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Days in Shibuya

von

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Hizuki

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah ich dem Tag mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits war ich aufgeregt, weil ich wissen wollte, was es mit Hizuki und dem Brief auf sich hatte. Und um ganz ehrlich zu sein hoffte ich auch, wieder mit Kaoru und den beiden anderen die Pause zu verbringen.
 

Als ich den Schulhof betrat, wurde ich nicht mehr angestarrt, als hätte ich Antennen auf dem Kopf. Die Schüler hatten sich damit abgefunden, dass ich da war. Ich war weder positiv noch negativ aufgefallen und im Stillen ärgerte mich das. Negativ auffallen bedeutete, sich gleich am ersten Tag lächerlich machen, egal wie. Positiv auffallen konnten die, die sich durch irgendwas von den anderen abhoben, und das war es, was ich eigentlich auch wollte. Zum Beispiel die, die für die Schulmannschaft Fußball spielten, die Theater-AG besuchten oder sonst was machten, fielen positiv auf. Ich vermutete, dass auch Kaoru und seine Gruppe eher positiv auffielen, denn die meisten aller hier anwesenden Schüler wünschten sich doch insgeheim den Mut zu besitzen, ihr eigenes Ding durchzuziehen, sich nicht von den Eltern alles gefallen zu lassen und auch noch den Lehrern gegenüber nicht klein beizugeben. Ich leugne nicht, dass es mir damals so ging.
 

Als ich vor der Klasse ankam, begrüßten mich ein paar aus meiner Klasse sofort. Ich konnte mich nur schwach an sie erinnern, aber dass sie in meine Klasse gingen, wusste ich wenigstens. „Wir haben gestern gesehen, wie du mit Kaoru Niikura weg gegangen bist“, sagte ein Mädchen. Es klang fast wie ein Vorwurf, als wäre das etwas ganz Außergewöhnliches. „Äh. Ja. Und?“, fragte ich und wusste nicht recht, was ich antworten sollte. „Nichts“, sagte sie spitz. „Woher kennst du ihn?“ „Ich kenne ihn nicht… Nicht wirklich“, stammelte ich. „Er hat mir den Weg zum Direktor gezeigt.“ „Und?“, fragte sie neugierig. „Was habt ihr gemacht?“ Ich hatte wohl Recht gehabt: Kaoru war ziemlich bekannt. „Wie, was haben wir gemacht?“ „Habt ihr etwa nur geredet?“ „Ja… Kann man so sagen“, erwiderte ich. Ich hatte keine Lust ihr von dem Brief für Hizuki zu erzählen oder davon, dass Kaoru in der Pause rauchte. Ich wusste nicht einmal, ob ich das selber alles wissen wollte. Rauchen war auf dem Schulgelände streng verboten und darin musste für sie der Reiz liegen. „Ach so…“, sagte sie enttäuscht, dann ging sie zu ihren Freundinnen zurück. Sie sagte etwas und kurz darauf fingen alle an wie blöd zu kichern. Ich wusste nicht, was ich von dem Gespräch halten sollte. War Kaoru eine Art Star auf dem Schulhof?
 

Während der Japanischstunde schweiften meine Gedanken immer wieder weg. Hizuki saß neben mir und kritzelte eifrig in sein Heft, es hatte den Anschein, als würde er jedes Wort das Frau Nakashima aussprach, schriftlich festhalten wollen. Ich achtete nicht allzu sehr auf den Unterricht, ich wartete nur darauf, dass es zur Pause läutete. Wieso ich so aufgeregt war, weiß ich heute gar nicht mehr genau, aber ich glaube, es war für mich ein unglaublicher Durchbruch dass Kaoru mit mir zu tun haben wollte. An meiner alten Schule wäre er es gewesen, der mich wegen meinem Ordnungssinn so schön fertig gemacht hätte. Oder mich gezwungen hätte Matheaufgaben für ihn zu machen (denkt nicht, dass sie das in Nagano gemacht haben, ja?). Und jetzt? Ich konnte einfach nicht verstehen, wieso gerade er mich gleich aufgenommen hatte und nicht jemand anders, und ging richtig mit einer Art Lampenfieber in die Pause.
 

