Zum Inhalt der Seite

Maybe

Geschichte einer Ersten Liebe
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Dies ist das vorläufig letzte Kapitel, dass uns aus Yuns Sicht geschildert wird. Im nächsten Kapitel beginnt Robin seine Geschichte zu erzählen und dadurch werden einige Fragen, die vielleicht in den ersten Kapiteln offen geblieben sind, beantwortet.
Nun aber zu Yun, der über sich hinauswächst und zum ersten Mal in seinem Leben wirklich Stärke zeigt. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Regen und Sonnenschein

Es heißt, des einen Leid, ist des anderen Freud. Aber ist das wirklich so? Wenn jemand zum Beispiel fünfzig Euro verliert und ein anderer sie findet, trifft das Sprichwort zu. Was aber, wenn jemandem sein Leben völlig entgleitet? Wer hatte dann etwas davon?

Oder wenn einem anderen binnen ein paar Sekunden vollkommenes Glück wiederfährt. Wen sollte dann das Pech ereilen, wenn nicht die beglückte Person selbst, weil auch das pure Glück irgendwann ausgeschöpft ist?

Ich ahnte nicht, dass diese beiden Dinge, Freud und Leid, seit Langem ihre Bahnen um mich zogen und stetig näher kamen, nur um dann auf mich niederzugehen, wie von der Schwerkraft angezogen.
 

Der September war an mir vorbeigezogen, als hätte es ihn nie gegeben. Er war zwar da gewesen, aber gelebt hatte ich ihn nicht.

Wie in Trance war ich der Spur aus Brotkrumen gefolgt, die Robin mir immer mal wieder mit seiner Aufmerksamkeit gelegt hatte, nur um dann doch stets am Hexenhaus anzukommen. Und immer war es eine andere Hexe, die mich zu verbrennen versuchte. Ich war jedes Mal nur knapp entkommen.

Die Hexen in meiner Phantasie, stellten sich in der Realität als junge Frauen dar, mit denen Robin verkehrte. Jede Woche war es eine andere, obwohl Marie noch immer bei uns ein- und ausging.

Einmal, ich war tierisch geladen gewesen, weil ich aus dem Zimmer neben meinem eindeutige Laute zu hören geglaubt hatte, fragte ich Satoshi, ob Robin versuchte, einen neuen Rekord im Frauenabschleppen aufzustellen.

Satoshi hatte nur beiläufig abgewinkt und gesagt, dass das für Robin nichts Ungewöhnliches sei. Er wäre nie lang allein und legte sich selten fest.

Mir gefiel das gar nicht. Nicht nur, weil ich ständig verschiedenfarbige Haare aus dem Waschbecken fischte, sondern weil mir Robins ständig wechselnde Bekanntschaften über ihn verrieten, dass er nichts von Beziehungen hielt.

Aus diesem Grund hielt ich mich nur noch selten zuhause auf. Raik und Nicky waren meine wichtigsten Anlaufstellen, aber auch zu Mia flüchtete ich mich immer öfter.

Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mit ihr Schluss zu machen, hatte ich es nicht getan.

Ich empfand vielleicht nicht das Gleiche für sie, wie sie für mich, aber in ihrer Gegenwart ging es mir gut und sie ließ mich vergessen, warum ich in meinem Leben nur noch Finsternis sah. Sie war mein Lichtblick, der mir aus der Dunkelheit half.

Nicky verurteilte meine Beziehung zu Mia. Sie hielt mir vor, das Mädchen nur auszunutzen, aber das stimmte nicht. Jedenfalls nicht völlig.

Ich mochte Mia. Mochte ihr freimütiges Wesen, ihre leichte Naivität und sie verstand es, das Leben nicht zu ernst zu nehmen. Außerdem war sie es, die mir zeigte, dass es sich lohnte, an einer Beziehung zu arbeiten und dafür seine eigenen Begierden auch mal hintenan zu stellen.

Mia tat mir einfach gut, und ich hatte zu viel Angst, dieses kleine Bisschen Glück wieder loszulassen. Oder ich war einfach zu egoistisch.

Mia war in jeglicher Hinsicht sehr geduldig mit mir.

Obwohl sie am Tag nach unserem Date sofort versucht hatte, mich zu erreichen, war ihr anfänglicher Überschwang schon einige Tage später deutlich zurückgegangen. Sie wartete ab, bis ich mich meldete, kam in der Schule nicht jede Pause zu mir und gab mir auch sonst die Freiheit, mich mit Raik und Nicky zu treffen, wann ich wollte.

Am Anfang noch hatte ich sie ziemlich zappeln lassen. Ich war mir nicht klar darüber gewesen, was ich eigentlich von ihr wollte, aber je mehr Tage vergingen, desto stärker wuchs der Wunsch in mir, häufiger Zeit mit ihr zu verbringen.

Ich rief Mia also öfter an, verabredete mich mit ihr und mit der Zeit war in mir das Gefühl gereift, tatsächlich ihr fester Freund werden zu können. Und so kam es auch. Wir hatten zwar nicht darüber geredet, aber es wurde immer offensichtlicher, dass uns mehr verband, als nur pure Freundschaft.

Wir waren stillschweigend übereingekommen.

Meiner Familie hatte ich nichts davon erzählt, und trotzdem hatte mich Satoshi eines Abends beim Abendbrot auf Mia angesprochen.

Offenbar hatte er von Lina erfahren, dass man mich in letzter Zeit öfter in weiblicher Begleitung antraf.

Ich hatte nicht aufgepasst. Das Musikgeschäft, in dem Lina arbeitete, lag in der Innenstadt und da ich mit Mia des Öfteren nach der Schule noch durch die Geschäfte bummelte, oder mit ihr in ein Café einkehrte, musste sie uns gesehen haben.

Als Satoshi des Abends das Thema angesprochen hatte, fingen meine Eltern sofort an, mich mit Fragen zu löchern. Wer war das Mädchen? Wie ernst war es? Wie lange ging das schon?

