich mich darauf konzentrieren sollte, den Brechreiz zu unterdrücken, oder ob ich herausfinden sollte, wo ich eigentlich war. Ich entschied mich irgendwie für beides. Tief luftholend, sah ich mich im Zimmer um.

Da stand ein Nachttisch, mit einem Eimer darauf, der nicht meiner war. Ich saß in einem Bett, das ich noch nie gesehen hatte und war mit einer Decke zugedeckt, die nicht zu mir gehörte.

Wo zum Teufel war ich also?!

Dann drangen Stimmen zu mir, die ich nicht zu unterscheiden vermochte und in meinen Ohren begann es zu rauschen.

„Hallo?!“, versuchte ich mein Glück. Irgendwer musste hinter der Zimmertür sein. Meine Stimme klang etwas heiser, was mich stutzen ließ. Halsschmerzen hatte ich auch ein wenig.

„Hallo?!“, versuchte ich es noch einmal und jetzt begann sich hinter der Tür etwas zu regen. Ich starrte gebannt auf die Türklinke, die sich nun bewegte und einen Moment später stand Satoshi im Rahmen. Ich war erleichtert.

Satoshi schloss die Tür leise und kam mit ernstem, aber liebevollem Blick auf mich zu.

„Na, endlich ausgeschlafen?“, fragte er und ließ sich zu mir auf die Bettkannte nieder.

„Ich weiß nicht“, gab ich zur Antwort. „Wo bin ich denn hier? Und warum bin ich nicht zu Hause?“ Mein Gesicht musste ein einziges Fragezeichen sein.

Satoshi lächelte, durchwuschelte mein Haar und begann zu erklären:

„Es muss so gegen dreiundzwanzig Uhr gestern Abend gewesen sein, da klingelte mein Handy und am anderen Ende war ein völlig aufgewühlt und hilflos klingelnde Nicky. Sie hat mir erzählt wo ihr seid und das ich ganz schnell kommen sollte.

Robin und ich waren am anderen Ende der Stadt unterwegs und deshalb dauerte es eine Weile, bis wir bei euch waren.

Nicky hatte mir nur irgendwas von zu viel Rum-Cola erzählt und das du etwas daneben seist, aber als wir bei euch ankamen, fanden wir dich kaum ansprechbar vor.“

Ich sah Satoshi ungläubig an, aber langsam dämmerte es mir wieder. Ich konnte mich an das Date mit Mia erinnern und daran, dass wir uns Rum-Cola bestellt hatten, aber danach wurde es ziemlich finster.

Satoshi erzählte weiter: „Robin und ich haben dich also aus der Bar geholt und…“

„Moment. Robin?“, unterbrach ich ihn.

„Ja“, fuhr Satoshi fort. „Hab ich doch gerade erzählt. Man… du hättest sehen sollen, wie er den Barkeeper zusammengefaltet hat. Von wegen Alkohol an Minderjährige und so.“

Na toll. Nicht nur, das ich mir offenbar die Kante gegeben hatte, jetzt konnte ich auch in die Bar nie wieder einen Fuß setzen. Und Robin hatte auch noch alles mitbekommen. „Und weiter?“, fragte ich.

„Nachdem wir dich aus der Bar raus hatten, kamst du langsam wieder zu dir. Du hast gezittert und konntest dich kaum auf den Beinen halten. Robin hatte versucht dich zu beruhigen, was ihm auch erstaunlich gut gelungen war.“

Auch daran konnte ich mich erinnern. An Robins cognacfarbene Augen und an seine Hand an meiner Wange. Es war eine schöne Erinnerung.

„Du hast andauernd >Bitte geh nicht weg< vor dich hin gemurmelt. Allerdings auf Japanisch.“ Satoshi lachte. „Wir wissen jetzt also, dass du dich im Suff deiner japanischen Hälfte näher fühlst, als der deutschen.“

„Das hab ich gesagt?“, fragte ich ungläubig. „Bitte geh nicht weg?“

„Ja. Immer wieder. Ich hab dir tausend Mal bestätigt, dass ich bei dir bleibe, aber darauf hast du gar nicht reagiert.“

Kein Wunder, sagte ich mir. Ich hatte auch nicht Satoshi darum gebeten, bei mir zu bleiben, sondern Robin. Also hatte ich doch etwas zu ihm gesagt. >Bitte geh nicht weg.<

Jetzt erinnerte ich mich ganz deutlich. Peinlicher ging es kaum, dachte ich, bis mir Satoshi den Rest der Geschichte erzählte.

„Robin und mir war sofort klar, dass du so nicht nach Hause konntest. Mama und Papa hätten dich gevierteilt. Also brachten wir dich hierher. Zu Marie.“

Wer war Marie?

„Sie hat Gott sei Dank Verständnis, für siebzehnjährige Betrunkene“, witzelte Satoshi. Ich lächelte.

„Als wir dich endlich in ihrer Wohnung hatten, hat die Wärme dir den Rest gegeben. Dir sackten die Beine weg, aber Robin hatte Gott sei Dank schnell genug reagiert und dich aufgefangen.

Er hat dich ins Schlafzimmer getragen, während ich einen Eimer besorgte, dir die Klamotten ausgezogen und dich ins Bett gebracht. War echt groß von ihm. Vergiss nicht, dich später bei ihm zu bedanken, okay?“

Moment! Ich hatte keine Klamotten mehr an?! Tatsächlich. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich bis auf Unterhose und T-Shirt, das ich unter meinem Hemd getragen hatte, völlig entkleidet war.

Satoshi lachte plötzlich auf. „Was ist so lustig?“, fragte ich leise, beschämt von der Geschichte, die er mir gerade über mich offenbart hatte.

„Ich lach´ nicht über dich“, entgegnete er und zwinkerte mir zu. „Ich musste nur gerade daran denken, wie ich Robin und dich gesehen habe, als ich mit Marie nach nem Eimer suchte. Du hattest dich regelrecht an ihm festgekrallt, als du schon im Bett gelegen hast und unter Tränen gesagt >bitte geh nicht weg<. Als ich Robin das später übersetzt hatte, konnte er es gar nicht glauben.“

Als er es übersetzt hatte?! Bitte nicht. Ich hatte gehofft, dass Robin gar nicht gewusst hatte, was ich da die ganze Zeit gesagt hatte, weil ich es ja auf Japanisch gemurmelt hatte, aber jetzt…

Wo bitte, war das Erdloch, in das ich mich verkriechen konnte? Das durfte doch alles nicht wahr sein.

Ich ließ mich in die Kissen sinken und hoffte innständig, dass der Eimer leer war, den ich ganz am Rand meines Blickfeldes sehen konnte.

„Hab ich mich sonst wenigstens benommen?“, fragte ich verunsichert und deutete auf den Eimer.

Satoshi bejahte die Frage, offerierte mir aber, dass wir unterwegs zwei Mal hatten anhalten müssen.

Das war der absolute Tiefpunkt meines Lebens. Nicht nur, dass ich mich Robin gegenüber verhalten hatte, wie ein Baby, sogar vor ihm geweint hatte, nein, er hatte mich auch noch kotzen sehen.

Warum hatte ich eigentlich geweint? War ich so hilflos gewesen, so verzweifelt? Ich wusste mir keine Antwort.

Allerdings brachte es auch nichts, jetzt darüber nachzudenken. Offenbar hatte es zwischen Robin und mir einen sehr intimen Moment gegeben, egal was der Auslöser dafür gewesen war. Er hatte sich um mich gekümmert, mir beigestanden und es verletzte mich zu sehr, nichts mehr davon zu wissen, dass ich nicht mehr daran denken wollte.
 

Als ich mich angekleidet hatte, verließ ich unsicheren Schrittes das Schlafzimmer und betrat die Küche Als erstes sah ich Satoshi, der sich gerade an dem Wasserkocher auf der Arbeitsfläche zu schaffen machte. Und dann sah ich die Frau, die wohl Marie sein musste. Die selbe Frau, die ich noch tags zuvor in unserer Küche hatte sitzen sehen.

Sie saß am Tisch einer Sitzecke und lächelte mir zu. „Frühstück hast du leider verpasst“, scherzte sie und nickte mit dem Kopf in Richtung einer Uhr, die rechts an der Wand neben der Sitzecke hing. Es war bereits elf Uhr vorbei.

Ich brachte ein verschüchtertes Guten Morgen heraus. Was sollte ich jetzt machen? Einfach gehen? Mich zu ihr setzten?

Satoshi half mir aus der Klemme und gebot mir, mich an den Tisch zu setzten. Er hatte mir bereits einen Tee aufgegossen. Zurückhaltend nahm ich einen Schluck, bereute es aber sofort, denn mein Magen war mit der Flüssigkeitszufuhr noch gar nicht einverstanden.

Ich schob die Tasse von mir, ließ meinen Blick aber auf ihr haften. Mir war das alles unendlich peinlich und ich traute mich nicht, weder Satoshi, noch Marie anzusehen.

