Zum Inhalt der Seite

Rübenfürst und Möhrenkönig

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Hohle Nüsse

XIX. Hohle Nüsse
 

Und noch eine… und noch eine… Jason zählte akribisch die fertiggestellten Flaschen, die er eine nach der anderen in die Kartons lud, die Ragnar ihm netterweise überlassen hatte. Beeindruckend viele waren es nicht, aber irgendwie war es ihm ein Bedürfnis, zumindest diese erste Fuhre so herzurichten, als gingen sie wirklich in den Vertrieb. Doch das würde noch dauern. Die Qualitätsprüfung lief noch, hoffentlich ging da alles glatt, dann musste er sich um die Vermarktung kümmern und genug in peto haben, um liefern zu können. Seufzend musterte er sein Werk. So viel Arbeit… so wenig Produkt. Mochte viel aussehen, war es aber nicht. Wenn er da daran dachte, was die Fertigungsanlagen seiner Eltern in derselben Zeit aushusteten… Aber das hier war echte Handarbeit. Seine Handarbeit. Sein Werk. Ob es Ragnar genauso ging mit seinen Möhren? Wahrscheinlich. Letztlich war es wohl egal, was man fabrizierte, Hauptsache, man tat es eben. Wahrscheinlich war auch ein afghanischer Mohnbauer stolz auf sein Werk und identifizierte sich irgendwie damit. Aber er war kein afghanischer Mohnbauer, sondern ein deutscher Rübenschnapsbrenner, der eventuell auf der Abschussliste der Anonymen Alkoholiker stehen mochte, aber nicht auf der Ächtungsliste der Uno. Immerhin.
 

Er stemmte die Hände in die Seiten und reckte sich. Er kam voran. Aber blöderweise hielt die Zeit auch nicht still. Warum nur hatten seine Eltern ihn nicht in die Tropen abschieben können, wo einem nicht der Winter im Nacken saß? Oder schon der Herbst mit seinem Regen… Aber da saßen einem dann Vogelspinnen und Tropenkrankheiten im Nacken, auch nicht schön… und Zuckerrohrschnaps gab es ja schon. Er war hier, und er packte es an, genau. Eigentlich konnten sie sich nicht beschweren, er weicheite hier nun wirklich nicht vor sich hin. Es musste nur noch alles klappen, also weitergemacht! Und bloß keine Schlappheiten!
 

„Jason?“ holte ihn irgendwann später eine Stimme wieder auf den Teppich. Er schüttelte etwas benommen den Kopf und stellte die gerade fertiggestellte Flasche zur Seite. Ragnar stand gerade mal zwei Meter von ihm entfernt von ihm unter dem im Standby blinkenden Feuermelder, den er hatte installieren lassen, um zumindest so halbwegs den Richtlinien zu entsprechen, das schöne Geld. Er hatte ihn gar nicht kommen gehört. Ragnar trug Jeans und ein schlichtes blaues T-Shirt, seine übliche Feierabendtracht.
 

„Was denn?“ fragte er ihn etwas konfus aus seiner Tätigkeit gerissen.
 

„Es ist fast halb neun – meinst du nicht, dass es für heute reicht?“ fragte Ragnar und musterte interessiert die von ihm entlang der Wand gestapelten Kisten.
 

„Oh“, erwiderte Jason etwas überrascht. „Echt? Oh…“
 

„Sieht doch schon gut aus“, lobte Ragnar und spazierte an den deprimierend wenigen Kartons entlang.
 

„Ach ja“, seufzte Jason. „Ist schon einiges. Aber ob das langen wird…? Man kann nichts verkaufen, das man nicht hat. Verknapptes Angebot kann zwar manchmal von Vorteil sein, aber bei einer Marktetablierung… wir bringen ja keine neue Birkin-Bag auf den Markt.“
 

„Birkin…? Ich kenne nur Birken-Sandalen...“, kommentierte Ragnar. „Sind echt bequem…“, ärgerte er ihn ein bisschen.
 