Ich hatte nur knapp und ausweichend geantwortet. Vielmehr hatte mich gewundert, warum nicht auch Robin sich in das Gespräch einschaltete. Schließlich war er es doch gewesen, der mich dazu aufgefordert hatte, Mia anzurufen.

Ab und zu hatte ich ihn angeschaut, aber er war nur damit beschäftigt gewesen, in seinem Essen herumzustochern und wirkte eher desinteressiert.

Doch je länger sich die Differenzierung meines Privatlebens hingezogen hatte, desto appetitloser schien er geworden zu sein.

Irgendwann schließlich, hatte er sich entschuldigt und den Tisch verlassen.

Ich hatte versucht, einen Blick von ihm aufzufangen, aber er war nur wortlos nach oben verschwunden.

Das Abendessen hatte sich noch etwas hingezogen und obwohl ich die seltene Aufmerksamkeit meiner Eltern genossen hatte, hatte ich nun genug davon, über mich und mein Leben zu lamentieren.

Als ich die Treppe zu meinem Zimmer nach oben gestiegen war, meinte ich, ein Geräusch aus meinem Zimmer vernommen zu haben.

Ich hatte die Tür aufgemacht, und nicht schlecht gestaunt, als ich Robin vor meinem Bücherregal vorfand, der, als ich den Raum betrat, das Buch in seiner Hand zugeschlagen und mich fragend angesehen hatte.

„Was machst du denn hier?“, hatte ich gefragt, etwas angefressen, weil er einfach in mein Zimmer gegangen war.

Doch er war gar nicht darauf eingegangen, stellte das Buch ins Regal zurück und antwortete mit einer Gegenfrage.

„Du bist jetzt also mit dieser Mia zusammen?“

„Ja“, hatte ich geantwortet, irritiert über die direkte Frage. Warum hatte sie sich so vorwurfsvoll angehört?

„Ach so.“

Ach so? „Hat sich so ergeben“, hatte ich gesagt, nur um überhaupt etwas zu sagen. Mir wollte nicht einleuchten, was Robin in mein Zimmer getrieben hatte. Was wollte er?

„Und…“, setzte er an und ich hatte das Gefühl gehabt, als ob er sich nicht sicher war, ob er die folgende Frage stellen sollte. Als ob er Angst davor hatte. „Ist es das, was du gewollt hast?“

Sein Blick ruhte prüfend auf mir. Wo sollte das hinführen?

„Ich weiß zwar nicht, worauf du hinaus willst, aber ja“, hatte ich geantwortet und mich dabei gezwungen, seinem Blick standzuhalten. „Ich hab das mit Mia und mir nicht geplant gehabt, aber es ist das, was ich will.“

War das die Wahrheit?

Robin war ein paar Schritte auf mich zugekommen und sein Blick war unergründlich.

„Ich hab nicht gefragt, was du jetzt willst, sondern was du gewollt hast.“

„Was ich gewollt hab?“ Ich verstand nur Bahnhof.

„Bevor du mit Mia zusammengekommen bist.“

„Bevor ich…?“, ich verstummte. Worauf wollte er hinaus? Wollte er hören, dass ich gar nicht mit Mia zusammen sein wollte? Das es nur eine Gelegenheit war?

Uns trennte nur noch etwas mehr als ein Meter und ich trat einen Schritt zurück. Diese Nähe war mir unangenehm, weil er mich noch immer mit diesen unergründlichen Augen ansah.

„Ja… Nein…“, stammelte ich, weil ich plötzlich völlig verunsichert war. Warum nur? Auf seine Frage hatte es nur eine Antwort gegeben. Dennoch hatte ich es nicht über die Lippen gebracht. Das eindeutige -Ja, ich wollte schon immer mit Mia zusammen sein-. Stattdessen wand ich mich wie ein Aal gewunden.

Ich wusste nicht warum, aber Robins Haltung wirkte plötzlich viel entspannter. Er wirkte fast erleichtert.

„Das reicht mir“, sagte er, mehr zu sich selbst, als zu mir und ein kleines Lächeln lag auf seinen Lippen.

Ich hingegen stand da wie angewurzelt und verstand gar nichts.

Und dann ging Robin an mir vorbei, hatte dabei wie zufällig mit seinem Arm meinen Arm gestreift und mich ganz zwanglos gebeten: „Spiel doch mal wieder etwas auf der Gitarre. Das hat mir gefallen.“

Dann verließ er mein Zimmer, ohne ein weiteres Wort.

Nur ein weiterer Brotkrumen, sagte ich mir.
 

Als ich eines Nachmittags mit Mia unterwegs war und einen Anruf von Raik erhielt, hatte dann das Leid sein Ziel getroffen.

Was mein bester Freund mir nur knapp am Telefon erzählte, machte mich betroffen, doch als er mir das ganze Ausmaß seiner Misere offenbarte, ließ mich fassungslos werden.

Sofort nach Raiks Anruf hatte ich mich von Mia verabschiedet und war zu ihm geeilt.

Nun saß ich in Raiks Zimmer auf dem Bett, zusammengesunken, und konnte nicht glauben, was er mir gerade erzählt hatte.

„Ihr fliegt echt aus der Wohnung?“, fragte ich, als bräuchte ich noch eine Bestätigung.

Raik saß auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch, das Gesicht in den Händen vergraben und er wirkte auf mich, als wäre jeder Frohsinn aus ihm gewichen. Dieses Bild erschreckte mich, weil Raik mir plötzlich so fremd vorkam. So hatte ich ihn noch nie erlebt.

„In zwei Wochen“, war sein bebende Antwort.

Unbewusst blickte ich mich im Zimmer um, als würde das alles hier in vierzehn Tagen aufhören zu existieren.

Kam es wirklich soweit? Verlor mein bester Freund in zwei Wochen sein Zuhause? Verlor ich ihn?

Ich ließ die letzten Minuten in meinem Kopf Revue passieren.

Raik hatte mir mit geröteten Augen die Tür aufgemacht und, ohne dass ich fragen konnte, was genau er am Telefon gemeint hatte, angefangen zu erzählen.