„Also Bruderherz“, war es nun Satoshi, der das Thema ansprach über dass ich nicht reden wollte. „Dann erzähl doch mal, was da gestern mit dir los war.“

Es war spürbar, wie sein, aber auch Maries Blick auf mir ruhte und gerade als ich antworten wollte, hörte ich die Wohnungstür zufallen.

Ich sah instinktiv in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

„Ist bestimmt Robin“, meinte Marie und ich sah, wie sich ihre Haltung straffte.

Nicht auch noch Robin, dachte ich und leichte Verzweiflung kam in mir auf. Wie sollte ich ihm jetzt in die Augen sehen?

Ich hörte Schritte, die näher kamen und schon ein paar Sekunden später stand er im Durchgang, der Küche und Flur voneinander trennte.

Ich wagte nicht, ihn anzusehen.

„Wieder unter den Lebenden?“, vernahm ich seine Stimme, die amüsiert klang und im nächsten Moment landete eine Packung Ibuprofen vor mir auf dem Tisch.

Dann setzte er sich mir gegenüber, neben Marie, auf die Sitzbank und drückte der hübschen, blonden Frau mit einem >hey< einen Kuss auf die Wange.

Das Bild ertrug ich nur schwer.

„Wolltest du uns nicht was erklären?“, fragte Satoshi. Seine Stimme hatte einen ernsten Tonfall angenommen.

Von wollen konnte nicht die Rede sein. Und schon gar nicht mehr jetzt, wo Robin mir gegenüber saß und ich genau merkte, wie er mich beobachtete. Was sollte ich denn auch sagen? Dass ich mich hatte zulaufen lassen, weil meine Gefühle und Gedanken mit mir durchgegangen waren, und ich mir selbst nicht einmal erklären konnte, was mit mir los war? Das der Grund für meinen Totalausfall in dieser Sekunde direkt vor mir saß?

„Yun!“, forderte mich Satoshi erneut auf, mich zu erklären.

Lass mich in Ruhe!

Was macht man, wenn man mit einer Situation überfordert ist? Wenn man sich bedrängt fühlt und keine Lösung auf einen Ausweg weiß? In den meisten Fällen flieht man. Und das tat ich auch.

„Ich muss gehen“, brachte ich mit kräftigerer Stimme heraus, als ich erwartet hatte und stand auf. Mir konnte es plötzlich gar nicht schnell genug gehen, aus dieser Wohnung zu verschwinden.

„Wo…?“ Hör auf Satoshi!

„Danke für alles, Marie“, fuhr ich meinem Bruder über den Mund und nickte Marie zu. „Ich mach´s wieder gut. Versprochen. Okay?“

Sie zuckte nur mit den Achseln, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie wegen der Umstände nicht böse auf mich war.

„Tut mir leid“, wandte ich mich nun an Satoshi. „Wir reden später.“

Ohne auf eine Reaktion von ihm zu warten, verließ ich eilig die Küche.

Robin anzusehen hatte ich vermieden. Zu groß war die Scham und die Angst davor, er könnte in meinem Blick erkennen, dass ich vor ihm Reißaus genommen hatte.

In dem kleinen Flur der Wohnung fand ich meine Schuhe, vergeudete keine Zeit damit, mir die Schnürsenkel zuzubinden und schlug schon im nächsten Moment die Tür hinter mir zu. Der etwas zu heftige Knall hallte durchs Treppenhaus, aber er war auch wie ein Befreiungsschlag gewesen.

Ich lief die zwei Treppen zum Hauseingang hinunter, als ich hinter mir eine Stimme hörte.

„Yun?!“

Nein, bitte!

Ich musste nur noch durch die weiße Kunststofftür, die mich von der rettenden Außenwelt trennte.

„Yun, warte!“

Mit der Türklinke in der Hand blieb ich stehen. Warum kam er mir nach? Mein Herz schlug einen Tackt schneller.

Ich hörte die letzten Schritte, die Robin machte, überlaut in meinen Ohren. Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?

„Dein Handy.“

Mein Handy? Ich drehte mich zu ihm um und er hielt mir mein Telefon entgegen.

„Oh, danke“, sagte ich, nahm es entgegen und vermied dabei den Augenkontakt.

„Es hat ein paar Mal geklingelt“, meinte Robin nun und versenkte seine Hände in den Hosentaschen. „Beim dritten Mal bin ich rangegangen. Eine Mia hat nach dir gefragt.“

Mia? Nun blickte ich doch zu ihm auf. Warum war er an mein Telefon gegangen? Hatte Mia etwas erwähnt, das auf unser gestriges Date hindeutete?

Robins Blick war nichtssagend.

„Du solltest sie bald anrufen“, fügte er nun hinzu. „Sie klang etwas nervös und verunsichert. Meinte, du hättest versprochen, dich bald bei ihr zu melden.“

Das hatte ich. Nur was ich Mia zu sagen hatte, würde ihr nicht gefallen.

„Mach ich“, entgegne ich. Mehr wusste ich nicht zu sagen.

Ich wollte nicht mehr an diesem Ort sein. Nicht mit Robin.

„Ich muss los“, sagte ich schließlich und wandte mich zur Tür. „Und danke, dass du dich um mich gekümmert hast.“

Ich stand mit einem Fuß schon draußen, als ich eine Hand an meinem Arm spürte, die mich zwang, mich nochmals umzudrehen.

Robin stand plötzlich so dicht vor mir, dass meine Nase fast seinen Pullover berührte. Der Duft seines Parfüms nah mir den Atem.

„Mach so einen Quatsch nie wieder“, hörte ich seine mahnende, aber auch bittende Stimme sagen, wobei er mir seine andere Hand an den Hinterkopf legte, und mich ganz sanft, kaum spürbar gegen seine Brust drückte. „Das hat mir Angst gemacht.“

Seine Stimme war zuletzt nur noch ein Flüstern.

Mein Herz tat einen Satz und ich unterdrückte das Verlangen, mich in seinem Pullover festzuklammern.

Dieser Moment kam mir vor wie ein Wimpernschlag und wie eine Ewigkeit zugleich. Doch als er mich wieder freigab war es, als hätte es diesen Augenblick nie gegeben.

Robin trat einen Schritt zurück, wandte sich um und mit den Worten >ruf Mia an<, lief er die Treppe wieder hinauf.

Wie paralysiert blieb ich zurück. War das eben wirklich passiert? Und wenn ja, was hatte es zu bedeuten? Bedeutete es überhaupt etwas, oder war es nur die besorgte Bitte eines Freundes meines Bruders gewesen?

Ratlos und verunsichert trat ich ins Freie.

Regen und Sonnenschein

Es heißt, des einen Leid, ist des anderen Freud. Aber ist das wirklich so? Wenn jemand zum Beispiel fünfzig Euro verliert und ein anderer sie findet, trifft das Sprichwort zu. Was aber, wenn jemandem sein Leben völlig entgleitet? Wer hatte dann etwas davon?

Oder wenn einem anderen binnen ein paar Sekunden vollkommenes Glück wiederfährt. Wen sollte dann das Pech ereilen, wenn nicht die beglückte Person selbst, weil auch das pure Glück irgendwann ausgeschöpft ist?

Ich ahnte nicht, dass diese beiden Dinge, Freud und Leid, seit Langem ihre Bahnen um mich zogen und stetig näher kamen, nur um dann auf mich niederzugehen, wie von der Schwerkraft angezogen.
 

Der September war an mir vorbeigezogen, als hätte es ihn nie gegeben. Er war zwar da gewesen, aber gelebt hatte ich ihn nicht.

Wie in Trance war ich der Spur aus Brotkrumen gefolgt, die Robin mir immer mal wieder mit seiner Aufmerksamkeit gelegt hatte, nur um dann doch stets am Hexenhaus anzukommen. Und immer war es eine andere Hexe, die mich zu verbrennen versuchte. Ich war jedes Mal nur knapp entkommen.

Die Hexen in meiner Phantasie, stellten sich in der Realität als junge Frauen dar, mit denen Robin verkehrte. Jede Woche war es eine andere, obwohl Marie noch immer bei uns ein- und ausging.

Einmal, ich war tierisch geladen gewesen, weil ich aus dem Zimmer neben meinem eindeutige Laute zu hören geglaubt hatte, fragte ich Satoshi, ob Robin versuchte, einen neuen Rekord im Frauenabschleppen aufzustellen.

Satoshi hatte nur beiläufig abgewinkt und gesagt, dass das für Robin nichts Ungewöhnliches sei. Er wäre nie lang allein und legte sich selten fest.

Mir gefiel das gar nicht. Nicht nur, weil ich ständig verschiedenfarbige Haare aus dem Waschbecken fischte, sondern weil mir Robins ständig wechselnde Bekanntschaften über ihn verrieten, dass er nichts von Beziehungen hielt.

Aus diesem Grund hielt ich mich nur noch selten zuhause auf. Raik und Nicky waren meine wichtigsten Anlaufstellen, aber auch zu Mia flüchtete ich mich immer öfter.

Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mit ihr Schluss zu machen, hatte ich es nicht getan.

Ich empfand vielleicht nicht das Gleiche für sie, wie sie für mich, aber in ihrer Gegenwart ging es mir gut und sie ließ mich vergessen, warum ich in meinem Leben nur noch Finsternis sah. Sie war mein Lichtblick, der mir aus der Dunkelheit half.

Nicky verurteilte meine Beziehung zu Mia. Sie hielt mir vor, das Mädchen nur auszunutzen, aber das stimmte nicht. Jedenfalls nicht völlig.

Ich mochte Mia. Mochte ihr freimütiges Wesen, ihre leichte Naivität und sie verstand es, das Leben nicht zu ernst zu nehmen. Außerdem war sie es, die mir zeigte, dass es sich lohnte, an einer Beziehung zu arbeiten und dafür seine eigenen Begierden auch mal hintenan zu stellen.

Mia tat mir einfach gut, und ich hatte zu viel Angst, dieses kleine Bisschen Glück wieder loszulassen. Oder ich war einfach zu egoistisch.

Mia war in jeglicher Hinsicht sehr geduldig mit mir.

Obwohl sie am Tag nach unserem Date sofort versucht hatte, mich zu erreichen, war ihr anfänglicher Überschwang schon einige Tage später deutlich zurückgegangen. Sie wartete ab, bis ich mich meldete, kam in der Schule nicht jede Pause zu mir und gab mir auch sonst die Freiheit, mich mit Raik und Nicky zu treffen, wann ich wollte.

Am Anfang noch hatte ich sie ziemlich zappeln lassen. Ich war mir nicht klar darüber gewesen, was ich eigentlich von ihr wollte, aber je mehr Tage vergingen, desto stärker wuchs der Wunsch in mir, häufiger Zeit mit ihr zu verbringen.

Ich rief Mia also öfter an, verabredete mich mit ihr und mit der Zeit war in mir das Gefühl gereift, tatsächlich ihr fester Freund werden zu können. Und so kam es auch. Wir hatten zwar nicht darüber geredet, aber es wurde immer offensichtlicher, dass uns mehr verband, als nur pure Freundschaft.

Wir waren stillschweigend übereingekommen.

Meiner Familie hatte ich nichts davon erzählt, und trotzdem hatte mich Satoshi eines Abends beim Abendbrot auf Mia angesprochen.

Offenbar hatte er von Lina erfahren, dass man mich in letzter Zeit öfter in weiblicher Begleitung antraf.

Ich hatte nicht aufgepasst. Das Musikgeschäft, in dem Lina arbeitete, lag in der Innenstadt und da ich mit Mia des Öfteren nach der Schule noch durch die Geschäfte bummelte, oder mit ihr in ein Café einkehrte, musste sie uns gesehen haben.

Als Satoshi des Abends das Thema angesprochen hatte, fingen meine Eltern sofort an, mich mit Fragen zu löchern. Wer war das Mädchen? Wie ernst war es? Wie lange ging das schon?

Ich hatte nur knapp und ausweichend geantwortet. Vielmehr hatte mich gewundert, warum nicht auch Robin sich in das Gespräch einschaltete. Schließlich war er es doch gewesen, der mich dazu aufgefordert hatte, Mia anzurufen.

Ab und zu hatte ich ihn angeschaut, aber er war nur damit beschäftigt gewesen, in seinem Essen herumzustochern und wirkte eher desinteressiert.

Doch je länger sich die Differenzierung meines Privatlebens hingezogen hatte, desto appetitloser schien er geworden zu sein.

Irgendwann schließlich, hatte er sich entschuldigt und den Tisch verlassen.

Ich hatte versucht, einen Blick von ihm aufzufangen, aber er war nur wortlos nach oben verschwunden.

Das Abendessen hatte sich noch etwas hingezogen und obwohl ich die seltene Aufmerksamkeit meiner Eltern genossen hatte, hatte ich nun genug davon, über mich und mein Leben zu lamentieren.

Als ich die Treppe zu meinem Zimmer nach oben gestiegen war, meinte ich, ein Geräusch aus meinem Zimmer vernommen zu haben.

Ich hatte die Tür aufgemacht, und nicht schlecht gestaunt, als ich Robin vor meinem Bücherregal vorfand, der, als ich den Raum betrat, das Buch in seiner Hand zugeschlagen und mich fragend angesehen hatte.

„Was machst du denn hier?“, hatte ich gefragt, etwas angefressen, weil er einfach in mein Zimmer gegangen war.

Doch er war gar nicht darauf eingegangen, stellte das Buch ins Regal zurück und antwortete mit einer Gegenfrage.

„Du bist jetzt also mit dieser Mia zusammen?“

„Ja“, hatte ich geantwortet, irritiert über die direkte Frage. Warum hatte sie sich so vorwurfsvoll angehört?

„Ach so.“

Ach so? „Hat sich so ergeben“, hatte ich gesagt, nur um überhaupt etwas zu sagen. Mir wollte nicht einleuchten, was Robin in mein Zimmer getrieben hatte. Was wollte er?

„Und…“, setzte er an und ich hatte das Gefühl gehabt, als ob er sich nicht sicher war, ob er die folgende Frage stellen sollte. Als ob er Angst davor hatte. „Ist es das, was du gewollt hast?“

Sein Blick ruhte prüfend auf mir. Wo sollte das hinführen?

„Ich weiß zwar nicht, worauf du hinaus willst, aber ja“, hatte ich geantwortet und mich dabei gezwungen, seinem Blick standzuhalten. „Ich hab das mit Mia und mir nicht geplant gehabt, aber es ist das, was ich will.“

War das die Wahrheit?

Robin war ein paar Schritte auf mich zugekommen und sein Blick war unergründlich.

„Ich hab nicht gefragt, was du jetzt willst, sondern was du gewollt hast.“

„Was ich gewollt hab?“ Ich verstand nur Bahnhof.

„Bevor du mit Mia zusammengekommen bist.“

„Bevor ich…?“, ich verstummte. Worauf wollte er hinaus? Wollte er hören, dass ich gar nicht mit Mia zusammen sein wollte? Das es nur eine Gelegenheit war?

Uns trennte nur noch etwas mehr als ein Meter und ich trat einen Schritt zurück. Diese Nähe war mir unangenehm, weil er mich noch immer mit diesen unergründlichen Augen ansah.

„Ja… Nein…“, stammelte ich, weil ich plötzlich völlig verunsichert war. Warum nur? Auf seine Frage hatte es nur eine Antwort gegeben. Dennoch hatte ich es nicht über die Lippen gebracht. Das eindeutige -Ja, ich wollte schon immer mit Mia zusammen sein-. Stattdessen wand ich mich wie ein Aal gewunden.

Ich wusste nicht warum, aber Robins Haltung wirkte plötzlich viel entspannter. Er wirkte fast erleichtert.

„Das reicht mir“, sagte er, mehr zu sich selbst, als zu mir und ein kleines Lächeln lag auf seinen Lippen.

Ich hingegen stand da wie angewurzelt und verstand gar nichts.

Und dann ging Robin an mir vorbei, hatte dabei wie zufällig mit seinem Arm meinen Arm gestreift und mich ganz zwanglos gebeten: „Spiel doch mal wieder etwas auf der Gitarre. Das hat mir gefallen.“

Dann verließ er mein Zimmer, ohne ein weiteres Wort.

Nur ein weiterer Brotkrumen, sagte ich mir.
 

Als ich eines Nachmittags mit Mia unterwegs war und einen Anruf von Raik erhielt, hatte dann das Leid sein Ziel getroffen.

Was mein bester Freund mir nur knapp am Telefon erzählte, machte mich betroffen, doch als er mir das ganze Ausmaß seiner Misere offenbarte, ließ mich fassungslos werden.

Sofort nach Raiks Anruf hatte ich mich von Mia verabschiedet und war zu ihm geeilt.

Nun saß ich in Raiks Zimmer auf dem Bett, zusammengesunken, und konnte nicht glauben, was er mir gerade erzählt hatte.

„Ihr fliegt echt aus der Wohnung?“, fragte ich, als bräuchte ich noch eine Bestätigung.

Raik saß auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch, das Gesicht in den Händen vergraben und er wirkte auf mich, als wäre jeder Frohsinn aus ihm gewichen. Dieses Bild erschreckte mich, weil Raik mir plötzlich so fremd vorkam. So hatte ich ihn noch nie erlebt.

„In zwei Wochen“, war sein bebende Antwort.

Unbewusst blickte ich mich im Zimmer um, als würde das alles hier in vierzehn Tagen aufhören zu existieren.

Kam es wirklich soweit? Verlor mein bester Freund in zwei Wochen sein Zuhause? Verlor ich ihn?

Ich ließ die letzten Minuten in meinem Kopf Revue passieren.