Ich verließ das Gebäude und sah sie sofort. Kaoru und seine Begleiter standen unweit von mir entfernt und schienen zu warten. Kaoru winkte mir und ich ging auf sie zu. „Hey“, sagte er. „Kommst du?“ Diesmal zog er mich nicht hinter sich her und ich ging freiwillig. Wieder spürte ich die Blicke der anderen auf uns. Vielleicht wunderten sie sich genauso wie ich, dass diese Gruppe sich mit jemandem wie mir abgab. Wir kamen an demselben Platz hinter dem Gebäude an wie gestern. Kaoru hielt mir wieder die Zigaretten unter die Nase, ich lehnte aber ab. Die Vorstellung, freiwillig Rauch einzuatmen, kam mir schrecklich widerlich vor, ich konnte einfach nicht verstehen, warum sie das freiwillig machten. „Und? Was hat Hizu zu dem Brief gesagt?“, fragte Kaoru neugierig, nachdem er ein paar Mal an der Kippe gezogen hatte. „Er war sauer“, sagte ich. „Und hat gesagt, der Brief geht mich nichts an.“ Kaoru tauschte einen Blick mit dem Rothaarigen, beide grinsten zufrieden. „Sonst noch was?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Hat er den Brief seiner Lehrerin gezeigt? Ihn zerrissen? Oder beides?“, fragte der Blonde hoffnungsvoll. Ich schüttelte den Kopf. „Er hat ihn nur verknittert und weggeworfen.“ Ich zögerte. „Von was für einem Vorfall habt ihr geredet? Was ist da passiert?“ Kaoru schaute mich einen Moment lang verwirrt an, dann lachte er. „Hast du noch nie was von Briefgeheimnis gehört, Kleiner?“, fragte er sichtbar amüsiert. „Na ja, es ist an der Schule hier längst kein Geheimnis mehr, deshalb kann ich’s dir sagen. Du weißt doch, da vorne bei den Fahrradständern, hat jemand ein wunderschönes Gemälde an die Wand gesprayt, nicht?“ Ich nickte. Mir war jenes Gemälde schon aufgefallen, es zeigte eine ziemlich schlechte Karikatur vom Direktor mit den Worten Ich hab nen Kleinen, halte mich aber für den Größten darunter. „Ja und?“, fragte ich. Kaoru grinste und ich begann es zu ahnen. „Du meinst, das war…“ „Hizuki Sasaki“, ergänzte er. „Seht mal, wir haben einen zweiten Einstein unter uns!“ „Woher weißt du das?“, fragte ich. „Er ist nicht gerade der Typ für so was.“ „Eben, deshalb wurde er auch nicht verdächtigt“, sagte der Blonde. „Aber zufällig haben wir gesehen, wie nachmittags auf den Schulhof gegangen ist und später haben wir die Spraydosen in seinem Spind gefunden.“ „Wenn wir ihn verpfeifen würden, hätte das gute Auswirkungen auf unsere Akten“, fuhr Kaoru sachlich fort. „Aber wir verpfeifen grundsätzlich niemanden. Es ist mies. Allerdings wollen wir eine kleine Gegenleistung in Form von Matheaufgaben von ihm, dafür dass wir dicht halten.“
 

Ich musste gegen meinen Willen lachen. Eine Nervensäge wie Hizuki, ein Sprayer? „Warum hat er das gemacht?“, fragte ich. „Wollte wohl zeigen, dass er nicht der Streber vom Dienst ist“, Kaoru zuckte mit den Schultern. „Und dachte sich, jetzt kriegt er die Bewunderung, die er gerne hätte, weil er was Verbotenes gemacht hat.“ „Ein hoffnungsloser Idiot“, warf der Rothaarige ein. Ich nickte und eine Weile sagte keiner mehr was. Plötzlich stieß Kaoru sich von der Mauer ab, trat seine Zigarette aus und stellte sich vor mich. „Wir haben schon viel zu viel von deiner Zeit in Anspruch genommen“, meinte er. „Kannst abhauen, wir lassen dich ab jetzt in Ruhe. Und danke noch mal.“
 

Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Hatten sie mich wirklich nur dafür gebraucht, Hizuki diesen Brief zu geben? Und hatte ich echt geglaubt, sie würden sich freiwillig öfter mit mir abgeben…? Ich spürte eine Mischung von Ärger und Enttäuschung in mir aufsteigen. Aber was sollte ich schon sagen? Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich sie immer noch bewunderte und viel lieber zu ihnen gehören würde, als in einer der Gruppen zu landen, in die alle kamen, die nirgendwo sonst hineinpassten. So war es immer gewesen. Ich war nicht besonders sportlich, war in keiner der AGs, hatte keine besonderen Fähigkeiten und war stilmäßig immer gleich geblieben. Die Leute, mit denen ich früher zu tun gehabt hatte waren, um es mal so zu sagen, langweilig und ich war es auch.
 