„Verschone mich bloß!“ wehrte Jason und ließ sich auf eine umgedrehte leere Möhrenkiste fallen. „Damit köderst du mich nicht. Auch „praktisch“ hat seine Grenzen. Und ich habe dich bisher auch noch nie mit diesem eleganten Schuhwerk über die Äcker hopsen sehen!“
 

„Okay… ich gestehe, die sind mir auch zu hart. Außerdem hopse ich auch nicht über die Äcker“, stellte Ragnar klar, zog eine der Flaschen aus einem offenen Karton und drehte sie langsam zwischen den Fingern.
 

„Okay… dann war das heute Morgen wohl doch einen hessischer Riesenhase, der dir deine Klamotten von der Leine geklaut hat“, gab Jason zu.
 

„Ich hatte einen Stein im Schuh!“ rechtfertigte sich Ragnar, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht ganz verkneifen. „Sieht echt gut aus“, pries er die Flasche. „Sehr professionell – da ahnt man echt nicht, wo’s herkommt…“
 

„Gott bewahre! Das darf echt keiner rauskriegen!“ stöhnte Jason. „Ansonsten saufen die das Zeug nur, um den Schluckauf wieder loszuwerden, den sie sich beim Lachen über mich hier zugezogen haben!“
 

„Wäre doch auch eine Verkaufsstrategie… und auch äußerst günstig“, legte Ragnar ihm freudig nahe.
 

„Pffft!“ grummelte Jason nur und streckte die müden Beine von sich.
 

„Aber ehrlich, Jason“, wurde Ragnar wieder ernst. „Übertreib es nicht bei allem Elan. Denk an das, das mir passiert ist. Es gibt auch ein „zu viel“. Ich weiß, dass man sich da richtig rein steigern kann, und dann ist es auch das Allergrößte, aber… pass auf, okay? Vielleicht sehe ich da auch Gespenster, du machst das schließlich nicht seit Jahren so wie ich damals… aber wenn ich das so mitkriege, da bin ich dann vielleicht etwas übervorsichtig?“
 

„Äh… danke“, murmelte Jason. „Soll ja echt nicht der Dauerzustand sein. Aber… ich muss das ja hinbekommen. Und es gibt so irre viel zu tun. Solange ich es mache… ist es schon gut. Und am Wochenende ist Pause. Versprochen…“
 

Ragnar verzog irgendwie merkwürdig das Gesicht und schlug die Augen nieder. „Okay…“, erwiderte er nur leise, dann stellte er die Flasche wieder ab und wünschte ihm noch einen guten Abend.
 

Jason blieb auf seiner Kiste sitzen. Guter Abend… tja, das hieß Waschen, Mikrowellenmampf, ein paar Hausarbeiten, vielleicht noch ein wenig seinen Krimi lesen und dann ab in die Heia lange vor Mitternacht. So toll war das nicht. Aber eventuell hatte Ragnar Recht, vielleicht brauchte er wirklich einen Ausgleich. Ihm fiel da auch prompt etwas ein, aber das wollte ja bis Freitagabend nicht. Ach, dieser Blödmann. Erst gab der ihm gute Ratschläge, dann drehte er das Schloss an seinem hirnverbrannten Keuschheitsgürtel noch einmal um. Nicht dass ihm jetzt gerade der Sinn nach wilder Akrobatik gestanden hätte, aber der Appetit kam ja zuweilen beim Essen. Und es konnte ja auch so ziemlich erfreulich sein. Er hätte nichts dagegen gehabt, die harmlose Bergwiese zu geben, über die der Vulkan gnadenlos hinweg explodierte. Außerdem war Ragnars Bett bequemer als seins.
 

………………………………………………….
 