Raik war beim Aufräumen des Wohnzimmerschranks auf ein Mahnschreiben des Vermieters der Wohnung gestoßen. Dieses lag zwar schon einige Monate zurück, doch trotzdem hatte Raik verunsichert nach weiteren Briefen gesucht und war schließlich fündig geworden.

Ein Dokument, auf dem in fetten Druckbuchstaben das Wort >Räumungsklage< stand. Datum der Zwangsräumung war der fünfzehnte November.

Schockiert und aufgewühlt, hatte Raik sofort seine Eltern angesprochen, nachdem sie zu Hause eingetroffen waren, und sie mit dem Schreiben konfrontiert. Sie hatten es ihm bestätigt.

Daraufhin war ein heftiger Streit entstanden, in dem jedoch alles ans Licht kam, was die Eltern versucht hatten, vor Raik zu verheimlichen. Immer in dem Glauben, es würde schon alles irgendwie werden.

Raik erfuhr, dass die Miete für die Wohnung schon seit Monaten nicht mehr gezahlt worden war, geschweige denn die Nebenkostenrechnungen.

Außerdem war die Festnetzleitung nicht kaputt, sondern abgeschaltet.

Raik hatte sich irgendwann, erschlagen von der Situation, in sein Zimmer geflüchtet. Hatte erst die Mutter, dann den Vater die Wohnung verlassen hören und schließlich mich angerufen.

Nun saßen wir hier, überfordert und hilflos.

„Könnt ihr denn nirgendwo mehr Geld herbekommen?“, setzte ich an, in der Hoffnung, Raik käme mit einer Universallösung um die Ecke. Doch er schüttelte nur unmerklich den Kopf.

„Ich hab zu mein´ Eltern gesagt, dass wir das Geld von meim´ Sparbuch verwend´n könn´, dass meine Oma für mich zur Jugendweihe angelegt hatte“, antwortete er und mich wunderte der sarkastische Ton in seiner Stimme. „Aber, tja, davon is nichts mehr da.“

„Wie bitte?“, fragte ich irritiert.

Raiks Augen blitzten wütend. „Bis zu meim´ Achzehnt´n hat meine liebe Mutter die Vollmacht über das Geld. Und die hat se auch fleißig ausgenutzt. Da is schon lange nichts mehr zu hol´n. Tausend Euro, die für meinen Führerschein hätt´n sein sollen. Weg.“

Mir fiel das Kinn herunter.

„Das ham´ die beiden mir nämlich auch eröffnet. Und außerdem, dass se nich kreditwürdig sind, weil se beide Einträge bei der SCHUFA ham´ und… ach ja. Geld vom Amt, gibt’s uch nich, weil se ja zu stolz waren, Unterstützung zu beantrag´n. Weißt ja, weil ´s uns ja uch immer so prächtig ging.

Und jetz, wo ihn´ das Wasser bis Oberkannte Unterlippe steht, geh´n se zwar zum Amt, aber die Bearbeitung wird wohl ´n bissn´ länger dauern, als zwei Woch´n. Was soll denn jetz werd´n?“

Raiks Verzweiflung schnürte mir die Brust zu. Wie hatte es nur so weit kommen können? Warum traf das Schicksal ausgerechnet meinen besten Freund so hart, der immer für mich da gewesen war? Der seine Eltern stets unterstützte, wo er nur konnte? Es gab keine Antwort darauf. Das alles war einfach nur ungerecht, weil Raik für nichts konnte, was da gerade um ihn herum passierte. Und weil er jetzt doch dafür büßen musste.

Wo würde er mit seinen Eltern hinziehen? In eine Sozialwohnung, die noch erbärmlicher war, als diese hier? Oder ganz weg aus Stralsund? Würde er vielleicht sogar die Schule wechseln? Das durfte nicht sein. Wir hatten doch nicht einmal mehr ein Jahr vor uns.

Fieberhaft suchte ich nach einer Lösung, aber die einzige, die mir einfiel, würde Raik nicht für gut heißen, das war mir klar.

Trotzdem versuchte ich es.

„Wie viel Miete müsst ihr im Monat bezahlen?“, fragte ich vorsichtig.

„Für die Muckerbuchte hier?“, entgegnete Raik. „So um die fünfhundertfünfzig, denk ich. Warum?“

Ich überschlug die Antwort kurz in meinem Kopf.

„Also pass auf“, setzte ich an. „Und lass mich bitte erst ausreden.“

Ich atmete tief durch und blickte Raik direkt an.

„Ich hab etwa sechshundert Euro auf meinem Konto…“

„Nein!“

Ich hatte nichts anderes erwartet.

„Jetzt hör doch mal zu. Wenn ihr eure Mietschulden mit einer Monatsmiete beginnt zu begleichen, gewehrt euch euer Vermieter vielleicht einen Aufschub. So haben deine Eltern Zeit, das mit dem Amt zu klären und wenn ihr dann noch zusätzlich Sozialhilfe bekommt, könnt ihr eure Schulden nach und nach abstottern. Mit dem Geld, was ihr vom Amt bekommen würdet, würde das locker reichen.“

„Nein, Yun.“

Raik hatte mich permanent kopfschüttelnd angesehen.

„Wieso nicht? Ich hab doch das Geld und es wäre ja auch nicht geschenkt. Mehr ein Kredit auf unbestimmte Zeit.“

Raik verstummte. Ich wusste, dass er über mein Angebot nachdachte und es vielleicht sogar annehmen wollte, aber ich wusste auch, dass er von mir keine Almosen wollte.

„Und was is mit dieser neu´n Klampfe, die de dir kauf´n wollt´st?“, konterte er nun geschickt und traf meinen wunden Punkt.

Das Geld hatte ich tatsächlich für eine neue Gitarre gespart, die ich bei Lina bestellt hatte, noch bevor sie im Handel war.

Aber wenn ich die Gitarre gegen meinen besten Freund aufwiegen sollte, wog Raik in meinem Herzen doch wesentlich mehr.

Ich redete mit Engelszungen auf ihn ein. Argumentierte, dass es die Gitarre auch in ein paar Monaten noch gab, sein Zuhause aber nicht und je länger wir über meinen Vorschlag diskutierten, desto einsichtiger wurde Raik, bis er schließlich einwilligte, mit seinen Eltern darüber zu reden. Und mir war klar, dass dies die schwierigste Hürde sein würde.
 