Raik hatte mir mit geröteten Augen die Tür aufgemacht und, ohne dass ich fragen konnte, was genau er am Telefon gemeint hatte, angefangen zu erzählen.

Raik war beim Aufräumen des Wohnzimmerschranks auf ein Mahnschreiben des Vermieters der Wohnung gestoßen. Dieses lag zwar schon einige Monate zurück, doch trotzdem hatte Raik verunsichert nach weiteren Briefen gesucht und war schließlich fündig geworden.

Ein Dokument, auf dem in fetten Druckbuchstaben das Wort >Räumungsklage< stand. Datum der Zwangsräumung war der fünfzehnte November.

Schockiert und aufgewühlt, hatte Raik sofort seine Eltern angesprochen, nachdem sie zu Hause eingetroffen waren, und sie mit dem Schreiben konfrontiert. Sie hatten es ihm bestätigt.

Daraufhin war ein heftiger Streit entstanden, in dem jedoch alles ans Licht kam, was die Eltern versucht hatten, vor Raik zu verheimlichen. Immer in dem Glauben, es würde schon alles irgendwie werden.

Raik erfuhr, dass die Miete für die Wohnung schon seit Monaten nicht mehr gezahlt worden war, geschweige denn die Nebenkostenrechnungen.

Außerdem war die Festnetzleitung nicht kaputt, sondern abgeschaltet.

Raik hatte sich irgendwann, erschlagen von der Situation, in sein Zimmer geflüchtet. Hatte erst die Mutter, dann den Vater die Wohnung verlassen hören und schließlich mich angerufen.

Nun saßen wir hier, überfordert und hilflos.

„Könnt ihr denn nirgendwo mehr Geld herbekommen?“, setzte ich an, in der Hoffnung, Raik käme mit einer Universallösung um die Ecke. Doch er schüttelte nur unmerklich den Kopf.

„Ich hab zu mein´ Eltern gesagt, dass wir das Geld von meim´ Sparbuch verwend´n könn´, dass meine Oma für mich zur Jugendweihe angelegt hatte“, antwortete er und mich wunderte der sarkastische Ton in seiner Stimme. „Aber, tja, davon is nichts mehr da.“

„Wie bitte?“, fragte ich irritiert.

Raiks Augen blitzten wütend. „Bis zu meim´ Achzehnt´n hat meine liebe Mutter die Vollmacht über das Geld. Und die hat se auch fleißig ausgenutzt. Da is schon lange nichts mehr zu hol´n. Tausend Euro, die für meinen Führerschein hätt´n sein sollen. Weg.“

Mir fiel das Kinn herunter.

„Das ham´ die beiden mir nämlich auch eröffnet. Und außerdem, dass se nich kreditwürdig sind, weil se beide Einträge bei der SCHUFA ham´ und… ach ja. Geld vom Amt, gibt’s uch nich, weil se ja zu stolz waren, Unterstützung zu beantrag´n. Weißt ja, weil ´s uns ja uch immer so prächtig ging.

Und jetz, wo ihn´ das Wasser bis Oberkannte Unterlippe steht, geh´n se zwar zum Amt, aber die Bearbeitung wird wohl ´n bissn´ länger dauern, als zwei Woch´n. Was soll denn jetz werd´n?“

Raiks Verzweiflung schnürte mir die Brust zu. Wie hatte es nur so weit kommen können? Warum traf das Schicksal ausgerechnet meinen besten Freund so hart, der immer für mich da gewesen war? Der seine Eltern stets unterstützte, wo er nur konnte? Es gab keine Antwort darauf. Das alles war einfach nur ungerecht, weil Raik für nichts konnte, was da gerade um ihn herum passierte. Und weil er jetzt doch dafür büßen musste.

Wo würde er mit seinen Eltern hinziehen? In eine Sozialwohnung, die noch erbärmlicher war, als diese hier? Oder ganz weg aus Stralsund? Würde er vielleicht sogar die Schule wechseln? Das durfte nicht sein. Wir hatten doch nicht einmal mehr ein Jahr vor uns.

Fieberhaft suchte ich nach einer Lösung, aber die einzige, die mir einfiel, würde Raik nicht für gut heißen, das war mir klar.

Trotzdem versuchte ich es.

„Wie viel Miete müsst ihr im Monat bezahlen?“, fragte ich vorsichtig.

„Für die Muckerbuchte hier?“, entgegnete Raik. „So um die fünfhundertfünfzig, denk ich. Warum?“

Ich überschlug die Antwort kurz in meinem Kopf.

„Also pass auf“, setzte ich an. „Und lass mich bitte erst ausreden.“

Ich atmete tief durch und blickte Raik direkt an.

„Ich hab etwa sechshundert Euro auf meinem Konto…“

„Nein!“

Ich hatte nichts anderes erwartet.

„Jetzt hör doch mal zu. Wenn ihr eure Mietschulden mit einer Monatsmiete beginnt zu begleichen, gewehrt euch euer Vermieter vielleicht einen Aufschub. So haben deine Eltern Zeit, das mit dem Amt zu klären und wenn ihr dann noch zusätzlich Sozialhilfe bekommt, könnt ihr eure Schulden nach und nach abstottern. Mit dem Geld, was ihr vom Amt bekommen würdet, würde das locker reichen.“

„Nein, Yun.“

Raik hatte mich permanent kopfschüttelnd angesehen.

„Wieso nicht? Ich hab doch das Geld und es wäre ja auch nicht geschenkt. Mehr ein Kredit auf unbestimmte Zeit.“

Raik verstummte. Ich wusste, dass er über mein Angebot nachdachte und es vielleicht sogar annehmen wollte, aber ich wusste auch, dass er von mir keine Almosen wollte.

„Und was is mit dieser neu´n Klampfe, die de dir kauf´n wollt´st?“, konterte er nun geschickt und traf meinen wunden Punkt.

Das Geld hatte ich tatsächlich für eine neue Gitarre gespart, die ich bei Lina bestellt hatte, noch bevor sie im Handel war.

Aber wenn ich die Gitarre gegen meinen besten Freund aufwiegen sollte, wog Raik in meinem Herzen doch wesentlich mehr.

Ich redete mit Engelszungen auf ihn ein. Argumentierte, dass es die Gitarre auch in ein paar Monaten noch gab, sein Zuhause aber nicht und je länger wir über meinen Vorschlag diskutierten, desto einsichtiger wurde Raik, bis er schließlich einwilligte, mit seinen Eltern darüber zu reden. Und mir war klar, dass dies die schwierigste Hürde sein würde.
 

Ich hatte mich erst am späten Abend, als Raiks Eltern nach Hause gekommen waren, auf den Weg gemacht.

Die Straßen waren deutlich leerer und so genoss ich die ruhigen Minuten und versuchte, einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen.

Auch wenn die Chancen eher schlecht standen, beruhigte mich der Gedanke etwas, vielleicht eine Lösung für die scheinbar aussichtslose Lage der Bergers gefunden zu haben.

Aber trotzdem. Verzeihen würde ich Raiks Eltern nie, ob sie nun in der Wohnung bleiben konnten oder nicht. Sie hatten zugelassen, dass ihr Sohn am untersten Ende der sozialen Schicht angekommen war.
 

In unserer Wohnung angekommen, empfing mich der seltene Geruch von frisch gebackenem Kuchen im Flur.

Ich folgte ihm und fand meine Mutter in der Küche vor, wie sie gerade ein Blech aus dem Ofen zog. Ein eher ungewöhnlicher Anblick. Wenn es sonst bei uns Kuchen gab, wurde er entweder aus einer Bäckerei geholt, oder bei besonderen Anlässen sogar geliefert.

Dass meine Mutter tatsächlich selbst gebacken hatte, noch dazu mit einer Kochschürze um die Hüften, machte mich stutzig.

„Hallo Mama“, begrüßte ich sie und blieb im Türrahmen stehen.

„Du hast das Abendessen verpasst“, hielt sie mir sofort vor, woraufhin ich eine flüchtige Entschuldigung murmelte.

„Sieht lecker aus“, versuchte ich nun, das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken und tatsächlich tat sich auf ihrem Gesicht ein kleines Lächeln auf.

„Gibt es einen besonderen Anlass?“, fragte ich neugierig.

„Allerdings“, flötete meine Mutter und stellte das Blech vorsichtig auf der Arbeitsfläche ab. „Der ist für Robin.“

„Für Robin?“ Ich stutzte.

„Ja“, gab meine Mutter zurück und klang ungehalten. „Er hat doch morgen Geburtstag. Das solltest du eigentlich wissen.“

Ich wusste es nicht.

„Hatte keine Ahnung.“

„Na dann weißt du es jetzt.“ Sie zog ihre Kochhandschuhe aus, band sich die Schürze ab und sah mich eindringlich an.