Der Donnerstag brachte einen lauen Spätsommerabend. Die Tür zur Terrasse stand offen, Ragnar lümmelte auf seiner Couch, knabberte Bananenchips, die er heiß und innig liebte, und genoss ein paar Feierabend-Muppet Show-Folgen. Seine Eltern und er hatten die Sendung in seiner Kindheit immer gemeinsam gesehen. Mittlerweile hatte er auch keine panische Angst mehr vor dem die Nachrichten verlesenden Kahlkopfadler mit den dicken Augenbrauen. Aktuell tanzte ein paar Hühner Cancan, während Fozzi-Bär sang. Er giggelte vergnügt in sich hinein. Es war fast wie früher, aber statt seiner Familie war nur noch die Erinnerung da. So war das eben. Aber dennoch konnte man die schönen Seiten der Vergangenheit ja ab und an mal aufleben lassen, ohne davon gleich schwermütig werden zu müssen. Und wer wurde schon schwermütig von der Muppet Show? Eben.
 

Miss Piggy war gerade damit beschäftigt, Kermit den Frosch mit einem Boxhieb von der Bühne zu putzen, als draußen ein Geräusch erklang. Zunächst gelang es ihm, es halbwegs zu ignorieren, dann gewann es langsam nervtötende Qualität. Er rappelte sich hoch und trat durch die Tür in den Garten. Im späten Licht entdeckte er Jason jenseits des Zauns, wie er mit einem Gerät, das sich nach kurzem Grübeln als völlig antiquierter mechanischer Rasenmäher entpuppte, herumfuhrwerkte. Er seufzte und trat hinüber an den Zaun.
 

„Jason… was treibst du da?“ fragte er so ruhig wie möglich.
 

„Ich…“, murmelte Jason und spähte etwas vage zu ihm hinüber, „wollte mal schauen, ob es noch funktioniert… Der Garten sieht echt scheiße aus und mir war noch danach. Aber ich glaube, die Schneiden haben es hinter sich…“
 

Ragnar nickte betont und meinte: „Wäre zu vermuten. Das Ding lag jahrzehntelang rum. Qualitätsprodukt hin oder her – aber die Garantie dürfte abgelaufen sein. Genauso wie die Lebensdauer.“
 

„Ja, vermutlich“, gestand Jason etwas zerknirscht und musterte etwas trauernd das Gerät.
 

„Ich würde dir ja meinen Rasenmäher anbieten – aber diese Wildnis überlebt der auch nicht. Wahrscheinlich müsste man erst ein paar Bäume umhauen und dann mit einer Sense durch, aber… Jason, das… du willst hier doch nicht die Bundesgartenshow abhalten? Mach das lieber im Frühling, da ist es viel leichter. Und… warum machst du es dir nicht einfach gemütlich zum Feierabend?“ fragte er.
 

Jason starrte ihn an, dann seufzte er tief durch. „Ich versuche nur“, meinte er, „was du gesagt hast. Ausgleich, genau. Da dachte ich… vielleicht ist gärtnern ja gut?“
 

„Du hast doch den ganzen Tag geschuftet!“ widersprach ihm Ragnar über den Zaun hinweg. „Hau dich doch auf die Couch und… äh…“, unterbrach er sich, als er seinen Denkfehler bemerkte.
 

„Genau“, nickte Jason düster. „Was ein würdiges Entspannungsprogramm angeht, tun sich hier so ein paar Probleme auf. Inzwischen fange ich wohl an, ein wenig abzuhärten und falle nicht so früh ins Bett wie bisher. Vielleicht zehn Minuten später… nun ja. Leider kenne ich mich null damit aus, wie man sich ohne Kohle und… einige andere Dinge… entspannt. Ich musste mich ja auch noch nie entspannen. Höchstens von der letzten Party. Aber das war irgendwie seltsamerweise ganz anders. Ich Dummkopf habe einfach vergessen bei Abfahrt in Hamburg meinen Jacuzzi und mein Heimkino einzupacken. Oh… nein, das lag wohl daran, dass die nicht ins Auto gepasst haben und leider auch nicht auf der Liste der Dinge standen, die ich mitnehmen durfte. Wie auch immer… ich versuche es. Lesen ist schon ganz okay, aber das kann’s doch auch nicht sein…“
 

„Wieso?“ fragte Ragnar. „Lesen ist doch ganz nett. Was liest du denn?“
 

„So einen Krimi über so einen Forensiker, der auf einer einsamen Insel festhängt, während dort einer nach dem anderen abgeschlachtet wird… Aber lesen ist irgendwie ein wenig wie… vollgequatscht zu werden, ohne antworten zu können. Manchmal auch ganz okay, aber den ganzen Abend…“, erklärte Jason und tippte ein wenig traurig mit der Fußspitze gegen den ruinösen Mäher.
 