Ich hatte mich erst am späten Abend, als Raiks Eltern nach Hause gekommen waren, auf den Weg gemacht.

Die Straßen waren deutlich leerer und so genoss ich die ruhigen Minuten und versuchte, einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen.

Auch wenn die Chancen eher schlecht standen, beruhigte mich der Gedanke etwas, vielleicht eine Lösung für die scheinbar aussichtslose Lage der Bergers gefunden zu haben.

Aber trotzdem. Verzeihen würde ich Raiks Eltern nie, ob sie nun in der Wohnung bleiben konnten oder nicht. Sie hatten zugelassen, dass ihr Sohn am untersten Ende der sozialen Schicht angekommen war.
 

In unserer Wohnung angekommen, empfing mich der seltene Geruch von frisch gebackenem Kuchen im Flur.

Ich folgte ihm und fand meine Mutter in der Küche vor, wie sie gerade ein Blech aus dem Ofen zog. Ein eher ungewöhnlicher Anblick. Wenn es sonst bei uns Kuchen gab, wurde er entweder aus einer Bäckerei geholt, oder bei besonderen Anlässen sogar geliefert.

Dass meine Mutter tatsächlich selbst gebacken hatte, noch dazu mit einer Kochschürze um die Hüften, machte mich stutzig.

„Hallo Mama“, begrüßte ich sie und blieb im Türrahmen stehen.

„Du hast das Abendessen verpasst“, hielt sie mir sofort vor, woraufhin ich eine flüchtige Entschuldigung murmelte.

„Sieht lecker aus“, versuchte ich nun, das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken und tatsächlich tat sich auf ihrem Gesicht ein kleines Lächeln auf.

„Gibt es einen besonderen Anlass?“, fragte ich neugierig.

„Allerdings“, flötete meine Mutter und stellte das Blech vorsichtig auf der Arbeitsfläche ab. „Der ist für Robin.“

„Für Robin?“ Ich stutzte.

„Ja“, gab meine Mutter zurück und klang ungehalten. „Er hat doch morgen Geburtstag. Das solltest du eigentlich wissen.“

Ich wusste es nicht.

„Hatte keine Ahnung.“

„Na dann weißt du es jetzt.“ Sie zog ihre Kochhandschuhe aus, band sich die Schürze ab und sah mich eindringlich an.

„Für Robin ist das morgen ein besonderer Tag“, erklärte sie und ratterte die folgenden Sätze wie Instruktionen an einen Kadetten herunter. „Er muss ohne seine Familie feiern und deswegen wollen wir versuchen, es ihm so schön wie möglich zu machen. Wir haben zwar morgen Sonntag, aber das Frühstück gibt es trotzdem schon um halb neun. Sei also pünktlich unten.“

„Warum so früh?“. Sonst gab es sonntags immer erst um zehn das Frühstück.

„Weil Satoshi und Robin morgen einen Ausflug machen.“

„Aha. Und wohin?“, fragte ich neugierig.

„Nach Sassnitz. Robin hat sich zum Geburtstag gewünscht, das Meer zu sehen.“

Meine Knie wurden weich und ich wünschte mir, nicht gefragt zu haben.

Meine Mutter erzählte munter darüber weiter, wie Robin die Ostsee als großes Meer bezeichnet hatte, aber ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu.

Robin fuhr ohne mich an die See!
 

Die Stufen der Treppe zu meinem Zimmer schienen unendlich steil. Aus meinem Körper war jegliche Kraft verschwunden. Ich ließ mich auf der Hälfte der Treppe nieder und starrte auf die Stufen, die hinter mir lagen.

Warum nur nahm mich die Tatsache, dass Robin mit Satoshi und nicht mit mir an die Küste fuhr, so mit?

Es konnte mir doch eigentlich egal sein. Es war doch kein Wunder, dass Robin lieber mit Satoshi diesen Ausflug machte, und nicht mit mir, jemandem, mit dem ihn nur ein paar flüchtige Augenblicke verbanden.

Und vielleicht war es diese schmerzliche Erkenntnis, die mich so wanken ließ. Das Robin und ich nur in diesen wenigen Augenblicken wirklich miteinander gelebt hatten und dass die Aussicht auf den Ausflug mit ihm an die See, das einzige war, was uns noch etwas zusammenhielt. Das da noch immer meine Frage von unserem ersten Abend am Hafen zwischen uns gelegen hatte, ob er mit mir zusammen nach Rügen an die Küste fährt.

Seine Antwort damals war maybe vielleicht gewesen. Nun war sie ein Nein.

Das bitterste und bedeutungsvollste Nein, was ich jemals bekommen hatte.

Die letzte Verbindung zwischen uns war gerissen.
 

Das Gefühl, was mich am nächsten Morgen nach dem Aufwachen beherrschte war schlimmer, als das Gefühl an dem Morgen nach den Sommerferien.

Es war kurz vor acht Uhr, aber ich wollte nicht aufstehen. Ich wollte nicht nach unten gehen, meine Familie mit Robin über den Ausflug schwadronieren hören und daneben sitzen, wie ein unbeteiligter dritter.

Ich war sowieso schon immer das fünfte Rad am Wagen gewesen, aber jetzt auch noch mitansehen zu müssen, wie ich an einem Wagen, an dem ich schon gehangen hatte, ausgewechselt wurde, war wesentlich grausamer.

Aus dem Erdgeschoss hörte ich bereits emsiges Treiben. Wahrscheinlich deckte meine Mutter gerade den Frühstückstisch, oder bereitete Bentos zu. Kleine Lunchpakete, wie sie Schüler in Japan von ihren Eltern für die Mittagspause bekommen. Und das musste man meiner Mutter lassen. Bentos konnte sie packen wie keine Zweite.

Nachdem ich noch ein paar weitere Minuten hin und her überlegt hatte, wie ich um das Frühstück herum kam, stand ich schließlich auf.

Es führte ja doch kein Weg daran vorbei.