„Wartet mal!“, hörte ich mich plötzlich sagen. Kaoru blieb stehen, drehte sich langsam wieder in meine Richtung. „Ja?“ „War das jetzt alles? Was hab ich davon?“, fragte ich. Er zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Such dir was aus“, sagte er. „Jemandem einen Gefallen tun, dazu beigetragen haben, dass wir in Mathe nicht durchfallen, was du willst.“ „Kao“, drängte der Blonde. „Komm schon!“ Kaoru hob kurz die Hand, wie um zu sagen Ich weiß schon, was ich tue. „Damit kann ich nichts anfangen“, sagte ich. Kaorus Mundwinkel zuckten verdächtig. „Du lässt nicht locker, was?“ Er grinste. „Nicht schlecht, Kleiner.“ Ich machte mir nicht die Mühe, mich über das Kleiner zu ärgern und wartete. Kaoru verdrehte die Augen. „Was erwartest du? Das wir dir den Nobelpreis verleihen, für diese aufopfernde Tat?“ Er klang genervt. „Kao, was ist denn jetzt?“, rief der Rothaarige. „Ich komm gleich nach“, wehrte Kaoru die Frage ab. „Was wäre zum Beispiel, wenn ich dem Direktor alles erzähle?“, überlegte ich laut. Kaoru stöhnte. „OK“, sagte er. „OK Kleiner, hör zu. Ein Deal. Wir sagen Hizuki, dass er dir deine Matheaufgaben gleich mit erledigt und die Sache ist aus der Welt.“ Ich tat so, als würde ich darüber nachdenken. „Ein anderer Deal“, sagte ich dann. „Ich sag keinem dass ihr hier raucht und du nennst mich nie wieder Kleiner.“ Kaoru lachte laut auf. „Hört euch das an“, sagte er. „Aber gefällt mir.“ Er zwirbelte eine seiner violetten Haarsträhnen um den Zeigefinger, starrte mich unverwandt an. „Gut“, sagte er plötzlich. „Gibt’s noch irgendwelche Lücken im Vertrag?“ Ich antwortete nicht. Kaoru drehte sich schwungvoll auf dem Absatz um. „Dann sehen wir uns… Vielleicht.“ Er hob die Hand, ehe er ging.
 

Wieder blieb ich allein an der Mauer stehen und fragte mich, was ich von dem, was passiert war, halten sollte. Als es wenig später zum Unterricht läutete, ging ich allein ins Schulgebäude und stellte mich vor der Klasse zu keiner der kleinen Gruppen, sondern blieb etwas außerhalb. Leider nicht allzu lange. „Hey! Alles klar? Wo warst du in der Pause? Hast du schon Freunde gefunden?“ Ich zuckte zusammen. Hizuki. Ich hätte ihm sagen können, dass ich bei Kaoru gewesen war, aber dann zuckte ich nur mit den Schultern und tat so, als sei mir das ganz gleich. „Kann sein“, murmelte ich. „Ach so… Sag mal, findest du Chemie auch so schwer? Ich weiß gar nicht wie das gehen soll, Ionen und Protonen und Atome… Aber ich krieg da Nachhilfe, deshalb kein Problem. Hattest du schon mal Nachhilfe?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich nur in Chemie“, sagte Hizuki und erklärte mir dann sehr ausführlich den Aufbau eines Atoms. Ich tat so, als würde ich interessiert zuhören und sagte zwischendurch Aha oder Hm oder gab ähnlich geistreiche Kommentare ab. Ich ahnte, dass er sich eine neue Chance erhoffte, da ich neu war und der Rest der Klasse ihn schon als Nervensäge abgetan hatte. Wenn er hören würde, und das würde er sicher bald, dass ich bei Kaorus Plan mitgewirkt hatte und als Gegenleistung Matheaufgaben verlangte, würde er sich garantiert von mir abwenden. Bis jetzt hatte ich außer mit ihm mit keinem aus der Klasse direkt Kontakt gehabt. Ich hätte natürlich versuchen können, Anschluss zu finden, aber aus irgendeinem Grund hatte ich keine Lust darauf. Zwar erkannten sie mich jetzt und begrüßten mich jeden Morgen, aber die Aussicht, dass diese Leute meine Freunde werden sollten, erschien mir auf eine unerklärliche Art vollkommen abwegig. Noch abwegiger war nur der Gedanke, dass ich dadurch, dass ich Hizuki den Brief gebracht hatte und von Kaoru erfahren hatte, dass er der Sprayer war, in gewisser Weise die Kontrolle über ihn hatte.
 