„Für Robin ist das morgen ein besonderer Tag“, erklärte sie und ratterte die folgenden Sätze wie Instruktionen an einen Kadetten herunter. „Er muss ohne seine Familie feiern und deswegen wollen wir versuchen, es ihm so schön wie möglich zu machen. Wir haben zwar morgen Sonntag, aber das Frühstück gibt es trotzdem schon um halb neun. Sei also pünktlich unten.“

„Warum so früh?“. Sonst gab es sonntags immer erst um zehn das Frühstück.

„Weil Satoshi und Robin morgen einen Ausflug machen.“

„Aha. Und wohin?“, fragte ich neugierig.

„Nach Sassnitz. Robin hat sich zum Geburtstag gewünscht, das Meer zu sehen.“

Meine Knie wurden weich und ich wünschte mir, nicht gefragt zu haben.

Meine Mutter erzählte munter darüber weiter, wie Robin die Ostsee als großes Meer bezeichnet hatte, aber ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu.

Robin fuhr ohne mich an die See!
 

Die Stufen der Treppe zu meinem Zimmer schienen unendlich steil. Aus meinem Körper war jegliche Kraft verschwunden. Ich ließ mich auf der Hälfte der Treppe nieder und starrte auf die Stufen, die hinter mir lagen.

Warum nur nahm mich die Tatsache, dass Robin mit Satoshi und nicht mit mir an die Küste fuhr, so mit?

Es konnte mir doch eigentlich egal sein. Es war doch kein Wunder, dass Robin lieber mit Satoshi diesen Ausflug machte, und nicht mit mir, jemandem, mit dem ihn nur ein paar flüchtige Augenblicke verbanden.

Und vielleicht war es diese schmerzliche Erkenntnis, die mich so wanken ließ. Das Robin und ich nur in diesen wenigen Augenblicken wirklich miteinander gelebt hatten und dass die Aussicht auf den Ausflug mit ihm an die See, das einzige war, was uns noch etwas zusammenhielt. Das da noch immer meine Frage von unserem ersten Abend am Hafen zwischen uns gelegen hatte, ob er mit mir zusammen nach Rügen an die Küste fährt.

Seine Antwort damals war maybe vielleicht gewesen. Nun war sie ein Nein.

Das bitterste und bedeutungsvollste Nein, was ich jemals bekommen hatte.

Die letzte Verbindung zwischen uns war gerissen.
 

Das Gefühl, was mich am nächsten Morgen nach dem Aufwachen beherrschte war schlimmer, als das Gefühl an dem Morgen nach den Sommerferien.

Es war kurz vor acht Uhr, aber ich wollte nicht aufstehen. Ich wollte nicht nach unten gehen, meine Familie mit Robin über den Ausflug schwadronieren hören und daneben sitzen, wie ein unbeteiligter dritter.

Ich war sowieso schon immer das fünfte Rad am Wagen gewesen, aber jetzt auch noch mitansehen zu müssen, wie ich an einem Wagen, an dem ich schon gehangen hatte, ausgewechselt wurde, war wesentlich grausamer.

Aus dem Erdgeschoss hörte ich bereits emsiges Treiben. Wahrscheinlich deckte meine Mutter gerade den Frühstückstisch, oder bereitete Bentos zu. Kleine Lunchpakete, wie sie Schüler in Japan von ihren Eltern für die Mittagspause bekommen. Und das musste man meiner Mutter lassen. Bentos konnte sie packen wie keine Zweite.

Nachdem ich noch ein paar weitere Minuten hin und her überlegt hatte, wie ich um das Frühstück herum kam, stand ich schließlich auf.

Es führte ja doch kein Weg daran vorbei.

In der Küche erwarteten mich meine gut gelaunten Eltern. Mein Vater las wie immer eine Zeitung, während meine Mutter dem Frühstückstisch durch einen Strauß bunter Herbstblumen den letzten Schliff verlieh.

Ich setzte mich und es dauerte nicht lange, bis Satoshi und Robin die Runde vervollständigten.

Meine Mutter beglückwünschte Robin überschwänglich, mein Vater drückte ihm in bester Männermanier die Hand und ich tat so, als würde ich nicht wissen, dass Robin heute Geburtstag hatte und sagte gar nichts. Ob unhöflich oder kindisch, sicher beides, ich wollte nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt werden.

Wie ich befürchtet hatte, beherrschte der Ausflug das Thema am Tisch. Ich hielt mich heraus, nippte an meinem Organgensaft und beschäftigte mich übertrieben lang damit einen Apfel zu zerschneiden, den ich sowieso nicht essen würde, nur um etwas zu tun zu haben, was mich ablenkte.

Das Frühstück war mir so unendlich lang vorgekommen, dass ich tatsächlich überrascht war, als Satoshi und Robin sich plötzlich verabschiedeten.

Nun sah ich doch auf, aber nur Satoshi warf mir ein fröhliches >bis später< zu. Robin hatte mich gekonnt ignoriert. Touché.

Meine Mutter hatte mich nach meinen Plänen für den Sonntag gefragt, bevor auch ich die Küche verließ, aber ich hatte keine. Ich hatte heute weder Lust auf Gesellschaft, noch auf sonst irgendetwas.

Nur Raik wollte ich noch anrufen, um zu erfahren, was bei dem Gespräch mit seinen Eltern heraus gekommen war. Er erzählte mir später, dass es eine erneute heftige Auseinandersetzung gegeben hatte, die drei sich dann aber an einen Tisch gesetzt und beschlossen hatten, dass sie, im Falle des Einverständnisses des Vermieters, auf mein Angebot eingehen wollten.

Am Montag würden sie mehr wissen.

Es war ein komisches Gefühl, jemandem eine so hohe Summe zu leihen, aber ich war mir sicher, auch wenn ich mit Herrn und Frau Berger nicht so gut konnte, dass ich das richtige tat. Meinen Eltern würde ich jedoch vorerst nichts davon erzählen.
 

Der Tag zog sich hin, wie Kaugummi. Im Fernsehen gab es nur den üblichen Sonntag-Familien-Mist und bei Facebook erwartete mich, außer ein paar neuen Nachrichten von Menschen, die ich eigentlich gar nicht kannte, auch nichts Neues. Und da fiel mir etwas ein. In all der Zeit, in der Robin nun schon bei uns war, war ich noch nie auf den Gedanken gekommen, auf seine Facebook-Seite zu sehen.

Bis jetzt hatte ich es immer für unangebracht gehalten, ihn so auszuspionieren, aber nun überwog die Neugierde doch.

Ich suchte also nach seinem Profil und schon einen Augenblick später öffnete es sich mit einer neuen Seite.

Ich durchstöberte seine Fotogalerien, wobei ich feststellte, dass Satoshi mit den Geschichten über Robin und die Frauen Recht gehabt hatte. Auf jedem dritten Bild war irgendein anderes Mädchen zu sehen. Zudem aber auch Bilder von Partys, von seiner Familie und unzählige von seinen Freunden.

Ein Fotoalbum hieß >Floppy<. Ich öffnete es gespannt und etwa ein Dutzend Bilder von einem braun-weißen Hasen mit Schlappohren erschienen auf dem Bildschirm.

Offenbar war Robin stolzer Besitzer eines Zwergkaninchens mit Namen Floppy, dem er sogar ein ganzes Fotoalbum widmete.

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das war eine Seite an Robin, die ich nicht erahnt hatte.

Nun wollte ich aber auch etwas über das Verhältnis zu seinen Freunden erfahren.

Ich scrollte zu den täglichen Posts und kämpfte mich durch die verschiedenen Beiträge. Zwar war natürlich alles auf Englisch geschrieben, aber trotzdem konnte ich dem Themenverlauf gut folgen.

Einmal ging es um eine Studienarbeit, ein anderes Mal um eine vergangene Party.

Es wunderte mich, dass Robin sein Profil so öffentlich gestaltet hatte, wo er doch auf mich immer einen eher unterkühlten Eindruck gemacht hatte.

Offensichtlich wusste ich gar nichts von ihm.

Ich las gebannt jeden noch so banalen Schriftverkehr und wünschte mir, ein Teil davon zu sein. Ich wäre gern auch so ein guter Freund für Robin geworden, wie all diejenigen, die sich hier so ausgelassen mit ihm austauschten. Hätte ihn auch gern so privat kennengelernt.

Nun, dieses Glück schien mir vergönnt.

Dann, irgendwann, stieß ich auf einen Dialog, der mein reges Interesse weckte. Er ging zwischen Robin und zwei, ich nehme mal an, Kommilitonen von ihm und beinhaltete eine Art Wette. Robins Einsatz waren tatsächlich seine Haare, was mich schockierte, aber auch amüsierte, und der Einsatz seiner Kumpanen war ein Trip nach Las Vegas.

Viel Aufschluss über die Wette boten die Posts nicht, was mich vermuten ließ, dass es nur im privaten Nachrichtenbereich darüber heiß her ging.

Die öffentlichen Posts beinhalteten die Aufforderung, dass Robin mal Ergebnisse zeigen sollte und die Frage danach, wie weit er schon gekommen sei.