In der Küche erwarteten mich meine gut gelaunten Eltern. Mein Vater las wie immer eine Zeitung, während meine Mutter dem Frühstückstisch durch einen Strauß bunter Herbstblumen den letzten Schliff verlieh.

Ich setzte mich und es dauerte nicht lange, bis Satoshi und Robin die Runde vervollständigten.

Meine Mutter beglückwünschte Robin überschwänglich, mein Vater drückte ihm in bester Männermanier die Hand und ich tat so, als würde ich nicht wissen, dass Robin heute Geburtstag hatte und sagte gar nichts. Ob unhöflich oder kindisch, sicher beides, ich wollte nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt werden.

Wie ich befürchtet hatte, beherrschte der Ausflug das Thema am Tisch. Ich hielt mich heraus, nippte an meinem Organgensaft und beschäftigte mich übertrieben lang damit einen Apfel zu zerschneiden, den ich sowieso nicht essen würde, nur um etwas zu tun zu haben, was mich ablenkte.

Das Frühstück war mir so unendlich lang vorgekommen, dass ich tatsächlich überrascht war, als Satoshi und Robin sich plötzlich verabschiedeten.

Nun sah ich doch auf, aber nur Satoshi warf mir ein fröhliches >bis später< zu. Robin hatte mich gekonnt ignoriert. Touché.

Meine Mutter hatte mich nach meinen Plänen für den Sonntag gefragt, bevor auch ich die Küche verließ, aber ich hatte keine. Ich hatte heute weder Lust auf Gesellschaft, noch auf sonst irgendetwas.

Nur Raik wollte ich noch anrufen, um zu erfahren, was bei dem Gespräch mit seinen Eltern heraus gekommen war. Er erzählte mir später, dass es eine erneute heftige Auseinandersetzung gegeben hatte, die drei sich dann aber an einen Tisch gesetzt und beschlossen hatten, dass sie, im Falle des Einverständnisses des Vermieters, auf mein Angebot eingehen wollten.

Am Montag würden sie mehr wissen.

Es war ein komisches Gefühl, jemandem eine so hohe Summe zu leihen, aber ich war mir sicher, auch wenn ich mit Herrn und Frau Berger nicht so gut konnte, dass ich das richtige tat. Meinen Eltern würde ich jedoch vorerst nichts davon erzählen.
 

Der Tag zog sich hin, wie Kaugummi. Im Fernsehen gab es nur den üblichen Sonntag-Familien-Mist und bei Facebook erwartete mich, außer ein paar neuen Nachrichten von Menschen, die ich eigentlich gar nicht kannte, auch nichts Neues. Und da fiel mir etwas ein. In all der Zeit, in der Robin nun schon bei uns war, war ich noch nie auf den Gedanken gekommen, auf seine Facebook-Seite zu sehen.

Bis jetzt hatte ich es immer für unangebracht gehalten, ihn so auszuspionieren, aber nun überwog die Neugierde doch.

Ich suchte also nach seinem Profil und schon einen Augenblick später öffnete es sich mit einer neuen Seite.

Ich durchstöberte seine Fotogalerien, wobei ich feststellte, dass Satoshi mit den Geschichten über Robin und die Frauen Recht gehabt hatte. Auf jedem dritten Bild war irgendein anderes Mädchen zu sehen. Zudem aber auch Bilder von Partys, von seiner Familie und unzählige von seinen Freunden.

Ein Fotoalbum hieß >Floppy<. Ich öffnete es gespannt und etwa ein Dutzend Bilder von einem braun-weißen Hasen mit Schlappohren erschienen auf dem Bildschirm.

Offenbar war Robin stolzer Besitzer eines Zwergkaninchens mit Namen Floppy, dem er sogar ein ganzes Fotoalbum widmete.

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das war eine Seite an Robin, die ich nicht erahnt hatte.

Nun wollte ich aber auch etwas über das Verhältnis zu seinen Freunden erfahren.

Ich scrollte zu den täglichen Posts und kämpfte mich durch die verschiedenen Beiträge. Zwar war natürlich alles auf Englisch geschrieben, aber trotzdem konnte ich dem Themenverlauf gut folgen.

Einmal ging es um eine Studienarbeit, ein anderes Mal um eine vergangene Party.

Es wunderte mich, dass Robin sein Profil so öffentlich gestaltet hatte, wo er doch auf mich immer einen eher unterkühlten Eindruck gemacht hatte.

Offensichtlich wusste ich gar nichts von ihm.

Ich las gebannt jeden noch so banalen Schriftverkehr und wünschte mir, ein Teil davon zu sein. Ich wäre gern auch so ein guter Freund für Robin geworden, wie all diejenigen, die sich hier so ausgelassen mit ihm austauschten. Hätte ihn auch gern so privat kennengelernt.

Nun, dieses Glück schien mir vergönnt.

Dann, irgendwann, stieß ich auf einen Dialog, der mein reges Interesse weckte. Er ging zwischen Robin und zwei, ich nehme mal an, Kommilitonen von ihm und beinhaltete eine Art Wette. Robins Einsatz waren tatsächlich seine Haare, was mich schockierte, aber auch amüsierte, und der Einsatz seiner Kumpanen war ein Trip nach Las Vegas.

Viel Aufschluss über die Wette boten die Posts nicht, was mich vermuten ließ, dass es nur im privaten Nachrichtenbereich darüber heiß her ging.

Die öffentlichen Posts beinhalteten die Aufforderung, dass Robin mal Ergebnisse zeigen sollte und die Frage danach, wie weit er schon gekommen sei.

Robin hatte nur undurchsichtige Antworten gegeben. Meinte, dass die Aufgabe ziemlich schwierig sei, es zu Komplikationen gekommen war, er aber schon einen Plan hatte.

Ich fragte mich, worum es dort ging. Vielleicht hatte Robin ja gewettet, irgendein Computerprogram in einer bestimmten Zeit zu entwickeln.

Von Satoshi wusste ich, dass sie so etwas in der Uni machen mussten.

Ich las weiter, konnte aber keinen Anhaltspunkt finden. Offenbar war der Inhalt der Wette nicht für fremde Augen bestimmt.