Den ganzen Tag überlegte ich hin und her inwieweit die ganze Sache fair gegenüber Hizuki war. Er hatte das Graffiti ans Schulgebäude gesprayt und Kaoru hatte es herausbekommen. Eine Sache die wirklich nicht ohne war, denn die Reinigung war sehr aufwendig und der Direktor hatte sich in seiner Würde äußerst verletzt gefühlt. Dafür dass Kaoru dicht hielt, wollte er von Hizuki eine Gegenleistung. Im Großen und Ganzen konnte ich nichts Kriminelles an der Sache finden, deshalb entschied ich, mir einfach keine Gedanken mehr darüber zu machen. Es würde sich schon ganz von selbst alles ergeben.
 

Am nächsten Tag verbrachte ich die Pause mit Leuten aus meiner Klasse. Sie wollten wissen, wie es mir hier gefiel und ob ich meine alte Schule sehr vermissen würde, ob ich die Lehrer mochte und so weiter. Ich beantwortete alle Fragen und war dann doch ganz glücklich darüber, so schnell in die Klasse aufgenommen worden zu sein. Zwar dachte ich immer wieder daran, dass ich dabei war, auch hier nur ein Mitglied der Masse zu werden, aber vielleicht war es das, was ich sein musste. Ich hätte natürlich auch losgehen und Kaoru suchen können, aber dazu fehlte mir der Mut. Obwohl ich sie bewunderte, dafür, dass sie den Regeln der Lehrer trotzten und ihr Ding durchzogen, ganz egal was andere von ihnen hielten, hätte ich allein nie die Kraft aufbringen können, so zu werden, wie sie. Ich hatte außerdem viel zu viel Angst vor den Reaktionen der anderen, wenn ich mir zum Beispiel die Haare blau färben würde. Blau war meine Lieblingsfarbe und ich hatte schon oft darüber nachgedacht, mir blaue Strähnen machen zu lassen. Aber natürlich war meine Mutter dagegen, sie meinte, es würde die Haare kaputt machen. Wenn ich mich so verunstalten wollte, sollte ich gefälligst warten, bis ich zwanzig und volljährig war.
 

Meine erste Woche an der Schule näherte sich ihrem Ende. Ich hörte nichts mehr von Kaoru, aber auch Hizuki verhielt sich nicht anders als sonst. Sobald ich meinen Platz neben ihm einnahm, begann er mich zuzureden, ohne einmal Luft zu holen. Er erwähnte weder den Brief, noch Kaoru, noch Mathehausaufgaben, nicht mal in einem Nebensatz. Es sah so aus, als hätte Kaoru mich entweder vergessen oder zurzeit nur anderes im Kopf. Ich wusste es nicht, zerbrach mir aber auch nicht weiter den Kopf darüber. Immerhin hatte ich auch noch andere Sachen zu tun. Ich war zwar etwas enttäuscht, aber ich versuchte es einfach als gleichgültig abzustempeln und mir keine Gedanken mehr darüber zu machen. Als die Woche endlich zu Ende war, war ich ziemlich erleichtert. Zwei ganze Tage musste ich weder Hizuki noch die Schule sehen und konnte so auch nicht an den Brief erinnert werden.
 