Ragnar musterte ihn. „Du langweilst dich“, stellte er fest.
 

„Du dich nicht?“ wunderte sich Jason. „Du hängst hier doch auch ewig und einst alleine rum.“
 

„Ich habe Hobbys… das Zeichnen, das Bauen am Haus, Filme… und ich bin nicht so der Gesellschafts-Mensch. Dein Party-Kram… das wäre echt gar nichts für mich gewesen“, meinte Ragnar kopfschüttelnd.
 

„Muss ja nicht… aber immer so allein…?“ zweifelte Jason aufrichtig.
 

Ragnar lächelte ein wenig schief. „Man kann auch unter vielen Menschen einsam sein. Was ist denn mit deinen… Freunden? Den Leuten, mit denen du sonst immer gefeiert hast?“
 

Jason zuckte mit den Schultern. „Was die angeht… wenn man weg ist, ist man weg. Aus den Augen, aus dem Sinn, so funktioniert das da. Das wundert mich nicht die Spur. Wenn ich wieder auftauche, gibt es ein großes Hallo, aber solange nicht… dann eben nicht. Ist ja nicht so, als würde ich das anders halten.“
 

„Und du erzähle mir noch etwas über Einsamkeit“, spottete Ragnar. „Ich kann gar nicht glauben, dass… dass du echt so… so oberflächlich bist…“
 

Jason lächelte leicht. „Nicht ich. Aber das Leben, das ich lebe. Das ist der Preis, das sind die Spielregeln. Damit muss man leben. Man kann sich immer einreden, dass der Rasen in Nachbars Garten grüner ist – in unserem Falle stimmt das gerade allerdings wortwörtlich – aber letztlich ist er’s nicht. Ich habe so viele Dummschwätzer erlebt, die auf Tiefgang pochten – aber letztendlich waren sie hohle Nüsse, ganz wie der Rest. Nur verlogener. Da kann man wenigstens konsequent sein und nicht so tun als ob.“
 

„Du… du bist also eine hohle Nuss, weil du denkst, mehr gäbe es sowieso nicht und alle anderen würden sich nur etwas vor machen?“ stotterte Ragnar verdattert.
 

„Oh, als hohle Nuss kann man viel Spaß haben. Wahrscheinlich nur als hohle Nuss. Und das ist definitiv besser als darüber zu jammern, wie scheiße das Leben ist. Das meinte ich neulich… Und… ich will gar nicht ausschließen, dass es durchaus auch mehr gibt. Aber das ist so selten, da kannst du ein Pfefferkorn in der Sahara suchen gehen. Ich kenne so viele Leute, die hach-so-wichtig sind. Aber wer hat mich hierher verfrachtet? Meine Eltern“, erläuterte er.
 

„Äh… ja? Weil… weil du wahrscheinlich das Unternehmen…“, versuchte Ragnar zusammen zu fassen.
 

Jason lächelte nur. Er lächelte, er grinste nicht, und war so wirklich Jason. „Sicher, das auch“, sagte er. „Aber das ist nicht der springende Punkt, warum sie mich so übel erpressen und warum ich diesen ganzen Budenzauber hier mache, statt sie zu verklagen. Sie haben sich mein ganzes Leben lang den Arsch aufgerissen, damit es mir gut geht, haben mir sonst was ermöglicht und nachgesehen – rate mal, warum? Und jetzt treten sie mich in den Arsch, damit ich endlich mal in die Gänge komme und eben nicht bloß eine hohle Nuss bin, weil sie’s eben nicht glauben, dass ich das bin – rate mal warum?“
 

„Öhm… weil sie dich lieben?“ traf Ragnar ins Schwarze.
 