Der letzten Post von Robin war erst heute Morgen geschaltet worden.

>Leute, ich glaube nicht, dass ich das durchziehen kann.<

Dieser Post verwunderte mich. Warum verließ ihn denn plötzlich der Mut?

Und dann, ohne dass ich darüber nachdenken konnte, erschreckte mich das Klingeln meines Handys so sehr, dass mir fast der Laptop von den Knien gerutscht wäre.

Ich suchte hektisch nach meinem Telefon und fand es schließlich in der Tasche der Hose, die ich gestern angehabt und auf dem Boden liegengelassen hatte.

Eine unbekannte Nummer wurde mir angezeigt.

„Ja?“, beantwortete ich den Anruf, doch alles was ich hörte, war ein lautes Rauschen, als wenn jemand im Auto bei geöffnetem Fenster telefonierte.

„Hallo?!“, fragte ich lauter, weil ich annahm, dass mich der- oder diejenige am anderen Ende der Leitung genauso wenig verstand.

„Yun?!“, hörte ich jetzt endlich eine undeutliche Stimme.

„Wer ist denn da?“

„Hi… …st …bin.“

„Ich versteh kein Wort.“

„Hier ..st …obin.“

Obin? Robin?! War das Robin am Telefon? Ich erkannte seine Stimme kaum. Warum rief er mich an?

„…omm z… ir…, Y…n!“

„Was?“

Oh bitte, such´ dir eine Stelle, wo du besseren Empfang hast, oder geh aus dem Wind. Der Gedanke musste sich übertragen haben, denn plötzlich verstand ich Robin deutlich besser.

„Ist es jetzt bess-er?“, fragte er und klang merkwürdig beschwingt.

„Ja“, antwortete ich, noch immer verwundert darüber, dass er mich anrief. „Was ist denn?“

„Ko-omm zu mir, Yu-n.“

„Wie bitte?“ Ich war perplex. Hatte ich ihn richtig verstanden?

„Komm zu mir, Yun.“

Ja, es war ganz deutlich. Ich hielt die Luft an.

„Wo bist du denn?“

„Na am Meer!“, rief Robin lachend aus.

Hat er getrunken?, dachte ich bei mir, denn seine Bitte war absurd.

„Robin, du bist etwa fünfzig Kilometer weit weg. Und auch wenn ich zehn Red Bull trinke, verleiht mir das trotzdem keine Flügel.“

Stille. War die Verbindung unterbrochen? Nein, ich hörte ganz deutlich das Wellenrauschen im Hintergrund.

„Robin?“

„Es ist mein Geburtstag“, hörte ich nun wieder seine Stimme, die plötzlich traurig klang. „Komm her und sie es dir mit mir zusammen an. Mehr wünsch ich mir nicht.“

„Aber Robin…“

„… ich bitte dich, Yun. Komm zu mir.“

Ach verflucht! Es war ja doch nur wieder ein Brotkrumen. Sei nicht dumm, versuchte ich mich selbst zu überzeugen, aber wie es meist so ist, die eigene Dummheit erkennt man selten.

„Ich werd ne Weile brauchen“, gab ich schließlich nach.

„Kein Problem“, kam die Antwort, schon deutlich kräftiger. „Ich warte auf dich.“

Mit diesem Telefonat hatte also auch die Freude, die mit dem Leid einhergeht, ihren Bestimmungsort erreicht. Ich wusste nicht, dass sie mich getroffen hatte, aber hätte ich gewusst, dass sie nur von kurzer Dauer war, und was mich danach erwarten sollte, wäre ich nicht zwanzig Minuten später in den Zug nach Sassnitz gestiegen.
 

Ich hatte mir im Internet den Zugfahrplan angesehen und wie der Zufall so wollte, hatte ich den nächsten Zug noch erreichen können.

Nun ratterte die Regio über die Gleise Richtung Sassnitz und je näher ich meinem Ziel kam, desto stärker brannte sich die Frage in meinen Kopf ein, was ich mir eigentlich von meinem unüberlegten Handeln erhoffte.

Es war total schwachsinnig, dessen war ich mir bewusst. Was hatte mich nur dazu bewogen, wie ein braves Hündchen Robins Aufruf zu folgen? Es war sicher nicht nur die Bitte eines Geburtstagskindes gewesen, soviel gestand ich mir ein. In mir war das kleine Stück Hoffnung aufgekeimt, ihm doch nicht so fremd geworden zu sein, wie ich befürchtet hatte. Und da war noch etwas. Ein Gefühl tief in mir, das mich zu ihm zog. Ein Gefühl, das ganz sicher da war, sich aber von mir nicht greifen lassen wollte. Noch nicht.

Und was bezweckte Robin eigentlich mit seiner Bitte?

Satoshi und er hätten mich doch gleich am Morgen mitnehmen können. Was also hatte Robins Meinung so plötzlich geändert?

Vielleicht hatte er sich doch an meine Frage erinnert und hatte jetzt ein schlechtes Gewissen. Allerdings schätzte ich ihn so nicht unbedingt ein. Er hatte auf mich nie einen reumütigen Eindruck gemacht.

Ich beschloss, die Ereignisse einfach auf mich zukommen zu lassen. Mehr konnte ich auch nicht tun. Es half nichts, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was in Robins Kopf so vor sich ging. Das hatte ich oft genug probiert und war dabei nie auf einen gemeinsamen Nenner gestoßen.
 

Pünktlich um vierzehn Uhr fünfzehn erreichte der Zug den Bahnhof von Sassnitz.

Ich war Hals über Kopf hierhergekommen, nur wusste ich nun leider nicht, wo ich überhaupt hin musste. Gerade als ich Satoshi anrufen wollte, hörte ich plötzlich dessen Stimme, die nach mir rief.

Ich schaute mich um, und sah ihn schon auf mich zukommen.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich überrascht.

„Dich abholen“, antwortete Satoshi und lächelte.

Ich verließ mit ihm den Bahnhof und wir stiegen in sein Auto, welches er auf dem Parkplatz abgestellt hatte.