Am Wochenende besuchte ich einen Freund von mir in Nagano. Er hieß Makoto und hatte früher gleich neben mir gewohnt. Ich war zuerst etwas unschlüssig, aber dann erzählte ich ihm von dem Brief und von Kaoru. „Wie krass“, meinte er, nachdem ich alles erzählt hatte. „Und er macht dir echt die Hausaufgaben?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Er hat mich nicht drauf angesprochen.“ „Dann haben diese Punks dich wohl abgezogen“, sagte Makoto. „Man, du bist echt zu nett für diese Welt.“ Er war leider nicht der Erste, dem diese Tatsache auffiel. „Und?“, fragte er. „Was machst du jetzt?“ „Spätestens Ende nächster Woche werd ich Kaoru mal suchen und ihn fragen“, erwiderte ich. „Mal sehen. Eigentlich wär es mir am Liebsten, wenn die Sache nie passiert wäre.“ Makoto sah mich groß an. „Spinnst du? Du hast hier die vielleicht einmalige Chance auf Gratis-Hausaufgaben! Wenn du die nicht ergreifst, muss ich leider ganz Nagano erzählen, dass mein Ex-Nachbar ein Vollidiot ist.“ Ich bedankte mich für diesen Titel. Unsere Diskussion half mir leider nur gering, denn ich wusste jetzt immer noch nicht, wie ich der Situation gegenüber treten sollte. Zwar kannte ich jetzt Makotos Meinung dazu, aber wirklich hilfreich war diese nicht. Er sah die Sache eher wie Kaoru, als ein Spiel, bei dem natürlich er den Sieg davon tragen würde. Und wenn er mal ein Spiel verlor? Hatte ich verloren, wenn ich es so auf mir sitzen ließ und das verdammte Graffiti ein Graffiti sein ließ? Ich kam leider nicht mehr dazu, Makoto zu fragen, was er dazu meinte, denn ich musste zeitlich weg, um meinen Zug nach Tokyo zu bekommen. „Dann grüß deine Punks mal von mir“, feixte Makoto, als ich mich verabschiedete. „Machs gut.“ Ich winkte ihm noch einmal zu, ehe der Zug anfuhr.
 

Ich kam erst Sonntagabend zu Hause an. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nicht weiter über die Schule nachzudenken, aber kaum dass ich zu Hause war, dachte ich an nichts anderes. Ich hatte beschlossen, zu Kaoru zu gehen, wenn er nicht innerhalb der nächsten zwei Tage auf mich zukam. Normalerweise wäre es mir egal gewesen, aber diesmal war es was anderes. Allein aus prinzipiellen Gründen konnte ich es nicht auf mir sitzen lassen, die Sache so enden zu lassen.

Aber soweit kam es nie.
 

Am Montagmorgen schien noch alles wie immer, bis Hizuki kam. Er kam fünf Minuten zu spät. Ein Raunen ging durch die Klasse. Hizuki kam nie zu spät, normalerweise stand er sogar schon zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn vor dem Klassenzimmer. Frau Nakashima warf ihm über den Rand ihrer Brille einen kritischen Blick zu. „Willst du uns vielleicht etwas sagen?“, fragte sie spitz. „Ich musste noch was mit Herrn Dr. Yatsumi besprechen“, sagte Hizuki und ließ sich neben mir auf seinen Platz fallen. „Hey“, flüsterte ich, als Frau Nakashima sich wieder zur Tafel drehte. „Was hast du…“ „Hör mal zu“, zischte Hizuki zurück. Ich erschrak richtig. „Ich lass so was nicht mehr mit mir machen. Ich werde niemandem die Hausaufgaben machen und dir schon gar nicht. Du und deine komischen asozialen Freunde könnt sehen, wie ihr durchs Schuljahr kommt.“ Er kniff die Augen zusammen. „Das Spiel ist aus, Hara!“
 

Ich machte große Augen. Es war klar, dass Kaoru ihn an seine Gegenleistung erinnert und mich dabei auch erwähnt hatte. Aber was hatte Hizuki gemacht? War er zum Direktor gegangen und hatte ihm seine Tat gebeichtet? Oder hatte er Kaorus Clique, einschließlich mir, verpfiffen? Wohl eher letzteres. Er war nicht dumm. Verdammt, dachte ich. Jetzt steckst du in der Tinte.
 

Und damit hatte ich Recht. Während des Unterrichts sprach Hizuki kein Wort mehr mit mir. Ich vermutete, dass er das auch in Zukunft nicht mehr tun würde und wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Je nachdem, welchen Preis es mich kosten würde, sicherlich schlecht. Jeden Moment konnte der Direktor kommen und mich in sein Büro befehlen. Wer weiß, was er mit uns vorhatte? Vielleicht ein Tadel. Oder eine Strafarbeit. Wieso hatte ich mich darauf eingelassen? Die ganze Sache war eine Schnapsidee gewesen!
 