„Genau“, bestätigte Jason. „Sie sind das Pfefferkorn. Aber… ich weiß nicht, ob sie Recht haben. Ich glaube es nicht. Aber das hier… das tue ich auch deshalb, weil sie es eben glauben müssen, damit es ihnen gut geht. Vielleicht befördern sie mich wirklich vor die Tür, wenn ich das hier vermassele. Aber… ich kenne meine Eltern. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass sie mich wirklich in die Gosse treten würden. Firma ade, vielleicht – vielleicht wäre das auch besser so für die Firma, aber das Hungertuch… eher nicht. Aus denselben Gründen, wie das hier. Sie glauben wirklich, dass ich das kann, wenn ich wirklich muss. Und ich muss das können, für sie, aber auch um endlich wieder eine hohle Nuss sein zu können!“
 

„Äh…“, merkte Ragnar an. „Ist das nicht ein Widerspruch? Sie wollen doch gerade, wenn ich dich Recht verstanden habe, dass du keine hohle Nuss mehr bist!“
 

„Für sie – nicht. Für den Rest der Welt, die für mich auch nur hohle Nüsse sind – mit hohem Unterhaltungswert – schon“, erklärte Jason und stützte sich gemütlich auf seinem Mäher ab.
 

„Und was ist mit mir?“ wollte Ragnar wissen und legte seine Finger in das Muster des verbogenen Maschendrahtzauns. „Bin ich demnach auch eine hohle Nuss?“
 

Jason lachte leise. „Ja… und nein. Jeder ist eine hohle Nuss irgendwie – du auch. Aber du… du bist schon ganz schön merkwürdig mit deinem Eremitendasein jenseits des hohle Nussiversums… Wahrscheinlich bist du eher wie eine Walnuss. Die sehen leer gefressen und wieder zusammen geklebt genauso aus wie mit Füllung. Keine Ahnung. Ist wahrscheinlich eine Frage der Einstellung. Fühlst du dich wie eine hohle Nuss?“
 

„Mmm“, grübelte Ragnar leicht beleidigt, „eigentlich nicht. Und wenn, dann bin ich meine eigene hohle Nuss. Vielleicht sitze ich drinnen in meiner Nuss, und es geht mir bestens. Ging’s mir immer. Naja, meist. Dazu habe ich nie andere Nüsse gebraucht!“
 

Jason beäugte ihn äußerst kritisch. „Bis auf die Augenblicke, in der die völlig hohle Nuss in dir die Sau raus lassen wollte…?“
 

„Ja! Aber so ist die Natur…“, grummelte Ragnar erwischt.
 

„Meine Rede… hohle Nüsse haben Spaß auch mit vollen Nüssen“, lachte Jason. „Oh… entschuldige… ist ja noch Donnerstag. Und… was ist denn eigentlich mit deinen Eltern…?“
 

„Wie meinst du das?“ fragte Ragnar alarmiert.
 

„Hast du dich da auch nie blicken lassen, weil du in deiner Walnuss solo-Party gefeiert hast?“ bohrte Jason gnadenlos.
 

„Nein! Nein…“, entfuhr Ragnar. „Ich… wir… wir… standen uns sehr nahe… und…“
 

„Verstehe“, unterbrach ihn Jason fast sanft. „Vielleicht ist das bei Eltern und Kindern leichter. Nicht immer. Das Pfefferkorn meine ich...“
 

„Ja, wahrscheinlich“, murmelte Ragnar erleichtert, dass Jason so elegant den Kurs gewechselt hatte. Warum… redete er eigentlich mit ihm darüber? Er hatte nie mit jemandem darüber geredet, nicht wirklich, außer mit seiner Psychiaterin, aber das war etwas Professionelles gewesen. „Früher…“, sagte er langsam, „habe ich es bedauert. Schwul zu sein, meine ich. Nicht wegen… sondern wegen der Kindersache. Ich hätte gerne welche gehabt. Aber man kann eben nicht alles haben.“
 

„Man kann doch trotzdem Kinder haben“, wunderte sich Jason. „Okay… ist schwieriger… aber nicht unmöglich. Wenn du partout willst…?“
 

„Ich will nicht „partout“. Ist schon okay so. Ist eben nur schade. Vielleicht wegen deiner Pfefferkorn-Theorie. Das haut einem eventuell auf Synapsen, die nicht zum hohle Nuss-Sein passen. Und… deine Weltsicht in allen Ehren – wie kann man aufgrund von Pessimismus nur so optimistisch sein?! – vielleicht ist es dennoch nicht so. Vielleicht hast du dich da bloß verrannt? Ich meine… es gibt doch noch andere Sachen, oder? Loyalität! Mitleid! Freundschaft! Oder so… Oder denkst du, das ist alles nur Betrug?“ wollte er wissen.
 