„Sorry, für diese Hauruck-Aktion“, sagte Satoshi schließlich, als wir die Hauptstraße bergauf entlangfuhren. Auf der rechten Seite konnte ich die Ostsee sehen.

Sassnitz lag ebenerdig, wo sich der Stadthafen befand, erstreckte sich dann aber in höhere Gelage, wo die Klippen der Kreidefelsen die Stadt trugen.

„Hätte ich gewusst, wie sich alles entwickelt“, fuhr Satoshi fort, „hätte ich dich gleich heute Morgen mitgenommen.“

„Wie meinst du das?“ Ich war verwirrt. Offensichtlich hatte jeder einen Plan von der ganzen Situation, außer mir.

Satoshi atmete tief durch. Er sah ernst aus und jedes seiner weiteren Worte schienen sehr gut überlegt.

„Yun… ich weiß, wir haben unsere Differenzen, aber ich bin sicher, du weißt auch, dass ich dir nie etwas Böses wollte, oder will. Ich bin sicher, dass du deinen Weg gehen wirst und egal welcher das auch sein mag, ich werde dich dabei unterstützen. Okay?“

„Warum sagst du das?“ Nun war ich noch verwirrter als vorher.

Satoshi lächelte mir zu.

„Manchmal gibt es Dinge“, sagte er, „die sind für jedermann offensichtlich, nur nicht für einen selbst. Der eine braucht Zeit, um sie zu erkennen, der andere einen kleinen Schubs in die richtige Richtung. Und manch einer braucht eben beides.“

„Und ich bin so ein jemand?“

„Ich denke schon.“

Daraus wurde ich auch nicht schlauer.

Wir bogen nach rechts in eine kleine Straße ein, an deren Ende ein von Holzpfählen umrandeter Parkplatz lag. Dahinter ruhte schweigend die blaue See, deren seichte Wellen sanft miteinander rangen.

Satoshi parkte das Auto unweit eines kleinen Abstiegs, der zum Fuß der Kreideküste führte.

Ich stieg aus und die salzige Seeluft pfiff mir um die Nase. Der Wind war wesentlich rauer als auf dem Festland, doch trotz der Jahreszeit, hatte sich die Sonne an diesem Tag noch einmal richtig ins Zeug gelegt. Es war frisch, aber nicht kalt und so genoss ich die ersten Sekunden am Rande von Rügen und hätte darüber beinahe vergessen, warum ich eigentlich hier war.

Satoshi stieg zu meinem Erstaunen nicht aus. Er ließ die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite herunter und beugte sich zu mir.

„Robin muss da unten irgendwo sein“, sagte er und deutete mit der Hand in Richtung Abstieg.

Ich blickte hinüber und eine senkrechte Falte bildete sich auf meiner Stirn.

„Kommst du nicht mit?“, fragte ich.

„Nein“, antwortete er.

„Was machst du dann?“, wollte ich wissen, aber als er mir nur ein schweigendes Lächeln schenkte, wusste ich es. „Du schubst mich.“

Ich erwartete keine Antwort von ihm.

Die Gefühle in meiner Brust kämpften unkontrolliert miteinander. Da war die Wut darüber, dass man mich so vorführte, aber auch Dankbarkeit dafür, dass ich gedrängt wurde. Die Nervosität vor dem, was mich erwartete und die Unsicherheit darüber, was ich tun sollte. Und mit jeder Stufe, die ich von dem Abstieg zu dem steinigen Strand nahm, kristallisierte sich ein Gefühl doch ganz deutlich heraus. Angst.

Ich hatte für einen Moment wirklich überlegt, ob ich nicht einfach umkehren und das Alles hinter mir lassen sollte.

Aber was gab mir die Sicherheit, dass Satoshi nicht oben auf mich wartete und mich wieder zurückschickte? Zugetraut hätte ich es ihm.

Ich war nicht umgekehrt, hatte die letzten Stufen mutig genommen und stand nun am Fuß der Küste, wo sich die Felsen aus weißer Kreide senkrecht nach oben reckten.

Der schmale Uferabschnitt, den man hier nur teilweise begehen konnte, war übersäht mit Treibgut, kleineren Steinen und groben Felsen, die im Laufe der Jahrhunderte ans Ufer gespült, oder aus der Felsenwand gewaschen worden waren. Nur vereinzelt waren Urlauber zu sehen, die vielleicht zwischen den Steinen nach Hühnergöttern, oder Donnerkeilen suchten.

Ein Stück weiter die Küste entlang, dort, wo die Kreidefelsen bis hinein in die Ostsee ragten, hatte das Wasser die Farbe von dunklem Weiß angenommen und an manchen Stellen ließ sich erkennen, dass kleine Teile der Küste, vom Regen unterspült, abgerutscht waren.

Trotz dessen ich so nah an der Insel wohnte, hatte ich die Schönheit der Kreideküste völlig vergessen. Wie gebannt sah ich zu den Villen hinauf, die vereinzelt an den die Klippen heranragten, dass man Angst haben musste, sie würden beim kleinsten Sturm herunterrutschen.

Büsche und kleine Bäume wuchsen aus der Kreide hervor, als hätte sie jemand zu Dekorationszwecken dorthin gestellt und ein kleiner, milchiger Rinnsal floss unbeirrt von den Klippen bis zum Ufer hinunter.

Eine kühle Böh trug den Ruf meines Namens ein mein Ohr und holte mich in den Moment von meiner Ankunft zurück.

Ich sah mich um und entdeckte Robin, der sich etwa zehn Meter entfernt über das steinige Ufer zu mir bewegte.

Mein Gefühlschaos hatte mich wieder, wenn auch nicht so habgierig, wie noch vor ein paar Minuten. Die See hatte mich beruhigt.

Was auch immer nun kommen mochte, ich würde es durchstehen.

Ich traute mich sogar, Robin ein paar Schritte entgegen zu gehen.

Der Wind hatte seinen Haarschopf ordentlich durcheinander gebracht und obwohl er ziemlich wetterfest angezogen war, konnte ich deutlich sehen, dass er fror. Solch raue Witterungsverhältnisse war jemand aus Arizona eben einfach nicht gewöhnt. Mir verlangte sein Anblick ein Schmunzeln ab.