Robin hatte nur undurchsichtige Antworten gegeben. Meinte, dass die Aufgabe ziemlich schwierig sei, es zu Komplikationen gekommen war, er aber schon einen Plan hatte.

Ich fragte mich, worum es dort ging. Vielleicht hatte Robin ja gewettet, irgendein Computerprogram in einer bestimmten Zeit zu entwickeln.

Von Satoshi wusste ich, dass sie so etwas in der Uni machen mussten.

Ich las weiter, konnte aber keinen Anhaltspunkt finden. Offenbar war der Inhalt der Wette nicht für fremde Augen bestimmt.

Der letzten Post von Robin war erst heute Morgen geschaltet worden.

>Leute, ich glaube nicht, dass ich das durchziehen kann.<

Dieser Post verwunderte mich. Warum verließ ihn denn plötzlich der Mut?

Und dann, ohne dass ich darüber nachdenken konnte, erschreckte mich das Klingeln meines Handys so sehr, dass mir fast der Laptop von den Knien gerutscht wäre.

Ich suchte hektisch nach meinem Telefon und fand es schließlich in der Tasche der Hose, die ich gestern angehabt und auf dem Boden liegengelassen hatte.

Eine unbekannte Nummer wurde mir angezeigt.

„Ja?“, beantwortete ich den Anruf, doch alles was ich hörte, war ein lautes Rauschen, als wenn jemand im Auto bei geöffnetem Fenster telefonierte.

„Hallo?!“, fragte ich lauter, weil ich annahm, dass mich der- oder diejenige am anderen Ende der Leitung genauso wenig verstand.

„Yun?!“, hörte ich jetzt endlich eine undeutliche Stimme.

„Wer ist denn da?“

„Hi… …st …bin.“

„Ich versteh kein Wort.“

„Hier ..st …obin.“

Obin? Robin?! War das Robin am Telefon? Ich erkannte seine Stimme kaum. Warum rief er mich an?

„…omm z… ir…, Y…n!“

„Was?“

Oh bitte, such´ dir eine Stelle, wo du besseren Empfang hast, oder geh aus dem Wind. Der Gedanke musste sich übertragen haben, denn plötzlich verstand ich Robin deutlich besser.

„Ist es jetzt bess-er?“, fragte er und klang merkwürdig beschwingt.

„Ja“, antwortete ich, noch immer verwundert darüber, dass er mich anrief. „Was ist denn?“

„Ko-omm zu mir, Yu-n.“

„Wie bitte?“ Ich war perplex. Hatte ich ihn richtig verstanden?

„Komm zu mir, Yun.“

Ja, es war ganz deutlich. Ich hielt die Luft an.

„Wo bist du denn?“

„Na am Meer!“, rief Robin lachend aus.

Hat er getrunken?, dachte ich bei mir, denn seine Bitte war absurd.

„Robin, du bist etwa fünfzig Kilometer weit weg. Und auch wenn ich zehn Red Bull trinke, verleiht mir das trotzdem keine Flügel.“

Stille. War die Verbindung unterbrochen? Nein, ich hörte ganz deutlich das Wellenrauschen im Hintergrund.

„Robin?“

„Es ist mein Geburtstag“, hörte ich nun wieder seine Stimme, die plötzlich traurig klang. „Komm her und sie es dir mit mir zusammen an. Mehr wünsch ich mir nicht.“

„Aber Robin…“

„… ich bitte dich, Yun. Komm zu mir.“

Ach verflucht! Es war ja doch nur wieder ein Brotkrumen. Sei nicht dumm, versuchte ich mich selbst zu überzeugen, aber wie es meist so ist, die eigene Dummheit erkennt man selten.

„Ich werd ne Weile brauchen“, gab ich schließlich nach.

„Kein Problem“, kam die Antwort, schon deutlich kräftiger. „Ich warte auf dich.“

Mit diesem Telefonat hatte also auch die Freude, die mit dem Leid einhergeht, ihren Bestimmungsort erreicht. Ich wusste nicht, dass sie mich getroffen hatte, aber hätte ich gewusst, dass sie nur von kurzer Dauer war, und was mich danach erwarten sollte, wäre ich nicht zwanzig Minuten später in den Zug nach Sassnitz gestiegen.
 

Ich hatte mir im Internet den Zugfahrplan angesehen und wie der Zufall so wollte, hatte ich den nächsten Zug noch erreichen können.

Nun ratterte die Regio über die Gleise Richtung Sassnitz und je näher ich meinem Ziel kam, desto stärker brannte sich die Frage in meinen Kopf ein, was ich mir eigentlich von meinem unüberlegten Handeln erhoffte.

Es war total schwachsinnig, dessen war ich mir bewusst. Was hatte mich nur dazu bewogen, wie ein braves Hündchen Robins Aufruf zu folgen? Es war sicher nicht nur die Bitte eines Geburtstagskindes gewesen, soviel gestand ich mir ein. In mir war das kleine Stück Hoffnung aufgekeimt, ihm doch nicht so fremd geworden zu sein, wie ich befürchtet hatte. Und da war noch etwas. Ein Gefühl tief in mir, das mich zu ihm zog. Ein Gefühl, das ganz sicher da war, sich aber von mir nicht greifen lassen wollte. Noch nicht.

Und was bezweckte Robin eigentlich mit seiner Bitte?

Satoshi und er hätten mich doch gleich am Morgen mitnehmen können. Was also hatte Robins Meinung so plötzlich geändert?

Vielleicht hatte er sich doch an meine Frage erinnert und hatte jetzt ein schlechtes Gewissen. Allerdings schätzte ich ihn so nicht unbedingt ein. Er hatte auf mich nie einen reumütigen Eindruck gemacht.

Ich beschloss, die Ereignisse einfach auf mich zukommen zu lassen. Mehr konnte ich auch nicht tun. Es half nichts, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was in Robins Kopf so vor sich ging. Das hatte ich oft genug probiert und war dabei nie auf einen gemeinsamen Nenner gestoßen.
 

Pünktlich um vierzehn Uhr fünfzehn erreichte der Zug den Bahnhof von Sassnitz.

Ich war Hals über Kopf hierhergekommen, nur wusste ich nun leider nicht, wo ich überhaupt hin musste. Gerade als ich Satoshi anrufen wollte, hörte ich plötzlich dessen Stimme, die nach mir rief.

Ich schaute mich um, und sah ihn schon auf mich zukommen.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich überrascht.

„Dich abholen“, antwortete Satoshi und lächelte.

Ich verließ mit ihm den Bahnhof und wir stiegen in sein Auto, welches er auf dem Parkplatz abgestellt hatte.

„Sorry, für diese Hauruck-Aktion“, sagte Satoshi schließlich, als wir die Hauptstraße bergauf entlangfuhren. Auf der rechten Seite konnte ich die Ostsee sehen.

Sassnitz lag ebenerdig, wo sich der Stadthafen befand, erstreckte sich dann aber in höhere Gelage, wo die Klippen der Kreidefelsen die Stadt trugen.

„Hätte ich gewusst, wie sich alles entwickelt“, fuhr Satoshi fort, „hätte ich dich gleich heute Morgen mitgenommen.“

„Wie meinst du das?“ Ich war verwirrt. Offensichtlich hatte jeder einen Plan von der ganzen Situation, außer mir.

Satoshi atmete tief durch. Er sah ernst aus und jedes seiner weiteren Worte schienen sehr gut überlegt.

„Yun… ich weiß, wir haben unsere Differenzen, aber ich bin sicher, du weißt auch, dass ich dir nie etwas Böses wollte, oder will. Ich bin sicher, dass du deinen Weg gehen wirst und egal welcher das auch sein mag, ich werde dich dabei unterstützen. Okay?“

„Warum sagst du das?“ Nun war ich noch verwirrter als vorher.

Satoshi lächelte mir zu.

„Manchmal gibt es Dinge“, sagte er, „die sind für jedermann offensichtlich, nur nicht für einen selbst. Der eine braucht Zeit, um sie zu erkennen, der andere einen kleinen Schubs in die richtige Richtung. Und manch einer braucht eben beides.“

„Und ich bin so ein jemand?“

„Ich denke schon.“

Daraus wurde ich auch nicht schlauer.

Wir bogen nach rechts in eine kleine Straße ein, an deren Ende ein von Holzpfählen umrandeter Parkplatz lag. Dahinter ruhte schweigend die blaue See, deren seichte Wellen sanft miteinander rangen.

Satoshi parkte das Auto unweit eines kleinen Abstiegs, der zum Fuß der Kreideküste führte.

Ich stieg aus und die salzige Seeluft pfiff mir um die Nase. Der Wind war wesentlich rauer als auf dem Festland, doch trotz der Jahreszeit, hatte sich die Sonne an diesem Tag noch einmal richtig ins Zeug gelegt. Es war frisch, aber nicht kalt und so genoss ich die ersten Sekunden am Rande von Rügen und hätte darüber beinahe vergessen, warum ich eigentlich hier war.