„Musst du gerade sagen“, erwiderte Jason nicht unfreundlich. „Warum hängst du dann hier so einsam rum, wenn das alles da draußen wartet? Nein… vielleicht gibt es das. Vielleicht hatte ich da bisher nur Pech – und vielleicht bin ich da selbst auch nicht unschuldig dran. Aber, ganz ehrlich, da bist wohl eher du der Optimist. Ich bewege mich mein Leben lang unter Menschen, vielen Menschen, war immer gesellig, bin viel herum gekommen. Aber das, was du meinst, ist selten. So selten, dass fast nicht existent. Die meisten bilden es sich nur ein, um dann bei der ersten Versuchung zu versagen. Und dann ist das Geschrei groß. Das ist erbärmlich. Aber… ich war mal auf Malta, so eine Yachttour durchs Mittelmeer… wir waren Essen abends, so eine Spelunke in Valetta mit urtümlichem Charme, um mit der „Kultur“ auf Tuchfühlung zu gehen und ordentlich zu prassen… da saßen so zwei in der Ecke. Eine Oma und ein Opa. Ich war ziemlich breit und habe mich zu ihnen gesetzt, sie vollgequatscht, aber sie fanden das wohl lustig und haben mitgemacht. Sie feierten gerade ihren fünfzigsten Hochzeitstag. Fünfzig Jahre! Ich konnte es gar nicht fassen, und das habe ich ihnen auch gesagt. Sie haben mich herzlich ausgelacht. Und dann haben sie erzählt. Okay, vielleicht haben sie mich auch belogen, wer weiß, aber sie wirkten nicht so. Was sie alles gemacht und erlebt haben. Lauter… Kleinscheiß, aber für sie war es wichtig. Auch totaler Horror, ihre Kinder, zwei Stück, sind beide schon vor ihnen gestorben… aber trotzdem… sie haben Stein und Bein geschworen, dass ihnen nichts Besseres hätte passieren können als der andere. Und genauso haben sie ausgesehen in diesem Moment. Okay… vielleicht waren sie auch besoffen… oder ich so sehr, dass ich es ihnen abgenommen habe. Aber das ist das einzige verkackte Beispiel, das mir da einfällt. Die beiden waren das Pfefferkorn jenseits der Blutsverwandtschaft, die ja auch nicht zwingend etwas garantiert.“
 

„Deine Eltern nicht?“ fragte Ragnar.
 

„Doch… ein bisschen… aber da… man weiß nie, was kommt. Vielleicht bleibt es so, wie es ist, vielleicht auch nicht. Aber die beiden… die waren fertig. Am Ende. Beide uralt. Und das war ihr Fazit. Trotz allem… nichts Besseres. Vielleicht waren sie für alle anderen hohle Nüsse, aber füreinander nicht. Aber ansonsten… all die um mich herum… ich bin ja so verliebt… in den… in die… ja… nein… doch nicht… ewige Treue… und dann zwei Wochen später der Betrug… das kann man sich doch echt sparen!“ schloss Jason.
 

„Willst du denn dein Pfefferkorn nicht finden?“ fragte Ragnar stirnrunzelnd.
 

Jason wiegte den Kopf. „Das gibt es nicht für jeden. Schau dir doch an, wie die allermeisten Beziehungen laufen! Und wie gesagt… man müsste die Sahara umgraben und sieben. Und dabei verrinnt das Leben. Da lebe ich lieber hier, jetzt, und genieße die Dinge! Seien es Scampi bei einem Fünfsterne-Koch oder Ravioli aus der Dose! Seien es VIP- Partys oder schrotte Rasenmäher!“
 

„Oder coole Typen oder ich“, führte Ragnar den Gedanken weiter.
 