„Ziemlich frisch“, rief ich ihm entgegen, kurz bevor wir aufeinander trafen. Es war eine unverfängliche Begrüßung und er ging darauf ein.

„Ist mir gar nicht aufgefallen“, witzelte er und zog seine Jacke etwas fester um sich. Ich musste lachen.

Da waren wir nun. Zwei junge Menschen, die sich so viel und eigentlich doch gar nichts mehr sagen mussten.

Ich ging ein Stück auf das Wasser zu, bis die Gischt meine Füße berührte und ließ meinen Blick über den Horizont gleiten.

Segelbote in der Ferne, klein wie Spielzeuge, deren Segel das Sonnenlicht reflektierten, sahen vor dem dunklen Hintergrund aus, wie kleine Kieselsteine. Als hätte man sie an einem Fanden aufgereiht und über das Wasser gespannt. Es war ein wunderschöner Anblick.

„Hast du es dir so vorgestellt?“, fragte ich in die Stille.

„So wie es jetzt ist, schon“, kam Robins ehrliche Antwort.

„Du meinst jetzt, wo ich hier bin“, sagte ich, ohne meinen Blick vom Horizont abzuwenden.

Ich hörte die Steine unter Robins Füßen knirschen, als er näher kam und spürte, dass kaum mehr ein Blatt Papier zwischen uns gepasst hätte, als er hinter mir stehen blieb.

„Ich war ein Idiot, Yun.“ Ich hörte echtes Bedauern in Robins Stimme, die nun so dicht an meinem Ohr war, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Wange fühlte und eine angenehme Spannung durchzog mich von Kopf bis Fuß.

„Ich bin an die Sache ganz falsch ran gegangen“, fügte Robin hinzu.

„An welche Sache?“, fragte ich leicht zögernd und atmete tief ein.

Sag es, flehte ich innerlich, denn ich habe nicht den Mut dazu. Sprich aus, was mich seit dem Tag unserer ersten Begegnung beschäftigt, damit ich mir sicher sein kann, dass ich nicht verrückt bin, dass ich nicht unter Wahnvorstellungen leide. Sag es damit ich weiß, warum ich so gelitten habe, wenn ich dich mit anderen Frauen gesehen habe. Sag es!

„An die Sache… mit uns.“

Oh Gott sei Dank. Die Luft löste sich aus meinen Lungen, wie eine Klette, die meine Seele umklammert gehalten hatte.

Langsam wandte ich mich zu ihm um, aber es erwartete mich nicht das sanfte Lächeln, das ich mir erhofft hatte. Vielmehr spiegelte sich Verzweiflung in Robins Augen.

„Wieso siehst du mich so an?“, fragte ich verunsichert. Hatte ich mich gerade zum Idioten gemacht, mit meiner kindischen Hoffnung?

Robin trat einen Schritt zurück und brachte so ein kleines Stück Distanz zwischen uns.

„Da ist…“, setzte Robin an, doch ich beendete seinen Satz.

„… gar nichts zwischen uns.“ In meiner Kehle brannte es, wie Feuer. Wie hatte ich nur so naiv sein können?

„Yun…“, Robins Stimme klang weich in meinen Ohren. „Da ist etwas zwischen uns.“

Ich blickte auf und wusste, dass nicht der Wind schuld an meinen feuchten Augen war.

„Aber was ist es dann?“, fragte ich leise.

„Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss. Warum ich hier bin.“

„Ich dachte, wegen mir.“ Meine Stimme bebte.

„Ich meine nicht hier, in diesem Moment. Ich meine in Deutschland.“

Jetzt verstand ich gar nichts mehr.

„Was soll das heißen, warum du in Deutschland bist?“ Wut stieg in mir auf.

„Ich bin hier hergekommen, zu dir, weil du mich darum gebeten hast. Weil ich dachte, dass sich zwischen uns einiges klärt. Weil ich dachte, dass du dich doch an unseren ersten Abend erinnert hast, verdammt noch mal! Was interessiert mich denn, warum du in Deutschland bist!“

„Weil es wichtig ist!“, schrie er mich an.

Ich zuckte zusammen.

„Es tut mir Leid…“

„Nein, Robin“, und jetzt schluchzte ich tatsächlich. „Ich will nichts von dir hören, außer einer Sache, denn ich halte dieses Hin und Her einfach nicht mehr aus. Das einzige, was mich interessiert ist: Magst du mich, oder nicht?“

„Viel zu sehr“, hörte ich seine ehrliche Antwort. „Aber…“

Nein, kein Aber. Gar nichts mehr. Ich mag dich nämlich auch viel zu sehr, du Dummkopf. Merkst du das denn nicht?

Und mit diesen Gedanken überwand ich die Distanz, die Robin zwischen uns gebracht hatte, legte meine Hände an seine kühlen Wangen und bettete vorsichtig meine Lippen auf seinen Mund.

Ich konnte spüren, wie er sich anspannte, merkte deutlich, wie seine Hände an meinen Armen einen kläglichen Versuch unternahmen, mich abzuwehren, aber ich ließ es nicht zu. Und Robin schließlich auch nicht. Ganz sanft erwiderte er meinen Kuss. Seine Hände schlossen sich in meinem Rücken und pressten mich an ihn, als würde ich verschwinden, wenn er mich losließ.

Dieses Gefühl also nennt man pures Glück. Es ist befreiend, aufregend und unglaublich ergreifend zu gleich. Ich wünschte mir zutiefst, dieses Gefühl nie zu verlieren. Ich würde es bestimmt nicht wiederfinden und was sollte das Leben dann noch lebenswert machen? Wenn es wirklich, irgendwo im Universum, eine höhere Macht gab, möge sie bitte die Zeit anhalten, damit ich mich von diesem Glück laben kann, denn irgendwann fand alles ein Ende.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  tenshi_90
2014-05-29T07:19:27+00:00 29.05.2014 09:19
Das is so herrlich romantisch :)


Zurück