Kurz vor Beginn der Pause klopfte es an die Tür. Ich bekam einen heißen Kopf, sah zu, wie Frau Nakashima zur Tür schlurfte und sie öffnete. Niemand kam. Sie ging in den Flur hinaus und kam nach fünf Minuten mit wütender Miene zurück. „Hara Toshimasa“, sagte sie zwischen den Zähnen hindurch. „Bitte melde dich umgehend im Büro des Direktors.“
 

Die ganze Klasse starrte mich an und fing wie auf Knopfdruck angeregt an zu tuscheln. Ich stand auf, mit hoch erhobenem Kopf schritt ich durchs Klassenzimmer und kam mir einen Moment lang vor wie Jeanne d’Arc auf dem Weg zum Scheiterhaufen. Draußen im Gang wartete die Sekretärin des Direktors bereits auf mich. Mit einem vernichtenden Blick nahm sie mich in Empfang und lief dann schnellen Schrittes voraus. Ich hatte etwas Mühe mitzuhalten. Als wir auf dem Korridor angelangt waren, in dem das Büro lag, musste ich mir das Lachen verkneifen: Neben der Tür standen Kaoru und seine ewigen Begleiter locker gegen die Wand gelehnt. Als Kaoru mich sah, blitzte es in seinen Augen. Die Mundwinkel zuckten. „Hey“, sagte er keck und zu der Sekretärin: „Ah, schön Sie auch wieder zu sehen!“ „Spar die Bemerkungen, Niikura“, erwiderte sie kühl, sichtlich wütend darüber, dass sie Kaoru für seine gespielte Höflichkeit nicht tadeln konnte. Sie bedachte jeden von uns mit einem säuerlichen Blick, dann öffnete sie die Tür vom Büro. „Wartet hier“, bellte sie. „Der Direktor wird euch hereinrufen.“ Sie knallte die Tür hinter sich zu. Kaum war sie weg, fing Kaoru an zu lachen. „Der Direktor wird euch hereinrufen“, äffte er sie nach. „Die Frau ist so ziemlich das Geilste, was diese Schule zu bieten hat.“ Er stieß den Rothaarigen an und beide lachten. „Was ist eigentlich passiert?“, fragte ich. „Was hat Sa… Hizuki dem Direktor erzählt?“ „Scheiße hat er erzählt“, Kaoru hörte auf zu lachen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er meint, dass wir ihn erpressen und zwingen würden, jeden Tag seine Hausaufgaben zu machen. Herrgott noch mal, eher würde ich meine Hausaufgaben selbst machen, bevor ich ihn dazu zwingen würde!“ Der Blonde nickte. „Vielleicht hat er sogar behauptet, das Graffiti ist von uns!“ „Na super“, murmelte ich. Wahrscheinlich würde meine Mutter über kurz oder lang davon erfahren und mir dann den Kopf abreißen. In Nagano hatte ich nie etwas angestellt, was in meine Akte kam und jetzt? Eine Woche auf der Schule und schon ein Gespräch mit dem Direktor. Ich wunderte mich, dass es mir gar nichts ausmachte. Wir warteten. Nach einer Weile ertönte der Pausengong und das Gebäude wurde von aufgeregtem Reden und Lachen geflutet. Der Direktor ließ sich Zeit.