Jason schreckte auf und sah ihn an. „Nein!“ widersprach er vehement. „Ich gebe zu, dass ich, bevor ich hier angekommen bin, dich wahrscheinlich nicht mit dem Arsch angeguckt hätte – im wahrsten Sinne des Wortes. Aber wenn ich ehrlich bin, und ich bin ehrlich, das zumindest kann mir keiner ernsthaft vorwerfen, dem ich keinen Rübenschnaps andrehen will, bist du echt das Schärfste, das mir je untergekommen ist. Oder übergekommen. Oder wie auch immer. Weiß der Geier, warum! Vielleicht, weil hier die übliche Regeln und Kriterien nicht gelten… oder einfach, weil du eben eine Nusssorte bist, die ich so nicht kenne! Du bist älter als ich, du willst nichts von mir, nicht meine Kohle oder meine Kontakte, und du hast Haare auf der Brust. Und nicht nur da… trotzdem… Mann-o-Mann! Ich schwöre dir, das letzten Sonntag, das war echt der Sex meines Lebens!“
 

„Öhm“, versuchte Ragnar ihn zu bremsen. „Ja das… war echt krass…“
 

„Siehst du!“ folgerte Jason. „So übel ist es nicht, mal die hohle Nuss raus zulassen! Dazu sind hohle Nüsse am besten geeignet: Spaß haben!“
 

Ragnar legte den Kopf in den Nacken und begann zu lachen.
 

„Was ist denn nun los?“ wunderte sich Jason.
 

„Weißt du was?“ stieß Ragnar hervor. „Du hast es also kultiviert, eine hohle Nuss zu sein. Und gerade deshalb… bist du keine. Du paradoxer Vollspinner!“
 

„Hey, Mann!“ beharrte Jason. „Ich bin eine hohle Nuss! Total! Ich bin sogar zu hohl, um mich beim Lesen zu „entspannen“.“
 

„Nein… du bist bloß zu wild auf Taten. Und du magst es, anders als ich, nicht, allein zu sein. Du bist eine… nein, keine Nuss… eine Knallbohne. Diese Dinger, die früher immer im Yps-Heft beilagen… wo so Insektenlarven drin waren, die in der Wärme der Hand angefangen haben zu springen… kennst du die noch?“ fragte Ragnar.
 

Jason nickte. „Klar… aber ich war noch zu klein… ich habe sie aufgefressen…“
 

„Igitt! Das nenne ich wahren Forschergeist…“, lachte Ragnar weiter. „Aber ich muss dich echt enttäuschen… Man ist keine hohle Nuss, wenn man das aufgrund solcher Gedankengänge ums Verrecken seien will. Dann ist man ein Hedonist. Oscar Wilde reloaded. Und dessen Rechnung ist nicht aufgegangen…“
 

„Ach ja… man hat ihn wegen „Sodomie“ verknackt, und er ist an der Syphilis verreckt, das habe ich – wahrscheinlich als einziges – im Englischunterricht mitbekommen außer der Sprache. Aber das Schicksal droht einem heutzutage weniger“, stellte Jason richtig.
 

„Stimmt“, beruhigte sich Ragnar wieder und nahm seine Finger aus dem Zaun. „Aber dennoch… echt Jason, du bist echt ein Fall für sich. Aber… wenn dir so nach Spaß ist… und du nicht allein sein kannst, ohne dem Arbeitswahn anheim zu fallen, dann komm rein.“
 

„Ist doch erst Donnerstag… oder…?“ fragte Jason leicht lauernd und spähte hinüber zur Terrassentür.
 

„Ist es“, bestätigte Ragnar und zog ein wenig die Schultern zusammen. „Magst du Johnny Cash?“
 

Jason sah ihn etwas verwirrt an, dann sang er: „Ich habe einen Ring um meine Eier… und das tut weh… Oh, so sehr, oh weia…“
 

„Okay, ich sehe, du bist ein echter Kenner…“, grinste Ragnar. „Und die Muppet Show?“
 

„Ich habe Angst vor dem Kahlkopfadler gehabt…“, gestand Jason.
 