Satoshi stieg zu meinem Erstaunen nicht aus. Er ließ die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite herunter und beugte sich zu mir.

„Robin muss da unten irgendwo sein“, sagte er und deutete mit der Hand in Richtung Abstieg.

Ich blickte hinüber und eine senkrechte Falte bildete sich auf meiner Stirn.

„Kommst du nicht mit?“, fragte ich.

„Nein“, antwortete er.

„Was machst du dann?“, wollte ich wissen, aber als er mir nur ein schweigendes Lächeln schenkte, wusste ich es. „Du schubst mich.“

Ich erwartete keine Antwort von ihm.

Die Gefühle in meiner Brust kämpften unkontrolliert miteinander. Da war die Wut darüber, dass man mich so vorführte, aber auch Dankbarkeit dafür, dass ich gedrängt wurde. Die Nervosität vor dem, was mich erwartete und die Unsicherheit darüber, was ich tun sollte. Und mit jeder Stufe, die ich von dem Abstieg zu dem steinigen Strand nahm, kristallisierte sich ein Gefühl doch ganz deutlich heraus. Angst.

Ich hatte für einen Moment wirklich überlegt, ob ich nicht einfach umkehren und das Alles hinter mir lassen sollte.

Aber was gab mir die Sicherheit, dass Satoshi nicht oben auf mich wartete und mich wieder zurückschickte? Zugetraut hätte ich es ihm.

Ich war nicht umgekehrt, hatte die letzten Stufen mutig genommen und stand nun am Fuß der Küste, wo sich die Felsen aus weißer Kreide senkrecht nach oben reckten.

Der schmale Uferabschnitt, den man hier nur teilweise begehen konnte, war übersäht mit Treibgut, kleineren Steinen und groben Felsen, die im Laufe der Jahrhunderte ans Ufer gespült, oder aus der Felsenwand gewaschen worden waren. Nur vereinzelt waren Urlauber zu sehen, die vielleicht zwischen den Steinen nach Hühnergöttern, oder Donnerkeilen suchten.

Ein Stück weiter die Küste entlang, dort, wo die Kreidefelsen bis hinein in die Ostsee ragten, hatte das Wasser die Farbe von dunklem Weiß angenommen und an manchen Stellen ließ sich erkennen, dass kleine Teile der Küste, vom Regen unterspült, abgerutscht waren.

Trotz dessen ich so nah an der Insel wohnte, hatte ich die Schönheit der Kreideküste völlig vergessen. Wie gebannt sah ich zu den Villen hinauf, die vereinzelt an den die Klippen heranragten, dass man Angst haben musste, sie würden beim kleinsten Sturm herunterrutschen.

Büsche und kleine Bäume wuchsen aus der Kreide hervor, als hätte sie jemand zu Dekorationszwecken dorthin gestellt und ein kleiner, milchiger Rinnsal floss unbeirrt von den Klippen bis zum Ufer hinunter.

Eine kühle Böh trug den Ruf meines Namens ein mein Ohr und holte mich in den Moment von meiner Ankunft zurück.

Ich sah mich um und entdeckte Robin, der sich etwa zehn Meter entfernt über das steinige Ufer zu mir bewegte.

Mein Gefühlschaos hatte mich wieder, wenn auch nicht so habgierig, wie noch vor ein paar Minuten. Die See hatte mich beruhigt.

Was auch immer nun kommen mochte, ich würde es durchstehen.

Ich traute mich sogar, Robin ein paar Schritte entgegen zu gehen.

Der Wind hatte seinen Haarschopf ordentlich durcheinander gebracht und obwohl er ziemlich wetterfest angezogen war, konnte ich deutlich sehen, dass er fror. Solch raue Witterungsverhältnisse war jemand aus Arizona eben einfach nicht gewöhnt. Mir verlangte sein Anblick ein Schmunzeln ab.

„Ziemlich frisch“, rief ich ihm entgegen, kurz bevor wir aufeinander trafen. Es war eine unverfängliche Begrüßung und er ging darauf ein.

„Ist mir gar nicht aufgefallen“, witzelte er und zog seine Jacke etwas fester um sich. Ich musste lachen.

Da waren wir nun. Zwei junge Menschen, die sich so viel und eigentlich doch gar nichts mehr sagen mussten.

Ich ging ein Stück auf das Wasser zu, bis die Gischt meine Füße berührte und ließ meinen Blick über den Horizont gleiten.

Segelbote in der Ferne, klein wie Spielzeuge, deren Segel das Sonnenlicht reflektierten, sahen vor dem dunklen Hintergrund aus, wie kleine Kieselsteine. Als hätte man sie an einem Fanden aufgereiht und über das Wasser gespannt. Es war ein wunderschöner Anblick.

„Hast du es dir so vorgestellt?“, fragte ich in die Stille.

„So wie es jetzt ist, schon“, kam Robins ehrliche Antwort.

„Du meinst jetzt, wo ich hier bin“, sagte ich, ohne meinen Blick vom Horizont abzuwenden.

Ich hörte die Steine unter Robins Füßen knirschen, als er näher kam und spürte, dass kaum mehr ein Blatt Papier zwischen uns gepasst hätte, als er hinter mir stehen blieb.

„Ich war ein Idiot, Yun.“ Ich hörte echtes Bedauern in Robins Stimme, die nun so dicht an meinem Ohr war, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Wange fühlte und eine angenehme Spannung durchzog mich von Kopf bis Fuß.

„Ich bin an die Sache ganz falsch ran gegangen“, fügte Robin hinzu.

„An welche Sache?“, fragte ich leicht zögernd und atmete tief ein.

Sag es, flehte ich innerlich, denn ich habe nicht den Mut dazu. Sprich aus, was mich seit dem Tag unserer ersten Begegnung beschäftigt, damit ich mir sicher sein kann, dass ich nicht verrückt bin, dass ich nicht unter Wahnvorstellungen leide. Sag es damit ich weiß, warum ich so gelitten habe, wenn ich dich mit anderen Frauen gesehen habe. Sag es!

„An die Sache… mit uns.“

Oh Gott sei Dank. Die Luft löste sich aus meinen Lungen, wie eine Klette, die meine Seele umklammert gehalten hatte.

Langsam wandte ich mich zu ihm um, aber es erwartete mich nicht das sanfte Lächeln, das ich mir erhofft hatte. Vielmehr spiegelte sich Verzweiflung in Robins Augen.

„Wieso siehst du mich so an?“, fragte ich verunsichert. Hatte ich mich gerade zum Idioten gemacht, mit meiner kindischen Hoffnung?

Robin trat einen Schritt zurück und brachte so ein kleines Stück Distanz zwischen uns.

„Da ist…“, setzte Robin an, doch ich beendete seinen Satz.

„… gar nichts zwischen uns.“ In meiner Kehle brannte es, wie Feuer. Wie hatte ich nur so naiv sein können?

„Yun…“, Robins Stimme klang weich in meinen Ohren. „Da ist etwas zwischen uns.“

Ich blickte auf und wusste, dass nicht der Wind schuld an meinen feuchten Augen war.

„Aber was ist es dann?“, fragte ich leise.

„Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss. Warum ich hier bin.“

„Ich dachte, wegen mir.“ Meine Stimme bebte.

„Ich meine nicht hier, in diesem Moment. Ich meine in Deutschland.“

Jetzt verstand ich gar nichts mehr.

„Was soll das heißen, warum du in Deutschland bist?“ Wut stieg in mir auf.

„Ich bin hier hergekommen, zu dir, weil du mich darum gebeten hast. Weil ich dachte, dass sich zwischen uns einiges klärt. Weil ich dachte, dass du dich doch an unseren ersten Abend erinnert hast, verdammt noch mal! Was interessiert mich denn, warum du in Deutschland bist!“

„Weil es wichtig ist!“, schrie er mich an.

Ich zuckte zusammen.

„Es tut mir Leid…“

„Nein, Robin“, und jetzt schluchzte ich tatsächlich. „Ich will nichts von dir hören, außer einer Sache, denn ich halte dieses Hin und Her einfach nicht mehr aus. Das einzige, was mich interessiert ist: Magst du mich, oder nicht?“

„Viel zu sehr“, hörte ich seine ehrliche Antwort. „Aber…“

Nein, kein Aber. Gar nichts mehr. Ich mag dich nämlich auch viel zu sehr, du Dummkopf. Merkst du das denn nicht?

Und mit diesen Gedanken überwand ich die Distanz, die Robin zwischen uns gebracht hatte, legte meine Hände an seine kühlen Wangen und bettete vorsichtig meine Lippen auf seinen Mund.

Ich konnte spüren, wie er sich anspannte, merkte deutlich, wie seine Hände an meinen Armen einen kläglichen Versuch unternahmen, mich abzuwehren, aber ich ließ es nicht zu. Und Robin schließlich auch nicht. Ganz sanft erwiderte er meinen Kuss. Seine Hände schlossen sich in meinem Rücken und pressten mich an ihn, als würde ich verschwinden, wenn er mich losließ.