„Hör mal“, sagte Kaoru plötzlich ernst. „Du bist jetzt mit in der Sache drin. Ist dir das klar?“ Ich nickte und verspürte immer noch nicht das kleinste Anzeichen von Angst. „Wir werden natürlich versuchen, uns irgendwie heil aus der Sache zu ziehen, sonst heißt es bald noch Kaoru Niikura erpresst kleine, nervige Kinder… Nichts gegen dich“, fügte er schnell hinzu. „Das wäre außerdem ein Gerücht. Ich wollte sagen, dass wir kein Wort darüber verlieren, ob einer von uns mehr oder weniger beteiligt war. Wir sind alle an der Sache beteiligt und versuchen alle da raus zu kommen, aber wenn wir bestraft werden, dann wir alle. Du bist jetzt genauso schuldig wie wir.“ „Klar“, sagte ich. „Klar zum Gefecht“, sagte Kaoru sarkastisch und da ging endlich die Tür wieder auf. „Bitte“, sagte Dr. Yatsumi und trat zur Seite. „Rein mit euch.“ Wir betraten das Büro und blieben dann mit weit aufgerissenen Augen stehen: Neben dem Schreibtisch stand, zufrieden grinsend, Hizuki. „Diese verdammte Made ist durchs Sekretariat rein gekrochen“, raunte der Blonde mir zu. Hizuki starrte mich feindselig an. Ich starrte zurück. Er musste zu Beginn der Pause her gekommen und einen anderen Weg gegangen sein, nur um unsere Verurteilung live mitzuerleben. Er mochte zwar harmlos wirken, mit seinem Ruf als Nervensäge, aber er hatte es faustdick hinter den Ohren. Wir warteten, bis der Direktor wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte und sagten kein Wort. „So“, sagte er. „Bitte Niikura, fangen Sie an.“ „Sehr gern“, begann Kaoru. „Was Ihnen dieser Schüler erzählt hat, hat er sich warum auch immer zusammen gesponnen. Wir haben nie jemanden erpresst, weder ihn noch sonst wen und auch niemanden gezwungen, unsere Sachen zu erledigen, das haben wir überhaupt nicht nötig.“ Die letzten Worte waren an Hizuki gerichtet, der sich seiner Sache anscheinend mehr als sicher war. Er stand mit verschränkten Armen neben dem Schreibtisch und bedachte uns ab und an mit einem triumphierenden Blick. „Eure letzten Zeugnisse lassen auf anderes schließen“, sagte der Direktor mit einer Spur Sarkasmus. „Aber lassen wir das mal außen vor. Hizuki hat mir erzählt, dass ihr regelmäßig verlangt habt, dass er euch die Hausaufgaben macht und auch, dass ihr ihm Schläge angedroht habt, sofern er sich weigern sollte.“ Kaoru ballte die Hand zur Faust und ich ahnte, dass er sich zusammenreißen musste, um weder Hizuki noch den Direktor anzuschreien. „Das ist gelogen!“, sagte er erregt. „Mal ganz davon abgesehen, dass wir niemals jemandem Schläge androhen würden: Er ist erst seit einer Woche auf dieser Schule, wieso sollten wir ausgerechnet ihn zwingen uns irgendwelche Hausaufgaben zu machen, würden wir so was machen, dann ganz sicher nicht bei einem der noch grün hinter den Ohren ist.“ Hizuki schnappte nach Luft. „Pass auf was du sagst, Niikura!“, zischte er. „Wieso gebt ihr eure miesen Machenschaften nicht einfach zu?“ „Weil es gelogen ist und du ein mieser, kleiner Verräter bist!“, zischte der Blonde. „Nishimura, ich verbitte mir das!“, fuhr Yatsumi ihn an. Hizuki holte tief Luft. „Warum sollte ich den Direktor belügen…?“, fragte er mit unschuldigem Seitenblick auf selbigen. Kaoru verengte seine Augen zu kleinen Schlitzen. „Warum sollte ich es tun?“

Dr. Yatsumi stand auf. „Ich habe langsam die Nase gestrichen voll“, verkündete er. „Wer mir was zu sagen hat, soll verdammt noch mal den Mund aufmachen, ansonsten könnt ihr auch alle einen Tadel bekommen.“ „Aber ich hab doch nichts getan!“, rief Hizuki sofort. Der Rothaarige machte einen Schritt in seine Richtung. „Das glaubst du doch selbst nicht!“, sagte er und seine Augen blitzten angriffslustig. Dr. Yatsumi sah ihn streng an. „Andou, wieso erklären Sie mir Ihre Unterstellung nicht etwas genauer?“ Der Rothaarige, der wohl Andou mit Nachnamen hieß, zuckte mit den Schultern und tat auf unwissend. „Ich meine mich zu erinnern, etwas gehört zu haben, was womöglich einen schwarzen Schatten auf die tadellose Akte von Hizuki-kun werfen würde…“ Sein Blick und Hizukis trafen sich. „Woher willst du das wissen?“, fragte Hizuki. Es klang nicht sehr überzeugt. „Das hat ein Vögelchen mir gezwitschert“, sagte Andou mit falschem Lächeln. Jegliche Selbstsicherheit war aus Hizukis Gesicht gewichen. Andou tauschte einen kurzen Blick mit Kaoru und es schien irgendwas zwischen ihnen abzulaufen, eine geheime Message, die keiner außer ihnen verstand. Dann wandte Kaoru sich ab und musterte die Bilder an der Wand. Sie zeigten die früheren Direktoren der Schule. „Ich höre“, sagte Dr. Yatsumi gelangweilt. „Ich muss mich getäuscht haben“, sagte Andou und sah Hizuki fest in die Augen. „War wohl nur ein Missverständnis oder so was.“ Hizuki sah aus wie ein begossener Pudel. Er hatte wohl mental schon sein Testament gemacht. Kaoru lächelte abwesend. „Und ich denke, unser Freund Hizuki hat sich auch getäuscht“, sagte er, den Blick auf den Direktor von 1964 gerichtet. „Wir würden nie jemanden erpressen, nicht?“
 