„Ich auch. Aber der kommt in der Folge nicht vor. Wie wäre es… Johnny Cash bei der Muppet Show? Du darfst auch ein Bier schnorren. Das wäre doch spaßig?“ lockte Ragnar.
 

„Total!“ lächelte Jason erfreut und schob den kaputten Mäher an die Hauswand. „Aber was ist mit deiner hochgeschätzten Einsamkeit?“
 

„Ach… Wir können doch auch zu zweit allein sein beim DVD-Gucken?“ bog sich Ragnar die Dinge zurecht.
 

„Genialer Plan!“ lobte ihn Jason und kam angetrabt.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Venu
2011-12-09T15:37:47+00:00 09.12.2011 16:37
Das ist mal eine Geschichte der anderen Art! ;) Sie wurde mir von Cersey empfohlen und sie hat mich nicht enttäuscht. ^^
Ich finde die Story wirklich sehr interessant und es ist echt mal was anderes. Auch deinen Schreibstil muss ich sehr loben, denn er ist abwechslungsreich und teilweise muss man durch die lustigen Vergleiche sehr lachen, also ich bin begeistert! :)

Ich mag besonders Jasons lockere und optimistische Art, die Dinge zu sehen. Bleibt aber abzuwarten, ob weiterhin alles, was er sich vorgestellt hat, so reibungslos verläuft. =)
Und Ragnar hat eine sehr beruhigende Ausstrahlung, auch wenn er ziemlich leidenschaftlich sein kann, wie man ja bereits feststellen durfte. Die beiden sind zusammen echt unbeschreiblich.

Ich fands auch irgendwie süß, wie Ragnar Jason zu sich eingeladen hat, damit er nicht mehr einsam ist, obwohl noch nicht freitag war, hehe.
Bin schon sehr gespannt, wie dieser Abend verlaufen wird. ^_^

lg Venu
Von:  Shunya
2011-12-05T00:44:57+00:00 05.12.2011 01:44
Ah, die Beiden sind schon so Zwei... XD lol
Endlich gibt es auch mal wieder ein längeres Kapitel, toll!!!! :)
Die Gespräche der Beiden haben mir gut gefallen. Besonders die hohle Nuss Theorie. Vielleicht hat Jason ja recht, dass wir alle hohle Nüsse sind. Irgendwie wirkte Jaosn in diesem Gespräch sogar noch erwachsener, in der Zeit, die er jetzt auf dem Bauernhof verbracht hatte, hat er sich wirklich verändert. Wenn ich da noch an die ersten Kapitel zurückdenke. Ich schätze mal, wenn man völlig auf sich allein gestellt ist, sieht man die Dinge ein wenig anders.
Ich fands echt süß, wie Ragnar ihn dann doch noch zu einem Fernsehabend eingeladen hat. >.<
Ich freue mich schon sehr auf das nächste Kapitel!!!!
Von:  Fye-chan
2011-12-04T21:41:28+00:00 04.12.2011 22:41
Hach Mensch... die beiden sind einfach unbeschreiblich... Ich konnte einfach nicht anders als immer wieder von Schmunzeln zum Lächeln und wieder zurück zu wechseln während des gesamten Kapitels :)
Ich mag es, dass die beiden auch tiefsinnige Gespräche führen - denn das war es auf jeden Fall: tiefsinnig -, auch wenn diese in eine leichte Heiterkeit verpackt sind... Aber im Endeffekt haben sie doch wieder einander näher kennen gelernt, nicht wahr? Ich mag das, sehr sogar!
Und ich bin froh dass Ragnar Jasons Einsamkeit erkannt und ihn hereingebeten hat, obwohl das ja eigentlich nicht vor Freitag der Plan war.

Nun, es wird also langsam, auch wenn beide noch nichts davon merken...
Ich freu mich sehr sehr auf das nächste Kapitel :)
GlG, Fye



Zurück