Dieses Gefühl also nennt man pures Glück. Es ist befreiend, aufregend und unglaublich ergreifend zu gleich. Ich wünschte mir zutiefst, dieses Gefühl nie zu verlieren. Ich würde es bestimmt nicht wiederfinden und was sollte das Leben dann noch lebenswert machen? Wenn es wirklich, irgendwo im Universum, eine höhere Macht gab, möge sie bitte die Zeit anhalten, damit ich mich von diesem Glück laben kann, denn irgendwann fand alles ein Ende.

Ankunft

Maybe
 

Teil 2
 

Robin
 

Kapitel 7 Ankunft
 

Endlose Felder, von Kornähren beige gefärbt, Häuser, die vereinzelt auf kleinen Anhöhen standen und dann wieder kleinere und größere Ortschaften, die alle irgendwie gleich aussahen. Dieser Anblick bot sich mir in einem stetigen Wechsel, als ich aus dem Fenster des Zugabteils starrte, welches Satoshi und ich uns mit mir unbekannten Menschen teilten. Von nun an würde ich mich daran gewöhnen müssen. An fremde Gesichter, die ich zwar wahrnehmen, aber genauso schnell auch wieder vergessen würde. Unwichtige Gesichter im Vergleich zu dem, dessen Foto sich momentan auf dem Bildschirm meines Laptops wiederspiegelte.

Schwarzes Haar, asiatische Gesichtszüge, jungenhaft. Weder Kind noch Mann. Eigentlich nichts Besonderes. Nichts, was mich vom Hocker gehauen hätte, wären da nicht diese wasserblauen Augen gewesen, die mir schon an Satoshi sofort aufgefallen waren.

Traurig blicken diese Augen auf dem Bild. Unbehagen vor der Kamera oder vor dem, der den Auslöser bedient hatte.

Schon die ganze Fahrt über hatte mich dieses Gesicht höhnisch angegrinst, als wolle es sagen: Bist du dir wirklich im Klaren darüber, was du da tust?

Ich war es nicht. Und gegrinst hatte das Gesicht auch nicht. Es hatte immer noch den selben traurigen, verunsicherten Ausdruck.

Meine Fantasie spielte mir einen Streich.

Als ich auf mein Spiegelbild sah, dass sich leicht in der Fensterscheibe spiegelte, fragte ich mich, wer die Person war, die mich dort anstarrte. War das wirklich ich, oder nur ein Abbild meines früheren Ichs. Eines Ichs, das sich in den letzten sechs Monaten nur noch selten gezeigt hatte. Eines Ichs wie ich war, bevor ich Satoshi getroffen hatte. Und mit ihm, Satoshi, hatte es angefangen. Hatte mein Leben einen anderen Verlauf genommen. Denn mit Satoshi war auch derjenige in mein Leben getreten, dessen Gesicht noch immer unnachgiebig auf meinem Laptop ruhte. Yun.
 

„Wir sind gleich da.“

Satoshi, der mir gegenüber saß, rutschte ungeduldig auf seinem Sitz hin und her.

Schon als wir in Hamburg gelandet waren, war er kaum mehr zu halten gewesen. Die Freude darüber, endlich wieder nach Hause zu kommen, beflügelte ihn förmlich, wo er doch sonst ein sehr besonnener Mensch war.

„Es kam noch nicht mal die Durchsage“, meinte ich nur und warf einen letzten Blick auf Yuns Fotographie, bevor ich meinen Laptop zuklappte und ihn in der dazugehörigen Tasche verstaute.

„Trotzdem“, erwiderte Satoshi. „Wir sollten schon mal unseren Kram zusammenpacken.“

„Das hast du schon vor ner halben Stunde gemacht“, gab ich zurück und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. In diesem Moment ertönte die Stimme des Lokführers durch die Lautsprecher, dass wir Stralsund Hauptbahnhof in Kürze erreichen würden. Ausstieg Rechts.

Satoshis Gesicht hellte sich deutlich auf. Nichts war mehr zu sehen von dem routinierten Informatiker, den ich für dessen Souveränität so schätzte.

Dennoch konnte ich seine Aufregung verstehen. Ich war es ja nicht minder viel. Nur war es bei mir ein anderer Beweggrund, wenn doch auch irgendwo der selbe.

„Ich bin echt gespannt, wie Yun sich gemacht hat“, meinte er unvermittelt und ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Du wirst sehen… er wird dir gefallen.“

„Maybe.“
 

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, drängten sich sämtliche Passagiere zu den Ausgängen. Satoshi war schon einige Meter vor mir und als sich ein fettleibiger Anzugträger aus seinem Sitz in den Gang drängelte, hatte ich ihn gänzlich aus den Augen verloren.

Ich ließ mich mit dem Strom von Menschen mitziehen und entdeckte Satoshi am Ausstieg, als er einer älteren Dame mit dem Gepäck half.

„Ganz der Gentleman“, frotzelte ich, bevor ich der Dame die Hand reichte um ihr über die letzte Stufe zu helfen.

„Schnacker“, witzelte Satoshi und dann standen wir auch schon auf dem Bahnsteig.
 

„Ich kann meine Familie nirgends sehen.“ Satoshi hüpfte einige Male auf und ab, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.

„Vielleicht sind sie noch nicht da“, vermutete ich.

„Du kennst meine Mutter nicht“, gab Satoshi zurück und machte sich mit geschultertem Gepäck auf in Richtung Ausgang. Gerade als ich es ihm gleichtun wollte, hörte man sie. Eine fiepsige Stimme, die Satoshis Namen rief.

Das Begrüßungsszenario hätte auch aus einem Drehbuch stammen können. Mutter und Sohn fallen sich in die Arme und der stolze Papa kommt erhobenen Hauptes dazu. Cut!

Ich hielt mich dezent im Hintergrund. Wer wollte da schon stören und außerdem bot ich mir selbst noch etwas Zeit aus. Noch ein paar Sekunden, in denen ich realisieren konnte, wirklich angekommen zu sein und mir klar zu machen, dass es jetzt kein Zurück mehr gab.
 

Einige Augenblicke später trennte sich Satoshi von seinen Eltern. Nun wurde ich aufmerksam.

Mein Freund hatte sich schnellen Schrittes in Bewegung gesetzt, während seine Eltern ihm verständnislos nachblickten und mir dabei gekonnt die Sicht versperrten.

Ich trat einen Schritt zur Seite, hatte aber nur Satoshis Rückansicht im Blick. Auch wenn ich nicht erkennen konnte, wen er nur Sekunden später so herzlich umarmte, wusste ich es jedoch genau. Es war eine zierliche Person, die die Umarmung nicht erwiderte und obwohl ich nur einen kleinen Teil von ihr erhaschen konnte, der nicht von Satoshi verdeckt wurde, schlug mein Herz einen Takt schneller.

Ganz cool, sagte ich mir und machte mich auf das nun Folgende gefasst. Ich hatte nichts zu verlieren, jedenfalls nichts von Bedeutung, also konnte ich ganz entspannt an die Sache heran gehen.

Ja… wenn ich es nur gekonnt hätte.

Denn als Satoshi sich strahlend endlich wieder in meine Richtung wendete, sich mit seinem so vermissten Bruder auf mich zubewegte, sah ich Yun zum ersten Mal real. Live und in Farbe. Und ich sage Euch… plötzlich war gar nichts mehr entspannt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo liebe Leser.
Danke, dass ihr euch für "Maybe" entschieden habt. Wenn es nicht zu viel Mühe macht, hinterlasst mir doch einen Kommentar. Für Anregungen bin ich immer offen.
Ich hoffe ihr habt Spaß und auch etwas Geduld beim Lesen, denn ich gehe zuerst einmal auf meinen Hauptprotagonisten Yun ein, um ihn euch etwas näher zu bringen.

Vielen Dank.

Aya-san Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So... nun kommen wir an eine wichtige Stelle. Denn im nächsten Kapitel wird Yun endlich auf den Menschen treffen, der seinem Leben eine Bedeutung geben wird. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  tenshi_90
2014-05-29T07:19:27+00:00 29.05.2014 09:19
Das is so herrlich romantisch :)
Von:  tenshi_90
2014-05-22T09:38:12+00:00 22.05.2014 11:38
Ich glaube, Satoshi hat da so ne Ahnung, was in Yun so vorgehen könnte. Sieht ja ganz danach aus, als sei der kleine in Robin verliebt, sonst hätte er sich nicht so verhalten.

Es heißt ja immer, dass Betrunkene immer die Wahrheit sagen :)
Von:  tenshi_90
2014-05-19T09:28:53+00:00 19.05.2014 11:28
Auch diese Story finde ich sehr interessant :)
Von:  Onlyknow3
2014-05-13T19:11:31+00:00 13.05.2014 21:11
Kurzer nicht viel sagender und doch sehr interessanter Prolog, von dem man noch mehr erwarten könnte, und doch alles bekommt.

LG
Onlyknow3


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