Einstimmiges Nicken. Dr. Yatsumi stöhnte. „Ist das euer Ernst?“ „Ja“, murmelte Hizuki kaum hörbar. Der Direktor fuhr sich mit der Hand über die Stirn, schüttelte den Kopf und atmete langsam ein und aus. „Ich will nichts mehr von dir hören, Niikura“, sagte er mit vor Wut triefender Stimme. „Das ganze Semester lang nicht, haben wir uns verstanden?“ „Selbstverständlich“, sagte Kaoru mit einer leichten Verbeugung. „Und Sie, Sasaki, überlegen sich in Zukunft zweimal, womit Sie meine kostbare Zeit verschwenden.“ Hizuki nickte ergeben und verbeugte sich ebenfalls. „Macht den Rest unter euch aus“, fuhr Dr. Yatsumi fort und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Und jetzt verschwindet, oder ihr werdet lebenslänglich die Pausen hier verbringen.“ Er scheuchte uns mit einer simplen Handbewegung weg. Schweigend verließen wir das Gebäude. Ohne es richtig zu merken, liefen wir zu den Fahrradständern, bis wir genau neben Hizukis Karikatur standen. Beinahe andächtig betrachteten wir sie.
 

Sie war wirklich grottenschlecht.
 

„Ihr hättet mich verraten können“, sagte Hizuki. „Danke, dass ihr’s nicht gemacht hat.“ „Hör auf“, stöhnte der Blonde. „Wenn du dich noch einmal bei mir bedankst, muss ich kotzen.“ „Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, dass du nie jemanden anzeigen solltest, der was gegen dich in der Hand hat?“, fragte Kaoru grinsend. „Du brauchst uns nicht dankbar sein. Aber ich finde, dafür, dass wir dich haben laufen lassen, verdienen wir einen kleinen Ausgleich. Die nächste Woche Mathe dürfte reichen. Danach legen wir die Sache für immer aus Eis.“ Hizuki starrte Kaoru an. „Wir könnten natürlich auch zum Direktor gehen und ihm sagen, dass er sich doch nicht getäuscht hat“, sagte ich und nickte in Richtung des Rothaarigen. Hizuki seufzte. „Schon gut“, sagte er. „OK.“ „Dann haben wir einen Deal“, sagte der Blonde. „Und jetzt kannst du uns noch einen riesigen Gefallen tun, indem du dich verpisst.“ Hizuki nickte nur noch mal, dann rannte er in Richtung Eingang. „Gehen wir auch zurück?“, fragte ich. Der Blonde sah auf seine Uhr. „Für anderthalb Stunden? Also ich nicht.“ Er grinste. Kaoru wandte sich an mich. „Daisuke hat noch ne Flasche Sake zu Hause. Kommst du mit?“ Ich war, um ganz ehrlich zu sein, ziemlich angetan von dem Gedanken die letzte Stunde zu schwänzen, aber so ganz traute ich mich doch nicht. Die Vorstellung mit den dreien und einer Flasche Alkohol allein zu sein, war mir nicht ganz geheuer. „Die wundern sich doch bestimmt, wenn Hizuki zurück kommt und ich nicht“, sagte ich. „Wie du meinst“, sagte Kaoru und er und die anderen gingen langsam in Richtung Ausgang. Plötzlich drehte Kaoru sich noch mal um. „Du hast was an dir“, sagte er, „das mag ich.“ Er grinste. „Wir sehn uns.“
 

Ich ging langsam zum Klassenraum zurück. Was hatte ich an mir?

Als ich mich neben Hizuki setzte, sah er nicht mal auf. Ich versuchte das schlechte Gewissen zu verdrängen und mir einzureden, dass wir eigentlich nichts unrechtes getan hatten. Und immerhin war ich Hizuki los.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kanoe
2007-02-16T14:47:47+00:00 16.02.2007 15:47
interesssant interessant.. ich bin gespannt wied das weitergehen würde ich hoffe du hast mal lust wieder zu schreiben.
Von:  LichterSchrei
2007-01-31T21:07:15+00:00 31.01.2007 22:07
kwuahhhh!!!!!

warum gehts nicht weiter???

*rumhüpf* òó warum gehn alle ffs die ich lesn will net weiter? *heuuuuuuuul* erlöse mich von diesem fluch!!!!!!

*auf boden rumroll und heul*
Von:  Hara_Michiyo
2006-12-30T01:29:10+00:00 30.12.2006 02:29
weiter
die geschi ist interessant und realitisch, außerdem spannend.
wäre schä wenns schnell weida geht ;)


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